Der letzte Abend
Wir saßen in dem neuen Restaurant am Stadtrand. Die Tische waren mit altem Porzellan gedeckt, die Gläser aus Kristall, die Dekoration und das Ambiente formvollendet. Ich hatte mir einen leichten Weißwein bestellt. Er wollte sich nur noch ein wenig frisch machen, wie er sagte, wäre sein Tag im Büro sehr anstrengend gewesen, ich sollte mir schon etwas von der Karte aussuchen. Meine Augen lasen die Karte, aber meine Gedanken waren bei dem gestrigen Abend. Ich wusste nicht, war alles ein Traum, saß ich hier wirklich, oder war das hier ein Traum und der gestrige Abend Wirklichkeit, steht die Zeit still, läuft sie, wie die Uhr an der Wand es mir zeigte, vor, oder waren es nur meine Gedanken, die die Zeiger der Uhr vorwärts laufen ließen. Ich weiß es nicht.
Der gestrige Abend spulte sich wie ein Film vor mir ab, ein Film mit keinem Anfang und keinem Ende.
Er kam an diesem Tag später nach Hause. Der Schlüssel schloss leise, nur der Hund richtete sich auf, er hatte das leise Geräusch des Schlüssels und die Schritte, die auf dem Teppichboden verklungen, gehört, er lief zu ihm hin und freute sich wie immer. Das tat er jeden Tag und ich fragte mich, ob er kein Erinnerungsvermögen hatte, dass er sich jeden Tag aufs neue freuen könne, so als wenn gestern heute ist und das morgen kein gestern hat.
„Das Abendessen steht im Kühlschrank, du kannst es dir warm machen, ich bin hier im Wohnzimmer“, meine Stimme klang wie immer, wenn er abends spät nach Hause kam.
„Ich ziehe mich um, dann komme ich“. Wir müssen reden. Ich vernahm seine Worte, die, weil sie auf der Treppe, die oberste Treppenstufe knarrte ein wenig, gesprochen wurden, schon etwas leiser waren und verstand ihren Inhalt erst kurze Zeit später. Warum reden, wir redeten doch jeden Abend miteinander, er erzählte mir von seiner Arbeit, von Kollegen, vom Chef, eben alles, was ihn den ganzen Tag beschäftige, ich erwiderte, ich hörte zu, ich stand mit Rat und Tat zur Seite, ich tröstete, wenn es sein musste, ich kam mir manchmal vor, als wenn ich kein eigenes Leben hatte, sondern nur ein Teil von ihm war. Manchmal beschlich mich das Gefühl, dass es anders sein könnte, wenn ich mal ich selbst sein würde und nicht nur ein Teil der Wohnung, ein Teil seines Lebens, eben nur ein Teil von allem, nicht ein Ganzes, nicht ein Ich, ein Ich-Selbst. Aber diese Gedanken kamen nicht oft, aber sie waren mir bewusst, auch wenn ich sie in die unterste Schublade meines Seins geschoben hatte, dort blieben sie friedlich liegen, aber ab und zu kamen sie an die Oberfläche, wie jetzt, wo ich dachte, warum muss ich immer da sein, wenn er sagt, er will reden, er fragt nie, ‘willst du mal reden, hast du etwas, was dir nahe liegt’, dann kamen wieder die Ich-Selbst-Gedanken, wie ich sie im Stillen nannte.
„Ich muss mit dir reden“.
Seine Stimme klang ein wenig anders als sonst.
„Ja, ja ich höre, du sagtest es schon oben auf der Treppe, als du rauf gingst“.
„Was gibt es so wichtiges, dass du dich wiederholst?“
„Ich will es kurz machen, ich will mich trennen und meinen eigenen Weg gehen, ich brauche meine Freiheit, die Kinder sind groß, du hast deine Arbeit, du kannst hier wohnen bleiben, ich suche mir eine neue Wohnung, mein Leben ist zu eingefahren in den letzten Jahren, ich will einen Neuanfang wagen, aber allein“.
Seine Worte klangen abgehackt, so wie lange einstudiert, er machte zwischendurch keine Pausen, holte nicht einmal Luft und blieb auch während er redete stehen. Sein Atem ging flach, seine Hände, sein ganzer Körper redete nur, ich verstand im Moment nicht gleich, was er gesagt hatte.
Die Worte sackten ganz langsam in mich ein, sie kamen von irgendwo her, nur waren es seine Worte, die da zu mir sprachen, war es seine Stimme, die Stimme, die ich seit Jahren kannte, klang sie so oder träumte ich, gleich würde ich aufwachen, ich brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, dann wäre ich wach. Ich hatte es im Traum schon mehrfach versucht, es hatte immer geklappt. Wenn mir ein Alptraum zu schaffen machte, irgend etwas mir nicht behagte, was mir ganz und gar nicht behagte, brauchte ich nur mit dem Finger zu schnippen, dann war ich wach, ich wusste, dass ich träumte, ich konnte es bewusst steuern. Warum das so war, war mir unbekannt, ich dachte auch nicht weiter darüber nach, es war eben so.
Ich schnippte wieder mit dem Finger, aber er stand immer noch vor mir, ich wachte weder auf, noch verschwand die Szene vor meinen Augen.
„Bitte wiederhol’ es noch mal“, das waren die einzigen Worte, die aus meinem Munde hervorkamen, ich hörte mich kaum selber sprechen, blechern, hölzern, unwirklich, das waren die Gedanken, die ich hatte, als ich meine Stimme hörte, sie kam von weit her, aber sie war da, so wie sie da war, oder war sie gar nicht da.
Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass das nicht ich war, die da redete. Ich schaute zur Seite, da lag der Hund ganz friedlich in seinem Korb, der Fernseher lief und leise hörte sie, dass der Schlüssel in der Tür gedreht wurde.
„Hallo, hier bin ich, es ist etwas später geworden, ich ziehe mich nur eben um, dann komme ich.“
Sie hörte seine Stimme aus dem Flur, dann etwas leiser, als er die Treppe hochging.
„Das Essen ist im Kühlschrank, du brauchst es dir nur warm zu machen, ich bin hier im Wohnzimmer“.
Sie wusste nicht, ob er sie gehört hatte, aber das machte nichts, sie saß ja immer im Wohnzimmer, wenn er spät nach Hause kam.
Der Hund wollte zu ihm, sie hielt ihn zurück, sie wusste, er konnte es nicht leiden, wenn der Hund ihm zwischen die Füße lief, während er sich umzog.
Er kam die Treppe wieder herunter, die Stufen knarrten schon ein wenig, das Haus war alt, sie hatten es von den Schwiegereltern geerbt, und diese hatten es auch schon von ihren Eltern übernommen. Sie bauten es um, aber die Treppenstufen knarrten, als wenn sie ihren Kommentar zu dem Geschehen im Haus abgeben würden. Vielleicht nahmen sie auch alles wahr, sie waren aus altem Eichenholz, und man sagte sich, das Holz lebt, warum sollte es da auch nicht hören.
Ihre Gedanken schweiften ab, das taten sie manchmal, denn sie war viel alleine, die Kinder aus dem Haus, die Schwiegereltern tot, die Wohnung manchmal leer und öd. Sie sollte wieder etwas tun, diese Gedanken kamen ihr jetzt in letzter Zeit des Öfteren, wieder ihrem Beruf nachgehen, aber sie war schon so viele Jahre zu Hause, ob sie wieder Anschluss finden würde, sie wusste es nicht. Sie stellte sich vor, wieder jeden Morgen aus dem Haus zu gehen, so wie früher, als sie noch keine Kinder hatten, die Straßenbahn nehmen, oder wahrscheinlich heute das eigene Auto, sie würde ihr eigenes Geld haben und sich das Auto leisten können, ins Büro kommen, einen kleinen Plausch halten und dann wieder arbeiten wie früher.
„Liebling, ich muss mit dir reden“, er kam zur Wohnzimmertüre, sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, was hatte er gesagt, es durchfuhr sie ein Schreck, das konnte nichts Gutes bedeuten, sie wusste es, das eigenartige Gefühl einer nahenden Katastrophe beschlich sie, es ging aber schnell wieder vorüber, so schnell wie es gekommen war.
„Was gibt es Schatz, hast du Probleme, iss’ erst etwas, dann können wir in Ruhe reden“.
Er wandte sich zur Tür, kam kurze Zeit später mit seinem Teller, den er sich warm gemacht hatte wieder, setzte sich und fing an, mit vollem Mund zu reden. Seine Worte kamen schnell, als wenn er es sich sonst überlegt hätte.
„Ich will kündigen, man hat mir einen Job in einem anderen Ort angeboten, er wird gut bezahlt und ich bin dort mein eigener Herr. Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, ich müsste mein Leben verändern, müsste noch mal neu anfangen, auch wenn es nur im Beruf ist, ich habe mich in letzter Zeit so eingefahren, fühle mich eingeengt, eingezwängt in eine Rolle, die ich nicht mehr spielen möchte“. Zwischen seinen Worten ließ er kaum Luft zum atmen, sein Essen wurde kalt, er merkte es nicht, so war er in seine Ausführungen vertieft.
„Wir verkaufen das Haus, nehmen uns eine kleine Wohnung, die Kinder sind aus dem Haus, wir brauchen doch den ganzen Platz nicht mehr, das Haus ist alt, du hast nicht mehr so viel Arbeit, kannst die Jahre noch genießen“. Er hörte gar nicht mehr auf, die Vorzüge seines Vorhabens zu schildern. Sie stellte sich vor, in einer Stadtwohnung ohne Garten, ohne frische Luft zu sein, den ganzen Tag zu Hause, wartend, bis er abends endlich nach Hause kam, wahrscheinlich noch später als jetzt, denn der neue Job würde all seine Kraft und seine Zeit kosten und Zeit, das war das schlimmste, Zeit hatten sie nicht mehr viel, nahm sie jedenfalls an. All das behagte ihr nicht, sie wusste nicht, was sie sagen sollte, ganz versunken war sie in ihre Gedanken, dass sie gar nicht richtig zuhörte, was er sagte.
Ihr Blick fiel auf den Hundekorb, der Hund schlief friedlich in seinem Korb. Plötzlich ging sein Kopf ruckartig nach oben, er hatte etwas gehört. Der Schlüssel wurde leise im Schloss rumgedreht, er kam immer leise nach Hause, er wollte mich nicht wecken, mich nicht stören, falls ich schon eingeschlafen war, das war ich meistens, die Decke noch um die Füße, abends war es schon empfindlich kalt geworden, der Herbst hatte seinen Einzug genommen. Leise ging er nach oben, ich hörte nur, wie die letzte Treppenstufe knarrte. Er war in diese Stadt versetzt worden, hatte sich darauf beworben, ich arbeitete 30 km von hier, musste also früh raus, um rechtzeitig in meiner kleinen Boutique zu sein. Mode interessierte mich schon immer, als die Kinder groß genug waren, um alleine zu bleiben, machte ich mich mit dem Geld, was meine Eltern mir hinterlassen hatten, selbständig. Ich hatte großen Spaß an der eigenen Kreativität, machte den Einkauf der neuesten Kreationen immer selbst, auch die Dekoration des Geschäftes, den Umbau hatte ich mit unserem Architekten besprochen, meine Ideen wurden umgesetzt und ich war ein wenig stolz auf das, was ich geschaffen hatte.
Heute war ich nicht eingeschlafen und hörte ihn kommen.
„Ich komme gleich, gehe mich nur noch kurz umziehen, ich muss mit dir reden“, die letzten Worte verhallten im Treppenhaus, die letzte Treppenstufe knarrte etwas, das tat sie schon von Anfang an. Wir hatten das Haus erst gemietet, als er den neuen Job annahm, so hatte er es nicht so weit zur Arbeit und für mich war es auch noch akzeptabel.
Ich nahm die Decke von meinen Füßen, ging mir einmal über das Haar, ich versuchte immer noch, attraktiv für ihn zu sein, man hörte so vieles von Kunden, von Bekannten und Verwandten, Männer die ihre Frauen verließen, weil sie ihnen nicht mehr gut genug waren, manchmal überfiel mich eine Angst, dass er käme und sagte, er wolle mich verlassen, ich verscheuchte diese Gedanken aber immer wieder und schalt mich selber für meine Gefühle.
So saß ich da und hörte ihn pfeifend die Treppe runterkommen. Sein schon leicht ergrautes Haar war wie immer gut gekämmt, sein Trainingsanzug, den er immer trug, wenn er im Hause war, von einem schönen blau, was gut zu seinen Haaren passte, sein Gang leicht und locker, seine Figur war seinem Alter entsprechend noch, wie ich immer zu sagen pflegte, in einem „guten Zustand“. Ich sah ihn, wie ich ihn eigentlich noch nie angesehen habe, ein bisschen durch ihn hindurch. Was ich sah, erschreckte mich. Sein Haar war schütter, seine Figur wie man so sagt, ein wenig auseinander gegangen, sein Gang müde, sein Lächeln erloschen.
Ich schaute noch etwas genauer hin, sein Aussehen, was war geschehen, sein Haar war heller, seine Augen sah ich nur hinter etwas dickeren Gläsern, seine Figur war kleiner als meine Erinnerung an ihn, sein Gang der eines älteren Mannes, sein Lächeln wirkte verkrampft, ich wischte mir über die Augen, was hatte ich da gesehen, was war mit mir los?
„Liebling, hörte ich ihn sagen“ und das war wieder er wie ich ihn kannte, „ich habe einen Tisch für zwei in dem neuen Restaurant bestellt, das was am Stadtrand aufgemacht hat, ich freue mich morgen auf einen gemütlichen Abend mit dir“.
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2008
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Widmung:
für Hans