Die Dämmerung weiß Dinge, die Tag und Nacht verborgen bleiben.
Tag bedeutet Wissen. Das Wissen, dass die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Unter der grausamen Herrschaft der Sonne erscheint die Welt mit ihren Abgründen und Schluchten als ein unwirklicher Ort. Hinter steinernen Masken verbergen Lebewesen jeder Art ihr wahres Ich. Solange die Welt weiß bleibt, bedecken sie sich selbst mit Weiß und gehen in der Masse unter und leben unerkannt. Ohne Zögern lügen sie anderen ins Gesicht, nur um hinter ihren Rücken mit wieder anderen auf sie zu spucken. Sie sperren die Wahrheit aus und nennen Falschheit ihren Gast. Unter dem Vorwand, in einer heilen Welt zu leben, genießen sie die Autorität des Vergessens. Alle Lebewesen sind solange weiß, bis die Welt es nicht mehr ist. Im Licht sind die Dinge anders als in Wirklichkeit. Sie sind das, was sie glauben, sein zu müssen oder was andere glauben, dass sie es sein müssen. Im Licht sehen wir die Schattenseite. Doch sie erscheint uns als die richtige, die wahre Seite des Lebens, weil wir verlangen, dass diese Welt nach unserer Vorstellungen gedeiht. Täte sie es nicht, würde das Leben verleugnet werden. Ein eigener, innerer Mikrokosmos wird geschaffen und auf das Leben projiziert, bis er schließlich dieses überdeckt und vereinnahmt. Alles Böse dieser Welt wird mit der Dunkelheit in Verbindung gebracht, da sie dieses geschaffene Idyll zerstört. Denn Dunkelheit ist nichts anderes als ein kleiner Riss in der Maske, die wir Leben nennen.
Nacht bedeutet Einsicht. Ist die Sonne verschwunden und die Welt grau, fallen die Masken und offenbaren den dahinterliegenden Geist. Ohne den Zwang der Vorgaukelung eines anderen, falschen Wesens verliert sich der Schleier der Täuschung in den Untiefen der Nacht. Im Dunkel sind die Dinge uneben und unschön. Ein krasser Kontrast zur verlangten Perfektion dieser Welt.
Aber Nacht bedeutet nicht Wahrheit.
Im Schutz der Dunkelheit nehmen die Dinge die Gestalt an, die am Tag versteckt gehalten wurde. Doch in der Nacht sind sie größer und schrecklicher als sie es wirklich sind. Die Dunkelheit erlaubt Lügen ebenso wie der Tag. Sie lässt keinen Platz für Wahrheit. Während das Licht eine Maske des Individuums bildet, erstellt die Nacht eine Maske vor der konturlosen Welt, in die wir alles Ungewisse sperren. Wir werden mit unseren Ängsten konfrontiert und versuchen, sie einzudämmen und wegzusperren, indem wir unser Wesen ändern. Wir schärfen unsere Sinne und lassen nichts an uns heran, und so fürchten wir uns im Dunkeln vor den Schatten von Bäumen und Mäusen.
Doch es gibt einen Moment, wenn die Dinge wahr sind, der Moment, wenn die Masken fallen gelassen werden und wir mit der Kraft des letzten Sonnenstrahles sehen, wie aus der weißen Welt für einen Augenblick eine bunte wird, bevor sie wieder grau und eintönig wird, dieser Moment, wenn wir Einsicht in das Wissen erhalten, dieser Moment, wenn Tag und Nacht gleich sind, wenn Licht und Dunkelheit im Gleichgewicht stehen.
Und dieser Moment heißt Dämmerung.
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2010
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Widmung:
Dem einen Funken ...