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Erster Tag

Nervös trommelte ich mit den Fingern auf der Holzplatte des Tisches. Meine Geschichtslehrerin schritt zielstrebig durch die Reihen und verteilte den letzten Test. Mir war es nicht gut ergangen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als sie mir das durch und durch rot beschriebene Blatt gab.

"Luna, es tut mir Leid aber deine Leistungen nehmen sehr ab"

Mangelhaft stand in großen Buchstaben darüber. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken an Mums Reaktion. Lena, meine beste Freundin, zog mich noch in ihre Arme und wollte mich trösten, machte es aber eher noch schlimmer. Das Papier raschelte als ich es in meinen Rucksack packte. Der Gong erlöste mich und ich ging wie in Trance aus dem Zimmer. Auf dem Gang drängten die jüngeren Schüler. Normalerweise würde mich das ziemlich stören, doch heute war ich viel zu sehr in Gedanken. Ich ging durch die doppelte Flügeltür des Schulgebäudes und stieg in den Bus ein.

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An der dritten Haltestelle stieg ich aus. Nachdem ich das Treppenhaus unseres Wohngebäudes hochgejoggt war sperrte ich die Tür im fünften Stock auf und trat über die Schwelle.

"Mum?" Ich zog meine graue Jacke aus und blickte den dunklen Gang entlang. Auf der rechten Seite waren die Türen von meinem und Mums Zimmer geschlossen, ebenso die Badezimmertür am Ende des Ganges. Die Tür zur Küche links hingegen war offen, was ich am hereinfallenden Licht erkannte. Töpfe und Deckel schepperten, schließlich hörte ich die mir vertrauteste Stimme.

"In der Küche Liebling!" Als ich diese betrat, sah ich das pure Chaos. Auf dem Boden standen Töpfe und Pfannen, die sie aus der Schublade, die auch offen stand, herausgezerrt haben musste. Ein Topf stand auf dem Herd, in ihm kochte eine weiße Masse vor sich hin. Die Spüle war voll mit dem Geschirr vom Frühstück und einem gefühlten dutzend Plastikschüsseln. Bananen- und Granatapfelschalen waren neben dem Müll gelandet. Mum drehte ihre Vorderseite zu mir und ich prustete laut los. Genau auf ihrer Nasenspitze war ein Klecks Nutella und auf den Wangen passend zu den Sommersprossen, die ich geerbt hatte, Zimtflecken. Sie bemerkte, dass etwas nicht stimmte und nahm eine Serviette. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte half ich ihr die Sauerei zu beseitigen und den Grießbrei, der undefinierbare Inhalt des Topfes, mit Obststückchen zum Tisch zu tragen. Wir redeten während dem Essen über einen neuen Kinofilm, den ich mit meiner Clique schon gesehen hatte.

"War der gut?" Mum nippte an ihrem Glas Wasser. Eine Strähne ihrer unordentlich zusammengebundenen rotblonden Mähne fiel ihr ins Gesicht.

Ich gab ihr eine kleine Haarklammer und während sie die Strähne fixierte sagte ich:" Ganz okay. Mir war er fast zu kitschig. Hollywood-Action und dazu eine furchtbar tragische Liebe. Ist vielleicht eher was für Paare"

Mum stutzte, ich erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie mir etwas verschweigen wollte. Gerade als ich fragete schaute sie auf die eckige Wanduhr und meinte, sie müsse los, sie habe heute Frühschicht. Sie sprang auf und ich grinste vor mich hin. Ich schlenderte zum Flur, wo sie emsig ihre Sachen zusammensuchte. Die weißen Schuhe, den Kittel, und siehe da, sehr schicke Wechselkleidung.

"Hast du etwa ein Date nach der Arbeit?" Bevor sie widersprechen konnte fuhr ich fort:"Die Nachmittagsschicht übernimmst du nur, wenn du abends etwas geplant hast. Und vorhin bei dem Film hast du etwas zu ertappt gekuckt. Gibs zu, Sherlock hat den Fall bereits geklärt"

Sie lächelte verlegen und hob die Hände hoch.

"Schuldig. Der Assistenzarzt von Station fünf hat mich ganz galant um den Finger gewickelt. Aber Luna, du müsstest den mal sehen. Richtig hübsch. Und er liest gern. Und er kann kochen ohne die Küche unerkennbar zu machen" Wir lachten.

"Klingt ja genau nach deinem Typ. Viel Spaß" Ich drückte sie.

Sie war fast zur Tür draußen, als ich ihr noch hinterher rief, wann und ob sie nach Hause kommen würde.

"Natürlich komm ich,so um 12. Ich steig doch nicht mit jedem beliebigen gleich in die Kiste!"

Das war meine Mum. Immer ehrlich mir gegenüber, auch wenn sie wie eine 16-Jährige klang.

"Darf ich noch weg?"

"Bis 11"

Also würde ich um fünf vor zwölf die Wohnung betreten.

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Unsere Clique bestand aus fünf Personen- dennoch konnte man mehr Leute zu unserem Freundeskreis zählen. Da wären Daniel, der sympathische und kluge, aber auch schüchterne blonde Junge. Meistens waren wir bei ihm zu Hause, da er einen gemütlichen Keller mit Minibar und Fernsehecke hatte. Josi war unser Partyheld. Wenn er nicht bei uns war oder mit uns zu einer Party ging, befand er sich selbst in irgendeiner Disko oder ähnlichem. Aus diesem Grund hatte er ein Schuljahr wiederholen müssen, da er das Lernen auf die leichte Schulter genommen hatte. Er war somit schon achtzehn, ein Jahr älter als wir Übrigen. Natürlich hatten wir auch den typischen Schwarm in unserer Gruppe. Max sah mit seiner hellen Haut, den eisblauen Augen und tiefschwarzen Haaren aber auch supersüß aus. Aber er war mein bester Freund, ich würde mich nie auf Gefühle einlassen, das würde alles zerstören. Dann war da noch meine beste Freundin, Lena. Sie war unglaublich menschenbezogen und wollte später als Kindertherapeutin arbeiten. Ich wünschte es ihr, denn sie hatte schon so einiges in ihrem Leben durchmachen müssen. Ihre Mutter hatte sich nicht um sie gekümmert und sie mit sieben Jahren in ein Kinderheim gegeben. Erst vor einem Jahr, an ihrem fünfzehnten Geburtstag wurde sie von einem Ehepaar adoptiert, das keine Kinder kriegen konnte. Seitdem war sie wieder glücklicher, was ich mir schon immer für sie wünschte. Nur noch ein paar dünne Narben auf ihrem Unterarm zeigten ihre traurige Vergangenheit.

Mich eingeschlossen, einem großen rotblonden Mädchen, das immer etwas aus der Reihe tanzte, waren wir eine ziemlich unbekümmerte Gruppe.

Das zeigte sich auch heute Abend wieder.

Josi tanzte pausenlos Lena an, die bereits leicht schwankte. Die Hälfte ihres Cocktails befand sich wohl auf ihrer Hand und auf dem Boden, da Josi sie kurz rammte. Er selbst hatte eine Bierflasche in der Hand. Daniel und Max gingen gerade vor die Tür um eine zu rauchen. Da ich Josi's Anmachen leid war schnappte ich mir meine Jacke und ging hinter den beiden Jungs her. Die kühle Nachtluft brachte mich im ersten Moment zum Frösteln. Sie standen etwas weiter entfernt bei der Tischgarnitur, die zu der Grillecke gehörte. Daniels Garten war sowieso der Hammer. Eine mit Ziegelsteinen gemauerte Ecke bot einen Pizzaofen und einen Grill sowie einige Tische und Bänke. Direkt gegenüber des Hauses und links der Grillfläche lag der breite, hell erleuchtete Pool. Im Sommer hatten wir hier schon die eine oder andere Party abgehalten. Meistens kam zu solchen die halbe Schule. Ich weiß noch, als sie einmal den Tisch mitten in den Pool stellten und da eine Bar aufbauten. Ein Mädchen nahm den Alkohol auf die leichte Schulter und tanzte später auf der 'Bar'. Bis heute konnte sie keinem mehr richtig in die Augen sehen. Tja, selbst schuld.

Max schnippte gerade die Asche seiner Zigarette weg. Sie redeten über irgendein neues Spiel auf ihren Konsolen. Kurz hörte ich zu, verstand jedoch fast nichts. Also umrundete ich die Beiden, nahm die Schachtel vom Tisch und zündete mir selbst eine Zigarette an. Ich atmete tief ein und musste husten.

"Immer diese Raucher und ihre lädierten Lungen", meinte Daniel und zog an seiner eigenen.

"Idiot", sagte ich und legte mich auf eine der Liegen vor dem Pool. Die Sterne über mir waren heute klar zu sehen, ich erkannte den kleinen Wagen sowie den Polarstern. Ich zog noch ein paar Mal bevor ich die Augen schloss und vor mich hin träumte und in einen Sekundenschlaf verfiel. Das war wohl einer der größten Fehler, den ich machen konnte, denn als ich die Augen wieder aufschlug, hatte Max seine starken Arme unter mich geschlungen und mich in hohem Bogen in Richtung Pool geworfen. Ich versuchte noch zu schreien, doch viel zu schnell prallte ich auf die Wasseroberfläche auf. Die Kälte gefror das Blut in meinen Adern. Ich riss die Augen auf und blickte genau in das gleißende Licht einer der Poollampen. Geblendet kniff ich sie wieder zu und versuchte meine Arme zum Rudern zu bringen. Ich wusste nicht mal mehr wo oben und unten war. In einer Schockstarre verharrend sank ich bis auf den Boden des einen Meter achtzig tiefen Beckens ab. Plötzlich spürte ich etwas an mir zerren. Max zog mich hoch. Meine Lungen brannten als sie sich wieder mit Luft füllten. Tausende kleine Messerstiche verteilten sich auf meiner Haut. Ich japste vor mich hin und er führte mich zum Rand.

"Schockier mich doch nicht so", meinte er und klopfte auf meinen Rücken, um mir das Atmen zu erleichtern. Langsam fand ich meine Stimme wieder.

"Warum machst du sowas auch. Mir hätte sonst was passieren können" Ich schüttelte seine Hand ab. Erst ohne Nachzudenken handeln und dann auch noch einen dummen Kommentar ablassen.

Er merkte mir meine Wut an und fasste mein Handgelenk.

"Hey" Max sprach mit einer unglaublich fürsorglichen Stimme, was mir erst recht Gänsehaut bereitete. Die pechschwarzen Strähnen tropften vor seinem Gesicht herab. Gedankenverloren strich ich sie hinter sein Ohr. Erst im Nachhinein wurde mir die Vertrautheit dieser Geste bewusst.

"Dani holt dir was zum Anziehen und ein Handtuch", mit tiefer, kehliger Stimme fuhr er fort, "du sahst so schön, so friedlich aus, wie du da geschlafen hast.", er flüsterte nun fast, "einfach perfekt".

Was machte er hier mit mir? Mein Kopf beinhaltete einen einzigen Gedanken. Küss mich.

Ich wusste genau, dass es nicht gut wäre, ihn zu küssen. Es war eine Grenze, die man in einer Freundschaft, insbesondere in einer Clique nicht übertreten sollte. Danach wären immer die Fragen im Raum, sagt man es den Freunden oder nicht, bedeutet das jetzt etwas, hat einer der beiden Gefühle für den anderen. Dem wollte ich mich nicht stellen, weil ich die Antwort nicht wusste. Wenn ich in einem einzigen Moment wie diesem jetzt, schon an Gefühle dachte, hatte ich dann nicht schon lange welche in mir? Ich kannte Max seit der ersten Klasse. Er hatte mir soviel gezeigt soviel mit mir erlebt, mir immer geholfen. Waren da tiefere Gefühle als innige Freundschaft?

Er nahm mir die Entscheidung ab, indem er mir tief in die Augen blickte, näher kam und seine Lippen auf meine drückte. Es war ein leichter, sanfter Kuss, nur ein Hauch, ähnlich einer Feder. Aber es fühlte sich so gut an. Ich hatte unbemerkt meine Augen geschlossen. Kurz darauf zog er sich zurück. Ich wollte sie nicht öffnen, ich wollte den Moment so erhalten. Ich wollte einen richtigen Kuss.

"Und dann hab ich dich gepackt, ins Wasser geworfen und du wärst beinah abgekratzt. Also hab ich ja wohl ein Danke für deine Rettung verdient" Blitzartig riss ich die Augen auf. Er grinste mich an, sein Blick war fast verächtlich. Während er sich am Beckenrand hochstemmte und aufs Haus zuging, starrte ich völlig perplex vor mich hin. Ich merkte nicht einmal mehr, wie sehr ich fror. Hatte er das alles nur inszeniert? Oder hatte er durch den Kuss entschieden, dass er nichts fühlte, dass ich ihm nichts bedeutete? Wann war er so ein herzloser Arsch geworden? Ich hatte immer geglaubt, dass ich ihn kannte. Anscheinend tat ich das nicht.

Der Rest des Abends zog wie in Watte eingepackt an mir vorbei. Dani war mit einer Jogginghose und einem Sweatshirt von ihm wiedergekommen, entschuldigte sich lachend dafür, keine Unterwäsche da zu haben, er behielte die Accessoires seiner Dates nicht. Ich glaube, ich schaffte es sogar, über diesen Witz zu lachen, da ich genau wusste, dass er nur selten Besuch hatte. Meinen Bh zog ich einfach aus und hängte ihn an die Wäscheleine, das Sweatshirt war sehr dick und ich hatte ohnehin nicht sehr viel Oberweite. Wieder im Keller setzte ich mich auf die Couch und musste zum Glück mit niemandem reden, da die Jungs auf einer der Konsolen und dem großen Flachbildfernseher spielten und Lena ohnehin bereits nach Hause war. Nach einer halben Stunde brach auch ich auf, und schaffte es bis in mein Bett ohne nochmal über den Kuss nachzudenken oder zu weinen.

Zweiter Tag

Zweiter Tag

 

Ich atmete tief ein bevor ich meine Augen aufschlug. Als Erstes sah ich die rosanen Blümchen meiner Bettwäsche. Der Seidenstoff raschelte, als ich mich auf die Seite drehte. Nur noch fünf Minuten...

Meine Zimmertür ging auf und Mum stürmte herein.

"Luna, du kommst schon wieder zu spät. Steh endlich auf!"

Mit einem Ruck zog sie mir die Bettdecke weg. Ich stöhnte auf.

"Dein Frühstück steht auf dem Tisch, ich hab dir auch was vom Bäcker mitgenommen, du kannst also auf direktem Weg in die Schule fahren"

"Danke Mum. Ich hab dich lieb", rief ich ihr hinterher, als sie mein Zimmer bereits verlassen hatte. Ihre Antwort war:

"Ich mich auch" Ich lächelte über unsere Sticheleien, stand auf und tappte barfuß ins Badezimmer. Nachdem ich auf der Toilette war, mich geschminkt und frisiert hatte, zog ich mir in Windeseile etwas an, schnappte mir die Brötchen, meine Handtasche und meine schwarze Lederjacke und lief, kaum aus dem Haus, los. Völlig außer Puste sprang ich in den Bus, der zwei Straßen weiter hält und begann zu essen. Bis dato hatte ich die Ereignisse des gestrigen Abends erfolgreich verdrängt.Doch als ich bemerkte, dass ich Dani's Sweatshirt anhatte, kam ich nicht umhin, darüber nachzudenken. Max hatte mich geküsst und danach einfach alleine gelassen. Bisher war ich mir auch sicher, nur freundschaftlich für ihn zu empfinden, aber der Kuss hatte sich so gut angefühlt. Wie sollte ich ihm heute nur entgegentreten? Ich grübelte noch bis zu meiner Haltestelle, an der mit mir fünf weitere Schüler ausstiegen. Während ich die breiten Stufen zum Schulgebäude hochstieg hielt ich Ausschau nach Lena. Ich musste sie unbedingt um Rat fragen.

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In der ersten Stunde hatte ich Geographie, was ich als einzige unserer Clique gewählt hatte. Meiner Meinung nach war es sehr spannend, über die verschiedenen Länder und Klimazonen etwas zu erfahren. Nach meinem Abschluss wollte ich ein halbes Jahr mit dem Rucksack Australien und Neuseeland erkunden. Wenn ich es bis dahin mit der Schule geschafft hatte.

In der zweiten waren Lena, Josi und ich zusammen in Englisch. Unsere Lehrerin hatte nichts dagegen wenn wir redeten, schließlich wäre es ja unsere Zukunft und unsere Entscheidung und sowas. Ich schilderte Lena die Ereignisse und sie nickte hin und wieder. Erst sagte sie nichts, aber das war so ihre Art. Sie überlegte statt einfach drauf los zu plappern. Dafür beneidete ich sie

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.10.2015

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