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Er musste rennen, er musste noch viel schneller rennen, noch viel schneller. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Er zwang sich durchzuhalten, auch wenn seine Lunge sich anfühlte, als wäre sie mit flüssigem Blei gefüllt und seine Beine schon wie von tausenden glühenden Nadeln durchbohrt schienen. Aber Michael durfte nicht auf diese Trotzreaktion seines Körpers auf fast zwanzig Minuten ununterbrochenes Laufen achten. Nicht solange er diese Aura spürte.
Michael lebte schon seit neunzehn Jahren in dieser Stadt; er kannte sie fast auswendig. Die letzten Minuten war er aber orientierungslos durch die Straßen seiner Heimat geirrt, immer auf der Flucht vor diesem Mann mit dem langen schwarzen Mantel und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut. Immer auf der Suche nach einem sicheren Versteck.
Immer auf der Suche nach Erlösung.
In einer dunklen Seitenstraße kam er schließlich zum Stehen. Jetzt konnte er sich eine Pause erlauben. Es war halb sechs Uhr abends, aber trotzdem war es still auf den Straßen. Kein Mensch rührte sich, sogar die Häuser schienen verlassen: Michael hatte noch keinen einzigen Lichtschein aus den Wohnungen dringen sehen.
Die Schneeflocken fielen als einsame Tänzer vom pechschwarzen Himmel herab und erdrückten die Welt. Michael holte keuchend Luft und lies sie als kleine Kondenswolken wieder entweichen. Er hustete. Ihm wurde vor Erschöpfung schwindelig. Jetzt eine Pause, dachte er müde. Ja, jetzt eine Pause. Die hatte er auch nötig. Jetzt konnte er sie sich leisten. Der unheimliche Mann schien auf einmal Kilometer weit weg zu sein. Michael konnte seine Aura nicht spüren, die er die letzten zwanzig Minuten immer gespürt, die ihn immer mit eisiger Kälte gepackt und ihn bei jedem Umschauen hatte glauben lassen, er würde nun von zwei gierigen Händen ergriffen und zu Boden geschleudert werden.
Aber nichts dergleichen war geschehen. Michael stand an dieser Häuserecke und holte mit langen, gequälten Atemzügen Luft. Er blickte um die Ecke auf die Straße hinaus und versuchte, im Dunkel dieses kalten Novemberabends eine Bewegung auszumachen, nur um sicher zu gehen, dass er jetzt auch wirklich diese Pause machen konnte,
(Hast du Angst?)


aber es war nichts auf den Straßen, auch nicht in der anderen Richtung.
(Möchtest du Angst haben?)


Schluss damit!

befahl er sich selbst. Diese beiden Fragen gingen ihm schon seit seiner ersten Begegnung mit diesem Mann vor über drei Wochen durch den Kopf. Dieser gottverdammte Tag, an dem er sich hatte überreden lassen, den Bus und nicht ein Taxi zu nehmen. Dieser gottverdammte Tag, an dem sich dieser Mann neben ihn gesetzt und ihm diese Fragen gestellt hatte. Wie er ihn dabei angestarrt hatte. Wie er dabei gegrinst hatte. So grinst man

, hatte Michael ein paar Tage danach gedacht, wenn man etwas gefunden hat, das man schon lange sucht

. Er hatte sich selbst über diesen Gedanken gewundert, aber nun war es offensichtlich: Dieser Mann hatte nach ihm gesucht.
Und gefunden

. Michael erschauerte. Er musste plötzlich wieder an die zweite und bis dahin letzte Begegnung mit dem unheimlichen Mann denken, acht Tage nach dem Treffen im Bus. „Am Beisetzungstag meiner Schwester“, sinnierte er und bemerkte nicht, dass er laut sprach. Die bunten Blumenkränze hatten an diesem grauen Tag fast grotesk gewirkt. Alles war ruhig verlaufen. Tränen und Trauer waren die einzigen Dinge in Michaels Welt gewesen, zumindest in dem Moment, in dem der Sarg in die Erde gelassen wurde und der Pfarrer seinen Segen gegeben hatte.
Michael wusste noch den genauen Wortlaut des Gespräches, das er und der Mann mit dem langen schwarzen Mantel und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut geführt hatten, nachdem er den Friedhof verlassen hatte.
„Hast du Angst?“ – „Nein“ – „Möchtest du Angst haben?“ – „Was wollen Sie? Lassen Sie mich bloß zufrieden!“ – „Siehst du den Staub?“ – „Was? Verschwinden Sie, verdammt!“ – „Nein? Das ist schade“ Stille. Michael wandte sich um, als der Mann wieder ansetzte. „Soll ich dir den Staub zeigen?“ – „Was zum Teufel ...“ – „Hast du Angst?“ – „Wenn Sie mich nicht sofort in Ruhe lassen, zeig ich Ihnen mal die Angst! Ich habe keine Angst vor Ihnen und ich werde auch nie Angst vor Ihnen haben! Sie widern mich an!“ Und dann lachte der Mann und sagte: „O doch, du wirst Angst haben“ Der Mann, so fiel Michael jetzt auf, war todernst, als er dann noch hinzufügte: „Ich werde dir den Staub zeigen und dann wirst du Angst haben“ Danach war er verschwunden.
Aber er war nicht am Friedhof, er war nicht bei seinen Verwandten, er war nicht bei seiner Schwester, die von einem Wahnsinnigen Junkie für ein paar Euro erstochen worden war. Er war im Hier und Jetzt.
Er war an dieser Häuserecke.
Er war an dieser Häuserecke und beobachtete die immer größer werdenden Schneeflocken, wie sie leise vom Himmel fielen und die einzigen Zeugen dieser schwärzesten Zeit im Leben von Michael waren. Ihm war kalt, ihm war schwindelig, in jedem Körperglied schien Taubheit zu stecken, er hatte ...
Hatte er Angst?
Unsinn

dachte er mit großem Nachdruck, aber der Gedanke kam wieder.
Habe ich Angst?
Nein!
Habe ich Angst?
NEIN!
Habe ich Angst habe ich Angst hast du Angst habe ich Angst möchtest du Angst haben habe ich Angst soll ich dir den Staub zeigen habe ich Angst habe ich Angst HABE ICH ANGST?


Er schlug sich selbst hart ins Gesicht.
Habe ich Angst habe ich Angst habe ich Angst...


Er presste seine Fäuste so hart gegen die Schläfen, dass sich seine Kopfschmerzen zu einem tiefen Grollen verstärkten.
...habe ich Angst habe ich Angst habe ich Angst...


Er biss sich in den Arm. Hautfetzen lösten sich und kleine Rinnsale Blut strömten seinen Arm hinab, tropften auf den Boden und hinterließen im Schnee schwarze Spuren. Tränen brannten auf seinen Wangen, auf die die Kälte rote Rosen gezaubert hatte.
Und auf einmal waren die Gedanken verschwunden. Verbannt. Das Gefühl war so überwältigend, dass er seine Schmerzen für einen kurzen Moment vergaß.
„Danke, Gott“, seufzte er. Doch dann hielt er den Atem an.
„Nein“, sagte er tonlos. „Nicht Gott. Gäbe es einen Gott, hätte er mich nicht in diese Lage gebracht. Nein. Nicht Gott. Ich. Ich

habe die Gedanken verbannt, habe die Stimmen verstummen lassen, habe...“
...mich in diese Lage gebracht...
Das stimmt nicht.
...habe den Staub verschwiegen...
Nein.
...ein wüstes Werk...


„Ein wüstes Werk...“
...ein Mantel des Schweigens um die Herzen der Menschen...


„... ein Mantel des Schweigens um die Her...“
...Augen die hinausstarren, Augen aus Hass, Augen die in den Gedanken bohren...


„...was?“
...erstickende Leere, Schwärze erdrückt die Welt, nur Schatten an der Wand...
...Lauf!

Michael sprang erschrocken auf. „Nein“, keuchte er. Oh, bitte nicht, oh bitte, lass es nicht wahr sein.


Die Aura war wieder da.
Er zögerte keinen Moment. Er lief, lief die kleine Seitenstraße entlang. Plötzlich durchfuhr ihn ein Blitz aus Schmerz, strömte in seine Glieder. Er taumelte und fiel rückwärts um. Er brauchte einige Sekunden, um sich wieder aufzurappeln. Aber was um alles in der Welt...
Sackgasse! Michael erkannte jetzt die dunkle Ziegelmauer, mit der er zusammengestoßen war. Er drehte sich um, damit er die verbrauchte Zeit wieder aufholen konnte. Aber er blieb stehen.
An der Einfahrt zu der Seitenstraße befand sich etwas. Schwärze in der Schwärze, ein Dunkel im Dunkel, ein...
...ein Schatten an der Wand

, dachte Michael erschöpft.
Er wusste, dass es jetzt zu spät war; aber war es das nicht schon damals im Bus? Hatte er jemals etwas tun können? Nein

war die Antwort. Die einzige Antwort. Die richtige

Antwort. Er sah dem Mann mit dem langen schwarzen Mantel und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut an – nicht, dass er ihn wirklich sehen konnte. Er spürte es einfach. Was ist das für ein Spiel, das du hier mit mir spielst?

wollte er brüllen. Doch als er sich noch seine Gedanken zusammensuchte, hörte er eine Stimme, die tief in seinem Kopf zu sein schien. Michael wusste, dass das die Stimme dieses Mannes war, und ihm wurde jetzt klar: Es war immer der Mann. Das Schweigen, die Leere, die Schwärze.
Kein Spiel

, sagte die Stimme. Wenn das ein Spiel wäre

, fügte sie – er

– dann hinzu und verstummte. Michael wusste, was er sagen wollte. Er rutschte erschöpft die Ziegelmauer hinunter, an die er sich zurückgezogen hatte.
„Wenn das ein Spiel wäre“, begann er langsam mit tränenbeladener Stimme, „dann hätte ich eine Chance auf den Sieg.“
Ein eisiger Nachtwind blies die Wolken fort und legte den Vollmond mit seiner höhnischen Fratze frei. Es war das erste Licht, das Michael seit tausenden von Jahren – so schien es – gesehen hatte. Jetzt konnte er seinen Peiniger in voller Pracht sehen.
Er lachte ein widerliches Lachen, bei dem Michael Gänsehaut bekam.
„Hast du Angst?“, fragte er. Michael antwortete nicht. Er saß nur da und weinte, den Kopf in die Hände gestützt. „Möchtest du Angst haben?“, fügte der Mann hinzu. Jetzt konnte Michael genug Kraft zu einer Antwort aufbringen: „Was wollen Sie?“, fragte er mit schwacher Stimme.
„Ich möchte, dass du Angst hast“, sagte der Mann, als rede er mit einem kleinen Kind. „Was wäre das für eine Welt, wenn die Menschen keine Angst hätten?“ Er ging langsam auf Michael zu. Als er dann wieder anfing zu sprechen, war er ganz ernst. „Es ist ein wüstes Werk, das die Menschen zu tun pflegen.“
Ein wüstes Werk

.
Michael sah auf. Er sah dem Mann direkt in die Augen.
Augen die hinausstarren

, dachte er.
„Hast du Angst?“
Ein Mantel des Schweigens um die Herzen der Menschen...

„Möchtest du Angst haben?“
...erstickende Leere, Schwärze erdrückt die Welt...


„Siehst du den Staub?“
...nur Schatten an der Wand.


Der Mann sah weiter auf Michael herab. Michael sah weiter dem Mann in die Augen.
„Ich hab keine Angst“, sagte Michael. Es war seine letzte Lüge.
Der Mann grinste wieder. Als hätte er sich diese Antwort gewünscht.
„Nicht? Das ist schade.“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war beißend. Er hielt einen kurzen Augenblick inne. „Möchtest du Angst haben?“
Michael schüttelte nur den Kopf, jetzt den Blick wieder auf den Boden gerichtet.
„Los. Ich zeige dir den Schmerz.“
„Nein“, sagte Michael müde.
„Ich zeige dir wie es ist, alles zu verlieren.“ Der Mann näherte sich Michael langsam.
„Nein“, hauchte Michael.
„Los. Ich zeige dir die Qual.“ Er stand jetzt unmittelbar vor seinem Opfer. „Ich zeige dir wie es ist, auf ewig verdammt zu sein.“
Michael hatte keine Kraft mehr, um etwas zu sagen.
„Los", sagte er. "Ich zeige dir die Angst.“ Michael sah dem Mann mit dem langen schwarzen Mantel und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut noch ein letztes Mal in die Augen. Aber an ihre Stelle war jetzt ein unheimliches rotes leuchten getreten. Augen aus Hass. Augen, die in den Gedanken bohren.
„Ich zeige dir die Angst in einer handvoll Staub!“
Der Mann streckte seine Hände
(gierige Hände)


nach ihm aus. Das Letzte, was Michael hörte, war das Lachen des Mannes und sein eigener Schrei, der in der Dunkelheit verhallte.

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Tag der Veröffentlichung: 21.02.2009

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