Cover

Ich weiß noch, der Traum beginnt damit, dass ein Licht angeht. In vielen Geschichten, Filmen und Büchern geht in solchen Fällen das Licht aus, bei mir geht es an. Irgendwo hinter mir, ein flackerndes Licht, vielleicht von einer Kerze. Ich kann mich nicht umdrehen und die Lichtquelle anstarren, wonach ich mich aus einem unbestimmten Grund sehne. Ich sehe nur das Zimmer vor mir, beziehungsweise die Möbel, die sich an den Wänden drängeln. Das Kerzenlicht bescheint sie, sodass sie rot schimmern in der Dunkelheit, die nach wie vor herrscht. Sie sind tot, nichts weiter als Gegenstände, aber ich fasse sie nicht an, weil ich ahne, dass sie mich sofort zerfetzen würden.
Der Raum ist auch kein richtiger Raum, das fällt mir jetzt auf, obwohl ich mir fast schon sicher bin, dass er es bereits die ganze Zeit vorher war. Er ist eher eine Art langer Flur, möglicherweise auch eine Halle. An einer Seite – die Seite, die ich anschaue – weicht die Wand weit zurück bis außerhalb meines Blickfeldes. Ich gehe auf die Wand zu, weil ich weiß (woher auch immer), dass sie eine große Tür besitzt, die ich öffnen muss. Mit der Zeit, die mir als eine endlose Ewigkeit erscheint, verschwinden die Möbel langsam im Dunkeln. Das Licht aber bleibt, als würde es mich verfolgen. Ich kann mich immer noch nicht umdrehen.
Auf einmal steht die Wand direkt vor mir, ich schlage beinahe mit dem Gesicht gegen eine riesige Holztür. Ich schrecke zurück. Das Licht lässt eine große goldenen Klinke erkennen, die sich in der Mitte der Tür befindet. Ich öffne sie mit lautem Stöhnen, dabei merke ich gar nicht sofort, das ich mir auf die Zunge beiße, die wie ein alter dicker Wurm geschwollen in meinem Gaumen vor sich hin baumelt und nicht mehr zu gebrauchen ist.
Als ich in die Schwärze blicke, die sich hinter der Tür wie ein stiller See ausbreitet, erkenne ich mein Haus, das ist meine Wohnung, da das Klavier, dort der Schrank und da die alte vierzehnstufige Holztreppe, die sich gähnend mit einer Kurve in das Obergeschoss windet. Mein Zimmer befindet sich da oben, die zweite Tür links. Da muss ich hin, das weiß ich, da oben ist keine Gefahr mehr, die mich hier unten ständig und zu jeder Zeit umfängt und aufzufressen scheint. Gleichzeitig fürchte ich mich davor, was am Ende der Treppe auf mich lauert.
Trotzdem gehe ich rauf, den Blick stur nach unten gerichtet. Auf der sechsten Stufe bleibe ich allerdings stehen und schau hinauf. Oben ist es noch dunkler als zuvor. Die Kerze, die bisher immer hinter mir war, war verschwunden, nachdem ich die Tür hinter mir gelassen hatte. Dennoch kann ich noch teilweise Dinge erkennen, zum Beispiel die Kanten der nächsten Stufen oder das Geländer, welches ich auch nicht anfasse.
Die folgenden sechs Stufen schaffe ich nur unter größter Anstrengung. Ein weiteres Mal bleibe ich stehen und sehe auf. Niemand ist da. Ich kann jetzt schemenhaft die Umrisse der insgesamt vier Türen wahrnehmen, und alle stehen sperrangelweit offen. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich, eine Ahnung, das aus einer dieser Türen jemand herausgestürzt käme nur um mich zu töten. Meine Gedärme verknoten sich. Aber ich gehe weiter.
Kaum habe ich die letzte Stufe gemeistert, spüre ich auch schon weichen Teppich an meinen Füßen. Ich trage keine Schuhe und bin auch sonst bis auf eine schmutzige und zerwetzte Hose nackt. Alle Sorgen fallen von mir ab, deshalb hebe ich den Blick. Die Tür zu meinem Zimmer ist keine vier Schritte von mir entfernt.
Sobald meine Augen von dem blutroten Teppich ablassen, taucht genau vor mir eine grässliche alte Frau auf mit grauem, zerzaustem Haar, das ihr in fettigen Locken bis auf die Schultern reicht. Sie trägt ein schwarzes Nachtgewand, aber ihre Füße sind ebenso wie meine entblößt. Sie ist mager und Knochen zeichnen sich unter der alten Haut ab. Dort, wo ihre Augen sein müssten, sind nur noch schwarze Kugeln, die von dem Blut, mit dem sie gefüllt sind, rot schimmern und mich an die Möbel erinnern. Ich sehe sie trotz der Finsternis in und um mir genau. Mit einem Skelettfinger zeigt sie auf mich und lacht mich aus. Ein scheußliches Lachen. Ein Lachen, dass allen Hass und allen Abscheu der vergangenen Erdzeitalter in sich vereint. Es dröhnt in meinen Ohren und zerreist mich von innen heraus. Dann schubst sie mich mit einer Hand so kalt wie der Tod selbst.
Und ich falle und falle und falle und falle einen riesigen Schacht hinunter, dessen Wände aus menschlicher Haut bestehen. Irgendwann schließlich schlage ich unten auf. Lange Knochen bohren sich mir in den Rücken, dringen aber nicht in mein Fleisch ein. Staub rieselt von oben auf mich herab und erstickt mich. Meine Augen weiten sich angsterfüllt und fixieren das Ende des Schachtes, ein winziger Punkt, der aber immer näher kommt. Mein Körper wird gegen den Boden und tiefer in den Knochenhaufen gepresst, als der Untergrund sich mit entsetzlicher Geschwindigkeit nach oben schiebt.
Ich werde ausgespuckt und lande auf allen Vieren und schweißgebadet vor der Tür zu meinem Zimmer. Ohne zu zögern öffne ich auch diese Tür. Sobald ich in die behagliche Stille dieser Wände (sie sind normal, das weiß ich, ohne hinzusehen) betrete, schlägt die Tür zu und ein seltsames und ungewohntes Gefühl der Erleichterung kriecht meine Gliedmaßen hoch. Ich zwinge meinen Körper, ins Bett zu gehen. Ich ziehe die Decke bis unter meine Nase. Ich fühle mich sicher, ich kann nicht sagen, warum, aber unter meiner Decke glaube ich, dass mir Nichts und Niemand etwas anhaben könnte.
Meine Atmung wird flacher und ich beruhige mich schließlich. Ich sehe auf die roten Zahlen, die von meinem Wecker an die Wand projiziert werden. Es ist kurz vor Mitternacht.
Ein Gedanke breitet sich in meinem Kopf aus. Ich springe aus dem Bett und stelle mich hin. Den Gedanken habe ich schon wieder vergessen, aber ich weiß, dass er grauenerregend und atemberaubend zugleich war.
Ich tigere durch das Zimmer, laufe auf und ab, auf und ab. Ich werde schneller. Schneller. Draußen wandert der Mond über den Himmel. Ich kaue an meinen Fingernägeln herum, erst die linke Hand, dann die Rechte Hand. Meine Beine Schmerzen und mein Brustkorb hebt und senkt sich, als würde ich hyperventilieren. Ich selbst bin so langsam wie zuvor, es ist die Welt, die sich um mich dreht und Zeiträume von Stunden in Sekunden verstreichen lässt. Eine Uhr schlägt schneller und schneller werdend, scheint gleich von der Wand zu fallen. Das ganze Haus vibriert. Wieder stürze ich ins Bett, ziehe die Decke bis zur Nase. Die Zeit gleitet durch meine verkrampften Hände und verliert sich für immer in den Sphären der Unendlichkeit. Meine Augen rasen von einer Seite zur Anderen. Ich starre die roten Zahlen an.
Mitternacht.
Mein Kopf explodiert unter der Last der Äonen. Angstschweiß bildet sich an meinem gesamten Körper, vermischt mit Tränen, die in Sturzbächen meine Wangen entlanglaufen.
Doch dann ist es vorbei. Ich nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche und reibe meine Augen. Draußen ist es bereits hell, Vögel zwitschern zwischen den Bäumen. Ich setze mich auf die Bettkante, reibe erneut meine Augen und gehe ins Bad.
Wieder ein ganz normaler Traum. Nichts hat sich verändert.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An die Verlorenen, die mich in jeder Sekunde meines Lebens an die Abgründe der Existenz erinnern und mich darin gefangen halten.

Nächste Seite
Seite 1 /