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Lights will guide you home
- Chris Martin



Jonas zuckte unwillkürlich zusammen, als der Wind heulend über das Land fegte. Der Nordwind trieb die Temperaturen auf unter Null Grad Celsius, und selbst unter seiner dicken Daunenjacke bekam Jonas – oder Jatze, wie ihn sein Vater immer nannte – eine Gänsehaut. Seit einer Stunde schon wanderte er jetzt diese verlassene Landstraße entlang, und eine Weitere stand ihm noch bevor.
Keine Sterne leuchteten. Auch dem Mond schien dieser Wind nicht geheuer zu sein, denn er versteckte sich hinter einer großen schwarzen Wolke, die den ganzen Himmel verschlang. Nur als flüchtiges, schemenhaftes graues Leuchten schien er manchmal nachsehen zu wollen, ob die Welt noch in Ordnung, ob sie überhaupt noch da

war.
Die Arme fest um den Körper geschlungen, blickte Jonas auf die Landschaft, die sich um ihn ausbreitete wie ein Sumpf: blasse, unwirkliche Flächen aus nackter Erde, die zu beiden Seiten der Straße zuerst sanft, dann immer stetiger abfielen; links der Straße konnte er die kleinen gelben Rechtecke sehen, die wie Augen nach ihm zu suchen schienen, obwohl er wusste, dass es nur das Licht war, das in den Häusern brannte, die am Fuß dieses Hügels standen; rechts fiel das Land in eine tiefe Senke, durch die sich eine kleine Straße schlängelte, auch wenn er sie bei dieser Dunkelheit nicht hätte sehen können. Um Fleischwunden zu behandeln, verwende Erde; um Erdwunden zu behandeln, verwende Fleisch

, hatte er mal irgendwo gehört. „Da bräuchte man `ne ganze Menge Fleisch, um diese

Wunden zu füllen“, sagte er leise und lächelte sogar schwach. Der Wind legte noch mal nach und blies jetzt noch stärker und kälter.
Jonas ging weiter. Ihm war nicht wohl. Er ging nie

gern in der Dunkelheit irgendwo

hin, und in der Regel achtete er immer darauf, nicht zu spät aufzubrechen, aber diesmal hatte er einfach die Zeit vergessen. Er hörte – sogar durch das Heulen des Windes hindurch – das leise Klacken lebloser Blätter, die über die Straße liefen wie von Geisterhand bewegt. Aber da war noch ein Geräusch. Es klang wie...
Es klang wie das dumpfe auftreten schwerer Füße auf den nassen Boden. Wurde er verfolgt? Jonas blieb stehen und drehte sich um, konnte aber nichts sehen außer Dunkelheit. Auch das Geräusch war verschwunden, wie
(Blätter im Wind)


ein schlechter Traum. Doch nur Einbildung

, dachte er. Aber er war nicht zufrieden mit dieser Erklärung. In weiter Ferne krächzte eine Krähe. Jonas wunderte sich noch, dass bei diesem Wetter sogar noch ein Vogel unterwegs war, als ein großer Blitz über den Horizont flackerte und die Welt in eine surreal albtraumhafte Verzerrung der Wirklichkeit verwandelte. Wenig Später grollte der Donner. „Jetzt aber schnell“, sagte Jonas, eher um sich durch den Klang seiner Stimme zu beruhigen als sich zu ermahnen.
Er ging weiter. Im Nacken hatte er dieses Kribbeln, dass man bekommt, wenn man beobachtet wird. Jonas achtete nicht darauf.
Nach etwa zehn Minuten erreichte er einen kleinen Wald, der sich wie eine schwarze Wand vor ihm auftürmte. Jonas hatte diesen Wald schon tausend Mal durchquert, aber das war immer tagsüber gewesen. So bedrohlich hatte er noch nie gewirkt. Er blieb stehen und sah die Wipfel der Bäume an, die scheinbar über dreißig Meter hoch zu sein schienen und sich im Wind wiegten. Mit einem ängstlichen Blick über die Schulter und einem Kloß im Hals setzte er seinen Lauf fort.
Im Wald war es stockdunkel, sogar noch dunkler als zuvor. Er sah sich beunruhigt von einer Seite zur anderen um. Die Bäume schirmten den Wind großteils ab, sodass die Stille bedrohlich von überallher auf ihm lag wie eine schwere Decke. Diese Stille. Diese unerträgliche Stille! Das Heulen des Windes war ihm um einiges lieber als dieses Schweigen, dieses Luftanhalten

. Würde ihn jemand verfolgen, könnte er es genau hören. Er würde die Stapfgeräusche hören. Er würde hören, wie das Atmen immer näher käme, bis es zu einem unerträglichen Dröhnen anschwoll. Er würde hören, wie das Messer aus seiner Scheide gezogen werden würde, um suchend nach einem Ziel durch die Nacht zu blitzen und Jonas’ Leben zu beend...
Schluss jetzt! Wieso denkst du so etwas?,

wollte sein Verstand wissen.
Ganz einfach

, antwortete seine Vernunft. Weil es passieren

kann.
„Tse, das glaubst du doch wohl selbst nicht“, sagte Jonas laut, als hinter ihm ein Ast zerbrach. Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein Herz raste. Der Schweiß bedeckte seine Haut wie eine Hülle. Seine Augen traten hervor und versuchten, in all der Leere doch noch eine Bewegung ausfindig zu machen. Die Angst schien übermächtig zu werden.
Keinen Mucks, sei still, hör genau hin

, warnte sein Verstand. Und das tat er auch. Er hörte auf jedes noch so winzig kleine Geräusch, jeden Laut. Er hielt die Luft an. Als die Anspannung so unerträglich wurde, dass er fast darunter zusammengebrochen wäre, ging er weiter. Seine Schuhe knirschten mit jedem Schritt über den unbefestigten Weg, und bei jedem Aufsetzen kniff er die Augen fest zusammen, als könne er so das Geräusch wegwischen.
Er ging weiter. Die Arme vor der Brust verschränkt und mit der Hand des einen Armes immer den Ellenbogen des anderen umfasst. Er sah sich mach allen Seiten um, versuchte in dem Dickicht der Bäume etwas zu finden; egal was. Seine Gang beschleunigte sich. In seinem Rücken spürte ein seltsames Zucken.
Er pfiff eine Melodie; er versuchte es zumindest. Seine trockenen Lippen ließen kaum einen anständigen Ton zu. Das Pfeifen sollte ihn eigentlich beruhigen, obwohl es ja keinen Grund gab, so ängstli...
Eine Krähe – vielleicht die Selbe wie vorhin? – krächzte knapp oberhalb seines Kopfes, und jetzt rannte Jonas so schnell es seine Beine zuließen. Mit großen Schritten flüchtete er vor dem, was hinter ihm lauerte. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter rannte er, und er wäre weiter gerannt, wenn sein Fuß sich nicht in einer Wurzel, die ein Ausläufer einer sehr hohen Eiche war, verfangen hätte. Jonas schlug der Länge nach hin.
Über den Bäumen zeigte der Mond seine ganze Pracht.
Die Sterne vertrieben die letzten Wolken.
Der Wind verstummte.
Die Welt hielt den Atem an.
Jonas lag im Dreck und war für kurze Zeit außerstande, sich zu bewegen.
Beweg dich!,

hämmerte sein Verstand. Jonas hob den Kopf und sah mit verschwommen Blick in den Wald, während einer langer Blutfaden aus seinem Mundwinkel auf den Boden tropfte. Er stützte sich auf die Arme. Alles drehte sich. Aber er musste weiter.
Er stand auf. Die ersten Schritte taumelte er, bis er schließlich wieder klar im Kopf war. Hinter ihm brach ein weiterer Ast, dann noch einer und noch einer. Jonas rannte.
Die Welt um ihn herum verwandelte sich mit einem Mal in eine silberne Grasfläche, als er den Wald und all seine Schrecken hinter sich ließ. Nebel sammelte sich in Mulden zu beiden Seiten der Straße und ließ das Mondlicht seltsam schimmern.
Die Straße war ein grauer Fluss, der den Hügel hinab floss und schließlich – in greifbarer Nähe – seine Quelle wieder fand. Der Mond beleuchtete mit unheimlichen Glanz das Dach, und die Fenster waren schwarze
(Augen)


Flächen. Jonas blickte auf sein Haus und war einfach nur noch froh, denn jetzt wusste er, dass alles gut werden würde. Hinter sich – im Wald – hörte er ein bedrohlich nahes Rascheln. Er achtete nicht weiter darauf, sondern ging weiter.
Das Rasseln der Schlüssel, als er sie herauszog, war unbeschreiblich schön: so hört sich Erleichterung an. Jonas ging ins Haus, drehte sich noch mal um und zeigte der Dunkelheit den Mittelfinger seiner linken Hand, da die Rechte durch den Sturz in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Jonas schloss die Tür. Jetzt – in Sicherheit – konnte er kaum glauben, dass er noch vor ein paar Minuten durch den Wald der tausend Schrecken gerannt war wie ein Wahnsinniger. Aber – wie hieß doch das alte Sprichwort der Waliser? Es ist leicht, hinter Burgmauern tapfer zu sein.
Kann sein.
Jonas ging durchs Haus und schaltete sämtliche Lichter in allen Zimmern ein.
Besser. Viel

besser.
Er stand im Wohnzimmer. Nahe der Glastür stand ein kleiner Busch, der den Anfang einer langen Hecke markierte und so sein Grundstück begrenzte. Und genau in diesem Busch glaubte Jonas, eine Bewegung gesehen zu haben. Er näherte sich der Tür und hätte schwören können, ein paar gelbe leuchtende Augen hätten ihn angestarrt. Es könnte aber genauso gut das Licht einer in der Glasscheibe gespiegelten Glühbirne gewesen sein.
Mit dieser Erklärung war er mehr als zufrieden. Er ging ins Bett, ohne sich die Zähne zu putzen oder auch nur die Sachen auszuziehen, sagte der Welt gute Nacht und schlief ein.
Am nächsten Morgen würde er dann die Abdrücke an der Verandatür sehen. Die Abdrücke, die von einem an die Scheibe gepressten Gesicht stammten, das ihn beobachtet hatte. Das auf ihn gelauert

hatte. Dem er entkommen war.
Von all dem wusste Jonas noch nichts.
Egal wer – oder was – ihn beobachtet hatte, es war verschwunden. Wie Blätter im Wind.
Aber wie alles vom Wind fortgetriebene, kommen auch diese eines Tages wieder zurück.


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Tag der Veröffentlichung: 02.03.2009

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