„Angekrochen kommst du und erbittest meine Hilfe, ohne sie gewollt zu haben. Verwirrt und stumm blickst du in den Abgrund und wunderst dich über Dinge, von denen du nichts weißt. Wandernd durch Schatten verzweifelst du. Voller Leid war dein Leben, das der Schöpfer dir gab, ohne Tränen das Ende, dein Ende. Gefleht hast du ohne Antwort; du hast falsch gefleht. Gebetet hast du ohne Besserung; du hast falsch gebetet. Gepriesen hast du ohne Anerkennung; du hast falsch gepriesen. Dem Falschen hast du dein Winseln um Gnade aufgetragen. Lerne, richtig zu flehen. Lerne, richtig zu beten. Lerne, richtig zu preisen. Immer hat die Dunkelheit im Nichts existiert und sich doch der reinigenden Kraft des Lichts gebeugt. Du willst ein Leben, dein Leben? Dann nimm es ...
Ich werde mich königlich amüsieren.
Lasst die Spiele beginnen!“
Dunkelheit hat ein eigenes Leben. Dunkelheit breitet sich aus und verschwindet wieder. Stirbt quasi. Aber sie geht nie ganz. Irgendwo gibt es sie immer. Sie pulsiert geradezu. Ein schlagendes Herz aus Nacht. Hinter Bäumen. Unter Steinen. Der Klang der Finsternis. Schatten vergangener Klänge. Einsam. Still. Grenzenlos.
Gigantisch.
Vielleicht waren es diese Gedanken, die Khani durch den Kopf gingen, als er vor dem Ehrfurcht gebietenden Steintor stand. Ein unirdisches Stöhnen drang aus dem Fels und ließ die Luft erzittern. Dieses hier war schwarz. Das obere Ende konnte er nur erahnen. Nach links und rechts erstreckte sie sich ungefähr drei Meter. Das Tor war glatt wie Glas und feine silberne Linien glitzerten im Dunkeln. Sie ergaben ein Muster, das wusste er, auf den anderen war auch eines gewesen. Nur konnte er nicht sehen, was es zeigte.
Er stand vor dem insgesamt siebten Tor. Wie viele noch kommen sollten, wusste er nicht. Die vorangegangenen sechs Tore waren allesamt in einer anderen Farbe und mit einem anderen Muster versehen gewesen. So war das erste Tor grün, das zweite rot, das dritte blau, das vierte gelb, das fünfte braun und das sechste orange. Die Muster zeigten stets Dinge aus der jenseitigen realen Welt – denn diese hier war nur eine Art Zwischenstation. Rabe; Baum; Wolke; Pferd; Treppen; Felsen. Wie bei diesem hier waren sie mit feinen Linien umrissen. Wenn er das Tor öffnete, kam er in einen kleinen Raum, der jedoch unglaublich hoch war. So war es zumindest bisher. Von den drei übrigen Wänden führten unbeleuchtete Korridore, die in dem Farbton des jeweiligen Tors gehalten waren, entweder nach oben, unten oder geradeaus. Und dann –
Das Stöhnen schien noch intensiver zu werden. Tiefer.
Khani schüttelte sich. Die Wunde an seiner Schulter brannte. Er hatte schon sechs Prüfungen überstanden. Er durfte keine Zeit verlieren.
Er hob die Hand und legte sie nach neuerlichem kurzen Innehalten auf den nackten Fels, wo die beiden Torflügel aneinander grenzten. Sofort ging ein Impuls durch die träumerisch funkelnden Linien, wie wenn eine kleine Welle an einen weiten Strand brandet. Unbeeindruckt schaute Khani zu, wie die kleinen Lichtpunkte immer schneller vorbei huschten und schließlich so schnell waren, dass sie ineinander übergingen und zu einer geschlossenen Linie wurden. Khani trat ein paar Schritte zurück, um zu erkennen, was das Muster darstellte.
Zwei Hände. Zwei Hände, von denen die eine größer war und die andere hielt.
Das seltsame Summen verschwand, und in diesem Moment glitt das Tor nach unten und verschwand im Boden. Khani stieg über die so entstandene Schwelle und ging in den Raum, der sich vor ihm aus dem Nichts ergoss. Wie die anderen zuvor war er mit dunstigem Licht angefüllt, das jedoch von nirgendwo zu kommen schien. Trotzdem machte das Schwarz der Wände den Raum dunkel und ließ ihn größer erscheinen. Die drei Eingänge waren lediglich als Konturen auszumachen. Er schaute in die eine, dann in die andere, zum Schluss in die letzte Richtung.
Nach links. Nach unten.
Seine Schritte verhallten ungehört. Es war das einzige Geräusch so weit von Raum und Zeit. Das alles hatte hier keine Bedeutung. Er hatte es am eigenen Leib erfahren. Nervös betastete Khani seine zerfetzte linke Schulter. Das Blut hatte sein Hemd durchtränkt und dunkel gefärbt, und der Fleck war wie ein Parasit immer weiter nach unten gewandert. Aber das konnte er nicht sehen. Nur fühlen. Nass und kalt klebte der Stoff an seinem Körper. Er konnte nicht sagen, wie viel Blut er verloren hatte. Wie lange er noch durchhalten würde. Ob es vielleicht gar nicht so schlimm war. Doch der betäubende Schmerz kehrte wieder und erinnerte ihn an das, was man hier sonst vergeblich suchte:
Realität.
Das Echo war sein einziger Begleiter. Verlassen schritt er über Schatten, durch Schatten, unter Schatten, den Schatten entgegen und weg von ihnen. Undurchdringlich. Unüberwindbar. Mit der rechten Hand berührte er die Wand, während er ging. Manchmal war sie eben und glatt wie es das Tor gewesen war, dann aber wieder zerfurcht und rissig. Wenn sie nass war, was selten vorkam, nahm er die Hand zurück und hielt sie dicht an den Körper. Dann bildete er eine Faust und spürte das widerliche Gefühl auf der Haut. Immer weiter spannte er dann die Muskeln an, bis seine Knöchel weiß wurden (was er selbstverständlich nicht sehen konnte) und die Fingernägel Fleisch aus der Hand rissen. Er konnte nicht anders. Er durfte nur das fühlen; Schmerz, Ekel und Furcht. Alles andere war aus seinem Körper gewichen und verwelkt. Kein Hunger, kein Durst.
Als seine Hand plötzlich ins Leere griff, verlor er für Sekundenbruchteile die Orientierung.
Die Wand war zurückgewichen. Ein neuer Raum breitete sich nun vor ihm aus. Das wusste er. Aber er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukommen sollte. Darin unterschieden sich die Prüfungen. Alles hinter diesem Korridor war neu.
Keine Zögern. Schmerz.
Er ging weiter.
An dem lauten Echo hörte er, dass es mehr eine Halle denn ein Raum war. Weit hinten glimmten zwei Pechfackeln, von denen sich graue Rauchwolken schlängelten. Die zuckenden Lichter ihrer Flammen waren nichts als kleine Punkte. Zwischen ihnen war ein schwarzes Loch in der Wand. Dahinter lag Dunkelheit.
Khani ließ die Gelenke seiner Finger knacken. Es klang wie Kanonenschüsse. In der Halle konnte er große Schatten ausmachen, die wohl so etwas wie Säulen sein sollten.
Und weiter.
Aufmerksam wanderte sein Blick umher. Irgendetwas war hier. Es wartete auf ihn. Die siebte Prüfung, die irgendwie mit Händen verbunden war. Was hatte das zu bedeuten? Er erinnerte sich an die vorigen Aufgaben, die ihm beinahe das Leben gekostet hatten – an die letzte Prüfung, die Felsen, die seine Schulter aufgerissen hatten.
Und jetzt weiter.
Noch beherrschte der Schmerz ihn nicht. Noch wurden seine Schritte gelenkt von dem schier unbändigen Verlangen nach Sonne. Doch dafür musste er noch einige solcher Räume durchqueren, Tore aufstoßen.
So wie vereinbart.
Die Stille war greifbar, sie umhüllte ihn. Schon fast eine friedliche Stille. Doch Khani wusste, dass sie alles andere als friedlich war. Noch mehr, als er das kleine Mädchen sah, das ein kurzes, weißes Kleid trug. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie vor ihm, dünn und schwach, zerbrechlicher als eine junge Rose. Ihr von dunklen Haaren umrahntes Gesicht und ihre Augen sprachen die Sprache der Nacht: Angst. Vor Khani?
Sein Unterkiefer zuckte und er hielt kurz den Atem an. Das bemitleidenswerte Aussehen des Mädchens erschütterte ihn auf eine Weise, die er noch nicht gespürt hatte. Sie sah verstört und ängstlich aus. Ihr Kleid war dünn und schimmerte eigenartig, als wäre es mit winzigen Perlen besetzt.
Sie sah zu ihm auf. Wie um etwas zu sagen, öffnete sie den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Ihre nackten Füße scheuerten über den Boden, als sie ihr Gewicht auf das andere Bein verlagerte. Dann hörten sie einen dumpfen Schlag. Er kam aus weiter Ferne, ließ die Säulen aber unmerklich vibrieren. Staub rieselte von ihnen. Die Augen in die Richtung gewandt, aus der das Geräusch gekommen war, bemerkte Khani nicht, wie das Mädchen in dem Schimmerkleid mit sachten Schritten näher kam. Er passte nicht darauf auf, was sie tat. Er sah nicht, wie ihre Arme sich in geisterhaften Bewegungen ausbreiteten und nur ein Ziel kannten.
Khani aus dem Land der Sengenden Meere.
Starr blickte er in die Dunkelheit. Das Geräusch kam nicht wieder oder er konnte es zumindest nicht mehr hören. Dafür hörte er jetzt, wie Haut auf Stein rieb.
Dann ein Schluchzen.
Als sich das Mädchen auf ihn stürzte, wich er zurück und stolperte. Er landete auf dem Rücken, war aber teilweise nach links gedreht, dass seine Wunde wieder zu pochen begann. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Doch er dachte nicht lange über den Schmerz nach. Nach nur wenigen Sekunden kam er wieder auf die Beine.
Das Mädchen schaute ihn an. Ihre Arme waren ihm entgegen gestreckt, als wollte sie ihm ihre Hände darbieten.
Und ihre Augen …
Khani ging Stück für Stück rückwärts, ohne seinen Blick von ihr zu nehmen. Sie war seine Prüfung, wie er jetzt wusste. Er musste auf der Hut sein, sie nicht aus den Augen lassen. Fast hätte sie ihn gehabt, weil er unaufmerksam gewesen war. Aber nicht noch einmal, kleines Monster. Nicht noch ein zweites Mal.
Als er mit der Ferse gegen eine Säule aus Stein stieß, musste er sich zusammenreißen, sich nicht um zu drehen. Das Mädchen schlich ihm hinterher. Das Feuer ihrer Augen brannte sich grell in seinen ächzenden Verstand. Vorsichtig schob er seinen Körper am rauen Fels entlang. Im Zwielicht der fernen Fackeln tastete er über die kantige Oberfläche, konnte den Rand der Säule aber nicht finden. Er merkte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn sammelte. Das Mädchen kam näher.
Kein Schmerz. Furcht.
In einem Moment geistiger Klarheit riss er sich aus der Lethargie, die ihn betäubte, rannte vorbei an der Steinsäule, bog in blinder Raserei nach links und knallte mit dem Kopf gegen eine Wand, die sich vor ihm auftat. Gelähmt von dem Schreck lag er mit blutiger Nase am Boden und spürte, wie der Druck in seinem Schädel stetig zunahm und er zu bersten drohte. Khani schaffte es nur schwer, alle Gedanken beisammen zu halten. Stöhnend vor Schmerz richtete er sich auf ein wackliges Knie, ehe er wieder umkippte wie ein Fallsüchtiger. Wo aber kam plötzlich diese Wand her? Hatte sie sich etwa aus der Dunkelheit geformt? Er glaubte das sogar einen Moment. Doch wenn er klarer bei Verstand gewesen wäre (und im Nachhinein sollte er sich dessen bewusst werden), dann hätte er daran gedacht, dass dies hier kein normaler Ort war.
Von einem Moment zum anderen war aus der riesigen Halle ein enger Raum geworden. Die Fackeln, die eben noch hundert Meter entfernt waren, blendeten ihn nun.
Nach einem weiteren gescheiterten Versuch schaffte Khani es schließlich, aufzustehen. Unsicher schwankte er vor und zurück. Das Fleisch in seinen Waden war nur noch Wasser.
Und das Mädchen verzog das Gesicht.
Khanis Blickfeld wurde immer wieder von explodierenden schwarzen Minen zerrissen. Doch dazwischen lag Weiß. Ein schillerndes Kleid wehte in Wind, der nicht für ihn bestimmt war und den er nicht spüren sollte. An die Wand zurückgezogen wartete und beobachtete er. Ihre Augen … sie waren nicht menschlich. Nein, sie waren zu menschlich. Viel zu menschlich, um hier her zu passen.
Worauf wartete sie?
Ein Jahr verstrich in den sechzig Sekunden der Stille.
Khani merkte, wie sich der Schmerz in seinem Gesicht wieder nach links auf die Schulter verlagerte. Er wusste nicht, ob seine Nase gebrochen war, aber dass kein Blut mehr floss deutete er als gutes Zeichen. Und er wusste, dass etwas geschehen musste. Zähne knirschten. Kiefer zuckten. Erinnerungen wurden geweckt.
Plötzlich hob er das Kinn, als es ihm klar wurde. Er schaute der Kleinen noch einmal in ihre angsterfüllten Augen und trat dann der Prüfung entgegen.
In Zeitlupe streckte er ihr die Hand entgegen. Das Mädchen blickte sie an und legte den Kopf schief. Dann floss eine winzige Träne ihre Wange hinunter, die man im Licht gut sehen konnte.
Er nahm sie bei der Hand. Es hatte schon fast etwas Belustigendes, wie sich ihre kleine Hand in seine große, mit dem eigenen Blut verschmierte schmiegte. Aber wenn es so war, dann spürte Khani es nicht. Wie auch. Seine Welt war jetzt eine andere geworden.
Ihre Hand war kalt und fühlte sich rissig an. Wie altes Papier.
Das Mädchen hatte sich die ganze Zeit an ihn gedrückt und nie losgelassen. Auch nach zehn Minuten war sie noch kalt.
Nachdem sie durch das Loch und an den zwei Fackeln vorbei waren, wanderten sie durch einen niedrigen Korridor, der wieder mit dunstigem Licht gefüllt war. Khani hielt den Kopf ständig unten, und das Mädchen imitierte ihn ohne Grund. Irgendwann war der Korridor dann breiter und höher geworden. Seine Wirbelsäule knackte, als er sich aufrichtete. Danach gelangten sie wieder in einen kleinen Raum, von dem enge Stufen nach oben führten. Seine Beine schmerzten entsetzlich.
Und dann das achte Tor.
Es war kein Platz zwischen ihm und den Stufen. Aber Khani hatte es schon von Weitem gesehen, denn es war weiß und glitzerte wie das Kleid seiner Begleiterin. Das Muster war durch schwarze Linien markiert und zeigte miteinander verknotete, dicke Ketten.
Khani atmete tief durch und legte dann seine Hand auf das Tor. Anders als bei dem vorigen glitten die Torflügel zur Seite und nicht nach unten.
Er entschied, geradeaus zu gehen.
Das Weiß der Wände blendete seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen, sodass er sie zu Schlitzen verengte. Während die beiden Hand in Hand gingen, schwiegen sie. Khani wollte nichts sagen, das Mädchen wollte oder konnte es nicht. Er fand es sehr merkwürdig, dass ihre Hand nach wie vor kalt blieb. Außerdem fiel ihm auf, dass seine eigene nicht verschwitzt war, wie sie es hätte sein sollen.
Weiter.
Er war zu überrascht zum Schreien, als seine Füße ins Leere tappten. Das einzige Geräusch war ein ersticktes Gurgeln, das seiner Kehle entfloh, und das flatternde Kleid, das so schön glitzerte. Noch ehe er einen Gedanken fassen konnte, spürte er, wie seine Kleidung am Rücken aufgerissen und seine Haut blutig gescheuert wurde. Er lag auf dem Rücken und fletschte vor Schmerz die Zähne. Speichel tropfte auf sein Kinn. Es fühlte sich seltsam an. Er erinnerte sich nicht mehr an den Fall, als hätte er nie stattgefunden. Nur der Aufprall machte sich mit roten Zeichen bemerkbar.
Khani stand auf. Die Luft saugte an den Wunden. Wenn das Mädchen verletzt war, zeigte sie es nicht. Sie stand stumm und hielt seine Hand. Jetzt fester als vorher.
Das Trommelfeuer in seinem Rücken ignorierend, schaute er sich um. Sie waren in einem weißen engen Gang, der in Kurven nach oben führte. Doch etwas fehlte.
Von wo waren sie gekommen?
An den glatten Wänden war keine Öffnung, kein Loch, noch nicht einmal ein Spalt.
Verwirrt merkte er nicht, wie jemand an seiner Hose zog. Erst nach ein paar Sekunden spürte er es. Er sah hinunter zu dem Mädchen, das ihn schweigend anstarrte. Ihre Augen übten noch immer eine gewisse Faszination auf ihn aus. Er fragte sie, was sie wolle, doch noch ehe er den Satz beendet hatte, sah er das große Loch im Boden, neben dem sie standen. Und da wurde es ihm klar. Khani schloss die Augen und ging in sich. Er
hatte ihm wieder einen Streich gespielt.
Die Kurven waren eng und ließen gerade genug Platz für ihn und die Kleine. Sie wanden sich schier endlos. Immer weiter rauf rauf rauf. Manchmal verunzierten Zeichen die Wand. Khani beachtete sie nicht. Sie zeigten stets das Gleiche, ein in den Stein geritztes, grobes Schwert. So wie es aussah, hatte es ein kleines Kind gemacht.
(Und mitten in die Totenstille ging)
Da hörte er ein leises Klirren. Es war sofort wieder verschwunden und er dachte, er hatte es sich nur eingebildet, doch dann hörte er es erneut. Zu dem einzelnen Klirren mischten sich weitere Geräusche. Vor ihnen tauchte eine verwitterte Holztür auf, die nicht recht hier her passte. Zwischen den Latten, aus denen sie gefertigt war, klafften Löcher, aus denen Feuerschein glimmte. Das Mädchen presste sich noch enger an ihn und barg das Gesicht in dem Stoff von Khanis Kleidung. Vorsichtig öffnete dieser die Tür einen Spalt breit und spähte hindurch. Was er sah, verpasste ihm einen Schlag in die Magengrube. Der Gestank ließ Brechreiz in ihm aufkommen, den er nur schwerlich niederringen konnte. Für Minuten war er unfähig, sich zu rühren. Das Mädchen sah ihn an und schien besorgt. Khani sah das Mädchen an und – nichts. Trotzdem wollte er nicht, dass sie sieht, was er sah. Er zog sie näher zu sich und flüsterte ihr ins Ohr. Dass sie nicht die Augen aufmachen sollte, wenn er jetzt gleich die Tür öffnen würde. Dass sie sich die Nase zuhalten sollte, wenn sie jetzt gleich da reingehen würden. Das Feueraugenmädchen sah ihn erst an, als verstehe sie nicht, schloss dann aber gleich die Augen und die Nase mit ihrer freien rechten Hand. Khani schüttelte sich. Dann begann die Prüfung.
Das Holz knarrte und die rostigen Scharniere quietschten. Der Sturm kam.
Der unbeschreibliche Gestank vernebelte seine Sinne. Die Luft war erfüllt von stinkendem Nebel. Im Boden waren viele lange und tiefe Risse, in denen zehrende Glut leuchtete und erstickende Hitze ausstrahlte. Es roch nach Verwesung und verbranntem Fleisch. Noch schlimmer waren aber die wankenden Gestalten. Es waren hunderte. Wenn nicht sogar tausende. Sie waren nackt und trugen eine Augenbinde aus verrottetem Stoff. Ihre geschundenen Körper waren übersät von Brandblasen und Fleischwunden, in denen sich Maden wie bei einem Festschmaus tummelten. Einigen fehlten Hände oder ganze Arme, bei anderen war das Gesicht von wütenden Klauen zerfetzt worden, wieder andere lagen mit abgetrennten Beinen im Schmutz und wimmerten mit zahnlosen Mündern und abgeschnittenen Zungen. Sie krochen über den Boden und griffen durch die Luft, als suchten sie nach Hilfe, die ihnen niemand gewähren würde. Bei zwei oder drei von ihnen steckten lange Speere in der Brust, an dem trockenes Blut klebte. Anderen waren die Köpfe abgeschlagen und lagen zu kleinen Haufen der Verderbnis angehäuft wie Abfall in der Gegend. Diejenigen, die noch laufen konnten, zogen an schweren Ketten, die dicker waren als ihre ausgemergelten Beine, die Toten. Entsetzliche Haken waren tief in die Körper getrieben worden, und an denen waren die Ketten befestigt. Trotz ihrer Blindheit bewegten sie sich mit widerlicher Präzision, auch wenn ihre Bewegungen stockend und abgehackt waren. Sie schleiften sie zu den Rissen im Boden, nahmen sie von den Ketten und warfen sie in die Glut. Manchmal nahmen sie auch einen der Haken und hämmerten sie in die Körper derer ohne Beine.
Die Schreie waren entsetzlich.
Einen neuerlichen Brechreiz unterdrückend, sagte Khani dem Mädchen noch einmal mit Nachdruck, nicht die Augen zu öffnen und schlich dann dicht an die Wand gedrückt vorwärts. Leise setzte er einen Fuß nach dem anderen. Er vermied es, die Gestalten immer zu beobachten, und er konnte es auch nicht. Nur ab und zu drehte er seinen zur Wand gerichteten Kopf und schaute mit halb geschlossenem Auge zu ihnen. Die Schreie drangen wie Dolche in seine Ohren. Er ertappte sich, wie seine Wange nass wurde. Plötzlich begann das Mädchen neben ihm ebenfalls zu schreien. Khani wirbelte umher und sah, dass sie ihre Augen geöffnet hatte. Schnell presste er seine andere Hand an ihren Mund und ließ sie verstummen. Er flüsterte hastig, sie solle doch still sein, endlich aufhören. Doch sie tat es nicht. Er spürte wie seine Hand von kleinen Speicheltropfen getroffen wurde. Einem Instinkt folgend nahm er die Hand von ihrem Mund und legte sie nun an ihre Augen. Fast augenblicklich verstummte sie und war wieder ruhig. Doch die Kreaturen waren es nicht. Mit von Lumpen verhüllten blinden oder ausgestochenen Augen schauten sie zu ihnen und ließen ab von ihrer Tätigkeit.
Und dann brach der Sturm los.
Es war ein schrecklich Bild, das sich Khani zeigte. Die Gefolterten schwankten auf ihn zu, waren aber schneller, als es den Anschein hatte. Ihre Arme wirbelten von einer Seite zur anderen. Die meisten zogen eines ihrer Beine hinterher, wenige aber sprinteten mit brachialer Geschwindigkeit auf sie zu. Aus ihren aufgesperrten Mäulern drangen gutturale, ekelhafte Laute. Sogar die Beinlosen krochen auf sie zu, auch diejenigen, denen man die Haken schon in die Brust gerammt hatte.
Khani lief ohne zu wissen, wohin er sollte. Das Mädchen konnte kaum mithalten und weinte, dass sie so grob gezerrt wurde. Doch darauf konnte er jetzt nicht achten. Er rannte an der Wand vorbei und beobachtete, wie aus den Rissen verkohlte Hände schossen und sich an den Rändern festhielten. Danach kamen verbrannte Körper zum Vorschein, die sich nach oben zogen und die Verfolgung aufnahmen. Er wagte es, über die Schulter zu sehen.
Sie kamen immer näher.
(Und in den Lärm der Toten ging)
Plötzlich zerriss ein Geräusch die Luft. Ein schwarzer Strich sauste herab und knallte auf den Boden, nur wenige Schritte vor Khani. Steinbrocken wirbelten und Staub flog umher, als eine der großen Ketten mit enormer Gewalt geschwungen wurde und sein Ziel nur knapp verfehlte. Erschrocken schrie er auf und blieb wie angewurzelt stehen. Schon wurde die Kette zurückgezogen. Am anderen Ende stand eine kolossale Kreatur von mindestens drei Metern Höhe. Ein dicker Eisenpanzer schützte den massigen Körper. Während eines der Beine verdreht aussah und gewölbt war, als würden riesige Würmer unter der Oberfläche hausen, war die Hand, in der es die Kette hielt, grau und schien aus Stein. Zwischen breiten Schultern war ein großer Schweinekopf mit tiefen Narben. Der Anblick war so gewaltig, dass Khani nicht reagieren konnte, als die schwere Kette wieder durch die Luft pfiff. Erst im letzten Moment schaffte er es und sprang zur Seite, riss dabei mit aller Gewalt an dem kleinen Mädchen, das mit geschlossenen Augen dastand und scheinbar von alldem nichts mitbekam. Nur Zentimeter fehlten, und ihr kleiner Kopf wäre zersprungen. Doch die Kette grub sich diesmal nicht in den Fels, jedenfalls nicht ganz, denn anstatt ihnen wurde eine der Gestalten getroffen, die ihm Vollsprint hinter ihnen her gewesen war und die Arme schon nach ihnen ausgestreckt hatte. Die Eisenglieder zerfetzten den Körper. Dunkles Blut und Fleischbrocken bedeckten Kleid und Kleidung, Gesicht und Haare. Der Koloss zog wütend an der Kette und schrie in ohrenbetäubender Lautstärke. Sofort blieben die anderen stehen. Unruhige Stille füllte nun den Raum. Khani schaute mit Panik zu dem Riesen, der bereits wieder die Kette schwang. Er war jetzt ganz und gar sein Opfer. Auch er sollte einst zu einem der Augenlosen werden.
Mit einem Hechtsprung schaffte er es, auszuweichen. Er landete jedoch ungünstig auf seiner lädierten linken Schulter und spürte wieder, wie Taubheit nach ihm griff. Aber irgendwie sammelte er seine verbliebenen Kräfte und rappelte sich auf, als auch schon der nächste Angriff folgte. Khani wartete lange, ehe er auswich. Er spürte den Zorn der Bestie in der Luft. Jetzt schwang sie ihre Waffe seitlich. Platt auf den Boden warf der Mann aus dem Land der Sengenden Meere sich hin. Die Kette grub eine tiefe Schneise in die Felswand.
Khani musste jetzt schnell überlegen. Er richtete sich auf und schaute sich um. Er konnte durch den Nebel schlecht erkennen –
Da! Einige hundert Meter entfernt sah er in der Wand eine Öffnung. Jedenfalls glaubte er das. Er sah dort einen viereckigen Schatten.
Die Kette sang ihr Todeslied.
Mit einem weiteren Sprung wich er aus und rannte los. Der Schatten kam näher. Aus den Augenwinkeln achtete er auf den Koloss, der immer wieder ausholte und seine Waffe schwang. Doch es gelang ihm nie, ihn auch zu treffen. Wütend schrie das Ungetüm und gab mit seiner grauen Hand den letzten Angriffsbefehl, den Befehl zum Zerschmettern. Sofort stürmten die anderen Kreaturen wieder vorwärts, doch sie waren so weit entfernt, dass sie Khani und das Mädchen unmöglich noch rechtzeitig hätten erreichen können. Aber noch andere Schritte erschütternden die Erde. Mit weit ausholenden Beinen rannte nun auch der Kommandant. Unter seinen gewaltigen Füßen wurde der Boden zertrümmert. Spinnwebenartige Muster breiteten sich aus, wo er ging.
Und er war nah genug.
Als Khani dieser Bedrohung bewusst wurde, legte er noch einmal zu, obwohl er bereits kaum noch Luft zum Atmen hatte. Seine Lunge füllte sich immer mehr mit dem Nebel, der sie zu zersetzen schien. Glühendes Eisen war in seiner Brust.
Die Kreaturen schrien.
Der Gigant schrie.
Khani rannte.
Das Mädchen war ruhig. Mit den Gedanken in einer anderen Welt. Vielleicht ihrer.
Der Kettenschwinger war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Er hätte Khani leicht mit einer Hand entzwei reißen können. Doch auch der Schatten rückte in greifbare Nähe.
Ein letzter Sprung.
Und in der Totenflucht stürzte Khani mitsamt dem Mädchen durch den engen Ausgang. Er lief noch einige Meter, bevor er hörte, wie der Koloss mit seiner Steinhand in den Durchgang griff und große Löcher in die Wände riss. Der Schrei aus dem Maul seines Schweinekopfes ließ den Boden beben und drohte, Khanis Trommelfell zu sprengen. Dieser lief immer weiter, die Schreie wurden langsam leiser, bis die Glut erlosch.
Diesmal ließ er sich Zeit zum Ausruhen. Es dauerte einige Minuten, ehe er wieder normal und ruhig atmen konnte und sein Brustkorb sich nicht mehr im Sekundentakt hob und senkte. Der Schweiß auf seiner Haut verdunstete und ließ ihn frieren. Er kauerte auf dem Boden, an die Wand gelehnt, und schaute immer mit scheuen Blicken in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Angst, dass zumindest die anderen Kreaturen ihn verfolgten, war unabwendbar. Doch darüber hätte er sich eigentlich keine Sorgen machen müssen. Diese Prüfung hatte er bestanden. Die Angst aber blieb.
So wie er
es wollte.
Das Mädchen hatte indes die Augen noch geschlossen. Als Khani das sah, sagte er ihr, sie wieder zu öffnen. Sie tat es. Sofort nahm dieses menschlich-unmenschliche Leuchten ihn wieder gefangen.
Nach zwanzig Minuten stand er auf und sie gingen weiter.
Der Korridor war noch immer weiß, aber es war dreckiger als das Weiß des Tors. Als würde man durch schmutziges Glas sehen. Außerdem überzogen nun mehr und mehr eigenartige Knoten und Schwellen die Wände, ähnlich wie Blutadern das Herz.
Er näherte sich dem Ende. Vielleicht war das nächste Tor ja schon das letzte. Und dann könnte er endlich wieder die Sonne sehen.
Er wollte aufgeregt und voller Freude sein. Er konnte es aber nicht.
Dann tauchte vor ihm das neunte Tor auf. Es war noch größer als alle anderen zuvor. Zehn mal fünfzehn Meter, schätzte er. Dieses war vollkommen grau. Auf den Torflügeln war in weißen Linien ein großes Auge abgebildet.
Und Khani war sich sicher: Das hier sollte sein letztes Tor sein.
Und er sollte recht behalten.
Während er sich sammelte, was mittlerweile eine Art Ritual geworden war, spürte er, wie etwas seinen linken Arm entlang krabbelte. Er sah hin und entdeckte eine Spinne, nicht zu groß, aber auch nicht wirklich klein. Er versuchte, sie durch Schütteln zu vertreiben. Es gelang nicht. Dann versuchte er es mit seiner linken Hand, da die rechte noch immer das Mädchen hielt, aber die Spinne war bereits auf die Armunterseite gewandert und unerreichbar. Nach und nach stieg der Ekel wieder in ihm auf. Er ging zu der Wand und rieb seinen Arm daran, bis er blutete, doch die Spinne ließ nicht ab von ihm. Wilder und wilder rieb er den Arm an der rauen Oberseite der Felswand, wilder und wilder, bis aus den kleinen Kratzern eine große Wunde geworden war.
Die Spinne lief auf einmal so schnell, dass Khani ihr kaum mit den Blicken folgen konnte. Sie krabbelte zu dem Riss in seiner Kleidung, die von Blut aufgeweicht war. Mit winzigen Zähnen verbiss sie sich in der Wunde. Ein bestialischer Schmerz durchfuhr ihn und ließ ihn aufheulen wie ein verwundetes Tier. Er ließ seine Schulter zucken und tanzen und versuchte vergebens, sie herauszuziehen. Aber er konnte einfach nicht genügend Kraft in seinem verwundeten Arm sammeln. Dann nahm er seine rechte Hand zu Hilfe und wühlte mit zittrigen Fingern in seinem Fleisch. Es war so viel Blut, dass er die Spinne kaum sehen konnte. Aber schließlich bekam er sie zu fassen, zog sie hinaus und zerquetschte sie noch mit den Fingern. Augenblicklich streifte er die Überreste am Boden ab und wischte seine Finger an der Kleidung – fast zwei Minuten lang.
Der Ekel beherrschte ihn.
Irgendwann kam er wieder zur Besinnung. Die Spinne war weg. Der Schmerz hatte nachgelassen. Keuchend ließ er seine Halswirbel knacken. Es verklang einsam in den Steinen.
Khani widmete sich wieder dem Steintor.
Und war entsetzt.
Das Muster darauf war verschwunden. Das war bisher noch nie geschehen. Er untersuchte es genauer, ob er nicht vielleicht etwas übersehen hatte. Doch da war nichts. Auch die glatte Oberfläche, die alle Tore gemein hatten, war einer porösen gewichen.
Dann begriff er.
Wie versteinert drehte er sich um. Nach links. Rechts. Hinten.
Das Mädchen war verschwunden. Er hatte es losgelassen, als er dem Ekel nachgegeben hatte.
So wie er
es wollte.
Khani rief nach dem Kind und hörte zu, wie das Echo ohne Antwort verhallte. Die Finsternis um ihn wurde groß. Gigantisch. Er hatte losgelassen. Er hatte die Prüfung nicht bestanden.
Er hatte sich verlaufen.
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum Federduell in der Gruppe "Mit Feder statt Schwert"