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Ein Schauer fast mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich.
Was ich besitze seh’ ich wie im Weiten,
Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten.
- Johann Wolfgang von Goethe




Jan spürte keine Angst, als sich der Nebel immer dichter um ihn sammelte und ihn schließlich wie eine Glocke umschloss. Man musste sich nicht vor den Grauen fürchten, hatte sein Großvater ihm beigebracht. Dennoch hatte er sich bis zu diesen Moment noch gefürchtet, diese Phantome zu sehen, die ihm in seiner Kindheit ganze Nächte geraubt und in seinen Träumen besucht hatten.
Das war der zweite Fehler gewesen, den er nun nie mehr begehen würde. Angst und Zweifel. Was für kleine, viel zu kleine Worte für etwas, deren Bedeutung nur ein Bruchteil aller Menschen wirklich kannten. Wer weiß schon, was Angst ist? Wer weiß schon, was es bedeutet, zu zweifeln? Jan wusste es. Die Grauen hatten es ihm beigebracht.
Den Regen, ein beständiges Klopfen an seinen Schläfen, spürte er überhaupt nicht mehr. Von den Bergen wehte noch immer ein heulender Wind, der die wenigen vertrockneten Blätter, die noch Halt an den Bäumen fanden, zum Rascheln brachten.
Der Grabstein seines Großvaters war nun schon nichts weiter als eine Erahnung, eine Täuschung, bei der man sich mehrmals fragen musste, ob man es tatsächlich gesehen hatte oder nicht. Wenn Jan in diesem Moment nach oben geschaut hätte, er hätte nicht sagen können, ob er den Nebel oder die Wolken am Himmel betrachtete; beides schien zu diesem Zeitpunkt falsch zu sein.
Aber Jan schaute nicht nach oben.
Dort, wo sich die Grabsteine in einer engen Reihe aneinanderdrängten, wuchsen langsam graue Massen hervor, wurden bedrohlich groß. Sie standen stumm in einem Kreis um Jan. Sie starrten ihn an und sagten nichts. Er starrte sie an und war ebenfalls still.
Irgendwann verstummte alles: das Klopfen des Regens, das Rascheln der Blätter, das Heulen des Windes, und in diesem Moment wusste Jan, dass er seine Welt verlassen hatte. Stille. Undurchdringbare Stille. Zum ersten Mal seit sieben Jahren atmete Jan tief durch. Und er lächelte.
Die Grauen atmeten auch. Es klang wie das wilde Schlagen tausender Flügel.
Einer der Geister trat nun hervor und blickte Jan ins Angesicht. Jan glaubte, in diesem unendlichen grauen Schleier, der sich vor ihm türmte, irgendwo kleine, wissende Augen zu erkennen, die aber immer ihre Position änderten, versuchte man, sie direkt anzuvisieren. Die Gestalt begann zu sprechen. Ihre Stimme war mehr ein Rauschen denn eine klare Sprache, doch Jan konnte jedes einzelne Wort verstehen.
„Du bist gekommen“, sprach die Gestalt und wiederholte es nach einer Pause wieder. „Du bist gekommen.“ Erneut schwieg sie. Dann: „Du bist hier, Mensch. Du bist in unsere Welt gegangen.“
Jan sagte nichts, obwohl es im ersten Moment wie ein Vorwurf klang.
„Du bist in die Welt gekommen derer, die du und deinesgleichen Grauen nennt.“
Jan schwieg noch immer.
„Wir haben dich gerufen“, fuhr die Gestalt fort, „und du bist gekommen.“ Die anderen Grauen huschten erregt umher und nuschelten Unverständliches. Da begann Jan zu reden.
„Warum habt ihr mich gerufen?“, fragte er knapp. Die Gestalt, offenbar der Anführer, verschwamm für wenige Sekunden vor Jans Augen, als hätte die Frage sie überrascht. Dann tauchte sie wieder auf.
„Wissen“, sagte der Graue. „Was weißt du?“
Jan brauchte nicht lange nachdenken, um an die Antwort zu gelangen. „Ich weiß weniger als ich glaube, und glaube mehr als ich vertrage.“
Wieder aufgeregtes Nuscheln. „Weise, Mensch“, sagte die Gestalt. Ihre Augen bohrten sich in Jans Seele. Sie erzählte ihm alles.
„Die Grauen, wie du uns nennst“, begann sie, „waren einst Menschen. Menschen, die grausam aus ihrem Leben gerissen wurden.“
Jan erinnerte sich daran. Sein Großvater hatte es ihm erzählt. In einer anderen Zeit. In einer anderen Welt. Damals war alles noch bunt und hatte einen Sinn.
Doch im Dunst der Vergangenheit war es nur noch grau.
Der Graue las seine Gedanken.
„Dein Großvater wusste viel“, gab er zu, „doch hatte er sich in einigem geirrt. Es kommen keine Menschen mehr in den Nebel, wie er annahm. Es gab nur eine Generation von Menschen, die hier her kam. Wisse, dass diese Leben bereits vor der Zeit, so wie du sie kennst, zu Ende gingen.“
Jan war erstaunt und verwirrt, sagte aber nichts. Er spürte, dass der Alte (denn das war er) ihn aufklären würde. Und er tat es auch.
„Damals, als die Erde – Rapen, was Herrlichkeit bedeutet, wurde sie noch genannt – geformt wurde, beherrschten Wesen diesen Planeten – aber nicht solche, die du im Sinn hast.“ Jan errötete ein wenig. „Es waren Tierwesen. Es waren unzählige. Sie hatten die Gestalt von Tieren, sprachen und handelten aber wie Menschen. Die meisten waren normale Kreaturen und an feste Daseinszeiten gebunden. Dann gab es wenige, die magische Kräfte innehatten und länger lebten. Die wenigsten, sechs waren es, waren unsterblich und vereinigten die gesamte Gewalt der Natur in sich und bildeten die Kernenergie, die dieser Welt ihr Antlitz verliehen. Ihre Macht war unbeschreiblich. Mit einem Fingerzeig konnten sie Berge versetzen, Wirbelstürme aufkommen lassen, Feuersbrünste entfachen oder sogar ganze Meere zum Schweigen bringen. Nun geschah es aber, dass ein großes Unheil über das Leben hereinbrach. Also wurde Rapen in drei Teile gespalten. Der Teil, in dem die Tierwesen herrschten, bekam den Namen Des Licht. Die Zwischenwelt, in der Geister und Phantome wandeln und in die wir dich gerufen haben, bekam den Namen Des Grau. Als Nebelschwaden erscheinen sie dort, wo die Grenzen bedroht sind, und die Menschen können kurz in unsere Welt blicken, auch wenn kaum einer sich jemals fragt, was dahinter liegt.“ Jan glaubte sich zu erinnern, sich erst kürzlich dasselbe gefragt zu haben. Er war sich nicht sicher. Je länger er hier war, desto mehr wurden seine Gedanken verschleiert – von einem dichten Nebel.
Die Gestalt verstummte kurz.
„Die dritte Welt, die das Nachleben bezeichnet und in der die Dämonen und böse Geister leben, nannten sie Des Schatten. Ein unheiliger Ort. Voller Schrecken.“
Wenn Jan im Stande gewesen wäre, etwas zu sagen, er hätte keinen Ton hervorgebracht. Und der Alte war noch nicht fertig.
„Die sechs mächtigsten aller Tierwesen sahen vor, auf diese Weise Gut und Böse voneinander zu trennen. Doch im Lauf der Weltgeschichte verschwammen die Grenzen. So kam es, dass Dämonen die Zwischenwelt passierten und Des Licht heimsuchten. Die Tierwesen sahen ein, dass ein Opfer gebracht werden müsse, um diese Welt zu retten, die immer mehr und mehr verwüstet wurde. Also spalteten sie ihre Kräfte und Leiber, zwangen die bösen Schatten zurück. Seither sind die Tierwesen von diesem Planeten verschwunden. Naper nennen wir ihn daher, Verzerrung, und noch heute singt mein Volk von der Schönheit des Vergangenen.“
„Soll das heißen, dass damals schon Menschen lebten?“ Jan schrie fast und war selbst von sich überrascht. Die Grauen um ihn herum wichen zurück und verschwanden.
„Höre“, sagte der große Geist, der nun allein stand.
„Es gibt Einiges, dass an der Entstehung der Welt, wie die Menschen sie annehmen, falsch ist“, fuhr er fort. „Und, ja, damals lebten Menschen. Wenige, gewiss, viel zu wenige. Als die Tierwesen die Urkräfte wieder dem Planeten übergaben, wurde er umgewälzt und neu geformt und an den Anfang gestellt. So bekam er seine heutige Gestalt. Doch die Tierwesen sprachen vor dem Ende noch ein letztes Mal mit uns. Sie erzählten uns von dem Vorhaben, mit dem sie die Welten ein für alle Mal trennen wollten. Als unsere Körper bei der Umwälzung Rapens zerrissen wurden, verpflichteten wir unsere Seelen dem Licht. Als ewige Wächter.“
Wieder schwieg er, diesmal allerdings länger. In seinem letzten Satz klang etwas mit, das Jan nie erwartet hatte: Wehmut. Der Graue war traurig.
„Leider“, setzte er langsam wieder an, „waren wir nicht annähernd stark genug. Und zu wenige, viel zu wenige. Die Jahre vergingen, und immer gelang es den Schatten erneut, in die Lichtwelt zu treten. Auch wenn wir viele zurückhalten konnten.“ Aus den Augenwinkeln konnte Jan sehen, wie die Grauen zurückkehrten und ihre alten Plätze wieder einnahmen. Und wie zuvor schwiegen sie.
„Doch seit kurzem“ – seine Stimme war nun kein bisschen mehr wehmütig, sie hatte eine Schärfe angenommen, die Jan frösteln machte – „streiten sie mit ungestümer Kraft an unsere Grenzen wie nie zuvor. Eine alte Macht vergangener Zeitalter treibt sie voran. Ein böser Schatten. Grausamer als es je ein Schatten war.“
Jan schluckte. Kalter Schweiß lief seinen Nacken entlang.
„Du musst ihn bannen“, sagte der Graue. Er wies Jan an, ihm zu folgen. Jan gehorchte. Sie gingen einen langen Weg durch den Nebel, überall standen die verschwommenen Schemen und starrten ihn an.
„Wie“ – Jan räusperte sich und versuchte es noch einmal – „Wie soll ich ihn denn ... bannen?“ Der Alte schwieg. Er ging weiter den Weg und schien dabei zu schweben, obwohl Jan sehen konnte, wie sich seine Beine bewegten.
„Hörst du mich nicht?“ Es war zwecklos. Jan gab auf. Kurz danach hatte er bereits vergessen, je diese Frage gestellt zu haben.
Sie gingen weiter. Der Weg zog sich ins Unermessliche, gleichzeitig jedoch schien kaum Zeit zu vergehen. Es war ein seltsames Gefühl, bei dem Jan leicht übel wurde. Doch dann blieb der Graue stehen. Vor sich sah Jan eine dunkle Masse, er konnte nicht bestimmen, um was es sich handelte.
Je näher sie kamen, desto klarer schien der Graue zu werden, der ihn führte. Als hätte Jan die ganze Zeit durch schmutziges Glas geschaut und erst jetzt richtig klar sehen konnte. Er war längst nicht mehr die verschwommene Gestalt. Er nahm seine frühere Form an, seine lebendige. Aber trotzdem sah er wie ein Geist aus, unwirklich.
Er zeigte auf die schwarze Masse, vor der sie nun unmittelbar standen.
„Fasse Mut.“ Seine Stimme war, im Gegensatz zum Körper, schwächer geworden.
Jan ging einen Schritt nach dem anderen. Dann blieb er stehen.
„Wie soll ich ihn bannen?“, fragte Jan erneut. Der Graue schwieg, aber er reichte ihm einen kleinen Gegenstand. Es war eine Art Kristall, in ihm pulsierte ein dunkles Licht. Er war wunderschön.
„Fasse Mut“, sagte der Graue noch einmal, nachdem eine lange Schweigepause entstanden war.
„Warum muss ich das machen?“, versuchte Jan, Klarheit zu erlangen. „Warum nicht einer von euch?“
„NEIN!“, schrie der Graue. Er war außer sich vor Entsetzen. „WIR DÜRFEN NICHT AUF DIE ANDERE SEITE! WIR KÖNNEN NICHT AUF DIE ANDERE SEITE!“
Ein paar Sekunden vergingen. Die Luft hörte auf zu beben, eine unangenehme Spannung legte sich.
Der Graue wies wieder auf die schwarze Masse.
„Fasse Mut.“
Jan wollte schlucken, aber sein Mund war ausgetrocknet. Der Kristall, von seiner linken Faust noch immer umklammert, übte eine seltsame Faszination auf ihn aus. Er war bereit.
Aber er hatte noch eine Frage.
„Das Unheil, von dem du geredet hast“, begann er, „das für die Spaltung der Welt verantwortlich war – was ist da geschehen?“ Er sah ihn nicht an, während er sprach.
„Einem der Schatten war es gelungen, Gewalt über einen der Sechs zu gelangen, es war ein furchtbares Massaker und forderte unzählige Tote“, erklärte er, ohne aber den Arm zu senken.
„Ist das der Schatten, den ich bannen muss?“, wollte Jan wissen. Seine Stimme war zittrig. Er konnte sich selbst kaum hören.
Der Graue zeigte weiter auf die schwarze Masse. Er schwieg.

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Tag der Veröffentlichung: 29.08.2009

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