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Das mechanische Summen war selbst außerhalb der Anlage und noch einige Meter davon entfernt zu vernehmen. Der gesamte Boden vibrierte von dem Dröhnen jener ungesehenen Apparaturen hinter jener Pforte, vor der sich fünf Gestalten drängten. Sie wirkten beunruhigt, entschlossen, kühl, aufmerksam und beeindruckt – von links nach rechts. Tage und Nächte hatten sie auf der Suche nach dieser verdorbenen Anlage verbracht; Wälder, Berge und Täler durchstreift; und schließlich hatte sie das Summen angelockt, dieses unüberhörbare, monotone Mmmmmmmm

, das bis in ihre Knochen hinein zu spüren war. Die verfallene Außenmauer hatten sie mühelos überwunden; bröckelndes Gestein und verrostete Metalltore waren kein Hindernis gewesen. Darauf folgte ein von Farnen und Unkraut überwachsener, gut zehn Meter langer Garten, in dem Tiere gewühlt und Löcher gegraben zu haben schienen. Die große Pforte war aus dicken Holz, das bereits faulte und von Maden zerfressen war. Aber der Gesamteindruck war schaurig: Man merkte, dass hier nichts erbaut worden war, das für eine lange Zeit stehen sollte.
Und das war auf irgendeine Art unerträglich.
„Unser Herr und Meister sandte uns hierher“, sprach der Entschlossene. „Hier werden wir finden, was er verlangt. Egal, was uns darin auch erwarten sollte, wir werden nicht gehen, ehe wir das Artefakt geborgen haben.“
Keiner antwortete darauf.
Der Entschlossene trat näher an die Pforte, stützte sich dagegen und stemmte sie auf. Die Scharniere winselten erbärmlich. Ein modriger Geruch wehte ihnen entgegen, ihm voraus glitt das Summen, das sofort ungleich lauter war. Die Gestalten betraten das Innere der Anlage, die tief in den Ländereien des Östlichen Königreiches gelegen war.
„Licht“, befahl der Entschlossene, und die anderen entzündeten Fackeln. Aus den Schatten gebar sich eine unvollständige, schummrige, nur erahnte Silhouette einer niedrigen Eingangshalle. Am Boden waren schwärzliche Überreste zersplitterter Möbel – vielleicht ein Tisch, vielleicht ein oder zwei Stühle – verstreut. Ansonsten war der Raum leer, und bis auf einen schmalen Durchgang, der auf der gegenüberliegenden Seite in die Dunkelheit führte, war nichts zu erkennen.
Der Beunruhigte zog die Stirn kraus. „Bringen wir es hinter uns. Ich will nicht länger als notwendig in diesen götterverlassenen Wänden sein.“ Obwohl keiner etwas erwiderte, spürte er, dass sie ebenso empfanden.
Sie durchquerten den Durchgang. Das Echo ihre Schritte klang trostlos und sinnlos in der summenden Sinfonie mechanischer Töne.
Der Korridor, in dem sie sich nun befanden, verlief nach links und rechts in nichts als Einsamkeit. Rückstände an den Wänden zeigten, dass dort einst etwas gehangen haben musste, ein Plakat oder ein Schild. Von leichten Böen muffiger Luft wurden die Flammen ihrer Fackeln bewegt.
Der Entschlossene wandte sich an den Kühlen: „Narjul, du folgst mir. Ihr anderen geht diesen Weg.“ Er zeigte nach rechts. „Findet ihr einen Weg, der in einer Sackgasse endet, kehrt ihr um und geht einen anderen. Verschafft euch einen Überblick. Mit Glück werden wir Pläne finden, die unsere Suche vereinfachen. Wir wissen nicht, wie weitreichend diese Hallen und Gänge wirklich sind. Wenn ihr glaubt, an einen Punkt gelangt zu sein, an dem es zu gefährlich wird, dann verlasst ihr ihn und macht an anderer Stelle weiter. Findet ihr interessante Anhaltspunkte, nehmt mit, was ihr tragen könnt, und bringt es nach draußen. Sollte eure Suche ergebnislos sein, oder wenn ihr glaubt, den Überblick zu verlieren, brecht ab und kehrt zurück.“ Er musterte seine Männer eindringlich. Dann sprach er die Worte, die ihnen fortan bei jedem Schritt in den Gedanken kreisen sollten: „Was auch immer in diesen Gemäuern noch spuken sollte, mögen wir hoffen, dass es uns unbehelligt gewähren lässt.“ Er nickte Narjul zu, und beide brachen auf.
Der Aufmerksame, der Beunruhigte und der Beeindruckte sahen sich abwechselnd an. Dann waren auch sie nur noch kleiner werdende Lichter, die tief hinab in die Erde drangen.

Die Drei gingen schweigend. Schutt und Trümmer übersäten den Grund, der ein leichtes Gefälle aufwies. Von der Decke tropfte hier und da eiskaltes Wasser. Nach etwa einhundert Metern bog der Korridor nach links. Gleich darauf machte sich auf der linken Seite ein Durchgang auf, der genauso schmal war wie der erste. Sie sahen hinein und fanden einen engen Raum vor, der bis auf zwei verrottete Bettgestelle leer war. Offenbar hatte er einst als eine Art Schlafstätte gedient. Es roch nach Alter. Bei einer kurzen Durchsuchung fanden sie nichts, was ihnen weiterhelfen konnte: Was hier früher gewesen war, hatte jemand fortgeräumt, der nicht wollte, dass jemand anderes es zu Gesicht bekommt. Sie verließen den Raum und gingen weiter. Mmmmmmmm

klang es von überall her. Der Beeindruckte presste sein Ohr gegen den kalten Stein. „Es kommt direkt aus den Wänden“, sagte er. „Irgendetwas befindet sich darin.“
„Was immer es sein mag, es wird nichts Gutes sein“, antwortete der Beunruhigte.
„Es müssen ungeahnt große Maschinen sein.“ Die Stimme des Beeindruckten war von naiver Neugier geschwängert. „Wenn ich nur einen Blick auf sie we...“
„Seht euch das an!“, zischte der Aufmerksame. Er stand inmitten des Korridors und hielt die Fackel mit ausgestrecktem Arm von sich, dass er den Weg besser beleuchten konnte. Zu beiden Seiten zeichneten sich große, dunkle Umrisse ab, in denen Eisenstangen schwarz glänzten.
„Das sind ...“ Der Beunruhigte nahm eine Eisenstange in die Hand und glitt mit den Fingern über die Oberfläche. „Das sind Kerkerzellen.“
„Kerker? Für was?“, fragte der Aufmerksame.
„Das wird ein Gefängnis gewesen sein“, meinte der Beeindruckte und schaute in die Zelle neben derjenigen, an deren Stäbe sich der Beunruhigte lehnte. „Hier sind auch Ketten, die in die Mauern getrieben wurden; dicke Ketten.“ Er untersuchte die Zellentür. „Ein sehr stabiles Schloss. Anders als der Zaun draußen ist hier nichts verrostet. Wer hier auch immer gefangen saß, er konnte nicht so einfach ausbrechen.“ War das Faszination, das in seinen Augen blitzte?
Der Beunruhigte erinnerte sich an den schlimmen Zustand der Außenanlage und an die morsche Pforte aus Holz. Die Teile wollten nicht recht zusammenpassen. Aber er hielt den Mund.
„Gehen wir weiter“, sagte der Aufmerksame. „Wir haben noch einen langen Tag vor uns.“ Er zeigte mit dem Daumen den Korridor entlang, dessen Ende man unmöglich einschätzen konnte.
Und aus den Wänden heulte es: Mmmmmmmm

.

Narjul war nur wenige Schritte hinter dem Entschlossenen, der ein rasches Marschtempo vorgab. Wie die Drei stießen auch sie nach hundert Metern auf eine Abzweigung, jedoch nach rechts. Auch sie fanden eine kleine Schlafkammer mit alten Bettgestellen, aber ohne jeglichen Hinweis.
Und dann machten der Entschlossene und sein schweigsamer Gefährte eine erste Entdeckung.
Auf dieser Seite gab es keine Zellen. Hier war nur nackter Fels. Wenige Meter hinter dem kleinen Raum tat sich rechts von ihnen eine schmale Treppe auf. Die Stufen hatten glatte, rutschige Kanten und führten nach oben. Der Flammenschein lief ihnen schüchtern voraus und betastete die schwarzen Ecken. Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, gingen sie einen weiteren Korridor entlang, der aber nach kurzer Zeit endete und in eine Halle unbekannter Größe mündete wie ein dunkler Fluss in ein noch dunkleres Meer. Nach links führte die Wand noch einige Meter weiter, ehe sie unverhofft endete. Auch hier war ein Durchgang eingelassen, und sie gingen hinein.
Der Raum war nicht sonderlich groß. Durch die Regale an allen Seiten verstärkte sich dieser beklemmende Eindruck. Nur noch wenige Bücher standen darin, einige waren zerfetzt und zerfressen von irgendwelchen Parasiten. Sie gingen einmal durch das Zimmer, schauten sich um, dann sahen sie sich an.
Narjul sagte: „Vielleicht enthalten die Bücher Informationen.“ Es waren seine ersten und einzigen Worte an diesem Tag.
Der Entschlossene nickte. „Ich werde mich noch etwas umsehen, aber ich bleibe in der Nähe.“ Damit verließ er den Raum.
Narjul atmete Staub ein. Er hielt seine Fackel nah an die Regale, um etwas zu erkennen. Er nahm ein dünnes Buch, das von dichten Spinnweben umgeben war, die silbern schimmerten. Die Schrift – krakelig, unschön, grob – war kaum zu entziffern, hier und da sogar überhaupt nicht. Die ersten beiden Seiten waren herausgerissen. Auf der dritten Seite las er:

… keine ne ... Erfolge … rzeichnen … Sie ... hund ... ohne Anzeichen eines … Weit ... Untersu ... mussten ei … ellt werden … der ... übersteigt die … ungen … eitem. Keinerlei sign … Ver … rungen im … fften Ausm … Zielob … bei zu … nder Dau … nstei … Suizidrate … Anketten unauswei …



Der Rest war durch Verschleiß unkenntlich. Die folgenden Seiten waren entweder herausgerissen oder mit sinnlosen Schmierereien und seltsamen Skizzen übersät, deren Sinn sich Narjul nicht erschloss. Lagepläne waren es nicht, und er beachtete sie fortan nicht weiter.
Die Wände riefen unaufhörlich: Mmmmmmmm

.

Siebenundneunzig.
Vorbei an der grenzenlosen Seele der Nacht, vorbei an siebenundneunzig Kerkerzellen. Und es kamen noch mehr. Der Korridor bog um eine Ecke und dann noch eine, und schon wieder waren beide Seiten mit schweren Eisengittern verhangen, hinter denen die in den Mauern verankerten Ketten schlummerten wie wilde Tiere, an denen man vorbeischlich mit dem unbehaglichen Gefühl, sie erwachten gleich aus ihrem Schlaf.
Der Beunruhigte, der Aufmerksame und der Beeindruckte – er lief voran – gingen weiter, jeder seine Fackel wie einen Schild vor sich haltend. Sie zählten mit: wieder siebenundneunzig Metallmünder.
„Ich ertrage diese Stille nicht“, meinte der Aufmerksame. „Es gibt mir das Gefühl, etwas würde gleich geschehen.“
„Wie kannst du von Stille sprechen, wenn uns dieses ohrenbetäubende Brummen umgibt?“, fragte der Beunruhigte.
„Du weißt, was ich meine“, antwortete der Aufmerksame.
Der Beunruhigte ging nicht weiter darauf ein.
Nun ließen sie auch diese Zellen hinter sich, als sich der Weg erneut um zwei Ecken wand. Der Beeindruckte sah es in letzter Sekunde auf sich zu kommen, doch er konnte nichts mehr tun. Er nahm nur noch wahr, wie etwas das Licht seiner Fackel widerspiegelte, dann spürte er auch schon, wie seine Nase von etwas Metallischem verkrümmt und seine Zähne eingedrückt wurden. Er hörte ein Knirschen, gefolgt von Blutgeschmack, ehe er einige Schritte zurück taumelte und rücklings hinfiel. Ein Schmerzensschrei durchmischte sich mit Flüchen sowie einem erschrockenen und überwältigten Gesichtsausdruck.
„Jiro!“, riefen die beiden anderen gleichzeitig und zückten ihre Klingen. Sie stellten sich in Kampfpose dicht hinter den am Boden liegenden Gefährten, der seinerseits nach dem Griff seines Schwertes fingerte. Warmes Blut verschmierte seine Lippen.
„Zeig dich!“, befahl der Aufmerksame den Schatten. In einem Moment geistiger Klarheit kroch Jiro zwischen den Beinen seiner kampfbereiten Mitstreiter, rappelte sich auf und konnte dann seine Waffe ziehen. Er stellte sich leicht benommen zu der Formation. Der Beunruhigte machte Drohgebärden mit der Faust, und der Aufmerksame wiederholte seine Aufforderung.
Sekunde reihte sich an Sekunde, Moment an Moment, eine Befürchtung jagte die nächste; schreckliche Augenblicke der Ungewissheit durchzitterten die drei Männer, doch sie blieben standhaft und tapfer. Nichts regte sich in der Dunkelheit jenseits des Flammenlichts, keiner vermochte zu sagen, was nun zu tun sei, und aus dem schwarzen Winkel klang nur ein niederschmetternder Laut:
Mmmmmmmm

.

Auch in zwei weiteren Büchern konnte er nichts von Belang finden; dafür waren sie in einem zu schlechten Zustand. Doch Narjul suchte weiter. Wenn er etwas über das Horn und seinen Aufenthaltsort herausfinden wollte, konnte in diesen Aufzeichnungen ein wichtiger Hinweis darauf stehen. Und sei es nur eine kleine Randnotiz.
Aber bislang war seine Suche nicht von Erfolg gekrönt.
Es waren noch drei weitere Bücher in dem kleinen Raum. Von denen waren zwei wie die anderen wertlos. Sorgsam forschte er Seite für Seite – ergebnislos. Seine ohnehin geringe Zuversicht sank noch mehr, doch als er das letzte verbliebene Buch öffnete, schöpfte er neue. Denn es war längst nicht so zerschunden wie die anderen. Die Blätter waren gewellt, aber nicht so fleckig oder eingerissen. Zudem fand er beim ersten Durchblättern keine Anzeichen, etwas sei herausgerissen worden. Die Schrift war genauso schwerfällig, aber er hatte sich etwas daran gewöhnt, und so konnte er fast lückenlos darin lesen:

Fünf Jahre seit dem ersten Versuch. Anzahl der Toten: 929. Davon Suizid: 403. Davon getötet wegen Unbrauchbarkeit: 267. Rest: unkalkulierte Nebenwirkungen. Anzeichen eines Erfolges sporadisch vorhanden. Restbestand EA's: 41. Instandhaltung der Anlage gefährdet durch ausbleibende Ergebnisse. Erste Arbeiter von Projekt abgezogen. Forschungen intensiviert. Experimente verschärft. Absehbare Erfolgschance: fast Null. Weiterführung der Experimente bis zum Ende beschlossen.

Bis zum Ende

war mehrmals unterstrichen.

Sie standen stumm. Nichts und niemand rührte sich. Da fasste der Aufmerksame Fackel und Schwert fester und rutschte vorsichtig einige Zentimeter nach vorn. Die Sohlen seiner Schuhe knirschten über den Boden, doch noch immer gab es keine Anzeichen, dass jemand vor ihnen lauerte. Zentimeter um Zentimeter. Sie hielten sich kampfbereit. Dann sahen sie es: matt glänzendes Eisen. Es schimmerte verstohlen das Licht zu ihnen hinüber. Als er schließlich noch weiter vorrückte, fanden sie nichts als eine weitere große Zelle.
Der Aufmerksame und der Beunruhigte sahen zu Jiro. Dieser räusperte sich und wischte sich geniert das Blut aus dem Gesicht. Ein Nicken deutete an, dass nichts gebrochen war, und so gingen sie weiter. Ihre Schwerter behielten sie von jetzt an in der Hand.
Nun schlängelte sich der Weg um viele Kurven, die dicht aufeinander folgten. Dabei war jedes Mal eine Zelle dreieckig in den Winkel der äußeren Seite der Kurve eingelassen. Nachdem sie fünfmal so abgebogen waren, gabelte sich erstmals ihr Weg. Sie hielten und dachten nach, wie nun zu verfahren sei.
„Drei Männer. Zwei Gänge“, sagte der Aufmerksame. Sie sahen sich abwechselnd in die Augen. Wortlose Verständigung. Sie teilten sich auf.
Der Aufmerksame entschied sich für den rechten Korridor. Er war allein. Doch das sollte er nicht mehr lange sein, nur wusste er es in diesem Moment noch nicht. Was jetzt für ihn zählte, war die Hoffnung, nicht ohnmächtig zu werden. Einen leichten Hauch der Verwesung hatte er bereits vernommen, als sie noch gemeinsam unterwegs gewesen waren. Mittlerweile war aus dem Hauch geradezu ein Sturm der verschiedensten Fäulnisgerüche geworden, die unvermittelt auf seinen Verstand einhämmerten und droschen, dass ihm übel wurde. Die Luft war dick und pestverhangen. Einmal tränten seine Augen, seine Zunge war belegt. Er konnte kaum auf den Weg achten, und so war er erstaunt, als er sich plötzlich inmitten der Dunkelheit befand, die ihn ohne sichtbare Grenzen umgab. Ein ungutes, verlorenes Gefühl beschlich ihn, und hier stellte er erstmals seine Entscheidung infrage, allein gegangen zu sein. Niemand würde ihm hier zu Hilfe kommen, sollte tatsächlich etwas jenseits allen Lichts leben und vegetieren. Ihn beobachten

.
Aus dem Nichts formten sich unverhofft Dinge aus Stein und Metall, die er nicht zuordnen konnte. Es waren keine Kerkerzellen, diesmal nicht. Aber was sollte es darstellen? Narjul hätte ihm von den Skizzen erzählen können; doch Narjul war nicht da. Es sah bei näherer Betrachtung aus wie eine große Marionette, gleichzeitig hatte es nichts Menschenähnliches. Aber es hatte eine Art Kopf, der aus Granit gefertigt war, und auch Anzeichen eines Gesichts. Doch wo die Extremitäten hätten sein müssen, staken entweder Klingen, Hämmer, Morgensterne oder schwere Keulen. Das Ding baumelte an einer Kette, die irgendwo über ihm endete. Und schwang vor und zurück. Vor und zurück.
Der Aufmerksame konnte sich nur schwer von diesem Anblick lösen. Doch als er daran vorbeigehen wollte, berührte es ihn an der Schulter. Er zuckte zur Seite und rannte blind in eine weitere furchtbare Marionette, die ihn mit gemeißelten Steinaugen anstarrte. Und plötzlich merkte er, dass sie überall waren. Je weiter er ging, desto mehr von ihnen erschienen, drängten sich geradezu um ihn und bildeten eine Traube. An den Klingen holte er sich die eine oder andere kleine Wunde, doch was er jetzt wollte, war nur noch, diese Gestalten hinter sich zu lassen. Aber wo sollte er hin? Überall, an allen Seiten baumelten und schwangen diese grässlichen Dinger, die ihn festhielten und nicht mehr loslassen wollten, und der Gestank nach Tod schien aus ihren Mündern zu kommen, die sie gar nicht besaßen. Er konnte nicht mehr; der Aufmerksame schrie auf, stemmte sein Gewicht gegen die Marionette, die sich genau vor ihm aufgetan hatte, lief einige Schritte – und fand sich im Leeren wieder. Er hörte, wie er die Luft in kurzen, aufgeregten Zügen ausstieß, doch er merkte kaum, dass er eigentlich wirklich atmete.
Er drehte sich um. Die Marionetten waren hinter ihm. Sie hingen wie zuvor an ihren einsamen Ketten. Nichts hielten sie, sie waren bloße Puppen. Nichts weiter.
In seiner Brust verlangsamte das Herz seinen erregten Tanz im Sekundentakt, bis es wieder annähernd normal schlug. Der Aufmerksame massierte seinen Nasenrücken und spürte dabei, dass er den Griff seines Schwertes so krampfhaft hielt, wie er es noch nie getan hatte. Dann machte er einen entschlossenen Schritt nach vorn, und er war völlig ohne Aufregung, als er eine weitere Marionette sah; nur hing sie nicht mehr an ihrer Kette. Die Marionette lag wie Abfall am Boden, um sie herum waren viele Gesteinsbrocken, die sie teilweise bedeckten. Der Aufmerksame wäre an ihr vorbeigegangen, wenn er nicht etwas gehört hätte, das wie ein Wort klang, oder zumindest etwas in dieser Richtung. Nicht nur, dass die vor ihm liegende Marionette gesprochen hatte, nein – sie sah ihn an. Beobachtete ihn.
Hinter ihm schwangen die Marionetten vor und zurück. Vor und zurück.
Mmmmmmmm

.

Bislang war der Entschlossene auf hunderte seltsamer Zellen gestoßen; in manchen waren die sterblichen Überreste von einzelnen Menschen gewesen. Ein Teil der Halle war eingestürzt, und er wagte es nicht, zu nah heranzutreten. Hier oben schien das Summen an Intensität zugenommen zu haben. Während seiner Erkundung achtete er darauf, den schwachen Schein, der aus dem Raum mit den Aufzeichnungen sickerte, nicht aus den Augen zu verlieren.
Er konnte nicht die ganze Halle durchsuchen. Aber er verschaffte sich einen ungefähren Überblick: Sie war sehr groß, vielleicht überspannte sie den gesamten unteren Teil der Anlage, und wurde in seinem Abschnitt von drei sehr dicken Pfeilern gestützt; etwa in der Mitte der Halle – jedenfalls schätzte er es so ein – war eine weitere Treppe, die nach unten führte, aber ebenfalls verschüttet war; und überall waren diese Zellen.
Aber nichts konnte dem Entschlossenen verraten, wo sich das Horn befinden sollte. Ihr fünfköpfiges Gespann war seit Jahren im Auftrag des Östlichen Königs unterwegs und erledigte Arbeiten, mit denen sich seine Majestät nicht beschäftigen wollte. Seien es nun Abgesandte anderer Fürstentümer, die in Empfang genommen und geführt werden sollten, oder Spionageeinsätze. Sie hatten nie versagt. Sie würden ihren Herrn und Meister auch diesmal nicht enttäuschen.
Der von der intakten Treppe aus gesehen dritte Pfeiler war mit eingeritzten Schriftzügen in fremden Sprachen gezeichnet, die er nicht kannte oder auch nur aussprechen konnte. Allerdings erkannte er, dass sich die Zeichen in regelmäßigen Abständen wiederholten. Der Entschlossene behielt die Stelle im Hinterkopf; seine Männer stammten aus allen Teilen des Königreiches. Er hoffte, dass zumindest einer etwas mit dieser Schrift anzufangen wusste. Einstweilen wollte er sich aber anderen Dingen widmen.
Als er aufstand, glaubte er aus dem Augenwinkel etwas zu erkennen.
Im Zwielicht, dort, wo das Summen noch stärker wurde, ließen sich die Umrisse eines Menschen erahnen. Doch nur ein ausgezeichnetes Sehvermögen, wie der Entschlossene es besaß, hätten es erkennen können.
Vorsichtig näherte er sich. Und tatsächlich: es war ein Mensch. Eine Frau sogar. Und sie war vollkommen nackt. Sie stand in einer kleinen Vertiefung der Wand mit angelegten Armen und rührte sich keinen Zentimeter.
Der Entschlossene trat näher heran. Das Mmmmmmmm

war eine dröhnende Walze, die seinen Kopf zum Platzen bringen wollte. De Anblick war erschütternd, denn der Körper der Frau war makellos, die weiße Haut ohne Kratzer oder Fleck, sie passte einfach nicht in eine solche Gegend. Man hätte sie für wunderschön befunden, doch etwas Irritierendes machte diesen Eindruck unwiderruflich zunichte. Er konnte den Finger nicht darauf legen, bis er sich ihr Gesicht näher ansah. Ihr Mund wurde von tiefroten Lippen umgeben, und diese bewegten sich unaufhörlich und stumm. Doch das war es nicht. Es lag an ihren Augen. Erst, als der Entschlossene seine Fackel noch näher brachte, erkannte er, dass sie das Licht nicht reflektierten. Sie erinnerten ihn an mit Nebel gefüllte Glaskugeln, an den vollen Mond hinter einer Wolke.
Die Frau schien ihn nicht zu bemerken; vielleicht war sie blind. Der Entschlossene schluckte, dann legte er seinen Mund nah an ihr Ohr, wobei ihm die Tätowierung EA 71 auf ihrem Nacken auffiel, und rief, gegen das Summen aus den Wänden ankämpfend: „Ich komme aus einer fernen Stadt und suche nach einem Artefakt aus alter Zeit.“
Die Frau bewegte weiter ihren Mund, ohne etwas zu sagen. Selbst, nachdem der Entschlossene seinen Satz noch zweimal wiederholte, reagierte sie nicht. Dann sagte er: „Ich komme auf Geheiß des mächtigen Königs.“ Daraufhin weitete die Frau ihre Augen, die kein Licht kannten, etwas, und ihre Augenbrauen verzogen sich ängstlich. Da erst bemerkte der Entschlossene, dass die Frau keineswegs stumm war; sie war nur unsagbar leise und konnte gegen den Lärm aus den Wänden nicht ankommen. Also näherte er sein Gesicht immer weiter zu den Lippen der Frau, bis er diese schließlich an seinem Ohr spüren konnte, und was sie sagte, ließ eisige Schauer seinen Rücken hinab jagen.

Jiro und der Beunruhigte waren ebenso wie der Aufmerksame einem langen dunklen Korridor gefolgt, der irgendwann breiter geworden war. Hier unten gab es keine Zeit, und keiner von ihnen konnte mit Bestimmtheit sagen, wie lange sie benötigt hatten, um diesen Abschnitt zu erreichen.
In eine Seite waren Vertiefungen eingelassen, ähnlich der Vertiefung, in welcher der Entschlossene die Frau gefunden hatte. Allein, diese hier unten waren etwas größer. Und am jenseitigen Ende waren, wie in den Zellen, Ketten in die Mauern getrieben. Allerdings erfüllten die Ketten hier nach wie vor ihren Zweck; nur waren die Menschen, die sie einst festhielten, schon lange tot und zerfallen. Um die Skelette verstreut waren Metallteile.
Die beiden Lebenden sahen sich in die Augen, beide mit der Frage, was das zu bedeuten hatte; keiner konnte antworten. Ihre Blicke waren auf die Leichen geheftet. Wie die Schatten der leeren Augenhöhlen wanderten, während sie vorbeigingen, war schauerlich, das endlose Grinsen der Schädel nicht auszuhalten.
„Ein grausiger Ort“, meinte Jiro. Der Beunruhigte nickte.
Es war die vierzehnte Vorrichtung, vor der sie als nächstes standen, aber die erste, in der sich kein Skelett befand. Denn der Mann, der darin gefangen wurde, lebte, und er hob in einer grotesken Bewegung, bei der die beiden ein widerliches Knacken hören konnten, den Kopf und schaute ihnen unvermittelt in die Augen. Die Hände, die er ihnen entgegenstreckte, waren von langen, schwarzen Klingen durchbohrt; jene Metallteile, die sie gesehen hatten. An seinen Beinen war ebenfalls Metall befestigt, das von dicken Schrauben, die im Fleisch und wahrscheinlich in den Knochen steckten, fixiert wurde.
Unglaublich, erbärmlich, bedauerlich, ungeheuerlich, schrecklich, furchterregend – unvorstellbar.
Der Angekettete begann zu wimmern. Seine aufgeplatzten Lippen verformten sich, aber statt eines Wortes kam nur ein unverständliches Lallen hervor. Dann versuchte er sich aufzurichten, doch er knickte zur Seite und fiel in den Dreck. Es schien ihn aber nicht zu stören; er hatte nur Augen und Sinn für Jiro und den Beunruhigten, die nicht in der Lage waren, sich zu rühren.
Der Angekettete kroch so nah, wie die Ketten es zuließen, und streckte weiter seine Hände aus, als müsste er die beiden berühren, um sicher zu sein, dass sie real waren.
Schließlich brachte er mit kratziger, schwacher Stimme hervor: „Nehmt mich mit ...“

Die Marionette war natürlich keine Puppe, sie war ein Mensch. Er sah dem Aufmerksamen mit unergündlichem, aber müdem Blick in die Augen. Aus seiner rechten Schulter ragte kein Arm, sondern eine große eiserne Keule. Gesteinsbrocken umgaben ihn.
„Fremder“, war das Wort gewesen, welches der Aufmerksame gehört hatte. Dann war dem Mann eine Träne entkommen, die er nicht mehr aufhalten konnte.
Der Aufmerksame sah ungläubig zu ihn hinab. Das Schwert rutschte in seiner verschwitzten Hand, und er steckte es wieder in die Scheide. Der verwesende Geruch war mit einem Schlag vergessen; was da vor ihm lag, war zu gewaltig. Er kam vorsichtig näher, als befürchtete er einen Angriff von diesem bedauernswerten Geschöpf, und kniete sich neben ihn. Als er die Haut des Mannes berührte, durchzuckte ihn ein kleiner elektrischer Stoß.
Der Mann lächelte süffisant; es ließ ihn irr erscheinen und war hier in der Dunkelheit der Erde so fehl am Platz wie sonst nichts auf der Welt. „Bist auch du gekommen, um mich hier verrotten zu lassen?“, fragte der Mann.
„Auch?“ Der Aufmerksame wurde ganz Ohr.
Der Mann schüttelte leicht den Kopf. „Warum bist du hier?“
„Ich … bin auf der Suche nach einem alten Artefakt.“
Ein heiseres Lachen entwich dem Mann. „Ich wusste, dass dieser Tag kommen wird. Obwohl ich davon ausging und auch hoffte, ich würde ihn nicht mehr erleben.“ Er hustete.
„Das heißt, du weißt von dem Horn?“, rief der Aufmerksame erstaunt aus. Als er das Echo seiner Stimme gespenstisch aus der Finsternis hallen hörte, senkte er wieder seine Stimme.
„Ich werde es dir verraten“, meinte der Mann. „Aber nur, wenn du mir versicherst, mich zu töten.“
Der Aufmerksame war irritiert und konnte erst nichts sagen. Da grinste der Mann wieder, dass es einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. „An was für einen götterverlassenen Ort bin ich hier?“, fragte er letztendlich.
„Ja, götterverlassen ist dieser Ort wirklich“, sagte der Mann. „Was hier geschah, ist allein der Willkür der Menschen geschuldet.“ Er machte eine Pause. „Sie sammelten uns ein wie Vieh, sie sperrten uns wie Vieh ein. Was man uns antat ...“ Er nickte zu der Keule.
„Wie lautet dein Name?“
„Name? Namen sind für diejenigen, die leben, um zu leben. Und nicht für diejenigen, die leben, um gefoltert zu werden. Die Wächter gaben uns Ziffern, mehr waren wir nicht für sie. Wer starb, wurde weggeworfen, damit ein anderer Platz bekam, und dieser war auch nach nicht ganz einer Woche tot.“ Wieder pausierte er. Der Aufmerksame atmete schwer. Seine Gedanken rasten gegen Mauern und zersprangen in alle Richtungen. „Mich riefen sie Experimentierargumentation 13

!“ Bei den letzten Worten verstellte er die Stimme zum Fallset, und der Aufmerksame bekam eine Gänsehaut.
„Warum hat man euch gefoltert?“
„Für die Wissenschaft!“, schrie EA 13. Dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort: „Man wollte die Schöpfung … ankurbeln. Wir sollten den Grundstein legen für eine Generation von unbesiegbaren Soldaten. Unzählige Chemikalien … Zauberformeln … Operationen … ich weiß nicht einmal, wie viele es waren, die sie hierher verschleppten.“ Er zeigte seine Zähne bei einer weiteren dieser irren Grimassen. „Aber sie sind alle tot, oh ja.“
Sie sahen sich schweigend an.
„Als die Anlage verlassen wurde, ließen sie uns, wie wir waren. Damals lebten noch einige von uns. Aber irgendwann kam niemand mehr, um nach uns zu sehen. So verging die Zeit, auch wenn ich nicht weiß, ob es Wochen oder Jahre waren. Zeit wird so unwichtig, wenn man sich Tag für Tag den Tod herbeiwünscht.“
„Jahre?“ Der Aufmerksame sah ihn ungläubig an. „Wie kannst du noch leben?“
„Diese Frage stelle ich mir zu jeder Sekunde“, sagte er bitter. „Die Anlage wurde aufgegeben, weil sie keinen ihrer Übermenschen züchten konnten … aber etwas haben sie erreicht … denn wir fühlen keinen Hunger, und Durst ist uns fremd. So überlebt man eine geraume Zeit. Einige Tollkühne waren der Meinung, sie würden gerettet werden; andere nutzten die erste Möglichkeit und beendeten ihr Leben auf eigene Faust. Wie ich sie beneide! Ich bin dazu nicht in der Lage. Meine Knochen sind zertrümmert, ich kann nicht einmal meine verbliebene Hand bewegen.“ Wahnsinniges Gelächter vermischte sich mit Schluchzen und Tränen. „Ich bin die Schmerzen leid, Fremder. Ich bin es leid, mich an die Schreie und Qualen zu erinnern.“ Er sah ihn an. „Auch ich gehörte zu jenen, die erst auf Rettung hofften. Eingesperrt in meiner kleinen Zelle … und von Tag zu Tag waren es weniger Stimmen, mit denen man sprach, und irgendwann gar keine mehr. Irgendwann gelang es mir, mit diesem Ding an meinem Arm die Ketten zu sprengen. Als ich sah, was aus dieser Anlage geworden war … die Unmenschlichkeiten, die man meinesgleichen zugemutet hatte … da wollte ich sterben. Und damals konnte ich noch. Aber irgendeine abnorme Ironie ließ den Boden unter meinen Füßen zusammenbrechen, und seither liege ich hier und sehne mich nach demjenigen, der mir diesen Schmerz nehmen kann.“
„Woher weißt du von dem Horn?“, fragte der Aufmerksame, nachdem er seine gesamte Willenskraft aufgebracht hatte.
„Einer der Arbeiter hat es mir gegeben. Das war ein Tag, bevor niemand mehr kam“, antwortete der Mann. „Ich habe mich seither oft gefragt, warum er es mir gab.“
„Ich kenne diesen Mann“, sagte der Aufmerksame. „Er wurde vor vier Monaten verurteilt und wegen Verrats enthauptet.“
Der Mann musterte ihn herablassend. „Verrat?“
„Mein Herr und Meister befragte ihn nach dem Horn, welches in seiner Obhut gewesen war. Der Törichte antwortete darauf, er ...“ Er verstummte. Als er sich an die Worte des Mannes erinnerte, schienen ihm die Bedeutung erst richtig klar zu werden. Er wurde kreideblass.
„Was?“, fragte EA 13 giftig.
„E-er antwortete … dass er das Verderben dort ruhen gelassen hatte, wo es am stärksten sei.“
EA 13 schnaubte verächtlich. „Er kam spät zur Einsicht.“ Er schloss kurz die Augen. „Das Horn liegt direkt zu deinen Füßen.“
Der Aufmerksame reagierte nur langsam und wie in Trance. Nach und nach stellte er sich die Zellen vor, und wie man sie mit Menschenmaterial füllte und ihnen Dinge antat, wie sie dem Experimentierargument 13 angetan worden waren. Als er den Stein in die Hand nahm, bemerkte er es kaum. Der Stein war kugelrund, schwer und von einer unheiligen Aura beseelt, die den Aufmerksamen erschauern ließ. Mit Schweiß auf der Stirn und zittrigen Händen sah er zu EA 13.
Der Mann mit der Eisenkeule nickte knapp und zischte nur: „Und nun halte deinen Teil ein und erlöse mich.“ Und als der Aufmerksame sein Schwert zückte und ihm die Kehle durchschnitt, war er so glücklich wie nie.
Dann erstarb plötzlich das Summen. Oder war es schon vor ein paar Minuten geschehen? Er wusste es nicht. Als aber ein tiefes Grollen und kurz danach das Beben einsetzte, rappelte er sich irgendwie auf. Und nahm noch einmal alle Kraft zusammen, die er noch zur Verfügung hatte.

„Nehmt mich mit!“, stammelte das Geschöpf. „Nehmt mich mit, ich bitte euch, nehmt mich mit!“ Er brach in Tränen aus und schluchzte wie ein kleines Kind. Aber sein Gesicht war zu einem breiten Lächeln verzogen. „Ich habe so lange gewartet“, sagte er mit erstickter Stimme. „Sie alle haben die Hoffnung aufgegeben – aber nicht ich! Jetzt werde ich wieder Luft riechen und Licht sehen … bitte … befreit mich und nehmt mich mit!“
Jiro konnte den Blick nicht von dieser erbärmlichen Kreatur wenden. „Verstehst du diese Worte, Garón?“, fragte er den Beunruhigten.
Dieser schüttelte den Kopf. „Siehst du, wie er seine Klauenhände nach uns ausstreckt? Und dann diese Grimasse. Er ist verrückt. Ich könnte wetten, er würde uns angreifen, wenn er könnte.“
Das Geschöpf sah sie mit geröteten Augen an. Die Fremden unterhielten sich in einer Sprache, die es nicht kannte. „Nehmt mich mit!“, bat es erneut, aber die beiden sahen es verwirrt und angewidert an.
„Er wurde gefoltert“, erkannte Garón. „Darüber muss er wahnsinnig geworden sein. Wir kommen ihm lieber nicht zu nahe.“ Dennoch klang Wehmut in seinen Worten. Diese Kreatur tat ihm leid.
„Ob wir ihn töten sollten?“
Garón überlegte. Die Augen des Mannes mit dem klingenbesetzten Händen schwirrten von einem zum anderen. „Nein“, sagte er schließlich. „Ich möchte ihn nicht töten, denn ich bedaure ihn.“ Sie schwiegen. „Komm weiter“, sagte er dann und war erstaunt, wie schwer seine Stimme war ob diesem Anblick. Gänsehaut bedeckte sie beide.
Jiro nickte. Sie seufzten, dann sahen sie noch einmal einander an und gingen weiter.
„W-w-w...“ Das arme Geschöpf heulte auf. „Wartet! Nein, NEIN! GEHT NICHT! NEHMT MICH MI-I-I-IT! ICH FLEHE EUCH AN!

“ Er schrie sein gesamtes Leben heraus. Jiro und Garón verzogen das Gesicht. Dieses schreckliche, unnatürliche Heulen ließ ihre Knochen zu Eis erstarren. Noch einige Minuten dauerte es an, und Garón war den Tränen nahe, denn es erinnerte ihn an ein verwundetes Tier, dann – plötzlich – hörte es auf. Jiro und Garón wechselten kein Wort und sahen sich nicht einmal in die Augen. Das Echo dieser unbekannten Klagesprache verfolgte die beiden noch Tage danach in ihren Träumen. Aber keiner verlor je ein Wort darüber, was sie gesehen hatte; und sie waren sich einig, dass dies wohl eine ihrer furchtbarsten Erinnerungen aller Zeiten war.
So gingen sie noch einige Meter vorbei an stummen Zeugen des Alters und auch des Todes, bis sie auf einmal stehen blieben. Das Mmmmmmmm

hatte unvermittelt aufgehört, doch nun schallte ein unterirdisches Grollen, dass sie beide auf den Fersen kehrt machten und rannten.
Sie vermieden es, einen Blick auf den Mann zu werfen, und sie erwarteten halb, er würde erneut in seiner unverständlichen Sprache schreien. Doch das tat er nicht. Hätten sie gehalten, um nach ihn zu sehen, hätten sie noch erkennen können, wie das Blut von den schwarzen Klingen tropfte, die er sich in letzter Verzweiflung und nach endlosen Jahren des naiven Hoffens ins Gesicht gerammt hatte.

Während der Aufmerksame von EA 13 die Gräueltaten der Anlage erfuhr, las Narjul mit wachsender Erschütterung davon. Von seltsamen Apparaturen war die Rede und wie sie angewandt wurden, um Mensch und Metall zu einer Kampfbestie ohne Verstand zu kreuzen; von Flammenversuchen, um herauszufinden, wie man Menschen immun gegen Feuer machen konnte; einige Beschreibungen waren so unglaublich, dass Narjul, sonst ein rationaler und besonnener Geist, der selten eine Gefühlsregung zeigte, übel wurde. Und überall Randnotizen, die die Anzahl der Toten festhielten.
Es waren unzählige, die hier grausam zu Tode kamen. Und keinen schien es interessiert zu haben.
Dann kam er auf der letzten Seite des Buches an. Dort stand keine Unmenschlichkeit; nein, was dort stand, war der Gipfel aller Ungeheuerlichkeiten. Es ergriff ihn und füllte ihn mit rasender Wut, wie er sie noch nie gespürt hatte. Gleichzeitig war es so irrwitzig … lächerlich … unglaublich … Alle Luft schien aus seiner Lunge gepresst, und das zuckende Licht seiner Fackel war so irreal wie das, was er gelesen hatte. Die Worte ätzten sich in seinen Kopf und ließen ihn an seiner Treue zweifeln.
Er wollte nur noch hier raus.
Als er das Beben spürte – dass das Summen aufgehört hatte, hatte er nicht mitbekommen –, ließ er das Buch fallen und dort liegen.

Die Worte, die Narjul so erschüttert hatten, waren dieselben, die in der unbekannten Schrift in den Pfeiler geschnitzt waren und die EA 71, die Frau ohne Augenlicht, ununterbrochen sprach: „Im Namen des Königs und ihm treu ergeben.“
Der Entschlossene konnte nicht in einen logischen Zusammenhang bringen, was die Frau redete, er konnte es sich nicht erklären. Er wusste nichts von alldem, was Narjul gelesen und der Aufmerksame gehört hatte. Dennoch hetzten ihn Schauer. Der König, ihr Herr und Meister, der sie mit der Suche nach dem Horn beauftragt hatte, war einst Erbauer dieser Anlage gewesen? Er hatte es ihnen nicht erzählt. Als wollte er es verheimlichen. Nun kamen ihm die Worte des Arbeiters wieder in den Sinn, den man wegen Verrats an der Krone hatte hinrichten lassen: wo das Verderben am stärksten sei.
Der Entschlossene lehnte seinen gedankenschweren Kopf auf die Schulter der Frau, die unermüdlich murmelte. Da erst bemerkte er ein leichtes Vibrieren. EA 71 zitterte tatsächlich. Aber kein Zittern, das von Kälte herrührte.
Bei genauerer Betrachtung fiel ihm etwas ins Auge, was er zuvor nicht gesehen hatte. Hinter ihren Rücken, etwa zehn Zentimeter unterhalb ihres Haaransatzes, bewegte sich etwas. Was es war, konnte er nicht erkennen. Deshalb packte er EA 71 an der Schulter und wollte sie bewegen, aber das war unglaublich schwer, und erst ließ sie sich gar nicht bewegen. Doch dann konnte er ihren Oberkörper einige Millimeter verrücken, und als er die Fackel kurz zwischen die Beine steckte und nun an beiden Schulter zog, schaffte er es. Überrascht stemmte er sich dann gegen ihren Körper, als dieser ihm plötzlich entgegenkam. Nichts mehr hielt sie fest, sie war nur noch eine zerbrechliche, dürre Frau. Der Entschlossene konnte noch eben verhindern, dass er hinfiel, aber er ließ die Fackel fallen. Schnell hob er sie auf, und was er sah, versetzte ihm einen Stich, den er nicht mit Worten beschreiben konnte: Aus dem Rücken der Frau ragte ein großes, schwarzes Zahnrad, das sich noch etwas drehte. Die Öffnung im Rücken ließ weitere kleine Zahnräder erkennen, die im Körper steckten.
Noch während er irgendwie verdauen wollte, was er da sah, fiel sein Blick auf die Wand. Dort nämlich klaffte ein großes Loch. Und darin … weitere Zahnräder. Sie bewegten sich noch einen Moment, dann standen sie still.
In dieser Sekunde wurde das Summen erst leiser, und der Entschlossene konnte wahrnehmen, wie sich das Geräusch von ihm entfernte und letztlich ganz aufhörte. Ein ungutes Gefühl machte sich breit – plötzlich bebte die gesamte Anlage.
Er realisierte schnell, was das bedeutete. Er nahm die Frau in den Arm und wollte ihr erklären, dass er sie hinaus tragen wollte, doch das konnte er nicht mehr. Neben dem Summen in den Wänden war das Leben in ihr erloschen.
Der Entschlossene ließ sie zu Boden sinken und rannte in Richtung des leichten Scheins, der aus der Öffnung in dem Raum mit dem Aufzeichnungen stammte. Auf halbem Weg sah er, wie Narjul aus ebendieser Öffnung kam.
Dann rannten sie beide.

Keine zwanzig Minuten später standen sie alle außerhalb der Anlage, die in sich zusammengebrochen war. Große Staubwolken stoben in die Luft und waren so dick wie bei einem unheilvollen Gewitter.
Ihre Gesichter waren gezeichnet von Bedauern, Furcht, Benommenheit und Wut. Und Unverständnis. Die Anlage war nun ein für allemal in der Erde versunken, und die Geheimnisse mit ihr.
Der Entschlossene ergriff schließlich das Wort.
„Wir kamen mit dem Auftrag, ein Artefakt von großer Macht zu bergen. Wir kamen im Auftrag des Königs.“ Narjul knirschte mit den Zähnen. „Nun stehen wir hier, und ich frage euch, habt ihr es gefunden?“
„Nein“, antwortete Jiro, der Beeindruckte, und er hörte den Mann noch schreien.
„Nein“, antwortete Garón, der Beunruhigte, und er erinnerte sich an den Geruch.
Narjul, der Kühle, schwieg. Was er gelesen hatte, würde er nie jemandem verraten. Er würde es mit in sein Grab nehmen, wie es die Anlage eben getan hatte. Aber er schüttelte den Kopf.
Der Aufmerksame überlegte noch einen Moment, ehe er antwortete. EA 13 hatte ihm das Horn gegeben; und die Erkenntnis, wer für all das hier verantwortlich gewesen war. Er hatte sich ausgemalt, was für unfassliche Dinge dort unten in der Erde geschehen waren. Und nun wusste er nicht, ob er noch immer so treu zum König stand, wie er es zuvor getan hatte. Er überlegte, was er seinen Mitstreitern erzählen sollte: Sollte er ihnen sagen, dass er es dort gelassen hatte, wo man es ihm gegeben hatte?
Als sein Name genannt wurde, zuckte er kurz zusammen.
Er beobachtete, wie Staub und Schutt noch immer die Sonne verdunkelten.
Und er log.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte der Gruppe Mit Feder statt Schwert

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