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Die Sonne schien durch das Fenster und tauchte die Schulbänke in orangenes Licht. Amy Mels saß ganz allein neben dem Fenster, denn sie war nicht sehr beliebt bei ihren Mitschülern. Der Mathelehrer Nick Tilman redete doch sie hörte bereits nicht mehr zu. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster und beobachtete die Landschaft. Wie sich die Blätter der Bäume und die Grashalme im sanften Frühlingswind bogen und die Blumen mit der Sonne um die Wette strahlten. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen, schon seit Tagen nicht mehr.
Wie gerne würde ich bei diesem Wetter ausreiten, dachte Amy bei sich. Und schon wieder überkam sie die Trauer: sie hatte kein eigenes Pferd, nicht wie ihre ach so tolle Schwester Sonja. Die Eifersucht stach ihr ins Herz.
„Willst du wohl zuhören!“, brüllte Tilman. Erschrocken kehrte Amy aus ihren Tagträumen zurück. Tilman stand vor ihren Tisch. „Würdest du der Klasse wohl netterweise wiederholen, was ich gerade gesagt habe.“ Hilfesuchend sah Amy in die Gesichter ihrer Klassenkameraden, doch diese erwiderten ihren stummen Hilfeschrei bloß mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. Sie wollte bereits dem Lehrer mit hängenden Schultern und gesunkenem Blick erklären, dass sie nicht zugehört hatte, als die Schulglocke klingelte. Die Schüler sprangen alle auf und die Anspannung verließ Amy. Doch zu früh gefreut.
„Ihr werdet nirgends hingehen, bevor uns Amy nicht die Mengenlehre erklärt hat!“, die Klasse stöhnte auf, doch niemand bemerkte wie sich langsam ein zaghaftes Lächeln auf Amys Lippen ausbreitete. Die Mengenlehre kannte sie noch vom Jahr zuvor. Schnell rief sie sich alles in Erinnerung und begann dem Lehrer die wichtigsten Dinge aufzuzählen. An seinem Lächeln erkannte sie, dass er sehr zufrieden mit ihr war und bereits nach wenigen Minuten konnte die ganze Klasse gehen. Amy packte schnell ihre Bücher zusammen und rannte aus dem Klassenzimmer. Sie wollte so schnell wie möglich weg von hier und auf ihren geliebten Reiterhof “Rosenheim“. Vor dem Pinnbrett blieb sie kurz stehen, um zu kontrollieren, ob sie bis morgen irgendwelche Aufgaben auf hatten.
„Streberin.“, hörte sie in diesem Moment die unverkennbare Stimme von Anna Fillis hinter sich. Langsam drehte Amy sich zu ihr um, blickte ihr aber nicht in die Augen sondern starrte auf den Boden.
„Auf wen wartest du denn? Vielleicht auf Nick?“, säuselte sie. Annas Freundinnen begannen alle zu kichern und Amy war sich sicher, dass auch Anna sich schwer ein Grinsen verkneifen konnte. Anna war das beliebteste Mädchen in der Schule und ließ keine Gelegenheit aus die Schwächeren das auch fühlen zu lassen. Ständig kritisierte und tyrannisierte sie die Mitschüler und kommandierte ihre Freundinnen. Der einzige Grund warum sich ihr niemand widersetzte war ihr stinkreicher Vater. Mr. Fillis war ein charismatischer, erfolgreicher Geschäftsmann, den Amy sehr schätzte. Er hatte hart für seinen Erfolg gearbeitet und wurde stets von tausenden Frauen umschwärmt, doch blieb er stets Treu gegenüber seiner Frau, was man von ihr nicht behaupten konnte. Für ihn brach eine ganze Welt zusammen, als er seine Frau in den armen seines besten Freundes erwischte, zögerte aber nicht lange sie zu verlassen und zog, zusammen mit seiner einzigen Tochter, ins bescheidene kleine Dorf Terman im Norden Italiens. Hier bewohnten sie ein fünfstöckiges Reihenhaus, nicht weit vom Rathaus entfernt. Amy war bereits einige Male daran vorbeigeradelt und hatte das üppige Gebäude mit dem riesigen Eisentor und den wunderschönen Geranien auf dem Balkon bewundert. Amys Familie wohnte dagegen in einem Apartment in einem bescheidenen Haus, unweit der Schule.
Beschämt strich Amy sich eine braune Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinters Ohr. Angestrengt dachte sie darüber nach, wie sie aus dieser unangenehmen Situation verschwinden konnte. Verstohlen blickte sie kurz nach oben in Annas Gesicht, woraufhin diese hemmungslos zu lachen anfing. Amy spürte sofort, wie sich ihre Wangen röteten.
„Kommt, lassen wir das arme, ängstliche Mädchen in Ruhe, sonst fängt sie noch an zu weinen.“, immer noch lachend drehte sich Anna zu ihren Freundinnen um, nicht ohne jedoch Amy kurz anzurempeln sodass ihr ihre Bücher in hohen Bogen aus den Armen flogen, und zusammen gingen sie, sich schüttelnd vor Lachen, aus der Schule.
Schnell bückte Amy sich und versuchte Bücher, Hefte und ihre gesamtem Schulunterlagen einzusammeln. Gerade als sie alles beisammen hatte und sie aufstehen wollte, hörte sie wie ihr Mathelehrer hinter sie trat. Beschämt starrte sie nach oben in seine unverschämt schönen grünen Augen und die Hitze stieg wieder auf.
„Wer war das?“, fragte Nick sofort.
„N-niemand. I-ich bin einfach… eh, gestolpert und dann sind mir… ehm – also, die Bücher sind mir runter gefallen...“. Amys Gesicht war rot, wie das einer überreifen Tomate
Nick hob skeptisch eine Augenbraue, beließ es aber dabei. „Bis morgen, Amy.“
„Ehm, morgen?“, fragte Amy überrascht.
„Ja, morgen. In der Klasse.“, Nick lächelte sie an.
„Oh. Stimmt.“. Amy stieß ein gekünsteltes Lächeln aus und rannte schnell aus der Schule. Mann, ich hab mich mal wieder total blamiert. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Mit eiligen Schritten ging sie auf den Bus zu, doch in diesem Moment schloss er die Türen und fuhr davon und ließ Amy mit geöffneten Mund auf der Straße stehen. Mist! Seufzend nahm sie ihr Telefon aus der Jackentasche und wählte die Nummer ihrer Mutter.
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Der Kies knirsche unter ihren Schuhen als sie das letzte Stück zu Rosenheim hinauf ging. Der Reitstall lag hinter Birken verborgen, doch schon bald erkannte Amy ihre “zweite Heimat“. Ihr am nächsten war der “alte Stall“, im welchen sich zehn Pferde befanden. Er bestand hauptsächlich aus grauen Backsteinen, das Dach war aus Holz und hatte einige undichte Stellen, weshalb der Besitzer des Stalles, Daniel, oft auf dem Dach beim Reparieren der Bolzen zu sehen war. Daneben standen sechs Außenboxen, welche nur zur Hälfte besetzt waren. Kurz darauf kamen die Bänke, Tische und Stühle in Sicht, die bereits fast alle besetzt waren.
Amy gesellte sich zu ihnen. Ihr am nächsten saß Natascha Grießer, die Reitlehrerin, daneben Daniel, Sam, und noch einige andere Leute die Amy nicht kannte und von denen sie vermutete, dass es sich um Touristen handle, die gern Reitunterricht nehmen wollten.
Von hier aus hatte sie einen guten Ausblick auf die gesamte Anlage. Vor ihr befand sich der große Reitplatz auf dem zurzeit Lillian, Sams langjährige Freundin, mit ihrem Pferd trainierte. Rechts davon befanden sich sechs kleine Paddocks, links das neue Stallgebäude, das zwanzig Boxen beinhaltete, die zurzeit alle besetzt waren. Daneben erkannte man die bereits eher alten und morschen Zäune, die die Weide eingrenzten. Hinter dem Reitplatz befanden sich das Round-Pen und die Reithalle, die hauptsächlich im Winter genutzt wurde.
„Hi“, ohne es zu bemerken war der Sohn des Reitstallbesitzters neben sie getreten, Robin Salcher. „Oh, hi“, brachte sie sehr leise zutage. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht verschwand er Richtung Reitstall.
Amy seufzte, dann stand sie auf und rannte auch in den Stall. Die ersten beiden Boxen waren von den zwei Hengsten besetzt. Links von ihr war Champion Of Lights, kurz Light, und war ein braunes Quarter Horse mit schwarzem, gewellten Langhaar. Es war das prachtvollste Pferd, das sie je gesehen hatte und gehörte Daniel. Ihm gegenüber befand sich der zweite Hengst, Mistical Magic Spell, den alle Misty nannten. Er war ein Haflinger, mit einer langen weißen Blesse und weißen Beinen und gehörte zu den Lieblingsschulpferden, wegen seines guten Gemütes. Danach folgten acht weitere Boxen, alle mit Haflingern besetzt, sie waren die Schulpferde, auf denen Daniel und Natascha immer Reitunterricht gaben. Im hinteren Teil des Stalles befanden sich die Pferde der zahlenden Besitzer, darunter auch Dancing Shine, Sonjas Pferd. Es war ein hübscher Buckskin Wallach mit einer sehr guten Ausbildung, die es Sonja ermöglichen mit ihm auch an Reining Rennen teilzunehmen.
Die Eifersucht brodelte in Amy auf und schnell wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Pferd gegenüber zu, welches kein geringeres als das Championpferd von Anna, Angelas Child, war. Schnell gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die samtweichen Nüstern und schritt den Gang entlang bis zur letzten Box in welcher sich die Appaloosa-Stute Nicholas Heartbeat befand.
„Hi Nicky.“, begrüßte sie Amy und streichelte sanft ihren Kopf. Sie erinnerte sich daran, wie Daniel gesagt hatte, dass Nicky morgen von ihren Besitzern abgeholt werden würde und in einen anderen Stall gebracht werde. Schließlich öffnete sie die Boxentür, doch das Geräusch erschreckte das Pferd, welches einige Schritte zurücktrat.
„Pssst… ganz ruhig.“, versuchte Amy sie zu beruhigen, blieb seitlich von ihr stehen und senkte den Kopf. Als sie spürte wie das Pferd sich langsam zu beruhigen schien streckte sie ganz langsam ihre Hand aus. Nickys Ohren spitzten sich und sie streckte ihren Kopf der Hand entgegen. Als sie kein Leckerli fand, drehte sie ihren Kopf weg. Amy blieb noch weitere fünf Minuten ruhig stehen, doch als Nicky noch immer keinen Anstand machte, sich ihr zu nähern, gab sie es seufzend auf und ging wieder hinaus.
Als Amy hinaustrat blendete sie die gleißende Sonne und sie schloss kurz die Augen, sah dabei jedoch nicht den Wassereimer, der neben dem Stalleingang stand, stieß dagegen und verschüttete das gesamte Wasser. Dieses spritzte nach allen Seiten und erreichte auch Robin der sein Pferd Code Of Success gerade von der Weide zum Stall brachte. Das Pferd scheute davor zurück und ging einige Schritte zurück, zog dabei Robin mit sich und riss sich schließlich los, bevor es im rasenden Galopp Richtung Wald rannte.
„Oh, man... t-tut mir leid...“, begann Amy stotternd, doch da sprang Robin bereits auf und sprintete seinem Pferd hinterher. „Cody!“, schrie er ihm hinterher.
Daniel, der das ganze Schauspiel beobachtet hatte, sprang auch sofort auf ging in den schnallen und sattelte in Windeseile sein Pferd. Amy stand bloß daneben und wusste nicht was tun. „S-soll ich auch...? helfen zu suchen, mein ich?“, begann sie zitternd. Daniel verneinte bloß und galoppierte dann los, Cody und Robin hinterher in den Wald.
Na, das hast du ja wieder mal toll gemacht! Amy hätte sich selber für ihre Tollpatschigkeit schlagen können. Unsicher stand sie an Ort und Stelle, wechselte dabei ständig nervös das Bein und biss sich in die eigene Lippe bis sie Blut schmeckte.
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine verstorbene Familie, die ich immer in Gedanken haben werde, für meine Cousine Eleonora, die mich immer aufheitert und für alle meine Freundinnen bei Rose Hill Community die mich immer wieder aufgemuntert hatten, weiter zu schreiben