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„Manchmal... da kommt es über mich; und ich fühle mich wie jeder Andere auch. Manchmal... bin ich allein!"

Meine Schwester Fiona war nie allein. Jedenfalls dachte sie das. Für sie hatte allein sein eine völlig andere Bedeutung. Erst nachdem ich mit ihr eine ungewöhnliche Situation erlebte brachte ich sie in eine Klinik. Folgende Geschichten erzählte sie nach und nach in der Therapie.

„Ich war noch sehr klein als meine große Schwester auszog und ich mein eigenes Zimmer bekam. Ich musste also jetzt allein einschlafen, das machte mich etwas ängstlich. Das erzählte meine Mutter den Nachbarn, deren Fenster ich von meinem Bett aus sehen konnte. Sie konnten also auch sehen wann ich im Bett lag. Das erzählten sie mir voller Freude und dass sie auf mich aufpassen und ab und zu mal in mein Zimmer gucken würden, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. So musste ich jeden Abend den Nachbarn winken. Sie waren recht alt. Oft, wenn ich auch tagsüber aus dem Fenster sah, waren dort diese Nachbarn. Sie waren recht glücklich darüber. Doch irgendwann haben sie angefangen in mein ganzes Zimmer zu sehen. Sie beobachteten mich beim Spielen, beim Essen und beim Schlafen. Ich machte die Jalousie zu und erzählte ihnen es wäre zu hell in der Nacht, damit sie nicht traurig sind. Aber dann beobachteten sie mich einfach durch die Kamera. Daran hab ich mich bald gewöhnt und hab die Kamera auch ab und zu vergessen. Manchmal glaubte ich auch, sie wäre gar nicht dort, schliesslich konnte ich keine finden. Und ich wusste in dem Alter ja noch nichts über diese winzigen Dinger, die es heute gibt und die ganzen Wanzen, die man überall verstecken kann. Also hab ich auch niemanden davon erzählt, damit niemand traurig ist, aber in erster Linie, weil ich dachte ich wäre verrückt. Die Leute hätten besseres zu tun als mich zu beobachten. Das sollten Leute wirklich!"

Aus der Zeit, in der Fiona zu einer Jugendlichen heran wuchs, hier und da einen Jungen und neue Freunde kennenlernte und auch wieder vergass, erzählte sie folgendes:

„Ich hatte im Internet einen wirklich tollen Jungen kennengelernt. Wir trafen uns ein paar Mal. Obwohl er mich recht bald stehen ließ, war ich nach unseren Treffen immer sehr traurig. Ich wollte ihn länger sehen. Ich wollte, dass er mich mag. Also versuchte ich in meinem Zimmer immer so süß und so freundlich wie möglich zu sein. Schließlich waren die Nachbarn nicht mehr da und er konnte die Bilder der Kamera sehen. So würde er bald zurück kommen, dachte ich. Er blieb dann aber doch weg. Bald lernte ich jemand anderen kennen. Diesmal versuchte ich noch besser zu sein, versuchte mir vorzustellen wie er gern hätte wie ich wäre und versuchte so zu sein. Immerhin würden die Spezialisten ihm aller erklären. Warum ich so bin u.s.w.“

Mit Spezialisten meinte sie jede Art von Psychologen und Ärzten. Je nachdem was gerade passte. So verschlimmerten sich ihre Vorstellungen mit den Geschehnissen.

„Ich lernte viele Freunde kennen, doch niemand wollte mit mir ins Kino oder Skaten gehen. Alle wollten mich nur beobachten. Ich habe mich oft gewundert, warum das wohl so war. Die Spezialisten erklärten allen möglichen Leuten warum ich etwas so tat wie ich es tat, warum ich traurig war oder glücklich, falls jemand etwas nicht verstand. Falls jemand später dazugekommen ist. Allerdings war ich nie sicher, ob sie auch immer alles richtig erklärten, schließlich konnte ich sie ja nicht hören. Die Kamera hatte ich auch noch immer nicht gefunden. Manchmal wollte ich sie loswerden. Ich wollte nicht in jeder Situation beobachtet werden. Und sie nervten mich auch einfach nur ab und zu. Niemand sollte jedoch traurig sein. Die Kamera musste irgendwo im Fenster sein. Immer öfter musste ich mich für alles was ich tat rechtfertigen. Das hat mich auch genervt. Ich wollte so gern einfach nur allein sein. Sie sollten mich in Ruhe lassen“

In Fionas erster Wohnung war ein altes, leeres Fabrikgebäude vor ihrem Fenster. Wen sie darin sah erzählte sie auch einmal.

„Ich kam von der Arbeit und war allein. Niemand war dort. Also ging ich zum Fenster und sah in die untere Lagerhalle. Dort stand der Tod in seiner typischen Gestallt und starrte mich an. Jeden Tag war er dort und die Leute im Fenster auch. Sie sehen wie mich der Tod anstarrte. Sie sahen wie auch immer ich reagierte. Also blieb ich so locker es nur ging. Sie sollten nicht in meinen Gefühlen baden. Doch sie kennen mich schon längst zu gut. Jetzt sagte ich ihnen schon jeden Tag sie sollten gehen. Einfach nur verschwinden, damit ich allein sein kann. Alle, die früher schon einmal da waren interessierten sich auf einmal wieder für mich. Männer, die ich einmal traf glotzten den ganzen Tag. Diese Spezialisten erklärten alles völlig falsch. Noch immer konnte ich sie nicht hören, aber ich fühlte wie sie mich lächerlich machten. Manchmal schrie ich sie an. Manchmal starrten sie, weil sie mich mochten. Und der Tod? Der steht einfach nur da! Jetzt würde ich bald sterben. Da war ich sicher. Sie würden einfach zusehen wie der Tod mich holt."

Fiona zog aus. Weg von dem "Tod", wie sich später herrausstellte dachte sie, sie hätte ihn überlistet. Wirklich war in der nächsten Wohnung alles anders.

„Ich war glücklich. Die Spezialisten hatten Recht. Ich musste mich nur sehr selten rechtfertigen, so erzählte ich allen viel und alle mochten mich. Sie riefen mich bloß nicht an, weil sie zu schüchtern waren. Doch das war okay."

Fiona hatte mir nie irgendetwas davon erzählt. Eines abends besuchte ich sie. Während wir uns unterhielten blickte sie immer öfter zum Fenster und lächelte. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass sie sowieso immer oft zum Fenster sah. Als ich sie danach fragte sagte sie etwas was mich stark beunruhigte.

„Och, ich möchte nur das sie mich mehr lächeln sehen. Ich möchte nicht als traurig dastehen. Schließlich mögen sie mich noch nicht all zu lange. Das ist okay, aber sie nerven mich immer noch ein bisschen. Ich bin ja nie allein. Vielleicht kannst du sie bitten zu gehen, damit sie nicht zu traurig sind“

Als meine Schwester mir dann noch erklärte wer dort alles im Fenster war, wusste ich hier stimmte etwas nicht.
Seit all den Jahren musste meine Schwester schon krank gewesen sein - und keiner hat es je bemerkt.

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Tag der Veröffentlichung: 02.10.2010

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