Saß, der Seele Brand beschwichtend,
keine Silbe an ihn richtend,
Seine Feueraugen wühlten
mir das Innerste empor.
Saß und kam zu keinem Wissen,
Herz und Hirn schien fortgerissen
- Edgar Allen Poe, Der Rabe
„Was wirst du tun, wenn wir ihn erwischen?“, fragte Heiko, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
Mark saß auf dem Beifahrersitz und sah aus dem Fenster. „Was glaubst du, was ich tun werde?“, erwiderte er zornig. Er tastete nach seiner 9-Millimeter, die in seinem Halfter steckte. Es war ein gutes Gefühl, die Konturen der Waffe durch den Jeansstoff zu spüren.
Heiko sah besorgt zu seinem Partner. Sie gingen nun schon seit über zwölf Jahren zusammen auf Streife, aber so hatte er ihn noch nie erlebt. „Nein, Mark. Bitte mach das nicht. Niemand hat den Tod verdient, auch er nicht, und...“
„Nicht verdient?“, unterbrach ihn Mark und sah ihn ungläubig an, wie einen Geisteskranken. „Hast du vergessen, was er mir angetan hat? Was er meiner Tochter angetan hat?“
„Nein, natürlich nicht“, versuchte Heiko ihn zu beschwichtigen, aber Mark fuhr fort.
„Sie hat einen Menschen ermordet.“ Er klang hysterisch.
„Woher willst du wissen, dass dieser Typ etwas damit zu tun hat?“
Mark blieb kurz der Atem weg. „Sie ist erst acht Jahre alt!“, schrie er. Heiko blieb stumm. Mark sah wieder aus dem Fenster. Das Schreien hatte gut getan. Ein gutes Gefühl. Nach einer kurzen Zeit brach Heiko das Schweigen. „Und wenn es ein Unfall war?“ Mark ballte seine Faust, atmete tief durch und entspannte sich wieder ein wenig.
Bis ihm die Bilder wieder einfielen.
Der Körper des kleinen Jungen, der, wie Heiko sagte, ,versehentlich´ über die Brücke geschubst worden und fast zweihundert Meter in die Tiefe gestürzt war, als die Klasse gerade auf einem Wandertag war. Geschubst, von seiner
Tochter in den Tod geschubst. Von seiner kleinen, wunderschönen Ellie. Er hörte noch das Schreien seines kleinen Mädchens, als er etwa zehn Minuten später eintraf. Wie sie verstört dagestanden und geschrieen hatte. Er hatte sie sofort nach Hause gebracht, versucht, für sie da zu sein.
Aber weitaus schlimmer waren die Tage danach. Sie schlief nicht mehr. Sie aß nichts mehr. Sie sprach kaum noch. Immer wenn Mark fragte, was denn nun passiert sei, hatte sie wieder angefangen zu schreien. Er brachte sie in ein Krankenhaus, wo sie künstlich ernährt wurde. Nach einiger Zeit ging es ihr auch wieder besser. Sie schlief wieder. Sie sprach wieder. Als Mark sie eines Tages – drei Wochen nach dem Unfall
– erneut fragte, was da auf der Brücke geschehen war, befürchtete er bereits einen weiteren Schreianfall. Ellie aber schrie nicht. Sie sagte nur immer wieder ein Wort: Uram
.
„Ellie, wer oder was ist Uram?“, fragte Mark besorgt, nachdem sie aufgehört hatte.
„Er ist der Nimmermehr“, flüsterte Ellie. Ihre Augen waren hervorgetreten, als hätte sie Todesängste. „Er lässt uns hassen.“
Mark musste sich weit vorbeugen, um seine Tochter verstehen zu können. Er schluckte. „Uns?“, fragte er zaghaft. Ellie nickte langsam. „Er weiß Dinge“, sagte sie noch leiser. „Er nimmt uns unsere Seelen. Er ernährt sich von unseren Schmerzen. Er besucht mich in meinen Träumen.“
Er lässt uns hassen
. Was hatte das zu bedeuten?
„Hat er gesagt, dass du den Jungen schubsen sollst?“, fragte Mark heiser.
Ellie nickte langsam.
„Da ist es“, sagte Heiko. Mark schreckte aus seinen Erinnerungen auf. Sie hielten vor einer alten Lagerhalle, weit außerhalb der Stadt. Gewitterwolken brauten sich zusammen, während die beiden Polizisten aus ihrem Wagen stiegen. Mark ging entschlossen auf die alte Metalltür zu, durch die man die Lagerhalle betreten konnte. Heiko trottete hinterher.
„Bist du sicher, dass er hier ist?“, fragte er.
Mark betrachtete die Tür, auf der in verblassenden roten Buchstaben KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE stand. „Ein paar Zeugen haben gesehen, wie er am Tag vor dem ... Unglück mit meiner Tochter gesprochen hat.“ Er ballte seine Fäuste. „Sie sagten, dass er in einer verlassen Lagerhalle weit draußen
wohne, wie sie es ausdrückten. Und da das hier die einzige Lagerhalle im Umkreis von fünfzig Kilometern ist...“
„Aber es ist nicht klar, dass er wirklich der ist, den du suchst“, unterbrach Heiko ihn. Mark vergrub seine Fingernägel so tief in den Fäusten, dass er sich selbst schnitt. Es war ein gutes Gefühl. „Und wenn er es wirklich ist“, fuhr Heiko fort, „frage ich mich, weswegen du ihn – verhaften willst.“ Er konnte nur hoffen, dass sein Partner nichts schlimmeres tun würde.
Ohne zu antworten, öffnete Mark die Tür und ging den dunklen Korridor entlang. Er war nicht lang, und bereits nach etwa hundert Metern kamen sie zu einer zweiten Tür. Als Mark sie gerade öffnen wollte, legte ihm Heiko eine Hand auf die Schulter.
„Ich bitte dich, mach das Richtige“, sagte er. Mark hielt kurz inne. Er erinnerte sich noch einmal an seine Tochter.
Er lässt uns hassen
.
„Warte hier“, sagte er. Er hatte seinen Entschluss gefasst.
Die Tür fiel mit einem abartigen Quietschen ins Schloss, als Mark sie wieder schloss. Er stand in einer großen Halle. Neonlicht flackerte nervös in schmutzigen Leuchtröhren. Es war stickig. Es stank. Mark ging die lange Treppe entlang, die Waffe gezogen und schussbereit auf Hüfthöhe haltend. Er sah sich um. Es war nicht leicht, bei dem schwachen Licht etwas zu sehen.
Dann fiel sein Blick auf eine kleine Gestalt, die sich unter der Treppe an eine Wand kauerte. Mark konnte es nicht länger abwarten. Aber er würde ihn nicht einfach abknallen. Nein, das wäre zu einfach. Vielleicht zuerst in die Kniescheiben? Oder die Finger brechen?
Das war schon besser. Gerechter
.
Niemand hat den Tod verdient, auch er nicht
. Heikos Stimme, die ihn ermahnte.
Mark verdrängte es. Jetzt war der Zeitpunkt für Rache.
Der Mann bemerkte ihn. Wie benommen blickte er mit müden Augen auf. So wie er aussah, hatte er seit über zwei Wochen nicht mehr geduscht. Er trug nur ein verschwitztes, vergilbtes Unterhemd und eine ausgeblichene Jeans. Seine verfetteten Haare hingen von seinem Kopf wie tote Raupen.
Mark richtete seine Waffe auf den Mann. Mit eiserner Stimme fragte er: „Bist du Uram?“
Der Mann lächelte erschöpft. „Wenn Sie wollen, dann bin ich das.“
„Wie meinst du das?“ Marks Geduld hing ohnehin schon an einem seidenen Faden, auch ohne dass dieser Kerl seine dummen Spielchen spielte.
„Ich habe viele Namen“, fuhr Uram fort. „Manche nennen mich den Sandmann, andere den Todesengel.“ Er hielt kurz inne und sah Mark in die Augen. „Aber für die meisten bin ich der Nimmermehr.“
Mark entsicherte seine Waffe. „Ach ist das so?“, fragte er gereizt. Er umklammerte mit dem Zeigefinger den Abzug. Er wollte ihn nur noch töten. Bestrafen für das, was er seiner kleinen Ellie angetan hat. Er wollte...
„Ihre Frau hat sie verlassen“, sagte Uram plötzlich. Woher wusste er das?
(Er weiß Dinge)
„Wissen Sie, warum sie Sie verlassen hat? Ich kann es Ihnen sagen.“
Mark war überwältigt. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. „Ich weiß zwar nicht woher du das weißt“, sagte Mark schließlich, „aber...“
„Sie hat sich mit Ihrem Partner getroffen. Heiko.“ Er sah Mark mit blutunterlaufenen Augen an.
Mark ließ die Waffe sinken. „W-was?“, stotterte er.
„Sie hat Sie seinetwegen verlassen“, sagte Uram und blickte Mark an, als würde er es wirklich bedauern. „Dabei war sie so hübsch. Wie Ihre Tochter.“ Er leckte sich die Lippen.
Mark richtete seine Waffe jetzt wieder auf Uram. „Du Schwein!“, schrie er. „Was hast du mit ihr gemacht?“
Uram saß regungslos da. „Ich habe nichts getan“, beteuerte er. „Ich hab ihr nur die Wahrheit erzählt. So wie ich Ihnen jetzt die Wahrheit erzähle.“
Tränen traten Mark in die Augen. Er wusste nicht, warum. Aber es war ein gutes Gefühl.
„Heiko hat sich mit ihr getroffen, aber er wollte sie nicht haben. Er hat ja schließlich auch eine Frau“, sagte Uram. „War es nicht auch Heiko, der Ihre Tochter damals – ich meine vor dem ,Unfall´ – von der Schule abholen sollte? Erinnern Sie sich?“
Natürlich erinnerte sich Mark. Er sank auf die Knie. „Ich hatte keine Zeit“, sagte er.
„Es ist nicht Ihre Schuld. Sie mussten noch Akten ordnen, das kann lange dauern.“
„Er hat sie nicht abgeholt“, sagte Mark wie nebenbei. Uram nickte. „Hätte er sie abgeholt, dann wäre Ellie dir nie begegnet.“
Uram nickte.
Für Mark brach eine Welt zusammen. Heiko, sein bester Freund, der für ihn da war, als Ellie ins Krankenhaus musste. Der ihn immer aufmunterte, wenn er schlecht gelaunt war. Heiko...
Mark stand auf. Die Tränen liefen seine Wangen hinab und fielen auf den staubigen Boden. Ungebändigte Wut quoll in ihm hoch. Heiko! Dieser Bastard! Seinetwegen ist seine Tochter diesem Monster hier begegnet! Seinetwegen ist sie zu einer Mörderin geworden!
„Es ist alles seine Schuld“, sagte Uram und grinste. „Lassen Sie es raus.“
Mark hob seine Waffe und schoss viermal, ehe er sich klar wurde, was er da tat. Uram saß regungslos am Boden. In der Wand bildeten die Einschusslöcher einen Halbkreis um seinen Kopf.
„Es ist alles seine Schuld“, sagte Uram erneut.
Alles seine Schuld
, dachte Mark, während er sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht wischte.
„Tun Sie es. Sie wissen, was ich meine.“
Mark klopfte sich den Staub von seiner Hose.
„Alles wird wieder gut werden.“
Ja, das würde es. Keine Sorge Ellie, alles wird wieder gut.
Keine Tränen. Nur ungebändigte Wut.
(Er lässt uns hassen)
„Heiko?“, rief Mark und lud seine 9-Millimeter nach, „Kommst du mal?“
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2009
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