Together we cry
- The Script
Das Baby weinte. Es weinte schon wieder.
Katrin eilte durch das Zimmer und nahm das Baby aus seiner Wiege. Sie wickelte es sanft in die alte Schmusedecke, die noch aus ihrer eigenen Kindheit stammte, und drückte das Kind vorsichtig an ihre Schulter.
„Scht“, versuchte Katrin das Baby zu beruhigen. „Ist doch alles gut. Mammi ist ja da.“ Sie ging, mit dem Baby auf dem Arm, im Zimmer auf und ab. Es war dunkel und stickig. Sie hatte die Vorhänge schon seit der Geburt ihres geliebten Kindes – Eric – nicht mehr aufgezogen. Warum hatte sie es noch gleich getan?
Ach ja. Weil ihr kleiner Wonneproppen sonst von allen beobachtet werden könnte.
Das Sonnenlicht drang gedämpft durch die ockerfarbenen Samtvorhänge. Staub flog auf.
„Hast du Hunger?“, fragte Katrin und hielt Eric sein Fläschchen hin. Sie hatte ihn schon vor langer Zeit abgestillt.
Eric wollte nichts trinken. Er weinte nur.
Katrin ging mit ihm durch das Haus; normalerweise schlief er dabei ein. Ihr Haus lag abgeschieden im Wald, viele Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Früher lungerten hier oftmals Kinder herum, da das Gerücht die Runde gemacht hatte, Katrins Wohnung sei ein Geisterhaus.
Völliger Unsinn. In diesem Haus gab es nichts. Nur Katrin und ihr Baby, ihr geliebter Eric. Es gab eine Zeit, Katrin konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann, da hatte Eric immer gebrüllt. Katrin war dann oft sehr wütend gewesen und hatte mit ihm geschimpft, aber das hatte es nur noch schlimmer gemacht. Hinterher hatte sie sich immer geschämt, dass sie laut geworden war.
Aber er brüllte schon lange nicht mehr. Er weinte nur noch.
Als er nach fünf Minuten noch immer nicht eingeschlafen war, ging sie in die Küche und drehte den Wasserhahn so auf, dass der Strahl nicht einmal einen Finger breit war. Sie hielt das Köpfchen ihres süßen kleinen Erics unter den Wasserstrahl, nur für ein paar Sekunden. Eric zappelte mit den Füßen, wie er es damals getan hatte, hörte damit aber nach kurzer Zeit wieder auf. Und er hatte aufgehört zu weinen. Wenn Eric nicht einschlafen konnte und weinte, hielt sie immer seinen Kopf unter lauwarmes Wasser.
Katrins Mann hatte sie verlassen, als er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Aber sie brauchte ihn nicht. Natürlich, es hatte Tränen gegeben, aber sie hatte gelernt, allein für sich und ihr Baby aufzupassen. Sie brauchte niemanden. In die Stadt ging sie nicht, niemals. Alles, was sie brauchte, stellte sie selbst her: Essen baute sie in ihrem Garten hinter dem Haus an, Wasser zweigte sie von dem Bach ab, wenn die Wasserrohre nicht funktionierten, was in letzter Zeit immer häufiger geschah, Strom bekam sie von einem alten Generator im Keller, der schon seit vielen Jahren ratterte und wohl bald seinen Geist aufgeben würde; dann würde sie improvisieren müssen. Mit der Medizin war es etwas schwierig. Sie kannte zwar alle Kräuter in- und auswendig und was für heilende Wirkungen sie hatten, nur wuchsen nicht alle in der näheren Umgebung. Ob es weiter weg noch andere Kräuter gab, wusste sie nicht. Sie durfte nicht zu weit von zu Hause fortgehen. Wer sollte denn dann auf Klein Eric aufpassen? Mitnehmen durfte sie ihn auch nicht.
Er könnte gesehen werden.
Katrin ging zurück in das Wohnzimmer, wo die Eichenholzwiege stand, und deckte Eric zu. Sie beobachtete ihn mit einem stolzen Mutterlächeln. Mamas kleiner Liebling. Sie atmete tief durch, ging wieder in die Küche und bereitete das Abendessen zu. Sie schälte gerade die Kartoffeln, als sie außerhalb des Zimmers eine Bewegung zu sehen glaubte. Sie lief zur Wiege, versicherte sich, dass es Eric gut ging, öffnete die Tür und stellte sich auf die Veranda, die unter ihren Füßen träge knarrte.
„Ich weiß, dass ihr hier seid!“, rief sie in den Wald. „Verschwindet! Ihr werdet mir niemals mein Kind rauben, ihr Bastarde!“ Sie starrte mit wütend aufgerissenen Augen in alle Richtungen, versuchte, eine Bewegung oder ein Geräusch, und sei es noch so klein, wahrzunehmen.
Nichts. Augenscheinlich nichts. Katrin wollte nachsehen, gründlich nachsehen; diese neugierigen Teufel waren verdammt clever. Aber sie hielt inne. Etwas hatte ihr Aufsehen erregt. Es war ein Laut, leise, und es klang wie ein Weinen.
Sie waren im Haus.
Katrin stürzte ins Haus. Einmal nicht richtig aufgepasst und jetzt ...
Gott sei Dank. Eric lag in seiner Wiege und weinte. Eric weinte schon wieder. Sie nahm ihren Sohn, in die Decke eingewickelt, auf den Arm, schloss die Wohnungstür ab und durchsuchte das Gebäude.
Niemand war da. Keiner dieser Wichte. Nur sie, nur Eric, der leise weinte.
Katrin lief in die Küche, drehte den Wasserhahn auf, dass der Strahl nicht mal einen Finger breit war, und hielt seinen Kopf darunter.
„Niemals werden sie dich mir wegnehmen“, flüsterte sie, während das Wimmern ihres Lieblings leiser wurde. So wie damals. „Niemals, hörst du? Du bist doch mein Sonnenscheinchen.“ Katrin würde Eric mit ihrem Leben verteidigen. Sie liebte alles an ihm: Die kleinen Händchen und Füßchen. Die niedlichen verfaulten Zähne, die lose in seinem Mund hingen, auch wenn es nur noch drei waren. Die aufgedunsene, schleimige Haut, die an manchen Stellen schon die darunter liegenden Knochen durchscheinen ließ. Die schwarzen Höhlen, in denen früher einmal blaue Augen fröhlich gestrahlt hatten und nun vorwurfsvoll ins Nichts blickten.
Als sie über ihr wunderschönes Baby nachdachte, fiel ihr auf, dass sie ihn noch immer unter das Wasser hielt. Erschrocken drehte sie den Hahn ab.
„Nicht“, rief sie aus und konnte nicht mehr atmen. Noch einmal würde sie ihren Liebling nicht zu lange unter Wasser halten.
So wie damals.
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2009
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