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Wenn er nur hoch genug liegt, verschluckt der Schnee jedes Geräusch. Lachen. Rufe.
Schreie.
In diesem Winter lag der Schnee nicht so hoch als sonst um diese Zeit. Dennoch waren die Schreie nicht zu hören. Wie Donner waren Stille und Schweigen über das Land gefegt und hatten jedes Geräusch fortgerissen. Was ihnen vorauseilte war der Tod.
Vom schwarzen Himmel schwebten majestätisch die letzten Schneeflocken eines langen Tages tanzend zur weißen Erde. Die wenigen Wolken, die noch über das Firmament krochen, bedeckten einige der Sterne, die zögerlich ihr flimmerndes Licht durch die kristallne Nacht schickten. Der Mond war eine schmale Sichel. Unter ihm glitzerte der Schnee silbern. Der Wind trieb Eiskristalle mit seinen scharfen Peitschenhieben voran. Niemand sah, wie die kleine vermummte Gestalt durch die kalte Nacht marschierte. In ihren Ohren war das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen ein brutales Dröhnen.
Wie lange lief sie jetzt schon durch die Dunkelheit? Sie wusste es nicht. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Die Franzen ihres Schals umspielten ihr Kinn wie die Finger eines Geistes. In tiefen Höhlen schliefen glasige Augen ihren einsamen Schlaf. Kein Leben spiegelte sich in ihnen wider. Es waren die Augen einer Toten.
Jeder Schritt war eine Qual, jede Bewegung brannte und riss ein weiteres Stück aus ihrer zersplitterten Seele. Die Fußstapfen, die sie hinterließ, füllten sich mit Dunkelheit. Die Welt schien sie vergessen zu haben.
Schier endlos war wie Finsternis, die sich vor ihr ausbreitete. Eine einzige erstickende Wand aus Schwarz.
Sie werden mich kriegen, ich weiß es, o Gott, ich weiß es.


Dieser Gedanke flammte wie ein roter Blitz durch ihren Verstand. Immer und immer wieder raste er durch diese leeren Hallen und hinterließ eine Spur aus Blut.
Genau wie sie.
Es waren kleine, winzige schwarze Punkte auf der grau-silbrigen Schneedecke. Aber sie reichten aus, um sie anzulocken.
Die Stille war lauter als jeder Großstadtlärm. Sie drosch auf ihre eingefrorenen Ohren ein und ließ ihr Trommelfell zerplatzen, die Stille, die trügerischen falsche Stille, das Schweigen, dass sich über sie legte, und sie kommen und werden sie finden.
Keuchend versuchte sie, schneller zu gehen, zwang ihre Beine, noch schneller zu sein.
Hinter ihr huschten Schatten vorbei. Eiskristalle stoben auf.
O Gott, es ist so

still.
Kein Laut vermochte das Schweigen zu brechen. Selbst das Knarren des Schnees erstarb unter seiner gebietenden Hand. Der Mond färbte sich blutrot, und aus den Wolken erbrach sich ein Schwall der
STILLE!
Verzweifelt versuchte sie, den Kopf zu wenden, wollte sehen, wer über sie her fiel, und als das Schweigen seine dunklen Hände nach ihr ausstreckte, ergab sie sich ihrem Schicksal.
Der Mond glänzte silbern über dem Land. Nichts rührte sich.

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Tag der Veröffentlichung: 30.12.2009

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Widmung:
Der Rest ist Schweigen

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