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1. Halbzeit

 

Das Leben hat gegen den Tod verloren, aber die Erinnerung

gewinnt in ihrem Kampf gegen das Nichts. 

Tzvetan Todorov

 

 

 

Wir sind von Anfang an einem Rückstand hinterhergelaufen. Null-Drei nach nicht mal 10 Minuten. Man sollte nicht auf jede Herausforderung reagieren, besonders wenn der Vorschlag dazu vom AF kam, vom alten Faschisten, seines Wesens nach grauer Gauleiter Deutsch mit Nebenfach Sport und jetzt Trillerpfeife im wässrigen Mundwinkel. Immer kurz vor El Alamein und Erreichen der Pensionsgrenze.

 

Alles wurde geteilt in dieser halben Stadt, auch unser Sportplatz. Verdammte Carl-von-Ossietzky-Penner. Kein Vergeben, kein Vergessen, aber leider gespickt mit Vereinsspielern.

 

Bei uns davon nur zwei: Bodo, ein fleißiger Arbeiter am Ball und Ilkay, für den Siege auch immer ästhetisch begründet sein mussten. Einsam sind die Tapferen. Flink wie Kruppstahl, hart wie Windhunde, schnell wie Leder und zäh wie Wiesel, oder so ähnlich.

 

Bodo ertrug die ständigen Hänseleien und Zurechtweisungen von AF stur, stumm und verbissen, Ilkay lachte nur darüber. Zuverlässig.

 

Ilkay, der mich regelmäßig im Schach vernichtete, auch mal wütend meine Figuren zurückstellte, wenn er meinen Angriff zu dumm vorgetragen und meine Verteidigung einfach lachhaft fand. Als er sechs Jahre alt war, hatte er zusammen mit seinem Vater mitten in der Nacht live den „Rumble in the Jungle“ verfolgt, der schönste Moment am Ende, als Ali den entscheidenden Schlag gesetzt hatte, sein Gegner taumelte, in einer seltsamen Spirale sich abdrehte, um schließlich gefällt auf den Ringboden zu krachen. Ali hätte noch mal nachsetzen können, aber er tat es nicht, nicht, weil er schon wusste, dass er genug getan hatte, sondern um nicht die Schönheit von Foremans Fall zu zerstören. Das war er, der Moment der perfekten Verbindung von Schönheit und Wissen und Kraft, eingelöst im Moment des Sieges.

 

Und ich?

 

Aus den Untiefen des Raumes japsend, schwerstatmend und beinahe bluthustend nach einer Feldlänge Kurz-Spurt. Zwei gegenläufig schwengelnde pubertäre Fettkugeln kurz vorm Kollaps.

 

Und hier?

 

Freitag, letzter Maitag 1985. Morgen würde ich 16 werden und hätte wieder einmal ein ganzes Wochenende zum Bereuen und Sühnen übrig.

 

Das erste Gegentor war ein Überraschungsknaller, wir waren noch gar nicht richtig sortiert, eingezogen und verriegelt. Der nächste Treffer entsprang im Wesentlichen unserer kollektiven Fehleinschätzung, die da drüben würden es doch nicht gleich zweimal auf dieselbe plumpe Weise abziehen wollen. Taten sie aber.

 

AF mit seinem Messerschmitt-Messerformschnitt: „Herrschaftszeiten! Ein Hühnerhaufen stürmt organisierter als Ihr!“

 

Wie immer bei diesen Wutanfällen, trat eine violette Ader auf seiner Stirn gespenstisch hervor.

 

Dann die dritte Welle, ein Angriff, der, geboren aus einer Flut von Möglichkeiten, sich am Anfang eines scheinbar ungünstig positionierten Gegenspielers bediente, der jedoch eine Idee, eine Vorstellung des perfekten Spiels weiter trug, das eben genau das war, reines Spiel, unorthodox tänzelten sie um den Ball und immer wieder um uns herum, mit breiten Grätschenschritten und unerwarteten Wendungen, dann wieder staffettenartig über alle Köpfe hinweg wie Mondbälle in eigenartigen Lupfern, der Ball ein Frosch auf unzähligen Herdplatten, zurückgespielt, als alle einen Kurzpass zur Seite erwarteten, unsere gesamte Abwehr ausgehebelt und überwunden und dann, fast beiläufig, mit einer so leichten Spur Arroganz eingeschoben, ein hintersinniges Lächeln auf ihren Lippen. Eine Lektion auf großem Raum. Noch schlimmer als ein halbstündiges Dribbling mit einem Gegner in einer Telefonzelle, bei dem man selbst nicht einmal an den Ball kommt.

 

AFs Ader war kurz vorm Platzen, aber das war uns egal. Wir waren mehr als geschlagen. Untalentierte Schauspieler einer uninspirierten Inszenierung, Ausführende eines ausgelutschten Regiekonzepts, wo jeder einfach nur noch so über die Bühne latscht. Weitermachen, weil man leider immer noch aufm Platz ist, wo angeblich wichtig ist.

 

Ich hatte Bodo mal gefragt, welches seiner vielen Spiele im Verein ihm am besten in Erinnerung geblieben war. Seltsamerweise waren es gleich zwei, deren Ausgang für Bodos Mannschaft aber keinerlei Bedeutung mehr hatte, jenseits von gut und böse in der Tabelle. Der Gegner, ein Meisterschaftsaspirant und ein Abstiegskandidat, sie gingen Eins-Null in Führung, die Kameraleute der lokalen Zeitungen bauten sich vor der Bank ihres schon baldigen Meister-Trainers auf, ihre Freunde und Familien jubelten, das eine schlimme Saison doch noch ein gutes Ende finden sollte, und dann gelang Bodos Team ganz kurz vor Schluss doch noch der Eins-Eins-Ausgleich. Die Kameraleute zogen gleich wieder ab, die Freunde und Familien heulten mit nach dem Schlusspfiff. Ein komisches, ein herzzerreißendes Bild des Scheiterns, des Jammerns. Ihr hättet sie doch gewinnen lassen können, wandte ich ein. Nein, das ginge nicht, auf gar keinen Fall, so Bodo. Da war er ganz Profi. Wie hatte sein Vater doch einst, nach einer missglückten Anmache, ihm zugeraunt:

 

„Junge, es ist doch so: Du kriegst im Leben immer mehr in die Fresse als Küsse im Dunkeln.“

 

Oder gehässige Kommentare, wie von jener Französisch-Lehrerin, die Bodo nach einer missglückten Leseprobe anraunzte:

 

„Sag doch gleich, Konfjanze beut tuärrh!!“

 

Da war es schon besser, man hörte nicht richtig zu, so wie Ilkay, der, an biologischen Lernerfolgsfragen eher uninteressiert und einen Moment unaufmerksam, die schnelle Stille-Post-Info seines Nebenmanns so auslegte:

 

„Ilkay, welches sind die Haupt-Risikogruppen bei AIDS?“

 

„Homosexuelle und Wichser.“

 

(Der Nachbar hatte eigentlich: Fixer gesagt.)

 

Manchmal gab es aber auch mal nichts in die Fresse, sondern im Gegenteil unerwartete Triumphe, unvergesslich z.B. Bodos Jubelschrei, als er nach der Rückgabe einer schon wieder mal verloren geglaubten Französisch-Klausur ausrief:

 

„Drei-Minus!!!“

 

Jetzt war aber Null-Drei.

 

Bodo und Ilkay versuchten sich jetzt beide als Motivationstrainer („Los! Schlagen wir jetzt die da drüben…?!?“), was sich jedoch bei unserm Haufen als schwierig gestaltete, denn nach anfänglich völlig unbegründeter Euphorie verbreitete unser Spiel doch nun eher die Aura erschöpfter Hafennutten.

 

In solchen Fällen ist es stets am besten, jedem Einzelnen eine klare, wohldefinierte Aufgabe zuzuweisen. Mir z.B. wurden Ausflüge jenseits des 16m-Raumes mit Rücksicht auf meine angegriffene Kondition und alle Ostverwandten strengstens untersagt.

 

Und das Wunder geschah, nicht von Bern, aber sagen wir: Immerhin Bernauer Straße. Die Angriffe von drüben verpufften zunehmend, wurden mit allen unsichtbaren unfairen Mitteln abgeblockt. Einmal noch versuchten sie drüben einen überraschenden Ausfall, das vierte Tor hätte uns endgültig zerbrochen, aber:

 

Schöne Aktion, Drei Mann gleich bei ihm, schade!

 

Pause. Seitenwechsel.

 

 

 

2. Halbzeit

 

Wir haben in den 80ern keine 80er-Jahre Parties gefeiert.

 

Wir haben Fußball gespielt.

 

In gut einem Monat würde so ein blonder 17 Jähriger Wimbledon gewinnen. Vollkommen unwesentlich jetzt.

 

Seit mehr als zwei Jahren regierte ein fülliger Spätgeborener, der einst von sich behauptet hatte: „In Hölderlin war ich gut.“ Völlig unbedeutend hier. (Wir waren auch nicht gut in Hölderlin.)

 

Manchmal machten wir in der Schule auch Theater. Rollenverteilung, lasst mich den Löwen auch noch spielen. Rolle rückwärts. Zettels Alptraum.

 

Der AF: Potratz, man kann diese Figur hemmungslos albern spielen oder sehnsüchtig und trauernd, man kann sie wie ein Wirbelwind spielen, ein Orkan! oder wie ein schwitzender, niederdrückender Sommertag, man kann sie für das Publikum spielen oder allein gegen die ganze Welt, man kann sie kraftvoll schreitend oder jämmerlich kriechend spielen – so wie Sie, Potratz, kann man sie nicht spielen!“

 

Die violette Ader musste aber jetzt gleich! platzen.

 

13 km vor Moskau, 13 Wochen bis zur Rente als Staatsdiener. (Weil er aber einen Tag zu spät, am 2. September geboren wurde, musste er dann doch noch ein Jahr ranhängen.)

 

Doppelpass Bodo – Ilkay, hundertmal im Training probiert, nie erfolgreich, aber jetzt, einmal in diesem Moment. Bodo zog gleich voll aufs Tor, zum Glück traf er den Ball in seinem Eifer nicht richtig, er touchierte ihn nur, sonst wäre er bei dieser Wut gegenüber im nächsten Haus eingeschlagen, aber so: Satt saß der Schuss im rechten Winkel.

 

Eins-Drei.

 

Fünf Minuten später verknallt es Bodo erneut, Lattenkracher, die Latte rettet nie, tiefer zielen Mann, tiefer, zetert AF, und während die vom Torgedonner erschütterte Hintermannschaft sich noch über die Zuständigkeiten zerstritt, zirkelte Ilkay den Abpraller über sie hinweg in den leeren Kasten.

 

Zwei-Drei.

 

Plötzlich spürten wir, sie wurden nervös. Die unverschämte Leichtigkeit und leichte Unverschämtheit ihres Spiels war verflogen.

 

Ich hätte ihre frühere Arroganz gerne weiter gebrochen gesehen, aber kein Lustschrei, der dann nach unserem Siegtreffer ausgebrochen wäre, wir hatten ja immer noch nicht ausgeglichen, aber bald! bald!, neinnein, ich erinnerte mich an eine Szene, die mir meine Großeltern geschildert hatten: Ein Tag am Meer, einmal raus aus dieser halben, geteilten Stadt, ich, ein Dreijähriger, Knirps, der mit nackten Beinen in der Ostsee watet und nur noch glücklich ist und nie wieder weg will und jubelt:

 

„Hier bleib ich, bis ich ausgelebt bin!“

 

Sechs Minuten noch im Wankdorf Stadion, keiner wankt, alle zittern, der Regen prasselt unaufhörlich… neinnein, kein Regen, dabei hätte es wirklich noch ein schöner Sommer werden können. Noch fünf Minuten, vier, drei…

 

Eckstoß für uns von der linken Seite, Ilkay wird ausführen. Alle sind im Strafraum, auch ich und unser Torwart, unsere letzte Chance, der AF kurz davor:

 

„In Ordnung, wenn ihr bis zum Ende der Stunde den Ausgleich schafft, spielen wir in die Große Pause hinein bis zur Entscheidung.“

 

Das bedeutete: Kein gemeinsames Duschen nachher und einen olfaktorischen Angriff auf alle Mitschüler in den restlichen Stunden des Tages. Voll unwichtig im Moment.

 

Drei kurze Schritte Anlauf, Ilkay schickt den Sputnik auf die Reise.

 

Verwirrung und Laster, Ackerbau und Unzucht, Bodos Ansatz zum Kopfballungeheuer werden unfein die Beine weggesäbelt, ihr Torwart hechtet vorbei, sein Gegenpart hält ihn - „Hab Ihn!“ – sicher am Boden fest, der Satellit zieht weiter, scharf an der Torgrenze entlang, zwei Abwehrspieler noch vor mir, zu nah, zu dicht, sie weichen beide erschrocken aus und nun sind wir beide, der Ball und ich, für einen winzigen Moment zusammen vereint und ganz allein im Universum.

 

Hm, ich hätte ALLES tun können, ALLES! Eine stehende Welle ausbilden, die Rückhand Gottes erfinden, nach vorne stolpern, einatmen, ausatmen, einfach stehen bleiben. Zusehen, wie die lederne Kugel an mir abprallt wie an einer Litfasssäule. Aber all das habe ich nicht getan.

 

Glück ist immer der Moment davor, so sagt man, und…

 

Zwei Herzschläge später war Bodo bei mir, neben mir, über mir:

 

„POTRATZ! Sag, dass es nicht wahr ist, was ich eben gesehen habe, sag, ich träume! --- Nein, es ist kein Traum, es ist wahr, er ist dem Ball AUS-GE-WICHEN…!!!“

 

Ich gebe es ja zu, Sputnik hatte mir eine drängende Frage gestellt und ich hatte mehr als ausweichend geantwortet. Es war… ein Reflex. Fußballer sollten nicht reflektieren.

 

Zwei Minuten später pfiff AF die Partie ab und rannte anschließend davon, ich hoffte, er würde sich mit geplatzter Ader von einer Brücke stürzen. Tat er aber nicht. Die anderen Überlebenden vertrottelten sich in die Duschräume. War ja noch genug Zeit. Nur Ilkay stand immer noch am linken Torpfosten, als ich zu ihm hinüber sah, schüttelte er nur knapp den Kopf und exekutierte:

 

 

„Versager.“

 

 

 

 

3. Halbzeit

 

 

 

Und, sonst so?

 

 

 

„Wo sind eigentlich Ihre türkischen Mitschüler alle geblieben?“, fragte ein knappes Jahr vorm Abi der neue Fachleiter Deutsch und Geschichte.

 

„Ich hatte doch die meisten von Ihnen schon in der 7. Klasse unterrichtet, da sah das hier doch noch ganz anders aus. Also?“

 

Es stimmt, es waren wirklich nur noch wenige da. Ilkay hatte sich freiwillig für ein Jahr zurückstufen lassen, Erfolg musste eben immer auch ästhetisch begründet sein. Und die Anderen? Wahrscheinlich in der 10. Klasse abgegangen, so wie die meisten, wie Bodo z.B., der jetzt C-Jugendtrainer war.

 

Ja, also, keine Ahnung...?

 

„Wissen Sie nicht, was?

Interessiert Sie auch nicht, wie?

Damals, bei den Juden, hat das auch keinen interessiert…!!!“

 

Das war vielleicht ein bisschen arg zugespitzt, aber keiner von uns traute sich, darauf etwas zu erwidern.

 

 

Im Sommer ´89, ich versuchte gerade an der Uni die Spätfolgen des Winterstreiks erfolglos auszukurieren, legte Ilkay sein Einser-Abi ab und trat anschließend in die Bau-Firma seines Vaters ein. Seine erste Amtshandlung bestand darin, die Kündigung jenes Mitarbeiters zu unterschreiben, der ihm schon als Kind immer dumm gekommen war.

 

Bodo lebte da schon nicht mehr. Drei Monate vorher hatte er mit seiner Mannschaft eine Reise zu einem Nachwuchs-Turnier nach Italien unternommen. Als sie siegestrunken nachts zu ihrem Quartier heim torkelten, hätte sie der Fahrer auf der Gegenseite eigentlich sehen müssen. Aber er war auch nicht mehr nüchtern und ist voll in ihre Gruppe hineingerauscht. (Confiance peut tuer.) Bodo war auf der Stelle tot. Es gab keine Bremsspuren und Bodos Henker fuhr einfach weiter. Er wurde am nächsten Morgen im Hotelbett von der Polizei geweckt.

 

Ich bin auf der Beerdigung gewesen, Ilkay konnte das nicht, nicht bei all den Anderen mit dabei sein. (Er ist später, ganz allein dort gewesen.) Bei manchen von ihnen hatte ich auch den Eindruck, sie würden eher widerwillig mit diesem traurigen Anlass daran erinnert, dass wir jahrelang zusammen gelernt und auch gespielt hatten. Das war überhaupt nicht lange her, und doch so voneinander geschieden wie die Überlebenden von den Toten. Und ganz gleich, vor welchen Aufgaben wir in unseren Leben noch gestellt würden, am Ende kam es doch nicht auf Sieg oder Niederlage an, sondern nur auf die einfache Antwort auf die einfache Frage:

 

„Bist du dabei oder nicht dabei?“

(Noch oder nicht mehr?)

 

 

Ich habe keine bewusste Vorstellung vom Jenseits, aber wenn es so wäre, wie wir damals waren, würde dort niemand bestraft für die größten Sünden und Verbrechen, denn die kann ohnehin niemand angemessen wiedergutmachen (das ist absolut unmöglich), nein, ich finde, dort sollte man die gerechte Strafe empfangen für z.B.: All die verwackelten Fotos, die man mit den Apparaten von aufdringlich-freundlichen Touristen noch an der Mauer oder sonst wo geschossen hat, die absichtlich falschen Wegauskünfte, die man ihnen hinterher gab (in einer völlig ummauerten Stadt kehrt irgendwann jeder wieder an den Ausgangsort zurück) und auch alle missglückten Auftritte in Karaoke-Bars oder auf… Lesebühnen.

 

Und dann, dann würde ich es früher oder später zu hören bekommen:

 

„Potratz! Ich habe lange auf Dich gewartet, Baby.

 

Und jetzt… Üben wir… Kopfball!

 

(Wir haben alle Zeit der Unterwelt…!!!)“

 

 

Impressum

Texte: Stephan Potratz
Bildmaterialien: Stephan Potratz
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Bodo und Ikay

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