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Ausgefallene Lektüre

Ausgefallene Lektüre

 

SCHREI...! SCHREI! SO LAUT DU KANNST!!!

 

Hrrmpfhh. Nie wieder Radiowecker.

 

Nie wieder Tokio Hotel.

 

Ganze 4 Stunden geschlafen und immer noch müde. Freiwilliges Resignieren unter völligem Verzicht auf gänzliche Neuheit. Taxi zum Klo mit defektem Navi. Gesichtsdesaster in den Alibert gehalten.

Mit grauem Reif überzogen wie ein im Tiefkühlfach gealtertes Baguette. Unfreiwilliges Rasieren unter gänzlichem Verzicht auf völlige Nacktheit. Wieder ins Schlafzimmer eingefallen.

 

Hm? Eine Frau.

 

Eine Frau? Eine Frau auf meinem Bett?!?

 

Lange her. Ich meine, das mit Frauen auf meinem Bett. Manchmal fing man ja nur was Neues an, bloß damit es mal woanders weh tut. Aber wenn man sich manchmal einfach nicht mehr an sie erinnern kann, ist zu hoffen, dass sie einen auch vergessen haben.

 

Scheint wirklich nicht von mir und von hier zu sein. Altmodische Aufmache. Ebensolche Anmache.

 

- HALLO! Entschuldigen Sie, Gnädigste, kann ich Ihnen irgendwie in meinem Bett behilflich sein?

- Ich heiße Emma.

- Emma...?

- Emma Bovary.

- Ah! (?) Genauso wie die...?

- Sie haben mich nie gelesen, Monsieur. Nie zu Ende aufgelesen. Nur zwei dürre Seiten vom Anfang waren Ihnen einen lieblosen, verhaschten Blick wert.

 

Gut, ich kiffe wirklich zu viel. Sieht man und hört man ja jetzt. Aber das ist nicht das eigentliche Problem, das Problem ist: Ich habe keine Ahnung, nicht die geringste Ahnung, Null, wie man zu Büchern spricht, die man nie gelesen hat. Obwohl...Schon in der Schule hab ich Sachen wie Hamlet oder stinklangweilige Schweizer Dorfnovellen erfolgreich vermieden. Ist nie einem aufgefallen, das Labern auf Meta-Ebene klappte immer ganz gut. Deutschlehrer können ja so dankbar sein, wenn man die sozialkritischen Komponentenkleber erkennt. Als einziger in der Klasse. Aber ich war ja nicht allein, bloß abgeschottet von jeglicher belletristischer oder dramatischer Lektüre dank „SCHOTT Lesehilfen“. Die heutigen Schüler haben´s einfacher:

 

Copy and Paste

Copyright ist Waste.

Oft kopiert und nichts erreicht. Haha. Mein Vater immer, als ich noch studierte.

 

- Wie gedenken Sie sich für diesen Affront zu entschuldigen, Monsieur?

 

Ihre Stimme zittert leicht. Trägt schwarze Netzhandschuhe. Und sie ist eindeutig zu dick für ihre Statur. Der blassviolette Gürtel zerschneidet ihren Körper in zwei Halbkugeln. Ich dachte immer, Madame Bovary sähe so aus wie Isabelle Huppert.

 

- Sie sind nicht so tragisch Gnädigste.

 

Mal ehrlich, genau genommen, find` ich sie nicht dramatisch, bloß dämlich, nicht kathartisch, bloß kläglich. Sie hüstelt ein wenig, versucht vornehm zu wirken.

 

- Ich bin nur die Souffleuse und mir wird es langsam zu eng in meiner Muschel.

- Ich hasse Menschen, die sich zu kurz gekommen fühlen. Flüchte in die Küche, ging, entwich, bin entkommen, Ha! Flüchtiger Blick hinein: ob vielleicht gerade Anna Karenina die Kaffeemaschine blockiert. Nein. Glück gehabt.

 

(Ich brauche dringend Koffein und eine Fluppe, sonst bin ich nicht richtig bei mir!)

 

-Was wohl aus einem werden könnte, wenn die Welt ohne Menschen wäre?

 

Schön, das wünsche ich mir auch gerade. Was? Wer hat da eben gesprochen, das war doch hinter mir. Oh, bitte nein, ich wusste nicht, dass es jetzt so ernst wird. Ich drehe mich langsam um, na, wenigstens sieht sie genauso aus, wie man sie von den paar schwarzweiß Fotos kennt.

 

-Hör mal bitte zu, Anne, das heute ist irgendwie nicht mein Tag. Also, vergiss doch einfach, dass Du mich nicht kennst, in Ordnung? Oder willst Du noch etwas wissen, was Dich nichts angeht? Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte gewählt habe, ich konnte noch nie etwas mit Teenagern anfangen, schon nicht, als ich selber noch einer war. Meine Pubertät lässt sich so subsumieren: unreine Meditationen, fiese Spekulationen, höchst dürftige Poesie. Ansonsten: keine ungeleckte Empfängnis. Darum habe ich mit 14 auch kein Tagebuch geschrieben, hat mich ja eh keiner verfolgt. Ich hab aber später mal einen SF-Roman geschrieben, sehr kybernetisch und so. Spielte die ganze Zeit auf einem Planeten, wo überall nur Eis rumlag, ständig war Winter. Mann war´s da kalt. Und meine endlosen fröstelnden Beschreibungen, viel besser als beim Arzt von Stalingrad, äh Quatsch, bei KRIEG UND FRIEDEN meine ich, (denke ich, habe ich ja auch nur gehört von) das war dagegen nur ein Spaziergang im lauen Sonnenschein und Sommerlüftchen.

 

- Ich möchte zu gerne wissen, wie es jetzt da draußen ist.

- Dann geh doch raus! Geh, verlass Dein Versteck! Fang endlich an zu leben!

 

Das war es jetzt vielleicht doch eine Spur zu grob. Letzte Aufwallung, Aufstand des Anstandes:

 

-Hör zu, es tut mir wirklich wirklich wahnsinnig leid, was Dir und Deiner Familie geschehen ist, in Ordnung?

 

Und ich verspreche in Zukunft jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen. Ich war schließlich schon in der Hochschulgruppe unserer Antifa, äh nein, umgekehrt. Aber: Du nervst! Also, nicht Du, aber Deine Nachbarin, der Milchmann und der Friseur, die Zugehfrau mit dem Buch zum Buch, und das Theaterstück, und der Film, und der Fotoband, und das Hörspiel und das Dokumentationszentrum für alle gleichaltrigen nervtötenden und dafür mit dreistündiger Betroffenheit bestraften Teenager, und dann auch noch das Tanzprojekt…! Das wirklich Einzige, was noch fehlt, ist: „Anne-Frank-On-Ice“! Ich musste dein besch… Tagebuch deshalb nie lesen, ich hatte es auch so verstanden! Sie war weg. Vorerst. Wie gesagt, ich war etwas grob, aber es war früh am Morgen, ich hatte nichts getrunken und geraucht.

 

Ich glotzte durch meine dreckigen Fenster hindurch. Da draußen war es kalt, kalt, so kalt, dass die metallic-blauen Wump-Vögel im Flug erfroren.

 

Nein. Glatter Blödsinn.

 

Hier drinnen war es wunderbar wohlig warm, und weich im speckigen Flokati eingemummelt, betrachtete ich den Schnee, der so langsam zu Boden fiel wie Weißbrotflocken in einem Aquarium. Auch Quatsch. Es war einfach nur ein erbärmlich verregneter Sommermorgen. Nein nein, aber da draußen, da wartete nicht bloß ein verdrecktes Call-Center-KZ und eine abermalige „Kennen-Sie-denn-schon-unsere-neuesten-Handy-Tarife“-11-Stunden-Schicht. Da draußen warteten überall Hekatomben ungelesener Reader, Handouts, Prints, Standardwerke, Überblicksartikel, Lexikoneinträge, Kopiervorlagen. Kursbücher. Alle bereit und auf los, übergescheit geht’s um die Leberwurst, im rezeptionsästhetischen Diskurst. Nein, ich wollte das alles nicht mehr, ich wollte nix und nur noch heim. Nein, ich war ja eh schon zu Hause. Ich würde jetzt Emma von der Bettkante stoßen (falls sie noch da war) und dann schlafen gehen.

 

Und ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht mehr, ob ich das hier wirklich noch zu Ende schrei

Impressum

Texte: Stephan Potratz
Bildmaterialien: Stephan Potratz
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2009

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