Es war ein totes Land.
Die Senec-Ebene war ein verzehrtes Gebiet zwischen zwei ausgetrockneten Flussbetten. Wo kein Staub die Erde bedeckte, wurde es von altem Blut schwarz gefärbt. Zwischen den grauen Felsen waberte ein dichter Nebel, der mit konturlosen Fingern über den Boden tastete. Die Felsen selbst ragten als riesige Phantome aus dem Nebel hervor und klangen noch nach von den Schreien und dem Flehen der Hingeschlachteten. Pflanzen wuchsen hier nicht mehr. Kein Leben wollte aus dieser verfluchten Erde Nahrung beziehen. Sogar die Tiere mieden diesen Ort, an dem der Tod höchst persönlich sein Unwesen getrieben zu haben schien. Nicht der lauteste Ruf vermochte das endlose Schweigen zu brechen, das über dem Land lag. Die Senec-Ebene war in Schatten und Vergessen gehüllt.
Aber vergessen wurde sie nicht.
“Der Ort ist mir unheimlich.”
Seine Stimme verklang einsam in den Steinen.
“Wir werden bald rasten.”
“Wirst du uns dann erzählen, was es hiermit auf sich hat?” Er zeigte ihm den Gegenstand.
“Steck es weg, du Narr!”, zischte er, und seine Augen blitzten böse. “Die Felsen haben Augen. Der Nebel Ohren.”
Eilig verstaute er es wieder in seinem Beutel. Das bedrückende Gefühl, beobachtet zu werden, stahl sich als leichtes Kitzeln in seinen Nacken. Er drehte sich um.
Hinter ihm schloss sich der graue Ozean wieder und versperrte ihnen den Rückweg.
Seit Tagen waren sie unterwegs, hatten dabei das ganze Land Tander durchquert. Die Senec-Ebene lag weit im Westen Tanders und war früher ein prächtiges und wohlhabendes Land gewesen. Händler aus allen Regionen Derons hatten sich hier versammelt und gefeilscht. Könige aller Ländereien der nördlichen Welt waren in dieses Land gestrebt, in dem die Stadt Duhrdallos erblühte und zu einer Metropole heranwuchs. Viele seltene und dadurch kostbare Erze wurden hier geschürft, weshalb in den äußeren Bezirken der Stadt vor allem Arbeiter aus dem fernen Zwergenkönigreich Ma-dandh wohnten.
Doch dann ertrank das Land in Blut.
“Hier werden wir rasten”, verkündete Grimh, ihr Anführer.
Die anderen seufzten, warfen ihre Beutel auf die Erde und rieben sich die Füße, während Grimh begann, das Lager aufzuschlagen. Der Nebel schien in der Dunkelheit beinahe zu leuchten. Das Laufen hatte ihm offenbar nicht so hart mitgespielt wie den anderen.
Schon eine halbe Stunde später waren die Zelte aufgeschlagen und ein knisterndes Feuer loderte in der Nacht. Die Flammen züngelten nach dem Fleisch, das darüber gebraten wurde. Ein verführerischer Duft umgab ihre Köpfe.
Grimh war ein breitschultriger Mann und maß über zwei Meter. Arme und Beine waren muskelbepackt und mit zahlreichen Narben durchfurcht. Hinter seiner einschüchternden Erscheinung schlummerte ein gerissener Verstand. Er trug eine riesige zweiblättrige Axt aus Damaststahl mit vergoldetem Griff bei sich, die für seine Begleiter zwar viel zu schwer, für ihn selbst aber so leicht wie ein Zweig war. Er war als einziger bewaffnet.
Bei ihm war Kiron, der mit neunzehn Jahren der jüngste unter ihnen war. Zwar war auch er hochgewachsen, durch seinen schlaksigen Körperbau wirkt er aber gegen seinen Anführer klein und unbedeutend.
Der Dritte im Bunde war Fauck, dessen hartes Gesicht selten eine Gefühlsregung zeigte. Sein rechtes Auge war blind und so grau wie der Nebel, der um sie nun einen großen Bogen machte, als fürchte er die Flammen.
Der Boden unter ihnen knarrte und stöhnte. Es war ein verfluchtes Land.
Zehn Minuten vergingen schweigend. Es war Fauck, der als Erster wieder sprach.
“Also, Grimh”, sagte er und nahm den ersten Braten, sah seinen Gegenüber jedoch nicht an. “Vielleicht wäre es an der Zeit, uns zu verraten, warum du uns in diese götterverdammte Gegend geschleppt hast.”
“Aber unser Auftrag ist doch klar!”, rief Kiron. Grimh machte offenbar keine Anstalten, etwas zu sagen.
“Denkst du wirklich, dass man uns hier her schickt, nur um dieses alte Buch zu übergeben?” Fauck spuckte die Worte geradezu aus. Instinktiv flüchtete sich Kirons Hand zu seinem Beutel, der neben ihm lag. Er spürte den harten Einband des Buches durch den Lederstoff.
“Zweifelst du das Wort der Aura an?”, erwiderte Kiron mit Nachdruck. Die Aura war ein Bund aus den klügsten und mächtigsten Zauberern, die es auf Deron gab.
“Kannst du auch nur eine Sekunde deinen mickrigen Verstand gebrauchen?” Fauck tippte sich mit seinem Finger an die Stirn und sah Kiron wütend an. “Warum, bei allen Göttern, sollte uns die Aura an den einsamsten Ort Derons schicken, um ein dummes altes Buch zurückzubringen? Warum, frag ich dich. Es muss etwas dahinter stecken, was uns bisher verschwiegen wurde.”
“Wenn nicht wegen dem Buch, aber - warum sind wir dann hier?” Sein Blick wechselte zögerlich zu Grimh, der so regungslos dasaß wie vor fünf Minuten. “Wenn nicht wegen des Buches …”
“Es hat wohl keinen Sinn”, fiel ihm Grimh mit seiner sonoren Stimme ins Wort, “es euch weiterhin zu verheimlichen. Wir sind wegen des Buches hier.” Dann schwieg er wieder. Als Fauck bereits etwas sagen wollte, fuhr er fort.
“Was wisst ihr über diesen Ort?”, fragte er und schaute in die Gesichter seiner Begleiter.
Kiron antwortete: “Nur, was alle anderen wissen. Es war einst die reichste Gegend in Tander und auf ganz Deron, bis ein Krieg alles zunichte machte. Aber das weiß doch jeder, der sich ein Bisschen für Geschichte interessiert.”
“Und was weißt du über Arydh?”
Kirons Blick verfinsterte sich. “Den Nekromanten?”
Im Schein des Feuers leuchteten Grimhs Augen. “Arydh war einst ein Magier der Aura”, sagte er. “Vor etlichen Jahren, als Duhrdallos noch die Goldene Stadt genannt wurde. Er war hier, als die Streitkräfte des machtsüchtigen Königs Angaroth die Stadt überrollten. Trotz seines Reichtums war Duhrdallos schlecht bewacht, sodass Angaroths Truppen marodierend durch die Straßen rannten.”
“Jetzt hast du uns genau das erzählt, was uns der Jüngling eben schon sagte”, warf Fauck ein. “Wenn du ni…”
“Vielleicht wäre es besser, erst zuzuhören und dir dann deine Meinung zu bilden”, sagte Grimh schnell und bedachte ihn mit einem scharfen Blick. Fauck schien in seinen Sachen zu schrumpfen.
“Die Stadt schien verloren”, fuhr Grimh fort, “aber Arydh stellte dem Stadtherren seine Dienste zur Verfügung. Da er einst, so wie alle Aurenmagier, von einem der Dinhyat, den Göttern, berührt worden war, konnte er Tote wieder zum Leben erwecken. Mithilfe seiner Armee der Untoten wurde Angaroths Herr besiegt.”
“Davon hab ich noch nie etwas gehört”, murmelte Kiron für sich selbst. Grimh beachtete ihn gar nicht.
“Arydh war der Retter in der Not. Der Stadtherr fürchtete aber den Nekromanten, sodass er ihn um seine versprochene Belohnung brachte und ihn aus der Stadt warf.
Einen Magier der Aura, einen so heißblütigen noch dazu, so respektlos zu behandeln, blieb nicht lange ungesühnt. Bald darauf sammelte Arydh seine Untoten und griff nun selbst die Stadt an, er, der sie Tage zuvor noch verteidigte. Es war ein schreckliches Massaker, das Arydh allerdings nicht überlebte. Ein Pfeil durchbohrte sein Herz. Sowie seine Zauberkraft gebrochen war, zerfielen seine Soldaten wieder zu Staub und Asche. Das Buch, das du trägst, Kiron” - er deutete mit dem Daumen auf den ausgebeulten Lederbeutel, und wieder betastete Kiron ihn nervös - “das gehörte ihm. Er hat es selbst geschrieben, mit seinem eigenen Blut. Darin ist sein ganzes Wissen festgehalten. Es ist sein wertvollster Besitz. Nach dem Kampf wurde es ihm abgenommen und der Aura übergeben. Nun sollen wir es zurückbringen - an den Ort seines Sterbens.”
“Aber das ergibt keinen Sinn!”, rief Fauck, der seinen Braten nicht anrührte. “Wenn es ihm nach dem Tod abgenommen wurde, muss das heißen, dass immer noch jemand am Leben war und Zeit genug hatte, sich um ein Buch zu kümmern. Sieh dich hier um! Nicht mal eine Maus wagt es, hier zu verweilen. Was also ist mit den Leuten passiert?”
“Die Antwort dieses Rätsels wird dir offenbar”, sagte Grimh ruhig, “wenn du bedenkst, dass die Untoten nicht zum letzten Mal angriffen.”
Fauck schluckte. Kiron war die Angst ins Gesicht geschrieben. Die übrigen Bratenstücke waren bereits verkohlt, also nahm Grimh sie vom Feuer. Er war so entspannt, als hätte er die letzten Minuten über das Wetter geredet.
“Sie kehrten zurück, mit noch mehr Kriegern”, sagte Grimh. Der Nebel wurde immer dicker und die Dunkelheit schwerer.
“Fast zwei Jahre lang kehrten sie jeden Tag aufs Neue zurück. Ihre Angriffe waren nicht vernichtend und nach wenigen Minuten bereits wieder vorbei, aber mehr und mehr Bürgern Duhrdallos’ wurde die Einkerkerung eine Qual. Hinaus konnten sie nicht, denn die Untoten ließen keinen am Leben, der auch nur einen Fuß aus dem Tor setzte. Und in der Stadt hielt die Panik Einzug. Die Vorräte - und es waren erstaunlich viele, denn viele Gehöfte waren auch innerhalb der Mauern errichtet - gingen allmählich zur Neige. Könnt ihr es euch vorstellen? Wie es sein muss, wie die Tiere eingepfercht zu sein und auf den Tod zu warten? Und irgendwann begann dann der letzte entscheidende Angriff. Diesmal verschonten sie niemanden. Innerhalb weniger Stunden wurde jeder Einwohner der Stadt Duhrdallos getötet. Männer, Frauen, sogar Kinder. Sie verwandelten Duhrdallos und die Senec-Ebene zu dem, was ihr vor euch seht.”
Er hielt einen Moment inne.
“Noch heute ziehen Untote durch das Land - sicherlich habt ihr von den Geschichten gehört.” Kiron und Fauck nickten still. “Es sind Arydhs Schergen. Sie suchen ganz Deron nach dem Buch ab und zerstören Städte und verheeren Landstriche. Er verlangt nach dem Buch, er will es haben. Er braucht es. Seine Sklaven werden weiterziehen, bis es sich in seinem Besitz befindet, sie werden weiterziehen - und ihnen wird der Tod folgen.”
Ein eisiger Wind fegte über die Steine. Es klang wie Schreie.
“Nun wisst ihr den Grund für unseren Auftrag. Wir bringen das Buch dem Nekromanten zurück, um die Welt von den wandelnden Toten zu befreien.”
Stille legte sich über die Gruppe. Fauck sah stumm zu Boden, doch Kiron legte die Stirn kraus.
“Du hast doch gesagt, Arydh sei bei dem Angriff getötet worden.”
Grimh nickte und schielte zu ihm herüber. Fauck verfolgte den Gedankengang und nahm das Wort auf.
“Aber wer befehligt dann die Toten? Ohne seinen Einfluss könnten sie nicht von allein auferstehen.”
“Und du sagtest, dass er nach dem Buch verlange”, fügte Kiron hinzu. “Wenn er tot ist, warum sprichst du von ihm wie von einem normalen Menschen?”
“Hast du uns schon wieder angelogen!”, rief Fauck empört. “Hängen sollte man dich für deine falsche Zunge!”
“Dann beantwortet mir eine Frage.” Aus seiner Stimme klang keine Erregung oder etwas Ähnliches. Die anderen warteten gespannt.
“Wie”, sagte Grimh, “tötet man jemanden, der selbst Herrscher über den Tod ist?”
Kiron und Fauck entgleisten die Gesichtszüge. Entsetzen stahl sich in ihre Glieder und machte sie schwer. Ein Ast knackte laut im Feuer, dass sein Klang von den Felsen widerhallte, und Kiron zuckte zusammen.
“Glaubst du etwa”, Faucks Stimme war ein heißeres Flüstern - er konnte seine Angst nicht mehr verbergen, “dass Arydh noch am Leben ist?”
“Ich”, sagte Grimh und starrte in die Glut. Die Flammen belegten seinen Körper mit einem rote Schein. “Ich glaube gar nichts.”
In seinem Traum gab es nur eine Farbe: Rot. Wellen aus Rot ergossen sich über ihn. Es drang aus seinen Ohren, schoss ihm aus der Nase und rann aus seinem Mund. Seine Augen sprangen aus ihren Höhlen.
Und er stand nur da und lachte, während er mit ausgebreiteten Armen den verdorbenen Regen empfing.
Kiron wachte auf. Das Feuer war zu einer Ruine aus Glut und Asche geschmolzen. Er kann nicht länger als ein, vielleicht zwei Stunden geschlafen haben. Im roten Schein saß Grimh, der die erste Wache übernommen hatte. Das schwache Licht verlieh ihm eine schemenhafte und auch majestätische Erscheinung. Seine Augen waren funkelnde Rubine in der Dunkelheit.
Er hatte sich nicht bewegt, seit er ihnen die Geschichte erzählt hatte.
Kiron kniff müde die Augen zu. Der Traum hatte sich aus seinem Gedächtnis gestohlen, als hätte es ihn nie gegeben. Er gähnte.
Gleichzeitig zuckte Grimhs Kiefer. Er war bereit.
“Bist du nicht müde?”, sagte Kiron. Die Worte fielen lose aus seinem Mund. “Soll ich die Wache übernehmen?”
Es gab ein bröckelndes Geräusch, als stürzten kleine Steine zu Boden, gefolgt von einem leisen Röcheln und Klacken.
Genau hinter Kiron.
“Dreh dich nicht um”, zischte Grimh schnell. Kiron gefror in der Bewegung. Er wagte es nicht, einen Muskel zu rühren. Jetzt erst sah er, dass Grimh etwas hinter ihm anstarrte.
Etwas, das nun ihn selbst anstarrte.
Kirons Mund war trockener als eine Wüste. Seine Kleider klebten an seinem Körper.
Das Röcheln wurde lauter. Hinzu kam nun ein Schnüffeln. Ein widerlicher Geruch schlich sich in seine Nase. Ein Geruch nach verwesendem Fleisch.
Unter immenser Anstrengung zwang Kiron seine Lippen auseinander.
“Wieso?”, war alles, was er hervorbrachte. Er sprach so leise, dass er selbst nicht einmal verstand, was er eigentlich sagte. Aber Grimh hörte es.
Sein Herz schlug in entsetzlichem Tempo. Die Sehnen an seinem Hals traten hervor. Grimhs Hand ruhte auf dem vergoldetem Griff seiner schweren Axt. Im Licht der verlöschenden Glut glänzte sie matt.
“Du willst nicht wirklich sehen, was hinter dir ist”, antwortete Grimh.
Noch mehr Steine lösten sich. Es fehlte nicht viel, und Kiron hätte geschrien. Und das wäre sein Tod gewesen.
Schnell wie der Blitz sprang Grimh auf. Kiron konnte kaum begreifen, was geschah, als er auch schon über ihn hinwegsetzte. Die Axt sauste mit lautem Pfeifen durch die Luft, ehe sie ihr Opfer entzwei riss.
Das matschige Geräusch war grässlich. Kiron war nicht in der Lage, sich zu bewegen.
Dann Stille.
Als eine Hand aus der Nacht nach ihm griff, schrie er wie ein verletzter Hund.
Als Kiron am nächsten Morgen sah, was sie beobachtet hatte, musste er sich übergeben. Der Anblick des zerfetzten Leichnams war so scheußlich, dass es selbst Fauck, der noch gegrummelt hatte, weil Kirons Schrei ihn aufgeweckt hatte, übel wurde. Grimh saß stoisch etwas abseits und reinigte das Axtblatt von dem Blut.
Der Körper des … was immer es sein mochte sah aus, als wäre er aus mehreren verschiedenen Körpern zusammengenäht. An dem großen, gequollenem Bauch waren gleich fünf Arme und drei Beine angebracht. Aus dem entstellten Kopf ragte ein langes Beil, das zentimetertief im Schädel feststeckte und wer weiß wann dort hineingetrieben wurde. Der Unterkiefer fehlte gänzlich. Die Haut war schwarz und gelb verfärbt und an einigen Stellen entfernt, dass die darunterliegenden Knochen zum Vorschein kamen. An den leeren Augenhöhlen klebte getrocknetes Blut, und in den ihnen lagen tote Maden.
Am schlimmsten aber war der Gestank nach Verwesung und Tod.
“Und was - machen - wir jetzt?”, fragte Kiron und war und Fassung bemüht. Galle tropfte von seinem Kinn.
“Wir führen unseren Auftrag zu Ende”, sagte Grimh knapp. Fauck sagte nichts. Er schielte nach dem zerrissenem Monster, dass zwischen den Felsen lag, und in seinem Kopf gab es nur einen einzigen Gedanken.
Worin hast du uns nur hineingeritten, Grimh.
Den restlichen Tag wanderten sie über Knochen und Staub. Der Nebel war für den Moment zurückgegangen. Aber noch ehe es dämmerte, würde er die gesamte Ebene verhüllen. Das brache Land war trostlos und leer. Einfach tot. Nach einiger Zeit ragten Ruinen wie abgebrochene Zähne aus dem Boden. Dann wurden es immer mehr, und schließlich standen sie vor einer zerstörten und grauen Wand.
Duhrdallos hieß sie mit gähnendem Mund willkommen.
Grimh deutete ihnen schweigend an, dass sie ihm folgen sollten, und kletterte über die Reste der Mauer, welche einst die Stadt umgeben hatte. Kiron und Fauck sahen sich kurz an und kletterten hinterher.
Auch wenn sie tot war, konnte man der Stadt ansehen, wie prächtig sie gewesen war. Doch der Schleier der Vergänglichkeit troff von jedem Stein und schwebte über jedem Gebäude - sofern es noch stand. Hinter eingeschlagenen Fenstern schlummerte Dunkelheit. In jeder Seitengasse versteckte sich Schweigen. An jeder Ecke lagerte Angst. Der Tod hatte hier geherrscht und verwüstet, und die Zeit des Staubes rückte unaufhaltsam näher.
Skelette verfolgten sie mit vorwurfsvollen leeren Augen. Kiron spürte, wie nackte Panik sich in ihm anstaute. Nur noch hier weg, dachte er und rieb sich die mit Gänsehaut überzogenen Arme, das götterverdammte Buch sollte verbrannt und dieser Ort vergessen werden.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Grimh: “Wir bringen das Buch zum Palast und übergeben es dem Tod.” Mehr sagte er nicht. Mehr musste er nicht sagen.
Die Straße, auf der sie gingen, war so breit, dass gleich drei Pferdegespanne nebeneinander auf ihr hätten gehen können. Jeder ihrer Schritte klang von den verfallenen Häuserwänden wider und erfüllte die eisblaue Luft. Die Temperatur fiel stetig weiter, je näher der Tag sich dem Abend neigte. Silbrige Kondenswolken verschleierten ihre Blicke. In den Mulden und Furchen sammelte sich bereits wieder Nebel.
“Ab jetzt werde ich das Buch tragen”, sagte Grimh. Seine Stimme ließ Kiron zusammenzucken (und auch Fauck, aber das hätte er niemals zugegeben). Es kam ihm seltsam vor, warum gerade jetzt er das Buch Grimh übergeben sollte, da er es seit Beginn ihrer Reise trug. Aber schließlich griff er ohne ein Wort in den Beutel, der wie totes Fleisch an seinem Körper hing. Er spürte den harten Einband. Als er das Buch herauszog, hätte er schwören können, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Er achtete nicht darauf und redete sich ein, nichts gesehen zu haben.
Noch konnte er sich damit zufrieden geben.
Bevor er das Buch übergab, sah er es sich noch einmal an. Es war schwarz wie die Nacht. Auf dem Einband standen zwei Sätze, die ebenfalls schwarz geschrieben waren, sodass man sie nur in einem bestimmten Winkel lesen konnte. Er wusste noch allzu gut, was die Worte besagten, denn sie waren ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit sie vor schier endlosen Jahren aufbrachen. Es waren die Worte des Nekromanten.
Die erste Geburt feiert das Leben. Die zweite verhöhnt es.
Ein Schauer erfasste ihn, als er Grimh das Buch in die Hand drückte. Unverzüglich steckte Grimh es weg.
Sie gingen weiter, bis die untergehende Sonne den Himmel blutrot färbte. Dann endete die Straße. Vor sich erstreckte sich in beide Richtungen ein hoher Zaun aus schwarzem Metall, aus dem auch das große, verrostete Tor gefertigt war, dessen Torflügel verbeult auf dem Boden lagen. Dahinter wand sich ein Pfad seinen Weg durch verfaulte Gärten und an ausgetrockneten Springbrunnen vorbei, ehe er an die Pforte des Palastes der einstigen Goldenen Stadt führte. Das Haus war alt und ein Synonym für die verschwenderische Pracht der gesamten Stadt. Beharrliche Stille lagerte um die Holz- und Steinmauern, und was dort oben auch umgehen mochte, ging allein um.
Noch.
Fauck murmelte etwas Unverständliches. Mit dem Gefühl, beobachtet zu werden, stiegen sie über das alte Metall, das wie verkohlte Knochen auf dem Boden lag.
Hohl knackten dünne Zweige unter ihren Füßen. Der Weg führte über ein kleine Anhöhe. Nacht breitete sich über ihnen aus, und als Kiron es wagte, sich umzudrehen, sah er, wie Duhrdallos im Nebel unterging.
Im Palast war es kalt. Durch die kaputte Tür, die lose in der Angel hing, und durch die eingeschlagenen Fenster war die Kälte und der Schmutz der letzten Jahre geweht worden. Die Wände waren von Spinnweben verhangen, eine Spinne sahen sie allerdings nicht. Es kümmerte sie auch nicht.
Sie waren zu sehr damit beschäftigt, was sie sahen.
Mitten in der großen Halle, in der sie standen, türmte sich ein Berg aus Skeletten. Wie Abfall waren sie übereinander gestapelt.
“Beeilen wir uns besser”, sagte Fauck. Kiron konnte nicht reagieren - der Anblick war zu gewaltig. Grimh sagte nichts. Obwohl es ihm nicht anzusehen war, rasten hinter seinen alten Augen die Gedanken. Nur noch wenige Momente trennte ihn von seinem Ziel. Er betastete kurz die Umrisse des Gegenstandes in seinem Beutel.
Das Buch war es nicht.
“Grimh.” Es war Fauck. Seine Stimme war durchsetzt von der Angst, die nun mehr und mehr ihre Schwingen über sie legte. “Bringen wir es hinter uns.” Grimh nickte.
Sie umgingen den Knochenberg. Dahinter lag eine Marmortreppe, über die einst Könige und Prinzen gegangen und später Ströme aus Blut geflossen waren. Mit schweren Herzen schlichen sie über die Stufen. Die Treppe führte weit hinauf. Irgendwann kamen sie auf einen langen Flur, den früher ein samtener roter Teppich geschmückt hatte, von dem nur noch schwarze Reste übrig waren. Auch ihm folgten sie, nur um dann eine weitere Treppe zu besteigen. Vorsichtig setzten sie einen Fuß nach dem anderen auf. Jedes kleine Geräusch wollten sie vermeiden. Man konnte nie wissen, was sich in den Schatten verborgen hielt.
Oder was sie bereits mit neugierigen Blicken musterte.
Auf der letzten Stufe traf sie Entsetzen und Staub.
Es war ein schlürfendes Geräusch, das sie aufsehen ließ. Reflexartig hoben sie die Blicke und starrten auf etwas, was einst ein Mensch gewesen sein mochte. Jetzt aber, in dem Augenblick, in dem drei Wanderer in die Goldene Stadt kamen, war es nur noch eine Ansammlung von Fleisch. Der Kopf war auf groteske Weise schief gelegt. Die Haut war grau wie Stein. Es hatte keine Beine, weshalb es sich mit den Armen über den Boden schleifen musste, wodurch das schlürfende Geräusch entstanden war.
Kiron war nicht mehr zu halten. Er schrie sich die Kehle aus dem Hals und stürzte davon. Fauck rannte hinterher - aber nicht aus Furcht, sondern um Kiron vor Schlimmerem zu bewahren. Währenddessen ließ Grimh seine mächtige Axt sprechen.
Fauck konnte ihn erst zu fassen kriegen, als er bereits am Ausgang war. Unter enormer Kraftanstrengung konnte Fauck ihn zur Ruhe bringen.
“Reiß dich gefälligst zusammen!”, schrie er Kiron, der winselte und wimmerte, ins Ohr. “Wir stehen nur noch Minuten vor der Erfüllung unseres Auftrages! Es ist nicht die Zeit, sich wie ein feiges Weib zu verhalten! Hast du mich verstanden?!”
Kiron kniff die Augen zusammen. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Er nickte widerwillig.
“Nichts lieber täte ich, als diesen Ort für immer hinter mir zu lassen”, fuhr Fauck mit gesenkter Stimme fort. “Bald werden wir diese verfluchte Stadt verlassen und …” Er verstummte, als er sah, wie Kiron die Augen aufriss und etwas hinter ihm, Fauck, ansah. Fauck drehte sich um. Sollte einer von den Untoten sich auf sie stürzen, bliebe ihnen nichts als die Flucht, denn sie hatten keinerlei Waffen. Er drehte sich um …
… und sah nichts. Da war rein gar nichts.
Und genau das war das Problem. Die Skelette, die zu einem furchtbaren Berg zusammengeworfen worden waren, waren verschwunden.
Sie wussten, was das bedeutete.
Es kostete sie beide ungeheure Kraft und Selbstbeherrschung, die Treppen wieder hinaufzugehen, denn Grimh war ihnen nicht gefolgt. Verzweifelt versuchten sie, die Gedanken aus ihren Köpfen zu verbannen, in denen die Untoten Grimh bereits gefangen und getötet hatten, aber sie waren schwer wie Blei und hingen in ihren Schädeln wie … wie lange Beile.
Ein kaum spürbares Beben ließ das gesamte Gebäude erzittern.
Nach Minuten, die wie Stunden gekrochen waren und doch zu schnell vergingen, standen sie wieder auf der zweiten Treppe. Das schlürfende Wesen lag zerteilt vor ihnen. Von Grimh war nirgends eine Spur zu sehen.
“Sehen wir mal hinter der Tür nach”, sagte Fauck. Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Kiron schluckte schwer und folgte ihm zögerlich.
Fauck bekam nicht mehr die Gelegenheit, seinen Beschluss zu bereuen.
Quietschend öffnete sich die vermoderte Holztür. Sie gelangten in einen Raum, der früher offenbar als Schlafsaal genutzt wurde. Jetzt war er eine dunkle Kammer, in dem es heiß war und nach Staub roch.
Ein lautes Pfeifen durchschnitt die Luft, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, in das sich ein widerwärtiges Knacksen einwob. Dann sauste es auf Kiron hinab. Er wusste nicht, wie ihm geschah.
Und alles was er sah war golden.
Es gab kein Erschrecken. Er öffnete plötzlich die Augen und wusste, dass er noch lebte. Sonst würde er die Schmerzen nicht spüren. Schreckliche Kopfschmerzen, als wütete ein losgelassener Stier durch sein Gehirn. Er tastete nach der Stelle an seinem Kopf und zuckte zusammen, als er in eine offene, von trockenem Blut umgebene Wunde fasste. Er neigte den Kopf zu Seite und starrte auf Fauck, der neben ihm reglos am Boden lag.
Sein Kopf war furchtbar verbeult. Er war tot.
Eine Stimme ließ ihn aufhorchen.
“Ich bringe euch dies Opfer als Zeichen meiner Ehrerbietung.”
Kiron konnte es nicht fassen. Verständnislosigkeit durchfuhr seinen geschundenen Körper und ließ seine Kopfschmerzen für Sekundenbruchteile nichtig werden, gefolgt von unbändiger Wut.
Es war eindeutig Grimhs Stimme.
Er spürte, wie sich ein Schatten auf seinen Geist legte, als die Augen des anderen auf ihn blickten. Seine Seele gefror zu Eis.
Jetzt war es der andere, der sprach.
“Sprich weiter, Mensch. Mögen deine Worte weise gewählt sein.” Die Stimme schien aus den Wänden zu kommen.
“Ich erflehe eure Gunst”, sagte Grimh. “Und ich erflehe eure Gnade, das Verlangen meines Geistes zu stillen.”
Ein Raunen durchfuhr die stickige Luft. Kiron wusste instinktiv, dass der andere lachte.
“Sterblicher! Du wagst es!” In seiner Stimme lag nun Hohn und Verachtung.
“Dann lasst mich euch dies geben.” Seine Hand glitt in den Beutel und verursachte ein kratziges Geräusch. Als er etwas herauszog, erbebte das Haus. Kiron war sich sicher, dass es das Buch gewesen sein musste, das Grimh hervorgeholt hatte.
“Sterblicher!”, sagte Arydh, der Nekromant, und jetzt war seine Stimme ein überraschtes Flehen. “Es ist mein Eigentum, was du in Händen hältst! Gib mir das Blutbuch!”
“Gestattet mir das Feuer zu löschen, das mein Herz seit Jahren versengt.”
“Es sei gewährt … nun gib mir das Buch!”
Grimh gab das Buch offenbar nicht sofort zurück, denn für einen schrecklichen Augenblick herrschte Stille. Dann gab es ein weiteres kratziges Geräusch, als Grimhs Hand erneut in den Beutel glitt und etwas herausholte. Kiron hob vorsichtig den Kopf, um zu sehen, was es war.
Es war ein Schädel.
Ich muss hier raus.
“Erweckt meine geliebte Enya wieder zum Leben, mächtigster aller Magier der Aura.”
Kiron drehte sich unter Schmerzen auf den Rücken. Langsam kroch er zur Tür. Das Schaben seines Körpers über den staubigen Körper klang entsetzlich in seinen Ohren. Doch plötzlich durchbohrte ihn ein stechender Schmerz, der von seiner Hand ausging. Als er sah, wie sich seine Finger unter Grimhs gewaltigem Stiefel verbogen, heulte er bitterlich.
“Grimh”, wimmerte er. “Grimh, nein.” Unbarmherzig rammte Grimh ihm den goldenen Griff seiner schweren Axt ins Genick. Es brach mit hohem Klang.
Asche zu Asche. Staub zu Staub.
Leben zu Tod.
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2010
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