»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
Friedrich Nietzsche: ›Jenseits von Gut und Böse.‹
Gleichzeitig, mit einer Hand voller Erde, warf Amanda Flynn einen letzten Blick auf den Sarg ihrer Mutter. Sie drehte sich um und ging langsam zu ihrem alten, wuchtigen Ford Bronco. Er stach aus der Reihe der geparkten Limousinen heraus wie Goliath aus dem Heer der Philister. Eine Träne rollte über Amandas rechte Wange; das erste und einzige Zeichen ihres Schmerzes. »Verflucht, Gott!«, dachte Amanda bitter. »Du und ich, wir haben eine Rechnung offen. Aber wahrscheinlich schert dich das einen Dreck! Für dich sind wir bestenfalls Figuren in einem Fantasy-Spiel.«
Gott schien sie gehört zu haben, denn er gab genüsslich eines obendrauf: Von rechts steuerte Ken, das Arschloch, auf Amanda zu. Der Schwachkopf besaß tatsächlich die Frechheit, sie fröhlich anzugrinsen. Durch den schwarzen Schleier warf sie ihm einen waffenscheinpflichtigen Blick zu. Augenblicklich erstarb sein Lächeln, machte einer mitfühlenden, sorgenvollen Miene Platz.
»Mandy! Es tut mir ja so leid«, flötete Ken heuchlerisch. Amanda winkte ihn heran. »Ken, mein Lieber, wenn du Wert auf deine Eier legst, verschwindest du besser! Du stehst mit Abstand an der Spitze all jenes Abschaums, den ich jetzt nicht in meiner Nähe haben will!«
Ken zuckte zurück, als hätte sie sich in einen Werwolf verwandelt. »Amanda ...«, begann er, hielt jedoch inne, als er sah, wie sie ihre Fäuste ballte. Er beschloss, sich und seine Hoden in Sicherheit zu bringen. Aus sicherer Entfernung deutete er mit Daumen und kleinem Finger der rechten Hand einen Telefonhörer an. »Ich ruf dich an!«
Amanda kramte in ihrer Handtasche, entnahm ihr Notizblock und Bleistift und schrieb auf: »Schreckschusspistole kaufen.« Wenn Ken wirklich anriefe, würde sie mit der Pistole in den Hörer ballern. Damit hätte er hoffentlich für den Rest seines Lebens ein Besetztzeichen im Ohr – und sie endlich Ruhe von ihm!
Verärgert schüttelte sie den Kopf über Kens Auftritt und dachte bei sich: ›Der Typ ist blöder, als ich es je für möglich gehalten habe.‹
Vor drei Jahren war sie kurze Zeit mit Ken liiert gewesen. Zunächst hatte sie geglaubt, endlich den Ritter in der schimmernden Rüstung gefunden zu haben, den alle Mädchen suchen. Auch die großen. Nur zu schnell musste sie feststellen, dass er eine Mogelpackung auf zwei Beinen war. Durch und durch! Von der ausgestopften Hose bis hin zu seinen charmanten Sprüchen, die – wie Amanda herausgefunden hatte – alle aus einem Buch stammten. Kurz: Er war weder in der Hose noch im Kopf bemerkenswert bestückt, was er bewies, als er mit Mary Jo, Amandas Mutter anbandeln wollte. In dem Augenblick erfuhr er sehr schmerzlich, dass die Mutter-Tochter-Solidarität nicht nur reine Legende war. Und dass Furien wirklich existierten. Auf jeden Fall in seiner kleinen Welt. Es dauerte zwei Wochen, bis er ohne kühlende Einlagen im Schritt gehen konnte. Die Wunden, die Mary Jos Fingernägel hinterlassen hatten, benötigten länger, um zu heilen.
Seither meldete sich Ken immer mal wieder bei Mary Jo oder Amanda, um die Lage zu checken. Schließlich fanden die beiden Frauen eine Verwendung für Ken: Er war der ideale Blitzableiter für jede Art von angestautem Frust. Nie, nicht einmal einen winzigen Augenblick lang, hätte Amanda geglaubt, dass Ken ihr eines Tages das Leben retten würde.
Draußen wurde es allmählich dunkel. Amanda saß im Haus ihrer Mutter und nippte an einem Glas Merlot. Ihrem vierten oder fünften. Sie gab sich dem Selbstmitleid hin, das in dem Gedanken wurzelte, nun mehr oder weniger allein auf der Welt zu sein. Abgesehen von den übrigen sieben Milliarden Idioten, die auf dem Planeten herumwuselten. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Wie sie selbst heute, war Frank Flynn ein Kriegsfotograf gewesen. Ein gefährlicher Job, der ihrem Vater zum Verhängnis wurde – Frank verschwand während des Vietnamkrieges spurlos. Von ihm hatte Amanda die Liebe zum Fotografieren und zur Gefahr geerbt. Vielleicht war es auch nur ein Versuch, ihm irgendwie nahe zu sein; mehr über ihn zu erfahren; mit ihm in eine spirituelle Verbindung zu treten. Tatsächlich hatte sie hin und wieder in brenzligen Situationen das Gefühl, als würde er seine schützende Hand über sie halten.
Ihre Mutter hatte seinen Tod nie überwunden. Bis zu ihrem letzten Tag hoffte sie, er würde doch noch nach Hause zurückkehren. In Mary Jos Leben hatte es nie einen anderen Mann als Frank gegeben. Eine 3-T-Liebe, dachte Amanda wehmütig. Tief, tragisch und traurig.
Amanda leerte ihr Glas. Sie entschied, dass der Abend sich bestens dafür eignete, das Feuer des Selbstmitleides mit zusätzlichem Brennstoff zu schüren. Leicht wankend stand sie auf und erklomm die Treppe in den oberen Stock, wo sich das Schlafzimmer ihrer Mutter befand. Dort warteten die Kohlestücke der Erinnerung darauf, entflammt zu werden: Schachteln voller Fotografien, Tagbücher ihrer Mutter, Briefe, die ihr Vater von verschiedenen Kriegsschauplätzen aus an Mary Jo gesandt hatte. Ihre Mutter hatte diese sorgfältig chronologisch geordnet und mit verschiedenfarbigen Bändern zusammengebunden.
Amanda setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und öffnete das erste der alten Fotoalben. Vor ihr entfaltete sich eine Welt des Grauens, in der man auf Schritt und Tritt Gefahr lief, von den tiefsten Abgründen der menschlichen Seele verschlungen zu werden. Eine Welt des Hasses, des sinnlosen Mordens, der namenlosen Gräuel. Gleichzeitig aber auch eine Welt der Kameradschaft, der selbstlosen Hilfe, der Bereitschaft, sich für einen anderen zu opfern. Leben in seiner intensivsten Form. Der zugespitzte ewige Kampf zwischen Licht und Dunkel.
Als Amanda sicher war, genug Fotos betrachtet zu haben, um Albträume zu kriegen, ging sie zu den Briefen über. Ihre Mutter hatte sämtliche Briefe ihres Vaters aufbewahrt. Die Briefe waren für die gesamte Menschheit tabu gewesen – Amanda eingeschlossen. Dieses Tabu gehörte denn auch zu den wenigen, die sie in ihrer Teenagerzeit respektiert hatte. Jetzt allerdings war sie niemandem mehr Rechenschaft schuldig. Trotzdem bat sie Mary Jo und Frank im Stillen um Verzeihung, als sie das oberste Päckchen aus dem Schrank holte. Vorsichtig löste sie das Band – ein rotes – und nahm den ersten Brief in die Hand. Er datierte vom 20. Februar 1968. Ihr Vater schrieb ihrer Mutter ausführlich, wie sehr er sie liebte und vermisste. Wie sehr er sich darauf freute, sie wieder zu küssen, leidenschaftlich zu berühren und mit ihr zu schlafen, sobald er nach Hause kam. Ein Bild, das Amanda unverzüglich aus ihrem Kopf zu verbannen versuchte, was ihr jedoch nicht gelang. Amanda las schnell weiter. Offensichtlich war die Stimmung auf der amerikanischen Seite nach der Tet-Offensive vom 30. Januar 1968 ausgesprochen bedrückt gewesen. Der Angriff war für die Nordvietnamesen kein militärischer Erfolg. Doch die Offensive, die am vietnamesischen Neujahrstag startete, war so überraschend und mit solch einer Wucht geführt worden, dass sie sich verheerend auf die Moral der Amerikaner auswirkte. Die USA konnten und wollten diese Schlappe nicht hinnehmen. Im Gegenzug planten sie eine Geheimoperation, von der Amandas Vater irgendwie Wind gekriegt hatte. Sie trug den klingenden Namen ›Operation Nightmare‹ und sollte den Vietcong demoralisieren. Frank Flynn hatte vor, der Spezialeinheit heimlich zu folgen. Als er den Brief schrieb, war er gerade dabei, die notwendigen, nicht immer ganz legalen Fäden zu ziehen.
Auf den nächsten Seiten des Briefes stieß Amanda auf die Beschreibung mehrerer Bilder, die ihr Vater geschossen hatte. Ihre Mutter hatte oft erzählt, es sei eine Eigenheit Franks gewesen, ihr seine Bilder enthusiastisch und detailliert zu beschreiben. Und ihre Eigenheit sei es, diese Passagen zu ignorieren, da sie sich das Beschriebene nicht vorstellen könne. Im Gegensatz zu ihrer Mutter besaß Amanda ein ausgezeichnetes Vorstellungsvermögen. So sah sie die Bilder mit den Augen ihres Vaters durch den Sucher seiner Kamera.
Auf einmal fiel Amanda der Brief aus der Hand. Ihr Gesicht, das durch den Genuss des Weins eine gesunde rosa Farbe bekommen hatte, wurde mit einem Schlag weiß-gelb und glich im Licht der Leselampe einem Stück Schafskäse. Eben hatte ihr Vater ein besonderes Bild beschrieben: »Ganz im Hintergrund geht gerade die Sonne unter. Sie thront über dem Dschungel wie ein rot glühender, halbrunder Ball. Im Vordergrund aber, etwas näher zu mir, dem Betrachter, scheint die Sonne den Dschungel entflammt zu haben, da gerade in diesem Augenblick eine Napalm-Feuerwand in die Höhe schießt. Davor sieht man einen unserer Green Berets, mit einem vietnamesischen Kind in den Armen, der von der Flammenhölle wegrennt. Er wird von drei Kameraden gedeckt, von denen im Moment der Aufnahme zwei von einer MG-Garbe getroffen und herumgerissen werden. Mit diesem Bild habe ich eine gute Chance, einige internationale Pressepreise zu gewinnen«, beendete er seine Ausführungen.
Amanda kannte das Bild! Jeder Kriegsfotograf kannte es! Die ganze Welt kannte es! Es war zum Pressefoto des Jahres 1968 und später sogar zum Foto des Jahrzehnts erkoren worden. Nur fiel der damit verbundene Ruhm nicht an ihren Vater, sondern an Mike Milkman, der mit dem Foto ein One-Hit-Wonder der Fotografie gelandet hatte. Amanda stütze ihren Kopf in die Hände. Der Teil ihres Verstandes, der durch den Schock nicht lahmgelegt war, lief auf Hochtouren: Wie zur Hölle war dieser verdammte Milkman an das Foto herangekommen? Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihr auf. Sollte Milkman ihren Vater etwa wegen des Fotos ... Nein! Das konnte ... das durfte nicht sein!
Wütend und impulsiv, wie sie war, rief sie sofort die Telefonauskunft an. Eine elektronische Stimme navigierte sie durch das System und verriet ihr schließlich Milkmans Nummer.
Amanda hämmerte die Zahlen in die Tasten ihres Handys als wäre das arme Ding an allem schuld. Nach fünfmaligem Klingeln meldete sich am anderen Ende eine zittrige, alte Männerstimme, die ungewöhnlich hoch klang: »Hallo?«
»Mike Milkman?«, frage Amanda.
»Wer will das wissen?«, fragte die Stimme zurück.
»Amanda Flynn.«
»Die Kriegsfotografin?
»Genau. Und die Tochter von Frank.«
»Oh!« Seine Stimme stockte zwar, Milkman schien aber nicht besonders überrascht zu sein. »Dann ist es so weit. Zeit für meine Sünden zu bezahlen, nicht wahr?«
»Wenn Sie schuldig sind, ja! Ich will mit Ihnen über das Bild reden, mit dem Sie berühmt geworden sind! Und über das Verschwinden meines Vaters! Was wissen Sie darüber?«
Es dauerte einen Augenblick, bis Milkman antwortete. »Hören Sie, Amanda«, antwortete er schwerfällig, »es gibt Geschichten, die man ruhen lassen sollte. Das Verschwinden Ihres Vaters ist eine davon.«
»Haben Sie damit zu tun?«
»Bei Gott, nein! Ich war nur ein Schakal, der die Gunst der Stunde nutzte – und der dabei auf das Böse stieß. Ich bitte Sie, Amanda, lassen Sie die Sache auf sich beruhen.«
»Sie Mistkerl! Glauben Sie wirklich, ich lege die Hände in den Schoß und denke: Wie schön, dass das Foto, welches mein Vater geschossen hat, dem sympathischen Milkman Ruhm brachte! Da irren Sie sich gewaltig!«
»Nein. Die Sache mit dem Bild bringe ich selbst in Ordnung. Gleich morgen. An und für sich habe ich das schon vor Jahren tun wollen. Sogar eine Presseerklärung habe ich vorbereitet. Aber dann ... nun ja. Ich dachte, vielleicht käme ich damit durch. Das schlechte Gewissen, das mich seit 1968 quält, war ein hoher Preis, glauben Sie mir.«
»Sie Ärmster! Ich zerfließe vor lauter Mitleid!«, geiferte Amanda. »Jetzt rücken Sie schon raus damit: Was wissen Sie über das Verschwinden meines Vaters?«
»Nichts! Ich weiß gar nichts! Außer, dass es tödlich sein kann, im falschen Misthaufen zu graben.«
»Wollen Sie mir etwa drohen?«
Milkman lachte auf: »Ich? Ein vierundsiebzigjähriges Wrack? Nein! Vor mir müssen Sie keine Angst haben. Wirklich nicht.« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern: »Aber es gibt Menschen, die nicht wollen, dass alte Geheimnisse ans Tageslicht gezerrt werden. Denen spielt es keine Rolle, ob sie zwei, drei Leichen mehr oder weniger hinterlassen. Passen Sie auf, dass Sie nicht eine davon werden!«
»Sie sind ja total übergeschnappt!«
»Nein. Ich bin alt, aber nicht verrückt. Ich will Sie nur warnen.«
»Wovor?”
»Vor Kreisen, die mächtiger sind, als Sie es sich vorstellen können.«
»Was wollen Sie damit andeuten? Dass die CIA die Finger im Spiel hat? Wir sind doch nicht in einem schlechten Agentenfilm.«
»Ich habe Sie gewarnt! Gute Nacht.«
»Milkman? Hallo! Sie ...! Du kannst nicht einfach aufhängen, Wichser! Ich bin noch nicht fertig mit dir!«, rief Amanda. Er hörte sie nicht mehr.
Um halb elf am nächsten Tag kochte Amanda noch immer vor Wut – und zudem Rührei mit Speck. Nachdem Milkman das Telefongespräch abrupt beendet hatte, ging sie zu Bett. Erst nachdem sie sich stundenlang herumgewälzt hatte, fiel sie in einen von Albträumen zerfressenen Schlaf, aus dem sie alle naselang aufschreckte.
Sie trug den Teller mit der Cholesterinbombe zu dem kleinen Tisch in der Küche. Lustlos stocherte sie im Rührei herum. Vorhin hatte sie versucht, Milkman ans Telefon zu kriegen, war aber einmal mehr beim Telefonbeantworter gestrandet. Sie hasste es wie die Pest, ausgebremst zu werden.
Um sich ein bisschen abzulenken, schnappte sie sich die Fernbedienung und ließ den Fernseher an. Einer von vier, die im Haus herumstanden. Uninteressiert zappte sie durch die Kanäle. Auf einmal hielt sie wie elektrisiert inne. Da war es! Das Foto! Das Fundament von Milkmans unrechtmäßigem Ruhm. Rasch stellte sie den Ton lauter.
»... das Bild nicht von ihm geschossen worden sei, sondern von Frank Flynn, dem bekannten Kriegsfotografen, der Ende Februar 1968 in Vietnam spurlos verschwand«, hörte sie den Nachrichtensprecher sagen. »Mike Milkman bat in seinem Schreiben um Verzeihung für diese unverzeihliche Tat. Offen ist, wie Milkman die Fotografie in die Hände bekam. Ein Geheimnis, das er mit ins Grab nimmt.«
Amanda sprang auf. Hatte sie richtig gehört? Milkman war tot? Sollte an seiner Warnung tatsächlich was dran gewesen sein? Sie zappte weiter, bis sie einen Nachrichtenkanal fand. Nach einer Flut von Blablanachrichten aus aller Welt, ständig unterbrochen durch Werbeblöcke, folgte endlich der Beitrag über Mike Milkman. Eine perfekt geschminkte Sprecherin informierte die Zuschauer, dass Milkman sich nach einem Anruf bei den Medien in seinem Apartment erschossen hatte. Neben seiner Leiche fand man ein Stapel Briefe, adressiert an alle größeren Zeitungen und Fernsehsender des Landes. Die Briefe enthielten die Botschaft, die Amanda bereits kannte.
Obwohl sie es verwerflich fand, dass Milkman sich die ganze Zeit mit fremden Federn geschmückt hatte, empfand sie Mitleid mit ihm. Allerdings nur kurz. Dann flammte ihre Wut wieder auf: Mit seinem Selbstmord kappte der blöde Hund ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit. Er hatte die Tür zugesperrt, und Amanda wusste nicht, wo sie nach dem Schlüssel suchen sollte.
Kurz nach dem Mittag klingelte es an der Tür. Amanda warf einen Blick auf die Straße und erblickte einen DHL-Lieferwagen. Eine Sendung für ihre Mutter? Mary Jo hatte nichts davon erwähnt, dass sie Post erwartete. Anderseits, die letzten Tage vor ihrem Tod war sie recht verwirrt gewesen.
Amanda lief zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Sie stand einem jungen Mann in DHL-Uniform gegenüber. »Eilpaket für Amanda Flynn«, sagte er. »Sind Sie das?«
»Ja, das bin ich«, entgegnete sie überrascht.
»Können Sie sich ausweisen?«
»Natürlich.«
Amanda ließ ihn an der Schwelle stehen und holte ihren Rucksack. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie ihren Führerschein fand. Der Bote betrachtete das Foto. Er tippte etwas in ein Gerät ein, das aussah wie ein zu groß geratenes Handy, und hielt es ihr hin. »Okay! Jetzt brauche ich nur noch Ihre Unterschrift, dann gehört das Päckchen Ihnen.«
Amanda kritzelte mit einem unhandlichen Plastikstift ihren Namen direkt auf das Display. Das krakelige Gebilde hatte wenig Ähnlichkeit mit ihrer richtigen Unterschrift. Sie nahm das Päckchen entgegen. Es war ungefähr so groß wie eine Schuhschachtel, aber viel schwerer. Sie ging in die Küche, stellte es auf den Tisch, holte ein scharfes Messer und durchtrennte vorsichtig die breiten Klebstreifen. Gespannt hob sie den Deckel von der Schachtel und sah hinein. Vor ihr lagen eine alte Kamera, einige Notizbücher, ein vergilbter Briefumschlag und ein Zettel, geschrieben mit derselben zittrigen Schrift, wie die Adressenetikette. Eine dunkle Vorahnung beschlich Amanda. Eine Vorahnung, die sich mit dem Lesen des Zettels bestätigte.
Liebe Miss Flynn
Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich tot. So wie ich die Medien kenne, haben diese bereits über meinen Abgang berichtet. Die Tatsache, dass ich das Foto stahl und Jahre lang mit dieser Lüge lebte, ist nicht zu entschuldigen. Nicht nur deshalb, weil ich den Ruhm beanspruchte, der einem anderen zusteht. Viel schwerer wiegt der Verrat an einem mutigen und guten Mann, der mir vertraute.
Frank, Ihr Vater, war einer großen Sache auf der Spur gewesen. Einer gefährlichen Sache. Er wusste, dass sie ihn das Leben kosten konnte. Für diesen Fall wollte er vorsorgen. Deshalb übergab er mir seine Tagebücher und die beiden Filmrollen, die Sie in der Schachtel finden. Er bat mich, die Bilder zusammen mit seinen Tagebüchern zu veröffentlichen, sollte ihm etwas zustoßen. Er nannte dies seine Rache-aus-dem-Grab-Versicherung,
Um mein Leben zu schützen, tat ich das nicht. Stattdessen hinterging ich Frank.
Mir ist klar, dass Sie nicht eher ruhen werden, bis Sie herausgefunden haben, was mit Ihrem Vater wirklich geschah und wieso er verschwand.
Ich hoffe, ich kann Ihnen hiermit mindestens einen Teil der Antworten liefern. Gehen Sie vorsichtig mit ihnen um.
Ergebenst
Ihr Michael Milkman
Amandas Hände zitterten merklich, als sie das zuoberst liegende Tagebuch aus der Schachtel holte. Bevor sie die erste Seite aufschlagen konnte, klingelte es erneut. Widerwillig legte sie das Tagebuch zurück, stand auf, ging auf die Tür und öffnete sie mit einem Ruck.
An der Schwelle stand ein unscheinbarer Mann in einem grauen Straßenanzug. Sein auffälligstes Merkmal war die Pistole mit dem riesigen Schalldämpfer, die er in den Händen hielt.
Amanda wurde innerlich ganz ruhig. Jahrelang hatte sie sich darauf vorbereitet, genau solche Situationen zu bewältigen. Nach außen hin spielte sie das verängstigte Weibchen:
»Bitte, tun Sie mir nichts!«, flehte sie den Mann mit einer Piepsstimme an. »Was wollen Sie? Geld? Ich habe Geld in meiner Brieftasche. Das können Sie haben!«
»Dein Geld interessiert mich nicht!«, knurrte der Anzug. »Du hast eben ein Paket erhalten. Leider war der Kurier schneller als wir. Dieses Paket möchten wir gerne abholen.«
In Amandas Kopf schrillten die Alarmglocken. Wer war wir? Die Antwort bekam sie auf eine äußerst unangenehme Art und Weise: Jemand legte ihr von hinten einen dünnen Draht um den Hals und zog die Schlinge unerbittlich zu. Vergeblich versuchte Amanda ihre Hände zwischen Hals und Draht zu kriegen. »Tut mir leid. Ist nicht persönlich gemeint«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Obwohl: Spaß macht‘s schon! Sch...«
›Sch... was?‹, dachte Amanda benebelt. Die Drahtschlinge löste sich von ihrem Hals. Hinter Amandas Rücken ertönte ein dumpfes Geräusch, als ob ein Mehlsack umgekippt wäre. Die Augen des Anzuges vor ihr weiteten sich. Er hob die Hand mit der Pistole, gleichzeitig fiel hinter Amanda ein zweiter Mehlsack um und fluchte laut: »Verdammter Mist!!«
Bevor der graue Anzug abdrücken konnte, explodierte Amanda förmlich. Sie duckte sich blitzschnell, griff mit beiden Händen nach seinen Beinen und riss mit aller Kraft an ihnen. Der Anzug knallte haltlos zu Boden. Amanda schlug ihm mit der linken Handkante die Pistole aus der Hand und hieb ihm mit aller Kraft den rechten Ellenbogen in die Magengrube. Das Gesicht des Anzuges wurde zuerst rot, dann blass. Er zuckte einen Moment wie ein Fisch auf dem Trockenen. Schließlich verlor er das Bewusstsein und blieb regungslos liegen. Amanda griff nach der Waffe, die zu ihren Füßen lag, und schnellte um. Vor ihr am Boden lag ein zweiter Anzug – ein anthrazitfarbener, mit einer ziemlichen Beule am Kopf. In einer Hand hielt er noch immer die Garrotte aus Klavierdraht, mit der er Amanda erwürgen wollte. Neben ihm saß jemand, den Amanda gut kannte, und atmete schwer: Ken!
Amanda kniete sich neben ihn. »Was zum Teufel tust du hier?«, fragte sie unwirsch und besah die Platzwunde auf seiner Stirn.
»Was wohl? Ich wollte dich besuchen, dann sah ich diesen Idioten, der sich durch den Hintereingang ins Haus schlich! Also schlich ich ihm nach!«
»Ken, du Trottel! Er hätte dich umbringen können!«
»Mich? Dich hätte er fast umgebracht! Also habe ich ihm eine rübergezogen! Leider stieß ich mir den Kopf, als ich zur Seite hechten musste, weil mich das andere Arschloch erschießen wollte!« Er griff sich an die Stirn.
»Ich hasse dich!« Amanda musste sich beherrschen, um Ken nicht niederzuschlagen. »Am Ende entpuppst du dich doch noch als Ritter!« Sie küsste ihn auf die Wange. »Verschwinde jetzt!«, sagte sie. »Und zwar schnell!«
»Aber ...«, versuchte er zu protestieren.
»Kein aber! Das hier erledige ich allein!«
»Amanda ...«
»Ken!« Sie schubste ihn zur Tür und schließlich aus der Wohnung.
Dann wandte sie sich den beiden Fremden zu.
Anzug Nummer zwei, der anthrazitfarbene, kam langsam wieder zu sich. Sein Schädel schmerzte höllisch. Er wollte sich an den Kopf greifen, was ihm jedoch nicht gelang. Seine Bestandsaufnahme viel unerfreulich aus: Er lehnte mit dem Rücken am Treppengeländer, die Hände mit seinem Würgedraht an einen Geländerpfosten festgebunden. Neben ihm lag sein Kumpel ebenfalls gefesselt und noch völlig weggetreten. Der Blick des Killers klärte sich allmählich und fiel auf seine haarigen Beine und auf seinen ... Wo war seine Hose geblieben? Wo seine Unterhose?
Er sah auf und erblickte eine sichtlich wütende Amanda. »Hallo Ratte, gut geschlafen?« In ihrer rechten Hand hielt sie einen Nussknacker. »Rat mal, für wessen Nüsse der gedacht ist!«, zischte sie. Sie öffnete und schloss den Nussknacker mit einem klackenden Geräusch. »Ach und übrigens«, fügte sie hinzu, »das ist persönlich gemeint! Und wird für dich bestimmt kein Spaß!« Anzug Nummer zwei fühlte ein unangenehmes Ziehen und Kribbeln im Unterleib. Verzweifelt versuchte er seine Beine zusammenzuklemmen, was ihm jedoch nicht gelang. Vermutlich lag es daran, dass seine Fußknöchel je am Ende des Stiels eines Bodenwischers festgebunden waren. Amanda deutete seinen Blick richtig und meinte lakonisch: »Hausfrauen! Man weiß nie, wozu sie ihre Arbeitsgeräte umfunktionieren ...«
Anzug Nummer zwei schloss die Augen, in der Hoffnung, dass der Spuk sich auflösen würde. Was er aber nicht tat. Im Gegenteil. Etwas Kaltes, Metallisches legte sich um seinen linken Hoden und erzeugte einen langsam zunehmenden Druck. Er versuchte, sich herumzuwerfen, womit er eine Schmerzexplosion auslöste. Tränen traten ihm in die Augen: »Ich bring dich um, Hure!«, stöhnte er.
»Wenn ich in deiner Situation wäre, würde ich keine großen Töne spucken, Weichei. Im Gegenteil: Ich würde mir überlegen: ,wie kann ich diese nette Dame, die meine Eier fest im Griff hat, zufriedenstellen?‹ Wie siehst du das?«
»Du hast recht!«, stöhnte Anzug Nummer zwei.
»Sehr gut! Dann lass uns Trivial Pursuit spielen: Ich stelle die Fragen, du lieferst die Antworten. Am besten die richtigen. Es sei denn, du möchtest einen Job als Haremswächter.«
Anzug nickte eifrig.
»Also: Wer hat dich geschickt?«
»Wir sind so was wie freie Mitarbeiter bei einer Regierungsbehörde.«
»Aha, die Regierung also. Ist es die NSA? Die CIA? Oder wer?«
»Wenn ich dir das sage, bin ich tot!«
»Ja, und wenn du‘s nicht tust, singst du mindestens eine Oktave höher!« Die metallenen Backen des Nussknackers erhöhten den Druck auf sein linkes Ei.
Der Anzug schien abzuwägen, was schlimmer war und entschied sich dazu, lieber mit seiner normalen Stimme und sofort zu singen. Er versicherte Amanda glaubhaft, nichts über die Hintergründe des Verschwindens ihres Vaters zu wissen. Im Bestreben, seine Hoden zu retten, erzählte er ihr aber über einen Geheimdienst im Geheimdienst, von dessen Existenz Amanda noch nie gehört hatte. Der Dienst nannte sich DNA, wobei das Akronym nichts mit Genetik zu tun hatte, sondern für Defense Network Agency stand. Außer seinem bewusstlosen Kumpel kannte er niemanden bei der DNA. Dafür sprudelte er die Namen derjenigen Personen hervor, die er und der andere Anzug bereits von der Last des irdischen Daseins befreit hatten. Amanda kannte einige davon: ein Enthüllungsjournalist, zwei Politiker, die als unbeugsam ehrlich gegolten hatten, sogar ein ehemaliger CIA-Leiter. Die Klientel der DNA war eine illustre. Zu Amanda wiederum seien sie gesandt worden, um das Päckchen mit den Fotos und den Tagebüchern zu bergen. »Wieso hat die DNA so lange damit gewartet? Weshalb haben Sie Milkman die Tagebücher und die Bilder nicht längst abgenommen?«, fragte Amanda.
»Keine Ahnung! Ich kann nur vermuten, dass niemand wusste, wo Milkman die Tagebücher versteckt hatte. Als er dann Selbstmord beging, musste die DNA damit rechnen, dass er die Unterlagen an irgendjemanden sandte, der sie dann nicht mehr unter Verschluss halten würde. Ich glaube, dass die Verteilströme der Post und sämtlicher Kuriere von ihnen kontrolliert werden. So war es ein Einfaches, dich als Empfänger auszumachen. Dumm gelaufen, dass wir das Päckchen nicht bereits beim Kurier abfangen konnten. Wir hatten eine Reifenpanne. Kismet!«
Alles in allem dauerte das Verhör nicht lange. Der Anzug wusste nicht sonderlich viel. Für Amanda ergab alles durchaus einen Sinn. So wie es aussah, waren die operativen Teams der DNA wie terroristische Zellen organisiert. Man kannte einander nicht und konnte einander deshalb auch nicht verraten. Anzug Nummer zwei hatte ihr erklärt, dass sie ihre Aufträge über geklonte und verschlüsselte Mobiltelefone erhielten, wenn es eilte, und per Post, wenn genug Zeit war. Selbst auf den Namen DNA war Anzug Nummer zwei nur per Zufall gestoßen. Der Enthüllungsjournalist hatte ihn vor seinem Tod gefragt, ob die DNA ihn geschickt habe. Dieselbe Frage hatte der ehemalige Leiter der CIA gestellt. Der Anzug selbst hatte dieses Wissen nicht einmal seinem Partner gegenüber erwähnt. Das Risiko war zu groß, dass er sonst selbst aus dem Weg geräumt worden wäre.
»Jetzt weißt du alles. Am besten steigst du nun in dein Auto und fährst so weit weg, wie du kannst. Immer im Wissen, dass die dich ohnehin drankriegen!«
»Das werden wir sehen!«, antwortete Amanda. Sie langte um Anzug Nummer zwei herum und nahm das Aufnahmegerät von der Treppenstufe, wohin sie es gestellt hatte. Dann holte sie eine Digitalkamera und schoss einige Bilder von den beiden Angreifern. Sie verstaute alles in ihrem Rucksack, schnappte sich die Autoschlüssel zu ihrem Ford Bronco und verließ das Haus. Die beiden Anzüge ließ sie gefesselt zurück.
Anzug Nummer zwei, der auch auf den Namen Henry hörte, horchte angestrengt. Nach zwei Minuten hörte er den Motor des Bronco losbrummen. Sofort stemmte er sich mit der Schulter so fest er konnte gegen das Geländer. Es knackte und knirschte, dann brach der Pfosten, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Henry fädelte den Draht aus dem Pfosten und befreite die Hände. Kurz massierte er seine gefühllosen Handgelenke und spurtete dann los. Seinen immer noch bewusstlosen Partner ließ er einfach liegen. Im Moment hatte er keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Henry und sein Kumpel hatten vorsorglich kleine Überraschungen unter dem Bronco versteckt. Das eine war ein Sender, mit dem sie den Wagen unauffällig verfolgen konnten. Das andere ein Kilo Semtex-Plastiksprengstoff, um im Notfall ihr Ziel schnell – wenn auch weniger unauffällig – aus dem Weg räumen zu können.
Henry stieg in den eigenen Wagen, ließ ihn an und fuhr das Display hoch, das ihm eine Karte der Stadt anzeigte und darauf, wo sich der Bronco gerade befand. Er musste unbedingt näher an die Nutte heran, bevor er sie in die Luft jagen konnte. Rasch wendete er den Wagen und fuhr so schnell los, wie es eben noch zulässig war. Amanda fuhr auf dem Highway, der in östlicher Richtung aus der Stadt führte. Sie wollte so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone abhauen. Später wollte sie in einem Motel ein Zimmer mieten und in Ruhe den Inhalt des Päckchens studieren. Ein Zittern breitete sich in ihrem Körper aus. Sie musste unbedingt anhalten! Bei der nächstmöglichen Raststätte setzte sie den Blinker und fuhr vom Highway ab. Es war eine jener hässlichen Raststätten, die aus einem Parkplatz und einem stinkenden, seit der Reagan-Ära nicht mehr gereinigten Klo bestanden. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Sehr gut!
Amanda legte ihren linken Arm aufs Steuerrad und ihren Kopf darauf. Die rechte Hand ruhte in ihrem Schoß. Sie schloss die Augen. Den braunen Wagen, der auf den Parkplatz einbog, schien sie nicht zu bemerken. Es war derselbe braune Wagen, der vor dem Haus ihrer Mutter geparkt hatte.
Henry hielt ein Kästchen mit einer kurzen Antenne und einem roten Knopf in der Hand. Er blickte mit einem wölfischen Grinsen zum Ford Bronco der Wahnsinnigen, dann drückte er auf den Knopf.
Das Auto explodierte in einem gigantischen Feuerball, der hoch in den Himmel schoss. In weitem Umkreis regnete es Schrottpartikel, durchsetzt mit Partikeln des glücklosen Henry.
Amanda legte den 38er-Revolver, den sie im Schoß gehalten hatte, zurück ins Handschuhfach. Der Anzugarsch hatte ihr etwas zu bereitwillig Auskunft gegeben. Als er ihr dann noch empfohlen hatte, mit ihrem Auto möglichst weit wegzufahren, schlugen wieder einmal ihre Alarmglocken an. Ihrer Intuition folgend, warf sie vor dem Losfahren einen Blick unter den Bronco. Sie hatte sich oft genug an Kriegsschauplätzen aufgehalten, wo Autobomben eine der am häufigsten eingesetzten Waffen waren. Et volià: Lehrbuchmäßig unter dem Tank platziert, hatte er geklebt, der dreckige kleine Sprengsatz! Nicht weit entfernt von einem zweiten Spielzeug, das verdächtig nach einem Sender aussah.
Rasch hatte Amanda die Bombe unter dem Fahrzeug der Anzüge platziert aber den Sender gelassen, wo er war. Sie wollte das Arschloch irgendwohin locken, wo die Explosion keine Unschuldigen gefährden würde. Mission erfüllt! Und höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen, bevor Polizei und Feuerwehr eintrafen. Amanda stieg kurz aus, um den Sender unter ihrem Ford zu entfernen, dann fuhr sie los.
Obwohl sie vor Neugier fast platzte, fuhr sie bis weit in die Nacht hinein weiter. Erst gegen elf bog sie zu einem Motel ab. Der Typ am Empfang wirkte ebenso schmuddelig wie die gesamte Anlage. Amanda erzählte ihm von ihrem Mann, einem Bullen, vor dem sie auf der Flucht sei, da er sie ständig verprügelt hätte. Und dass sie deshalb froh wäre, wenn ihre Anmeldung – nun ja – vergessen ginge. Ihre Bitte schien auf offene Ohren zu stoßen, zumal Amanda ihr mit zwanzig Dollar extra zusätzliches Gewicht verlieh. Schmuddel händigte ihr einen Schlüssel aus und wünschte ihr eine gute Nacht.
Im Zimmer angekommen, ließ Amanda den Fernseher an. Sie schmiss den Rucksack auf den Boden und sich aufs Bett. Allerdings nur kurz, dann sprang sie – unterstützt durch die erstaunliche Federkraft des Bettes – wieder auf. Höchste Zeit für eine Dusche! Die heißen, starken Wasserstrahlen halfen ihr dabei, sich ein wenig zu entspannen. Einmal vermeinte sie, durch das Rauschen des Wassers ein Flappen zu vernehmen. Sie spitzte Ihre Ohren, hörte aber kein weiteres Geräusch mehr. Nachdem sie den Boiler geleert hatte, rubbelte sie sich mit einem rauen Handtuch ab. Sie zog ihre Sachen an, öffnete die Tür und blickte schon wieder in zwei Pistolen, die von zwei weiteren Anzügen gehalten wurden. Scheint, als würde das langsam zur Gewohnheit, dachte Amanda und hob sicherheitshalber die Hände. Auf dem Bett saß ein Mann mit weißen Haaren, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Pferdeschwanz wandte Amanda den Rücken zu und griff nach einem der Tagebücher, wohl um darin zu blättern. Ungeöffnet legte er es wieder hin.
»Ist eine ganze Weile her, seit ich diese Bücher das letzte Mal gesehen habe«, sagte er.
»Sie kennen die Tagebücher meines Vaters?«, fragte Amanda überrascht.
»Aber sicher. Ich habe sie geschrieben.« Amandas Knie gaben nach und sie setzte sich auf den Boden. »Vater?«, fragte sie mit piepsiger Kleinmädchenstimme.
Der Mann auf dem Bett drehte sich um.
»Hallo Mandy«, sagte der Mann. Dann wies er auf einen Sender, der ähnlich aussah wie der, den sie fortgeworfen hatte: »Wir arbeiten immer mit zwei Sendern, sollte mal einer kaputt oder verloren gehen.«
Der Mann auf dem Bett sah tatsächlich aus wie eine gealterte Ausgabe des Franks, den Amanda nur von Fotos her kannte. Noch immer trug er dieselben hageren Züge.
Amanda stand auf, drehte sich um, trat zurück ins Bad, kniete sich vors Klo und übergab sich kurz und heftig. Am ganzen Körper zitternd kehrte Sie ins Schlafzimmer zurück. »Du hast ja eine seltsame Art, deinen Vater zu begrüßen«, meinte Frank trocken.
»Und du hast eine seltsame Art, deiner Tochter deine Vaterliebe zu zeigen, wenn du sie umbringen lassen willst.«
»Ach das! Leider haben die beiden über die Stränge geschlagen. Ihr Job war lediglich, das Paket zurückzuholen. Aber was soll‘s? Ist ja nichts passiert!«
Amanda meinte, nicht richtig gehört zu haben. »Wie bitte? Nichts passiert? Immerhin hätten die Freaks mich fast ermordet! Und einer deiner Männer ist tot!«
Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein Begleitschaden, wie er bei jeder Operation auftreten kann.«
Rasende Wut fraß sich durch Amanda. Ihr Hände ballten sich rhythmisch zu Fäusten und öffneten sich wieder. »Ach ja? Und ich? Hätten mich die beiden Scheißkerle umgebracht, wäre ich auch nur ein Begleitschaden gewesen?« Franks Gesicht verzog sich zu einem leichten Grinsen. »Erraten, Mandy. Natürlich weiß ich, dass mir so etwas leidtun müsste. Was soll ich sagen: Ich bin, der ich bin! Gefühlsdusselei gehört nicht zu meinem Sein.«
»Gefühlsdusselei?« Amanda machte einen drohenden Schritt auf ihren Vater – nein, auf Frank, korrigierte sie sich sofort – zu, woraufhin die beiden Anzüge ihre Pistolen auf sie richteten. Sie blieb stehen: »Wer bist du? Du kannst unmöglich der Mann sein, den meine Mutter für einen Halbgott hielt und angebetet hat! Du kannst unmöglich der Mann sein, der Mary Jo davon abgehalten hat, je wieder einen anderen anzuschauen!«
»Komm, lass das Gesülze. Vielleicht hielt sie mich für jemand anderen, jemand besseren, als ich bin! Das mag sein! Aber letztendlich kannst du mir für die Dummheit deiner Mutter keine Schuld geben!«
»Dummheit? Du nennst das Dummheit? Aus welcher Kloake kommst du eigentlich gekrochen?«
Wie von einer Sehne geschnellt sprang Frank auf, überwand die Entfernung zwischen ihm und Amanda mit zwei großen Schritten und schlug ihr hart ins Gesicht. »Aus der Kloake des Krieges bin ich gekrochen. Er, der Vater aller Dinge, hat mich erschaffen! Nein! Viel besser: Er hat mich befreit!«
Amanda hielt sich ihre schmerzende Wange. »Ich verstehe kein Wort.«
»Das ist gut. Weil das heißt, dass du die Tagebücher noch nicht gelesen hast.«
»Habe ich tatsächlich nicht. Jedes Mal, wenn ich damit beginnen will, tauchen Männer in Anzügen auf und wedeln mit ihren Kanonen in der Gegend rum. Manchmal begleitet sie ein Ungeheuer, das einmal mein Vater war.«
Frank schüttelte mitleidig den Kopf. »Ach Mandy, du bist so melodramatisch wie deine Mutter.«
»Du verdammter Hurensohn!« Eine Denkfalte erschien über Amandas Nasenansatz. »Was mich brennend interessiert: Weshalb sind diese Unterlagen auf einmal so wichtig? Weshalb habt ihr sie Milkman nicht schon längstens abgenommen?«
»Das war ein stillschweigendes Gegengeschäft: Milkman durfte den Ruhm einheimsen, den ihm mein Bild brachte, dafür ließ er die Bilder und Tagebücher unerwähnt. Abgesehen davon: Wir wussten schlicht nicht, wo er alles versteckt hatte. Sonst wäre er längst vor seinen Schöpfer getreten.«
»Gott! Ich glaube ich muss gleich noch mal kotzen.«
»Nur zu! Wir sind uns Schlimmeres gewohnt.«
»Warum zur Hölle hast du Milkman überhaupt deine Tagebücher und Bilder gegeben? Und wie hast du ihn getäuscht? Er war der Ansicht, du seist ein guter, aufrechter Mann.«
»Milkman war ein gutgläubiger und, wie ich nun weiß, gieriger Trottel. Ich gab ihm die Unterlagen, kurz bevor ich von der DNA rekrutiert wurde. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht sicher, ob ich die nächsten Tage überleben würde. Ich wusste zwar von der Defense Network Agency, nicht aber, ob sie mich wollten. Es gab nur zwei Alternativen: Entweder sie nahmen mich auf oder sie töteten mich. Im zweiten Fall hätte ich mich trotzdem noch rächen können.«
»Was ist die DNA? Was tut sie?«, fragte Amanda.
»Wenn du das wüsstest, müsste ich dich töten. Also lass die Fragerei. Der Job bei der DNA verlangte ein sofortiges Untertauchen. Milkman wurde dummerweise genau in dieser Zeit verwundet und nach Hause ausgeflogen. Ich erwartete jeden Tag, seine – oder besser meine – Enthüllungen zu lesen. Als stattdessen mein Bild auftauchte und unterschiedlichste Preise gewann, wusste ich, woher der Wind wehte. Und dass ich mir für den Moment keine Sorgen machen musste. Die Natur des Menschen ist schon sonderbar. Später schickte ich einige Kollegen zu ihm, um ihm die Tagebücher und Fotos zusammen mit seinem Leben abzunehmen. Milkman war allerdings clever genug, sie sehr gut zu verstecken! Uns blieb nichts anderes übrig, als ihn permanent zu überwachen. Als er Selbstmord beging, gingen bei uns sämtliche Alarmlämpchen an. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erstaunt ich war, zu erfahren, dass das Päckchen ausgerechnet zu dir unterwegs war. Dann jedoch stellte ich eine einfache Gleichung an: Mary Jo ist tot. Amanda liest meine alten Briefe – dummerweise auch den, in dem ich das Bild erwähne. Amanda geht auf Milkman los. Das schlechte Gewissen bringt ihn um. Und da er noch immer glaubt, ich sei ein netter Mensch, sendet er Amanda meine Hinterlassenschaft.«
»Wenn dir so daran gelegen war, nicht ins Rampenlicht gezerrt zu werden, verstehe ich eines nicht: Weshalb hast du die Briefe an die Medien nicht abgefangen, in denen Milkman zugibt, dass er mit deinem Bild berühmt geworden war?«
»Ich habe die Briefe abgefangen! Aber nachdem ich sie gelesen hatte, dachte ich mir: Posthumer Ruhm tut auch gut! Für die Öffentlichkeit bin ich ja bereits seit Jahren tot. Also was soll‘s?«
»Du bist ein echt kaltes Schwein!«
»Ja, das wird mir immer wieder vorgeworfen. Genau genommen handelt es sich um eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Früher hätte man mich als Soziopathen oder Psychopathen bezeichnet. Ich finde eher, dass ich eine nächste Stufe der Evolution verkörpere. Ich bin ein Wesen, dessen Handeln nicht durch seine Emotionen gestört wird. Deshalb fällt es mir auch nicht weiter schwer, dich zu töten. Inzwischen weißt du zu viel, Liebes! Mein Fehler! Wen ich mal ins Plaudern komme ...« Frank langte unter seine Anzugjacke und zückte ein langes schlankes Messer.
»Flynn!«, meldete sich einer der beiden Anzüge.
»Was ist?«, fuhr Frank ihn unwirsch an.
»Sie sind schon wieder im Fernsehen.«
Alle vier wandten sich dem Fernsehapparat zu.
»Stell das Ding mal lauter!«
Einer der Anzüge tat genau dies.
»... wurden heute den Medien durch Michael Milkman weitere Dokumente zugespielt. Er nennt sie seine Rache-aus-dem-Grab-Dokumente. Die Unterlagen müssen noch auf ihre Echtheit geprüft werden. Im Moment scheint alles darauf hinzudeuten, dass es hier in den USA einen Geheimdienst gibt, der den Namen verdient. Bis heute auf jeden Fall. Den Dokumenten zufolge wird die Defense Network Agency, kurz DNA, von Frank Flynn geleitet. Frank Flynn war ein bekannter Kriegsfotograf, der seit dem Vietnamkrieg als verschollen galt. Unter den Dokumenten befinden sich Flynns Tagebücher aus seiner Zeit in Vietnam. Sie zeigen in erschreckender Weise, wie der Krieg Menschen verändern kann. Flynn kam 1968 einer verdeckten Operation auf die Spur: der Operation Nightmare. Mit ihr wollte die USA auf die demoralisierende Wirkung der Tet-Offensive antworten und die Moral der Vietcong untergraben. Bereits 1966 wurde eine Spezialeinheit für psychologische Kriegsführung gebildet, die nun zum Einsatz kommen sollte. Sie setzte sich ausschließlich aus verurteilten Mördern zusammen, die stark psychopathische Züge aufwiesen. Ziel der Einheit war die Verbreitung von Angst und Schrecken hinter den feindlichen Linien. Die Nightmare-Einheit tötete Hunderte Vietcongs und Zivilisten. Nur eine einzige Operation wurde per Zufall aufgedeckt: das Massaker von My Lai vom 16. März 1968. Um die Spezialeinheiten nicht auffliegen zu lassen, wurde die Tat regulären amerikanischen Truppen zugeschrieben.
Mit seinem Wissen um die Operation Nightmare ging Frank Flynn nicht etwa an die Öffentlichkeit, viel mehr nutze er es als Druckmittel, um selbst in die Einheit aufgenommen zu werden. Nach der Vietnamisierung des Krieges durch Nixon, also dem totalen Rückzug sämtlicher amerikanischer Truppen, wurde die Nightmare-Einheit hinfällig. Frank Flynn wollte sich aber nicht aufs Abstellgleis stellen lassen. Mit Erpressungen und vor allem durch die Drohung seine Männer von der Leine zu lassen, holte er sich die Erlaubnis, eine hochgeheime Organisation aufzubauen. Die DNA. Deren Ziel war und ist es, missliebige Personen aus dem Weg zu räumen ...« Die Fernsehsprecherin verstummte, als Frank den Apparat ausschaltete. »Scheint, als wäre Milkman doch nicht so dumm gewesen, wie ich geglaubt hatte. Tja, auch der Beste unterschätzt mal jemanden! Wen interessiert‘s? Los, Männer, wir ziehen uns zurück.«
Amanda glaubte, sich in einem Albtraum zu befinden. Eben sollte sie noch vom eigenen Vater getötet werden und nun haute er einfach so ab?
An der Tür drehte sich Frank um. »Glück gehabt, Amanda! Da ohnehin alles publik gemacht wurde, lohnt es sich nicht, dich zu töten. Genieß dein Leben!«
Einige Tage später erhielt Amanda das folgende Schreiben:
Liebe Miss Flynn
Ich hoffe, Sie werden in der Lage sein, diese Zeilen zu lesen. Das würde heißen, mein Plan, Sie zu retten, hat geklappt. Und dann wissen Sie auch, was für ein Mann Ihr Vater war. Leider. Nietzsche hat einmal geschrieben: Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Ich denke, Vietnam ist einer der Gründe, weshalb Ihr Vater zu dem wurde, was er heute ist. Die Tagebücher, die ich Ihnen gesandt habe, waren erstens Kopien und zweitens nicht vollständig. Falls Ihr Vater sie in die Finger bekommen hätte, hätte er angenommen Sie wüssten nichts über die DNA. Zudem hatte das Paket an Sie eine Lockvogelfunktion. Gleichzeitig hat ein Gewährsmann Kopien sämtlicher Unterlagen an die Medien gesandt. Zusammen mit allen Beweisen und Akten zur DNA, die ich seit anfangs siebziger Jahre in Kleinarbeit gesammelt habe. Und die ich bisher nicht zu veröffentlichen wagte. In meinem jetzigen Zustand kann mir jedoch nichts mehr geschehen.
Da Ihr Vater absolut emotionslos handelt, bin ich überzeugt, dass er Sie in Ruhe lassen wird, sobald die ganze Geschichte ans Tageslicht kommt. Es gibt keinen logischen Grund, Ihnen dann noch etwas anzutun.
In der Hoffnung, dass mein Plan klappt
Ihr Michael Milkman
Amanda ließ den Brief sinken. Sie faltete ihn zusammen und packte ihn in ihren Rucksack. Dann verließ sie das Haus ihrer Mutter. Sie war auf der Jagd.
Früher war Gladstone ein abgebrühtes Schlitzohr, ein zynischer Hund, ein Privatschnüffler, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit stand. Von Spiritualität, Religion, Esoterik und ähnlichem Kram hielt er ungefähr so viel wie von entzündeten Hämorrhoiden. Heute ist Gladstone ein abgebrühtes Schlitzohr, ein zynischer Hund, ein Privatschnüffler, der mit einem Bein in der diesseitigen und mit dem anderen in der jenseitigen Wirklichkeit steht. Er findet, das Schicksal habe ihm eine gehörige Portion grünen Rotz in die Suppe gespuckt. Klar, dass er die Suppe unter diesen Bedingungen nicht auslöffeln will. Trotzdem bleibt ihm nichts anderes übrig. Weil er sie sich von A–Z selbst eingebrockt hat. Zusatz inklusive. Schließlich weiß jedes Kind, dass man mit Fremden nicht mitgehen darf.
Alles begann vor zwei Monaten mit einem unerwarteten Besuch. Sie nannte sich Vivian Callisto. Ihr Parfum jagte Gladstones Testosteronspiegel in den Orbit, ihre Kurven glichen denen der Aphrodite. Pechschwarze Haare umrahmten ein Gesicht, für das jede Kosmetikfirma gemordet hätte. Ihre Augen strahlten in solch einem hellen, intensiven Blau, dass Gladstone das Gefühl hatte, in zwei Gasflammen zu blicken. Kein Wunder, wurde ihm ziemlich heiß. Er lockerte seinen Schlips, räusperte sich, um die Froschkolonie in seinem Hals loszuwerden und bat Vivian, im Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst fläzte sich so locker, wie es eben noch höflich, war in seinen Bürostuhl. Ganz Mr. Cool.
»Nun, wo drückt der Schuh, Frau Callisto?«, fragte er.
Sie kam ohne Umschweife auf den Punkt. »Mein Mann betrügt mich.«
Gladstone ließ sich zwar nichts anmerken, doch innerlich fiel ihm der Kiefer in den Schoß. Wer eine solche Frau betrog, benötigte dringend einen Seelenklempner. »Und Sie möchten, dass ich ihn untersuche?« Der Sigi Freund ihn ihm lachte sich ins Fäustchen.
»Untersuchen? Wie meinen Sie das?«
»Sagte ich untersuchen? Ich meinte selbstverständlich beschatten!«, antwortete Gladstone und spürte, wie ihm Röte ins Gesicht schoss. Vivian – in Gedanken war er bereits seit dem Augenblick mit ihr per du, als sie ihren Fuß in sein Büro gesetzt hatte – blickte irritiert.
»Ja, ich möchte, dass Sie meinen Mann überwachen. Ab sofort.« Sie schlug ihre seidenbestrumpften Beine übereinander. »Am kommenden Wochenende wird er ein Seminar leiten. Für ihn die Gelegenheit, sich eine weitere arme Seele unter den Nagel zu reißen.«
»Was bringt Sie überhaupt auf die Idee, er könnte ein Prachtswe... Sie betrügen?«
Vivian quittierte das notdürftig getarnte Kompliment mit einem Lächeln. »Mirco traut mir nicht viel mehr zu, als gut auszusehen. Dabei vergisst er gern, dass ich einen Master in Mathematik habe und daher ganz gut zwei und zwei zusammenzählen kann.« Sie macht eine Pause und sah Gladstone lange an. »Mein Mann ist sorgsam darauf bedacht, seine Mails nur dann zu lesen, wenn ich nicht in der Nähe bin. Oder sofort eine harmlose Seite auf den Bildschirm zu holen, wenn ich auftauche. Alles deutliche Signale dafür, dass etwas im Busch ist. Und dann sein Handy! Er hat schon fast eine pawlowsche Abhängigkeit zu diesem dämlichen Gerät entwickelt und meint, nur weil er den Vibrationsalarm eingeschaltet, würde ich nicht bemerken, wenn es wieder klingelt. Dieser Hohlkopf! Ein Wunder bloß, dass er nicht wie ein Hund zu sabbern beginnt, wenn er einen Anruf oder eine SMS bekommt. Jedes Mal wird er sofort nervös und fahrig. Anscheinend wirkt sich der Vibrationsalarm auch negativ auf seine Blase aus. Kaum geht er los, rennt er mit dem Handy ins Badezimmer.«
Gladstone nickte verständnisvoll. »Hört sich an, als könnten Sie mit Ihren Vermutungen richtig liegen. Das tut mir leid. Ich werde den Fall übernehmen, wenn Sie mit meinem Honorar einverstanden sind.« Vivian Callisto war einverstanden und Gladstone damit engagiert. Dummerweise fragte er erst nach dem Handschlag, der das Geschäft besiegelte, was für ein Seminar er das nächste Wochenende besuchen würde.
Gladstone rutschte unruhig auf seinem unbequemen Stuhl hin und her. Er war umzingelt von siebenunddreißig Frauen und drei Männern. Von vier Männern, wenn man Mirco Callisto mitzählte. Gladstone war der einzige Single unter den Herren und fühlte sich daher ein ganz kleines Bisschen beobachtet. Etwa so wie ein krankes Gnu von einem Rudel hungriger Löwinnen. Die Teilnehmer des Seminars waren vornehmlich in Pastelltöne gekleidet. Sogar die Männer. Außer ihm. Er musste zugeben, dass er sich in seinen Jeans und in dem Iron Maiden T-Shirt ziemlich underdressed fühlte. Hätte er bloß nicht dem kindischen Impuls nachgegeben, provozieren zu wollen! Mirco erstrahlte in jungfräulichem Weiß. Sein T-Shirt war so eng, dass man jeden perfekt modellierten Muskel der rasierten Brust erkennen konnte. Die einzigen Farbtupfer bildeten seine Brustwarzen, die sich unter dem dünnen Stoff wie Bojen auf dem glatten Meer ausnahmen. Mit seinem engelhaften Gesicht und mit den hellblonden Haaren hätte Mirco durchaus als Adonis durchgehen können, wären da nicht die grauenhaften Pluderhosen gewesen. Und die rosa bestrumpften Füße, die in unansehnlichen Sandalen steckten. Unverständlicherweise schien lediglich Gladstone Mircos Aufzug lächerlich zu finden. Ein verstohlener Blick in die Runde zeigte ihm, dass die meisten Frauen damit beschäftigt waren, dahinzuschmelzen. Die Männer übten sich derweil in subtil demonstrierter Unterwürfigkeit. Gladstone verfluchte im Geiste die Umstände, die ihn hierher geführt hatten, zum Seminar ›Einführung in die Medialität. Ein liebevolles Hinführen zur geistigen Welt‹. Mirco nickte huldvoll, woraufhin sich die Frau links von ihm erhob und zu einem Panel mit Knöpfen und Schaltern schritt. Sie drückte hier und kippte dort, alles im Bestreben, die Rollläden herunterzulassen, um den Raum ein wenig zu verdunkeln. Das dauerte eine ganze Weile – bei all den Knöpfen und Schaltern. Das Einschalten des CD-Spielers klappte auch nicht auf Anhieb. Offensichtlich eilten die Mächte und Kräfte der jenseitigen Welt nicht herbei, um die arme Frau zu unterstützen. Irgendwann schaffte es Mircos Assistentin schließlich, den ›Play‹-Knopf zu drücken. Sofort erfüllten fremdartige Klänge den Raum. Aus dem Refrain schloss Gladstone, dass das Stück ›When love comes to town‹ heißen musste. Angst machte sich in ihm breit. Angst davor, Ganzkörperkaries zu bekommen, so unerträglich süß und kitschig war die Musik. Fremde Finger berührten seine Linke. Hastig zog er die Hand zurück. Gleichzeitig bemerkte er, dass alle anderen sich an den Händen nahmen. Einige Mitglieder der Gruppe fingen an, sich sanft hin und her zu wiegen, andere inbrünstig zu summen oder gar zu singen, was in einer ziemlichen Kakofonie endete. Leider hatte ihre leidenschaftliche Hingabe nichts mit Können zu tun. Zwei, drei Frauen brachen in lautes Schluchzen aus, was Gladstone gut verstand: Das Ganze war wirklich zum Heulen. Kaum war das Lied verklungen, meldete sich Mirco mit leiser, tiefer, einlullender Stimme: »Wir gleiten jetzt in eine Meditation hinein. Gemeinsam werden wir das Tor zur jenseitigen Welt durchschreiten. Mein Geist wird jeden von euch besuchen und euch den Liebesstrahl aufsetzen!« Seine Worte lösten wohliges Seufzen und schieres Entzücken aus. Außer bei Gladstone. Das Gefühl, das in ihm ausgelöst wurde, ließ sich am ehesten mit Panik umschreiben.
Stühle wurden weggerückt und Sitzkissen im Raum verteilt. Nach und nach kehrte Ruhe ein. Mirco begann mit der angedrohten Meditation. Immer wieder öffnete Gladstone die Augen und warf einen misstrauischen Blick in die Runde. Er verspürte eine diffuse Angst, von einer nymphomanischen Gutfrau angesprungen zu werden, was allerdings immer noch besser gewesen wäre als von einem ... Diesen Gedanken unterdrückte er mit aller Macht.
Allen Bemühungen zum Trotz döste Gladstone weg. Seine Gedanken trugen ihn zu einem dunkeln Fluss, über dem sich Nebelschwaden rekelten wie faule Katzen. Entspannt schaute er dem Fließen des Gewässers zu, als sich auf einmal ein Nachen aus dem milchigen Gespinst des Nebels schälte und auf ihn zuhielt. Das kleine Boot hielt vor ihm an. Eine dunkle Gestalt winkte ihn an Bord. Obwohl er instinktiv spürte, dass dies keine gute Idee war, stieg er ein. Der Kahn legte ab und glitt geräuschlos zum anderen Ufer. Die dunkle Gestalt stand am Heck und hielt die Ruderpinne, die an den Griff einer Sense erinnerte. Allmählich wurden Gladstones Bewusstsein und der Nebel eins.
»Und nun öffnen wir alle wieder die Augen. Wir sind wieder ganz im Hier und Jetzt; erfüllt mit frischer Kraft und Energie.« Gladstone fühlte sich seltsamerweise wirklich recht gut. Als hätte sich bei ihm ein unsichtbarer Schleier gelüftet. Er blinzelte träge. Öffnete die Augen. Im selben Augenblick vernahm er einen lauten Schrei, gefolgt von einem heftigen Aufprall. Sekunden später wurde ihm klar, dass er es war, der geschrien hatte und nun am Boden lag. Etwas hatte in furchtbar erschreckt. Ein Ding war vor ihm aufgetaucht, eine halb verweste Frau, die nach ihm gegriffen hatte, wie in einem Horrorfilm. Diese kurze Vision hatte ihn ebenso sicher auf die Bretter geschickt, wie ein wohlplatzierter rechter Haken gegen sein Kinn.
Benommen richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. Er war umringt von den anderen. Mirco kniete vor ihm und hielt ihm eine PET-Flasche mit Wasser hin. Gladstone nahm einen tiefen Schluck.
»Was ist passiert?«, fragte Mirco besorgt.
»Keine Ahnung. Ich bin vermutlich eingeschlafen und hatte einen Albtraum.« Gladstone war der Vorfall furchtbar peinlich.
Mirco legte ihm die Hände auf die Schultern und meinte: »Du musst dich nicht dafür schämen. In dieser heiligen Runde hat es Platz für jedes Gefühl.«
Ob diesem Gesülze fand Gladstone schnell in die Wirklichkeit zurück. Er entwand sich Mircos Berührung und lächelte gequält. Genau in diesem Augenblick offenbarte sich ihm einer der Vorteile derartiger Seminare: Da andauernd irgendein bedauernswerter Mensch irgendeine Art von Zusammenbruch erlitt, vergaß man solche Vorfälle sofort wieder. Ja, er befürchtete, bei den Frauen sogar gepunktet zu haben, da er als Mann sein verletzliches Wesen gezeigt hatte. Das Rudel kam näher. Oje!
Der Rest des Vormittags verlief ereignislos. Mehr oder weniger. Mirco salbaderte über die alles heilende Liebe. Über das Leben, das nie endete. Und darüber, dass die Menschheit auf ihrem Weg zu einem höheren Bewusstsein bereits weit vorangeschritten sei. Gladstone wurde den Eindruck nicht los, dass Mirco noch nie in seinem Leben eine Zeitung gelesen hatte oder auf eine andere Art mit den Nachrichten des Tages in Berührung gekommen war. »Wenn wir in unserer Entwicklung bereits so weit sind, weshalb gibt es dann noch immer Kriege und Verbrechen?«, meldete sich Gladstone zu Wort.
Mirco lächelte milde. Und mit ihm die Mehrheit der Anwesenden. »Dies ist die letzte Reinigung, welche die Welt erfährt. Das letzte Aufbäumen des Bösen, bevor die Menschheit die nächste Stufe erklimmt und wir alle zu engelähnlichen Wesen werden.« Vor Gladstones innerem Auge erschien ein Bild übergewichtiger, von Hamburgern gestählten Engeln, die Probleme mit dem Abheben hatten. Er musste sich beherrschen, um nicht loszuprusten. Stattdessen stellte er eine weitere Frage: »Aber die Menschheit bekriegt sich seit Jahrtausenden. Heißt das, die Reinigung ist im Gange, seit die ersten Primaten beschlossen, Menschen zu werden?«
Mirco sah auf die Uhr. »Oh! Zeit fürs Mittagessen! Ich werde deine Frage gerne später beantworten.«
Gladstone war sich sicher, dass Mirco nach dem Essen seine Fragen vergessen haben würde. Doch die Aussicht auf ein leckeres Mahl stimmte ihn milde. Sie zogen los. Einige der seminarerprobten Veteranen lobten in höchsten Tönen die Küche des Hotels. Voller Vorfreude hub Gladstones Magen an zu knurren. Allerdings nur kurz. Danach hätte er am liebsten gejault.
Im Esssaal des Hotels warteten große, stählerne Warmhalteboxen auf die Seminarteilnehmer. Gefüllt waren Sie mit einer amorphen Masse, die aussah wie vegetarisches Hundefutter. Kleine Kärtchen vor den Boxen klärten darüber auf, dass es sich dabei um Gemüselasagne handelte. Gladstone wollte sich eben einen Löffel der Biomasse auf seinen Teller schöpfen, als es geschah: Unvermittelt fand er sich Auge in Auge mit dem verwesenden Gesicht der Unbekannten wieder. Diesmal hatte er sich voll im Griff. Er klatschte sich lediglich die Lasagne auf sein Iron Maiden T-Shirt, statt auf den Teller. Ansonsten blieb er ganz locker. Mit einem verlegenen ›Ha, ha, ich Schussel‹ drehte er sich um, verließ den Saal und begab sich zur nächsten Toilette. Nachdem er die eiserne Jungfrau auf seinem Shirt notdürftig von Gemüse, Pasta und Béchamelsoße befreit hatte, betrat er eine der Kabinen. Er klappte den Klodeckel herunter und setze sich hin. Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Bis heute hatte er nie irgendwelche Halluzinationen gehabt! Er stützte seine Ellenbogen auf die Knie, seinen Kopf in die Hände und starrte gedankenverloren auf die lustigen Kritzeleien auf der Klotür. Hieroglyphen einer Kack-Kultur. Er schloss kurz die Augen. Gleich darauf erstarrte er. Sein linker Arm signalisierte ihm den Hauch einer Berührung.
»Es ist niemand da!«, murmelte Gladstone trotzig vor sich hin und hielt seine Augen krampfhaft geschlossen. Aus seinen Kindheitstagen wusste er genau: Was man nicht sieht, kann nicht da sein. Na ja. Außer es stinkt ziemlich vermodert und spricht ...
»Da irrst du dich, Schnüffler!«, erwiderte eine weibliche Stimme fröhlich. Ihr Klang passte nicht zu einer vergammelnden Leiche und so blickte Gladstone auf. Reingefallen! Die Tote hing mit dem Oberkörper über die Wand der Kabine. Ihre Beine mussten sich auf der anderen Seite der Trennwand befinden. Es sei denn, sie war eine Frau ohne Unterleib. In Ermangelung einer Portion Gemüsepampe, die er sich in einem Anflug von Wahnsinn am liebsten ins Gesicht geschmiert hätte, verzichtete Gladstone beim Anblick der Toten auf jegliche Art äußerliche Reaktion. Innerlich wurde er von einem heftigen Gruseln geschüttelt. Seine Nerven flatterten wie welke Blätter im Wind, sein Magen zog sich zusammen und sein Herz hämmerte. Plötzlich war er unendlich froh, dass er überhaupt ein Herz besaß, das noch immer schlug. »Ah! Endlich blicken wir den Tatsachen in die Augen!«, sagte die Leiche. »Du gestattest: Melanie Lethe ist mein Name und ich benötige deine Hilfe.« Wie die meisten Lebenden hatte Gladstone wenig Erfahrung mit Toten, die sich nicht an die grundlegendste Regel hielten. Nämlich: tot zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright by Daniel Hellstern
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2012
ISBN: 978-3-86479-599-2
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