Cover


-2-

Als es wieder hell um mich wurde, war ich ebenfalls eigens dafür verantwortlich, denn ich öffnete meine Augen. Sofort traf mein Blick auf eines dieser Kruzifixe. Eines von der Sorte, die einem sofort diesen Gedanken durch den Kopf schießen lassen: Hat das Leiden dieses Mannes denn immer noch kein Ende genommen? Das Southfolk College stand keineswegs in dem Rufe eine religiöse Institution zu sein, dennoch verhielt es sich dort nicht anders, als an anderen Englischen Schulen dieser Zeit. Jeder Raum der Schule wurde von einem solchen Kreuz beseelt, so dass man das Gefühl hatte, ständig unter Beobachtung oder was auch immer zu stehen. Ich denke, dass dieser gute Mann, dem die Ehre zuteil wird, in so viele Räume und Zimmer der Welt blicken zu dürfen, einiges stinken würde, wenn man daran denkt, was in unserer Welt in seinem Namen verbrochen wird. Der gerade bezeugte Unfall ließ diesen Moment des Wieder-Zu-Mir-Kommens merkwürdig surreal erscheinen. Ich heftete mich an den flüchtigen Gedanken, dass etwas vollkommen anderes passiert sein könnte. Eine Schlägerei etwa, auch wenn ich gar nicht der Typ für Schlägereien war, oder irgendetwas anderes, was nun rechtfertigte im Krankenzimmer meiner Schule meine Wimpern zu heben und die elektromagnetischen Reize einer Neonlampe auf die Retina fluten zu lassen, alles hätte es sein können, nur nicht dieser verdammte Unfall. Ich stand von der Krankenpritsche auf und musterte meine Kleidung. Sie schien, ganz neben modischen Aspekten, in Ordnung. Auch schmerzte nichts. Um ganz sicher zu gehen, hob ich meine Hosenbeine ein Stück um festzustellen, dass ich auch keine kleineren Verletzungen erlitten hatte. Mit den Ärmeln des Pullovers meiner Schuluniform tat ich dasselbe. Auch die Haut meiner Arme schien rundherum tadellos. Ich bewegte mich ein wenig durch den Raum um schließlich das Waschbecken und den Spiegel zu erreichen, die an der gegenüberliegenden Wand der Pritsche angebracht waren. Was den Eindruck, es handele sich um eine ganz andere Begebenheit, die mich hier hin verfrachtet hatte, verstärkte, war mit Sicherheit das Ausbleiben der für die Betriebsamkeit einer Schule typischen Geräusche. Es war totenstill. Absolut still. Kein noch so winziges Geräusch war zu hören. Als ich den Spiegel und das Waschbecken erreichte, konnte ich bis auf eine gewisse Bleiche in meinem Gesicht nichts Ungewöhnliches feststellen. Es waren keine Kratzer, aufgesprungene Lippen oder Abschürfungen zu erkennen, was mich schließlich dazu brachte, den Gedanken an eine Schlägerei endgültig fallen zu lassen. Ich wandte mich um. Meine Habseligkeiten und die Schultasche waren ordentlich links neben der Tür aufgestellt worden. Ich kleidete mich an, schulterte meine Tasche und ergriff die Türklinke, die sich, wie mir schien, keinen Millimeter nach unten drücken ließ. Noch einmal ging ich zum Spiegel und sah tief hinein. Bis auf die Tatsache, dass meine Augen blutunterlaufen waren, keine neuen Erkenntnisse. Hatte ich zu wenig Schlaf bekommen, hatte ich zu schnell die Deckung meiner Lider fallen lassen? Hatte ich mir zu wenig Zeit gelassen, den abwegigsten aller Gedanken, den an die mögliche Schlägerei, fallen zu lassen? Erneut wandte ich mich von meiner gläsernen Kopie ab und streckte die mittlerweile behandschuhte rechte Hand abermals zur Klinke aus. Wieder bewegte sie sich keinen Millimeter. Ich entschloss mich dazu, es weiter zu versuchen. Es muss ungefähr zehntausendachthundert Augenblicke gedauert haben.


-3-

Niemand hatte große Lust den Schulbetrieb weiter laufen zu lassen. Ich befand mich auf der Straße und wagte den, durch die Schneeglätte gefährlichen Abstieg von der Anhöhe, auf der unsere Schule lag. Unten, am Fuße der Anhöhe, erstreckte sich nach einigen hundert Metern, Churchton. Mein Heimatort, mein Schulort. Während man den Weg nach unten nahm, konnte man auf die Umrisse der Stadt blicken, die nicht immer schon so ausgesehen hatten. Als ich unten an der Mainstreet ankam, die einen Teil des großen, ehemaligen Stadtwalls bildete, blieb ich an einer Ampel stehen und dachte für einen kurzen Moment, dass jemand meinen Namen rufen würde. Ich wandte mich zurück und konnte im Menschenstrom der nachmittäglichen Stoßzeit niemanden ausmachen, der meinen Namen hätte kennen können. Ich drehte mich wieder zur Straße. Da war es noch einmal. Aber wieder war niemand zu erkennen. Als die Ampel jedem Wartenden bedeutete, nun die Straße passieren zu können, setzten sich zwei, durch einen breiten Streifen Asphalt getrennte Lager in Bewegung, aufeinander zu. Das für diese Uhrzeit typische Schauspiel einer aufstrebenden Stadt, wie es Churchton eine war. Für einen Moment meinte ich ein weiteres Mal, dass jemand meinen Namen rief, diesmal achtete ich aber nicht darauf und setzte unbeirrt einen Fuß vor den anderen. Die neue Innenstadt Churchtons war unglaublich. Hier und da stießen Bürogebäude gen Himmel, dort quetschte sich ein Kaufhaus zwischen alte kleine Gebäude, die früher einmal Wohnhäuser gewesen waren. Die neue Innenstadt Churchtons sah aus wie ein einzig großes Kompositum zweier Architekten unterschiedlicher Schulen, die sich vor allem dadurch unterschieden, mehrere hundert Jahre zwischen sich gebracht zu haben. Meine gesamte Kindheit hatte ich hier, beziehungsweise auf dem Land vor Churchton verbracht und nun wohnte ich mittendrin. Viele meiner Mitschüler mussten teilweise aus anderen Städten anreisen um das Southfolk zu besuchen. Für mich hingegen wurde es noch bequemer, als mein Vater sich dazu entschied, mir eine Wohnung in der Nähe der Innenstadt zu finanzieren. Meine Eltern besaßen einen großen Landsitz außerhalb Churchtons und die Verkehrsanbindungen waren derart schlecht, dass ich fast eine Stunde zu Fuß unterwegs gewesen wäre, um den nächsten Bus zu erreichen. Früher war ich oft mit meinen Großeltern im Stadtpark Churchtons gewesen, der neben einer weitläufigen Parkanlage noch ein altes Schloss besaß, das genau in seiner Mitte erbaut worden war. Seither mochte ich es hier, seither war ich immer wieder dort gewesen, mit meinen Großeltern und allein. Von je her hatte ich eine enge Verbindung zu der Grünanlage empfunden, die in der zum gegenwärtigen Zeitpunkt sich immer erweiternden Stadt, mehr Oase für mich war denn je. Der Park war zu einem, in einer romantischen Sichtweise, regelrechten Zufluchtsort geworden. Obschon ich angesichts der letzten Erlebnisse einen Zufluchtsort gut hätte gebrauchen können, machte ich mich ohne Umwege auf in die Stadt, auch wenn es, bevor ich die Mainstreet passiert hatte, nur eines kleinen Schlenkers bedurft hätte, um direkt im Park zu stehen. Der Grund dafür war denkbar einfach; ich brauchte neue Zigaretten. Damals hatte es im Park ein Tabakhaus gegeben, das dem Adel vorbehalten war, als das Schloss noch bewohnt wurde. Jetzt wurde es, der Nostalgie wegen, an einem Tag in der Woche geöffnet. Dieser Tag war aber nicht der beschriebene. Der beschriebene Tag ist ein Freitag. Zigaretten gab es aber dort, wo ich mich nun befand. Vor einer mit Luftballons und goldenen Girlanden behangenen, vom Baustoff her aber recht dunkel gehaltenen Fassade. Sie war von filigraner Oberflächenstruktur. Ornamente, Stuck und Ansätze von Säulen, die eine stützende Funktion andeuten wollten, sie aber vermutlich gar nicht hatten. Es standen ebenso viele Menschen vor diesem Gebäude, wie in ihm. Der Laden platzte derart aus den Nähten, dass die Insassen sich kaum zu bewegen vermochten. Ich hatte tatsächlich etwas gegen diese neumodischen Kaufhäuser. Nicht nur weil sie dem Antlitz meiner schönen Heimatstadt ästhetisch nicht zuträglich waren, sondern auch, weil sie nichts weiter für mich waren, als ein weiterer ungesunder Erreger in unserer ohnehin am Kapitalismus erkrankten Gesellschaft. Wie dem auch sei, ich brauchte eben neue Zigaretten. Innen setzte sich das neo-barocke Konzept des Exterieurs fort. Ich fand es zum Kotzen. Überall war schon Weihnachtsdekoration aufgestellt worden und es sah überall festlich geschmückt aus. Viel zu früh, wenn man mich fragte – es war gerade mal Ende November. In all dem Geglitzer und Gefunkel und Kitsch, dem dichten Gedränge von Menschen und der Unbekanntheit dieses Gebäudes, fiel es mir schwer mich zu orientieren. Aber wie konnte man auch schon von Orientierung sprechen, wenn einem keinerlei Anhaltspunkt geboten wird. Ich quetschte mich um eine Regalecke, wodurch ich beinahe einen ausgestellten Flakon teuren Parfums zu Fall gebracht hätte. Wo zum Teufel konnten sie denn hier die Zigaretten aufbewahren? Wo war diese verdammte Tabaknische, die man in jedem neuen Kaufhaus finden konnte? Ich fand einfach, dass meine Kapillaren, nach den Bildern des Tages, einiges an Blausäure vertragen könnten. Es war schon genug Horn zwischen Kalk zerrissen worden an diesem Tag.


-4-
Sharons Introduktion

Scheinbar waren aber nicht genug Gefäße auf Gefäße gelegt worden, denn mit einmal schien ich eine Hand auf meiner rechten Schulter zu spüren. Es muss eine andere gewesen sein als meine eigene, denn meine Arme hingen schlaff neben mir. Ich blickte hinunter zu der Hand und verfolgte den dazugehörigen Arm bis zur fremden, dem Arm wiederum zugehörigen Schulter. Sie war schmal diese Schulter und von einem roten Mantel verhüllt. Als mein Blick weiter wanderte bemerkte ich sofort, dass zu der schmalen Schulter, ein gerader und schlanker Hals zu gehören schien. Und direkt an diesen Hals, ohne Umschweife und Umwege, ohne kleinste Zögerlichkeiten, erschloss sich mir das allerschönste Gesicht Sharon McNichols. Dem Namen nach schottischer Abstammung, ihren Bewegungen nach französisch-stämmig, ihrer Artikulation nach dänisch kultiviert.
»David Armstrong, man sollte tatsächlich irgendeine Art von Signal erhalten, immer dann, wenn du dich dazu entschließt, dein Gehör in die Hosentaschen zu stecken.«
Mich überraschte es keineswegs, sie hier im neuen Kaufhaus zu treffen. Sie hatte wirklich eine ausgeprägte Lust daran, alles Geld, das sie von ihren Eltern erhielt, in die neuste Mode und all die netten, dazugehörigen Accessoires zu investieren. Und tatsächlich war es das, was sie davon hielt – eine Investition.
»Wieso? Was meinst Du?«
»Nun, ich hatte dir vorhin auf der Main nachgerufen.«
»Oh, ich habe leider nichts gehört«, log ich.
»Tja, das habe ich wohl bemerkt. Ich hätte dir andernfalls wohl kaum bis hierher nachlaufen müssen, nicht wahr?«, antwortete sie mit ihrer Puderzuckerstimme, die sie immer dann benutzte, wenn sie irgendetwas ärgerte.
»Tut mir wirklich leid. Gibt es etwas Wichtiges?« Diese Frage schien ihr Unbehagen zu bereiten. Natürlich konnte ich mir gut vorstellen, was sie von mir wollte, angesichts der Tatsache, dass momentan ein grausiger Vorfall die gesamte Schule auf den Kopf stellte. Und mit Sicherheit war da noch etwas.
»Etwas Wichtiges? Etwas Wichtiges? Bitte verschone mich vor deiner gespielten Teilnahmslosigkeit. David, du warst ein direkter Augenzeuge. Was glaubst du, was mich dazu bringt, dir bis in die Innenstadt nachzulaufen? Wenn du keinen Redebedarf verspürst, dann soll es gut sein. Wenn du keine Schulter benötigst, dann soll es gut sein. Aber bitte beleidige nicht meine Intelligenz, indem du vortäuschst, absolut nichts sei passiert oder dadurch, dass du mir weismachen möchtest, es ginge dich nichts an, in Ordnung?«
»O.K., du hast vollkommen Recht, Sharon. Ich schätze, dass die Geschehnisse noch nicht lang genug her sind, als dass ich jetzt schon darüber sprechen möchte. Lass mir noch ein wenig Zeit. Ehrlich gesagt, geht es mir auch nicht sonderlich schlecht. Ich denke, dass ich noch genügend Zeit bekommen werde, mich mit dem Bild des Unfalls auseinanderzusetzen. Für den Moment jedenfalls geht es mir gut.«
Irgendetwas verschaffte mir den Eindruck, dass sie mir meine gespielte Ruhe nicht so ganz abnahm.
»Nun gut. Nun gut. Wie du meinst. Ich war nur in Sorge, weil man dich nicht zu Gesicht bekam, unmittelbar nach dem Vorfall. Ich habe herum gefragt, ob dich vielleicht irgendwer gesehen haben könnte. Aber es schien keine Spur von dir zu finden oder zu suchen zu sein. Als ich dich dann hinunter zur Stadt laufen sah, wollte ich wissen, wie es dir geht. Tut mir leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin oder dich mit meiner Fragerei belästigen sollte.«
Ich schätze, Sharon und auch sonst niemand wird sich vorstellen können, wie es ist, wenn das zugegebenermaßen begehrteste Mädchen der Schule sich um einen sorgt. Einem nachruft, nachläuft. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt Näheres dazu. Niemand. Selbst ich wusste zu diesem Zeitpunkt nichts Näheres.
»Du bist mir nicht zu nahe getreten, ganz sicher nicht. Und ich danke dir für deine Sorge. Um ein weiteres Mal ehrlich zu sein, muss ich sagen, dass ich mich direkt nach dem Vorfall recht einsam fühlte. Ich finde es schön, dass du da bist. Danke.«
Und wieder mag sich niemand eine Vorstellung davon machen, wie es ist, wenn sich das zugegebenermaßen begehrteste Mädchen der Schule nicht dazu zwingen kann, nicht warm zu lächeln, nachdem sie das von einem hörte.
»Hast du schon über heute Abend nachgedacht?«, fragte sie.
»Heute Abend?«
»Ja, heute Abend«, antwortete sie vielleicht ein bisschen ärgerlich. Verwirrt angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnern, was es mit heute Abend zum Teufel auf sich hatte. Mir wurde heiß, als ich bemerkte, kurz davor zu sein ins offene Messer zu laufen. In aufkeimender Panik wagte ich einen Schuss ins Blaue:
»Ach, du meinst wegen heute Abend?«
»Ge-nau«, warf sie übertrieben lang gezogen ein.
»Unsere Verabredung...«, riet ich.
»Ge-nau«, erneut war dieses Wort erstaunlich lang artikuliert.
»Hast du heute vielleicht zu viel auf dem Herzen, um mit mir auszugehen?«, erkundigte sich Sharon.
Nach den Geschehnissen des heutigen Tages hätte ich mich nach ein wenig Ruhe gesehnt. Und als ich gerade ansetzte zu sprechen, als ich gerade eine halbwegs passable Formulierung zusammenbrachte, da machte ich den Fehler und sah ihr auf die Retina, sah ihre schmalen Schultern im roten Mantel, sah die französischen Bewegungen, hörte den subtilen dänischen Klang, als sie ein weiteres Mal erwartungsvoll und neckisch fragte:
»Na?«
Ich kapitulierte.
»Mach dich nicht lächerlich, Sharon. Wie gesagt, es ist eigentlich alles in Ordnung und heute Abend werde ich mich genauso über dich freuen, wie ich mich jetzt freue.« Das war das erste Mal an diesem Tag, dass ich mir innerlich gegen die Stirn schlug.
»Wunderbar. Ich freue mich auch David. Ich hatte eigentlich vorgehabt, mit dir über die Dinge zu sprechen, die eben passiert sind. Da es dich aber nicht allzu sehr zu beschäftigen scheint, können wir uns auf einen schönen Abend freuen. Also sehen wir uns um acht?« Ich nickte.
»Am Bahnhof?« Ich nickte erneut und rang mich zu einem Lächeln durch.
»Wunderbar. Einfach wunderbar. Ich freue mich schon wahnsinnig, David Armstrong.« Und mit einem hastigen Kuss auf meine Wange verschwand sie strahlend im Getümmel der Kaufrauschbesessenen.
Ich hatte mit gemischten Gefühlen zu kämpfen. Einerseits hätte ich wirklich ein wenig Ruhe gebrauchen können, eigentlich wollte ich zur Ruhe kommen, eigentlich. Andererseits war es vermutlich schon das Beste, diese Verabredung wahrzunehmen. Vorausschauend sein, ganzheitlich sein, analogieschlusssüchtig. Überdies kann sich niemand eine Vorstellung davon machen, wie es war, sich mit dem zugegebenermaßen begehrtesten Mädchen der Schule zu verabreden und das dumpfe und undankbare Gefühl zu spüren, nicht derjenige zu sein, der sich am meisten darüber freut.
Während ich ihr nachsah, dachte ich über sie nach. Sie war undurchdringlich, diese Sharon McNichol. Sie bekannte an jedem möglichen Wochenende in Brighton Farbe. Die Wochenenden in Brighton. Was anfangs für sie noch ein kleiner Teenagerspaß mit lauter Musik, Tanz, aufgemotzten Motorrollern, Drogen, Jungs in Anzügen und harmlosen sexuellen Abenteuern am Strand sowie kleineren Schlägereien gewesen war, entpuppte sich auch für Sharon nach und nach zu einem ernsthaften politischen Statement. Letztlich stellte sie mir sogar Fragen über die Studentenbewegungen in Deutschland. Sie sprach die Situation der deutschen Studenten konkret an, ebenso wie das vorherrschende Presseproblem der Zensur in Deutschland. Sie zog den Schluss, dass sich die Regierung eines Landes, das nur zwei Dekaden nachdem es einen Krieg an dem sich die gesamte Welt beteiligte, begonnen hatte, mit Ausdrücken wie 'FU-Chinesen' zurückhalten müsse. Recht hatte sie, sie sprach mir aus der Seele damit. Was aber nicht zu verstehen war; warum hatte sie solche Lust, die Dinge die sie einerseits anprangerte, stellenweise auszuleben? Ich wusste genau, dass diese Kaufhauseröffnung nicht nur aus dem Umstand für sie angenehm war, dass ich mich dort aufhielt.
Trotz allem war sie so ziemlich der einzige Mensch, mit dem ich es länger als fünf Minuten aushielt, wenn das jemanden interessiert. Sie war darüber hinaus der einzige Mensch, den ich länger als fünf Minuten ansehen konnte und einmal passierte mir das tatsächlich.
Unsere Schulordnung besagte, und in England ist das nichts Ungewöhnliches, dass jeder männliche Schüler, den weiblichen Schülern gewisse Aufmerksamkeiten entgegenbringen müsse. Dinge, wie Türen aufhalten oder die Treppen hinter ihnen hochsteigen und vor ihnen hinunter gehen. Die Aufrechterhaltung alberner Etikette und altbackenem Gentlementum also. Wie dem auch sei, letzterer Ordnungspunkt bringt seit einiger Zeit regelmäßig den männlichen Teil der Schülerschaft in Unruhe. Es war die Zeit, die Twiggy berühmt machte. Es war die Zeit, in der Röcke eher breiteren Gürteln als wirklichen Röcken glichen. Diese gewagte Modeerscheinung veranlasste die modebewusste Sharon McNichol dazu, immer dann, wenn keine Lehrkräfte in der Nähe waren, den Rock ihrer Schuluniform derart hoch aufzuschlagen, dass er mit einem Mal dieser neuen Errungenschaft der Modeindustrie glich. Man kann sich also gut vorstellen, dass Schulordnungen mit anderen Augen betrachtet wurden, als man Treppen lief.
Ich bereute es, nur zwei Augäpfel besessen zu haben, aber noch vielmehr die Tatsache, dass Sehen das Einzige war, was ich diesem Augenblick tun konnte. Ich wollte jeden Moment dieser Situationen auskosten. Mit allen Sinnen. Ich wollte dieses Mädchen auskosten – multimodal. Wahrlich, sie war ein nettes Paket, diese Sharon McNichol. Mit der Erinnerung an eine Schultreppe, mit der Erinnerung an ihr hervorblitzendes Höschen, mit der Erinnerung an ihre Retina, die so sehr der meinen glich, daran, dass sich beide so gut ineinander fügten kam mir ein warmes und erregtes Lächeln über die Lippen, als ich durch ein Fenster des Kaufhauses die Innenstadt sehen wollte. Es war von Menschenmassen verdeckt.

Impressum

Texte: Das Copyright sämtlicher Texte und Bilder liegt ausschließlich bei Daniel Böhm
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /