Mir wird schlecht.
Ahh! Ich halts kaum aus,
Ich strauchle, fall hin, lieg im Staub.
Das Grauen streckt seine Klauen aus,
Oh weck' mich aus meinem Alptraum auf.
- Peter Fox, Kopf verloren
Hoch auf einem Hügel – der im Westen eines großen Tals lag – stand eine Esche. Sie war riesig und alt, fast so alt wie die Land selbst; die Felsen wisperten noch das Lied der Weltgeburt; die ersten Sterne gingen über diesem Baum auf. Als dann eines Tages Menschen das Gebiet, über dem ein hoher Berg im Osten wie ein Finger Gottes thronte, besiedelten, wurden sie von der Esche bezaubert. Ihre Blätter waren grün wie der Frühling, ihre Rinde glatt wie Seide. Die Siedler schlugen ihr Lager unter den ausladenden Ästen des Baumes auf und verbrachten zwei Tage und Nächte in ihrer Schönheit.
Seither war es Brauch, dass all jene, die im Frühjahr das sechzehnte Lebensjahr überschritten haben, an den ersten beiden Tagen des Sommers unter dem Baum schlafen, um der vergangenen Zeit zu gedenken.
Im Jahre 1571 fiel ein Schatten über das Land. Früh am Morgen wurden die aufgequollenen Leichen von drei Söhnen – Brüder zwischen neun und vierzehn Jahren – aus dem Fluss geborgen. Ihre Kehlen waren aufgeschnitten, ihre Augen herausgerissen. Der Verdacht fiel auf den Vater, der schon seit einigen Tagen als Verschwunden galt. Das ganze Dorf wurde aufgerufen, den Mann zu finden, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Nur kurze Zeit danach fand man ihn in einem versteckten Keller unter der Kirche, wo er satanistischen Bräuchen nachging. Auf einem schwarzen Altar stand ein großer Kelch, gefüllt mit dem Blut der Kinder, um den dunklen Mächten ein Opfer zu sein.
Der Mann, der als der „Kindsschlächter“ in die Geschichte des Dorfes einging, wurde des Mordes seiner drei Söhne angeprangert und am dicksten Ast der alten Esche gehängt. Jeder Bürger stand in einem großen Kreis um den Baum, während die Sonne am Horizont unterging. Der Schemel, auf dem der Kindsschlächter stand, wurde weggezogen und der Körper fiel mit einem abscheulichen Knacken herab.
Drei Tage vergingen und niemand wagte sich in die Nähe des Baumes. Als am Morgen des vierten Tages die Dorfältesten die Leiche herunterholen wollten, fanden sie die Schlinge leer vor. Darüber waren sie so verwundert, dass sie zuerst nicht merkten, dass sich die Esche verändert hatte.
Die Männer standen unter dem Baum, als etwas auf sie tropfte. Sie sahen hinauf und stellten entsetzt fest, dass die Blätter tief rot waren und das Heruntergetropfte nichts Geringeres war als Blut. Auch die Rinde hatte sich gewandelt: die seidenweiche Oberfläche war einer zerfurchten gewichen und hatte eine Beschaffenheit wie alte Haut angenommen.
Seither wurde sie von den Dorfbewohnern die „Blutesche“ genannt.
Ein Jahr ging vorüber und wieder legten sich die Mädchen und Jungen unter den Baum. Am nächsten Tag fand man sie an den Ästen hängend. Es war ein grässlicher Anblick. Vom Täter fehlte jede Spur. Es machte das Gerücht die Runde, der Kindsschlächter wäre aus der Hölle auferstanden um Rache zu nehmen an den Kindern seiner Mörder. Seitdem gab es in diesem Dorf kein „Eschenschlafen“ mehr.
Bis heute. Über vierhundert Jahre danach.
Sarah und die anderen drei gingen die Straße entlang, die geradewegs zur alten Blutesche führte: sie ganz links, Paul und Freddie in der Mitte, Thomas rechts. Der Weg lief an dem Hügel entlang, sodass die Blutesche noch nicht zu sehen war, aber schon der bloße Gedanke daran, die ersten seit 1572 zu sein, die nach Wiedereinführung des Eschenschlafens unter dem Baum liegen würden, verursachte bei Sarah eine Gänsehaut.
Aber nicht aus Angst. Sie freute sich seit Monaten darauf; seit sie ihren Vater, den Bürgermeister des mittlerweile zur Kleinstadt gewordenen Dorfes, überredet hatte, diesen Brauch wieder einzuführen.
„Seit ihr nicht auch so aufgeregt wie ich?“, fragte sie voller Enthusiasmus. Paul nickte höflich, Freddie seufzte und Thomas tat, als hätte er nichts gehört. „Interessiert es euch denn überhaupt nicht, nach mehr als vierhundert Jahren die Ersten zu sein, die unter der Esche schlafen dürfen?“, fuhr Sarah fort. Während Paul und Freddie ihre Vorfreude darauf beteuerten, dachte Thomas darüber nach, ob man es tatsächlich als Ehre ansehen konnte, unter einem vermoderten Baum zu liegen – ganze zwei Tage lang!
Laut sagte er: „Natürlich, ich freue mich riesig! Ich bin gespannt, bereit, willig, erwartungsvoll! Das wird ein Spaß!“ Er sagte es mit so übertriebenem Sarkasmus, dass Sarah prustete. Sie kannten sich schon lange genug um zu wissen, was man wann und wie sagen konnte, um darüber zu lachen. Trotzdem war Sarah ein bisschen enttäuscht.
Der Weg ging in eine Kurve über. Bald würden sie da sein. Sarah merkte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.
„Nein, jetzt mal ehrlich“, setzte Thomas wieder an. „Wieso glaubst du, dass es mich in irgendeiner Art und Weise
faszinieren würde, unter einem hässlichen Baum zu liegen und mir gleichzeitig Spinnen und so ein Zeug in den Haaren herumkrabbeln.“ Sarah verschränkte die Arme vor der Brust und spielte die beleidigte Leberwurst, was auch wieder einer ihrer Späße war, die ein Außenstehender wohl nie begreifen würde.
„Man wird ja wohl annehmen dürfen, dass der Herr einigermaßen an der Geschichte unserer Vorfahren interessiert ist“, sagte sie. „Aber nein, der Herr verbringt seine Zeit lieber mit Computerspielen und zu Hause bleiben und bloß nicht auf die Idee kommen, mal das Haus zu verlassen, aber stattdessen ...“
„Da ist sie“, unterbrach Paul sie. „Die Blutesche.“
Sarah hielt abrupt inne. Der Weg schlängelte sich jetzt den Hügel hinauf, um den er herumgelaufen war. An der Spitze – im Feuer der untergehenden Sonne – stand die Esche und warf ihre Schatten wie gierige Finger nach dem Tal aus. Sarah verschwendete keine Zeit und spurtete den Weg hinauf. Die drei Jungen folgten in langsamen Marsch.
Nach wenigen Minuten waren auch sie oben angekommen. Sie blickten auf das Tal hinab und sahen es in den Schatten liegen; nur der „Goldfeuer“, wie der Berg genannt wurde, wurde von der Sonne beschienen und strahlte in einem wunderschönen Rot, woher er auch seinen Namen bezog.
„Schon allein deshalb war der Weg doch sinnvoll, nicht wahr?“, wollte Sarah mit einem breiten Grinsen wissen. Freddie und Thomas nickten, und auch Paul, beileibe kein Ästhet, klappte der Unterkiefer herunter.
Die nächste Sunde nutzten sie, um ihre Zelte aufzuschlagen und um zu essen. Die Sonne war inzwischen untergegangen und nur noch ein schemenhaftes Leuchten. Im Tal herrschte Dunkelheit. Die vier Freunde legten sich in ihre Schlafsäcke und beredeten, was denn am nächsten Tag zu tun sein, denn nach altem Brauch durften sie das Dorf nicht betreten bis die zwei Tage vorbei waren. Das Gespräch endete in einem Fiasko, wie Paul es ausdrückte, auch wenn alles nur auf freundschaftlicher Ebene gemeint war.
„Tu mir einen Gefallen“, beendete Thomas das Gespräch und meinte – wie immer eigentlich, wenn es um Streitereien ging – Sarah „Wenn ich morgen am Baum hänge, komm nicht zu meiner Beerdigung.“ Darüber lachten alle.
Aber sie wussten nicht, dass ihnen bald das Lachen vergehen würde.
Der nächste Tag begann für Sarah mit dem Aufschrecken aus einem Alptraum. Sie wusste nicht mehr genau, wovon er gehandelt hatte; eine Pistole hatte eine Rolle gespielt, und alle waren um die Esche versammelt und hatten Sarah angestarrt, während diese sich die Kehle aus dem Leib schrie.
Ihr Körper war mit Schweiß bedeckt. Das Licht der Sonne, das den Goldfeuer scharf umriss, blendete sie, sodass sie die Augen zusammenkniff. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte sie, über sich etwas hängen zu sehen, war sich aber nicht sicher.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Sarah an das Licht gewöhnt hatte. Vorsichtig öffnete sie die Augen und stellte zuerst fest, dass Thomas, Paul und Freddie nicht da waren.
Sie rief ihre Namen.
Niemand antwortete. Nur der Wind kreischte in der Ferne.
Da fiel ihr ein: hatte sie nicht etwas gesehen? Sie sah nach oben
(Wenn ich morgen am Baum hänge)
und nahm das angenehme dunkelblau von Thomas’
(komm nicht zu meiner Beerdigung)
Jeans war, die im Wind flatterte. Was zum ...
„Hast du gerufen?“
Sie fuhr erschrocken herum und sah in die warmen Gesichter ihrer Freunde, die daraufhin ebenfalls erschrocken reagierten. Es war Freddie gewesen, der gesprochen hatte. Sarah keuchte.
„Du siehst gar nicht gut aus“, sagte Freddie besorgt. Sarah winkte ab, was so viel wie „Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen“ bedeutete. Eins wollte sie aber wissen.
„Thomas“, sagte sie. „Wieso hängt deine Hose am Baum?“
„Weil Paul es urkomisch fand, mir seine Wasserflasche über die Beine zu kippen. Sie hängt jetzt da und trocknet.“ Er wies auf die Jeans, welche an einem tief hängenden Ast baumelte. „Und meine andere Hose ist viel zu kurz.“ Thomas zeigte seine Beine hinunter auf seine nackten Knöchel. Die anderen brachen in Gelächter aus.
Den Rest des Tages verbrachten sie mit wandern – Thomas stöhnte mehr als einmal auf – und verschiedenen Arten der Unterhaltung. Als die Sonne unterging, waren sie wieder an der Esche und redeten bis in die sternklare Nacht hinein. Sie hatten eine schöne Zeit, wenn nicht sogar die schönste ihres Lebens. Aber diese Zeit würde schon bald ihr Ende finden.
Es sollte das letzte Mal sein, dass sie alle zusammen sein würden.
Wieder hatte Sarah einen Alptraum; aber nicht den selben wie in der Nacht zuvor. Dieser war schlimmer. Sie hatte geträumt, von Weitem auf den Hügel hinauf zu sehen, und der Himmel dahinter war rot wie Blut. Und an der Esche hing ein Körper.
Sie wachte auf, noch bevor die Sonne aufgegangen war, was für ihre Verhältnisse sehr untypisch war. Wieder glaubte sie, über sich etwas zu sehen und dachte, Thomas hätte vergessen, seine Jeans vom Baum zu nehmen. Sie spürte einen kleinen Druck auf der Schädeldecke, als etwas auf sie tropfte. Sarah beachtete es nicht, sondern blickte auf ihre Heimat hinab wie in Trance. Sie hatte ein seltsames Gefühl – tropf
– einer Vorahnung, dass dieser Tag schlimm werden würde, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen – tropf
– woran das lag. Vielleicht ja an ...
Tropf
Jetzt reicht’s! Was, zum Teufel, tropfte da so unaufhörlich?
Sie sah nach oben und wurde das Opfer einer optischen Täuschung; Sarah glaubte, im Astgewirr der Esche einen Körper hängen zu sehen. Sie sah weiter hin und versuchte zu erkennen, was es wirklich war. Sie sah weiter hin und zwang sich, etwas anderes zu erkennen als das, was sie sah. Sie sah weiter hin und erkannte, dass es wirklich ein Körper war. Pauls Körper, der an einer Schlinge um den Hals am dicksten Ast der Esche hing und aus den leeren Augenhöhlen blutete. Sie schrie auf und weckte dadurch Freddie und Thomas, die kurz darauf auch anfingen zu schreien.
*
„Was immer du zu sehen geglaubt hast, Liebling, es ist nicht da“, sagte Sarahs Mutter und hielt ihre Tochter in den Armen. Alle Dorfbewohner standen um die Esche versammelt und beobachteten dieses Trauerspiel. „Er ist wahrscheinlich nur weggelaufen.“
„Nein!“, schrie Sarah und betrachtete ihre Mutter wie ein Ding aus einer anderen Welt. „Er hing da oben! Er hing da oben! ICH HABE IHN GESEHEN!“ Sie brach erneut in Tränen aus.
„Aber da ist doch ni...“
„ER WAR DA!“ Sarahs Stimme brach, während sie von neugierigen und gleichzeitig verwirrten Blicken angestarrt wurde. „Die anderen haben sie auch gesehen!“, fuhr sie fort, aber diesmal leiser.
„Ihr habt euch das alles nur eingebildet“ versuchte jetzt Sarahs Vater, seine Tochter zu beruhigen. „Es wird so sein wie deine Mutter gesagt hat. Er ist nur weggelaufen. Bestimmt taucht er bald wieder auf.“
Fast hätte Sarah wieder geschrieen, aber ein plötzlicher Brechreiz verhinderte dies. So elend wie in diesem Moment hatte sie sich noch nie gefühlt. Um sie herum wurde alles schwarz, doch in diesem Durcheinander, in dem die Welt in sich zusammenzufallen und gleichzeitig zu explodieren schien, hörte sie eine Stimme, die sie nicht kannte; eine alte Stimme, die tief aus der Erde zu kam und aus der Luft um sie. Eine Stimme wie Knochen, die auf staubigen Grund fallen.
Sieh. Die Macht. Uralt. Du kannst nicht. Entkommen.
Die Zeit dehnte sich ins Unendliche; Sekunden wurden zu Stunden, zu Tagen, zu Monaten. Aber die Stimme verstummte nicht. Sie hatte noch etwas zu sagen.
Noch drei. Kein. Entkommen.
Sarah wurde ohnmächtig.
*
Vier Wochen waren vergangen, seit Sarah und die anderen Paul am Baum haben hängen sehen. Seither hatte sie nicht mehr gesprochen. Oder das Haus verlassen. Jede Nacht hatte sie den Traum von der Pistole und den Leuten und wie sie schrie. Bis ...
Bis sie eines Tages einen anderen Traum hatte. Aber keinen neuen Traum. Es war der Traum, in dem sie von weiter Ferne auf den Hügel hinauf sah und der Himmel sich in Blut verwandelte. Doch diesmal hingen am Baum zwei Körper.
Sarah blieb noch stundenlang wach im Bett liegen. Sie hatte keinen Grund aufzustehen, tat es aber schließlich doch. Sie verbrachte den Tag wie die anderen zuvor: still schlich sie im Haus herum oder legte sich in eine Ecke ihres Zimmers. Sie ging noch am frühen Nachmittag wieder ins Bett.
Kein. Entkommen.
Mit diesen Worten im Kopf wachte sie auf. Anders als noch am Vortag, sprang sie sofort auf und lief aus dem Haus. Sie wusste, was passiert war.
Ohne Pause lief sie den Weg zur alten Esche lang. Steine schnitten in ihre bloßen Fußsohlen. Nach etwa zwanzig Minuten stand sie am Fuß des Hügels und sah hinauf zur Esche. Sie erkannte sofort, was da hing. Und wieder hörte sie die Stimme. Zum letzten Mal.
Noch einer. Kein. Entkommen.
Wie betäubt ging sie zurück und merkte nicht, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war. Der Rückweg dauerte fast dreimal so lang wie der Hinweg. Zu Hause angekommen, ging sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Weil da etwas auf sie wartete. In der obersten Schublade links.
Sarah nahm die Pistole heraus und ging durch den Flur in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie setzte sich auf die Bettkante. Sie war sich ihrer Sache sicher.
Sie wusste, dass man dieser Macht nicht entkommen konnte. Sarah legte den Lauf an ihre Schläfe. Das kalte Metall fühlte sich gut an.
Sie wusste, was sie jetzt tun musste. Weil sie wusste, wer als nächstes an der Blutesche hängen würde.
Man kann dieser Macht nicht entkommen.
Einer Macht, alt wie die Welt.
Diese Gedanken hatte sie, während alle Sorgen der Welt auf einen Schlag davonflogen.
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2009
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