Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
- Johann Wolfgang von Goethe
„Was siehst du, wenn du in den Nebel schaust?“, fragt sein Großvater leise. Jan steht regungslos und angespannt im Türrahmen und kann nichts sagen. Er friert. Das einzige Geräusch, das er hören kann, ist das leise Klappern seiner Zähne, die unruhig aufeinander schlagen.
„Was siehst du?“, fragt sein Großvater erneut. Der Nebel wabert still über den Boden und scheint nach ihm greifen zu wollen. Jan hat Angst. Er weiß nicht genau, was er sieht.
Nein. Er weiß, was er sieht. Er weiß nur nicht, ob er es glauben soll. Oder will. Oder kann.
Jan streckt seine Hand aus und versucht, die seltsamen Phantome zu berühren, die im Nebel stehen und ihn anstarren. Der Schatten, der keine zwei Schritte vor ihm steht, huscht vor seinen zitternden Fingern geräuschlos fort und scheint sich aufzulösen. Ein leises Wispern erfüllt die Luft.
Die Wesen im Nebel sprechen.
Während Jan seine Hand reflexartig zurückzieht, sieht er aus den Augenwinkeln heraus, wie sein Großvater eine Hand hebt und ihm auf die Schulter legt. Sie packt fest, aber liebevoll zu.
„Du siehst sie, nicht wahr?“, fragt er noch leiser, sodass Jan ihn kaum versteht. Der Griff um seine Schulter wird noch fester, und Jan spürt einen dumpfen Schmerz seinen Arm entlang laufen. Er wirkt beunruhigt. Angst? Wovor? Jan hat das Gefühl, dass er das schon sehr bald erfahren wird. Er nickt wortlos. Sein Großvater nimmt die Hand weg und seufzt.
„Gut“, sagt er erleichtert. Er fährt sich mit dem Ärmel seines karierten Hemdes über sein rundliches Gesicht und wischt so die Schweißperlen fort, die sich auf der faltigen Stirn sammeln.
„Was sind das für Geister?“, fragt Jan mit einem Ton, der sowohl Angst als auch bebende Faszination ausdrückt. Er sieht seinen Großvater dabei nicht an, sondern betrachtet weiter die Wesen im Nebel.
Jans Großvater atmet ein paar mal ruhig durch und scheint nach Worten zu suchen. „Ich weiß nicht genau, was
sie sind“, sagt er schließlich. „Und ich will es auch nicht erfahren. Glaub mir, du willst es auch nicht.“ Er macht eine Pause. „Es sind Schemen, verschwommene Wanderer zwischen den Welten. Man nennt sie die Grauen, weil man sie nur im Nebel sieht.“
„Können die Anderen sie auch sehen?“, fragt Jan. Sein Großvater schüttelt den Kopf.
„Es gibt nicht viele auf der Welt, die dazu in der Lage sind.“ Jans Großvater sieht sich um, als hätte er vor etwas Angst. Dann sieht er Jan wieder in die Augen. „Hör mir zu, Jan, und pass genau auf, denn was ich dir jetzt verrate, darfst du niemanden anvertrauen“, sagt er. Er stützt sich ächzend auf ein Knie, um mit seinem Enkel auf Augenhöhe sein zu können. „Ich werde es dir nur einmal sagen und dann nie wieder, also hör sorgfältig hin.“
Jans Großvater hält inne, als wüsste er nicht, wie er anfangen soll. Er blickt zu Boden, wischt sich noch mal über seine alten Lippen und schaut seinem Enkel eindringlich an.
„Du musst wissen“, sagt er schließlich, „die Grauen sind
*
Die Grauen sind keine Menschen, aber sie waren einst welche. Menschen, die grausam aus dem Leben gerissen wurden. Nicht alle kommen in den Nebel; warum, weiß niemand. Sie besitzen keine Körper, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Man trifft sie nur im Nebel an. Sie kommen und gehen mit ihm. Nur Wenige können sie sehen, doch sie können uns sehen; sie verlassen uns nie, wenn wir sie einmal erblickt haben. Sie können einem nichts anhaben, und man braucht auch keine Angst vor ihnen haben. Im Gegenteil: Sie halten die Angst vor uns fern. Sie beschützen uns vor dem, was jenseits des Nebels liegt, dort, wo unsere Welt endet. Sie sind immer da, vielleicht waren sie das auch schon immer. Manchmal sprechen sie mit einem von uns, manchmal geben sie uns eine Aufgabe. Sie stehen im Nebel, als ewige Wächter.
Jan hustete. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht, was sein Großvater ihm damals vor fast acht Jahren gesagt hatte. Seither hatte er die Grauen nicht mehr gesehen, und es verging kein Tag, an dem er nicht überlegte, ob er sich die Wesen im Nebel vielleicht doch bloß eingebildet hatte. Schließlich war er damals erst neun Jahre alt gewesen.
Er legte die Blumen auf das Grab. Der Nieselregen bedeckte sein Gesicht und seine Hände. Er war allein auf dem Friedhof, trotzdem fühlte er sich beobachtet. Ein kalter Wind wehte von den Bergen. Jan betrachtete den Marmorgrabstein, auf dem in schwarzen Buchstaben
Herbert Kienen
Geliebter Ehemann, Bruder, Vater und Großvater
Geb. 3. Juni 1926 Gest. 31. Oktober 2002
stand. Durch den Regen glänzte er, sodass sich Jans Gesicht unklar darauf spiegelte. Er blickte zu den Wolken, die still von unsichtbaren Mächten vorangetrieben wurden. Da und doch nicht da, so wie einiges mehr in dieser bedauernswerten Welt.
Seine Schuhe versanken langsam aber sicher im Schlamm. Nässe durchdrang sein Hemd; die Jacke half da überhaupt nicht. Jan setzte die Kapuze auf, zog sie nach fünf Sekunden aber wieder runter. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat, aber er glaubte, dass er es tun müsse. Jans Augen waren leere Kugeln aus trüben Glas, die den Horizont absuchten und ergründeten, um die Geheimnisse des Universums erfassen zu können. Keinerlei Gedanken verunreinigten für einen Moment sein Wesen. Und er erkannte, dass er sich in zwei Dingen getäuscht hatte. Zum einen hatte er an der Existenz der Grauen gezweifelt; ein Fehler, den er nie wieder begehen würde. Und zum Anderen –
Jan bekam eine Gänsehaut, aber nicht wegen der Kälte.
Er war nicht gern auf dem Friedhof, noch weniger an so einem Tag. Er fühlte sich verlassen; seit dem Tod seines Großvaters hatte er sich ziemlich von seiner Familie abgegrenzt. Er wusste nicht, warum, und er schämte sich für sich selbst, aber er hasste seine Eltern irgendwie. Er machte sie für den Tod des einzigen Menschen, dem er sich je anvertraut hatte, verantwortlich.
Der Friedhof war von einer etwa mannshohen Mauer umfasst und recht groß; die Grabsteine zwängten sich in geschlossenen Reihen, Einer neben den Anderen. Jans Großvater war am östlichen Ende des Friedhofs bestattet wurden. Er hatte sich gewünscht, unter den herab fallenden Blättern der Eichen und Birken zu liegen, die nur auf dieser Seite wuchsen, wenn der Herbst alles Schlechte verwischte. Der Ostteil war der einzige Abschnitt des Friedhofs, der höher lag als der Rest. Bei Sonnenaufgang lag das Gelände in ehrfürchtigem Schweigen, getaucht in eine mystische Zwischenphase, die weder Tag noch Nacht, weder Hell noch Dunkel war. Dann aber, gegen die Mittagszeit, ergoss sich die Sonne über die Gräber. Stand man auf der Spitze des Hügels, etwas links des Grabsteins von Jans Großvater, konnte man mit Hereinbrechen der Abenddämmerung ein Bild sehen, das seines Gleichen sucht: Die Sonne, eingebettet von einem dunkelroten Meer und halb hinter dem Horizont versunken, umrahmt von zwei großen Eichen, und, scheinbar auf halbem Weg von Sonne und Hügel, ein großes Tor, das im Schein des untergehenden Lichts funkelte.
Aber heute war es nicht schön. Es war kalt. Es regnete.
Der Nebel waberte zwischen den trostlosen Grabsteinen und schien ihn
(Jan! Jan!)
zu rufen. Graue Schleier bedeckten die Erde und versperrten den Blick auf den Boden, der jetzt nichts weiter war als ein tiefer Abgrund unter diesem Meer aus Rätseln. Leises Wispern umspielte seine Sinne und der Wind streichelte sacht seine Gliedmaßen. Er blickte in den Nebel und fragte sich, wie viele Menschen im Lauf der Geschichte darüber nachgedacht haben, was jenseits des Nebels liegt.
Niemand.
Alle.
Jan blickte in den Nebel und stellte sich diese Frage: Was liegt dahinter? Etwas so dunkles, dass die Grauen uns jederzeit davor beschützen. Niemand weiß, was dahinter ist. Wir können nur hineinblicken und unsere Träume vergessen.
Jan wusste, dass sie ihn beobachteten. Er wusste, dass sie ihn nie aus den Augen gelassen hatten. Er wusste, dass sie miteinander sprachen. Er wusste nur noch nicht, welche Rolle er bei dem, was sich da zusammenbraute, spielen würde.
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2009
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