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Der Mann der verschwand
Gibt´s doch nicht. Ein früher Frühlingstag, einer, der noch gar kein richtiger Frühlingstag war, eben einer, an dem nur das laue Lüftchen und vereinzelte Schneeglöckchen und Krokusse auf das da kommende Erblühen der Natur hinzuweisen scheinen. Vielleicht sogar ein Sonntag. Und auch ein Tag, an dem alles wie im Film erscheint. Obschon dies auch am zunehmenden Alkoholpegel liegen könnte. Ein Frühstück wie gemacht für Denker. Tabak und zwei Liter Bier sollten den gemeinen, fiesen, kleinen Kerl im
Magen schon ruhigstellen...
Der Rest war disziplinierte nicht-ans-Essen-denken-Routine.
War da nicht noch Wein, den man mit Wasser mischen könnte, um sich noch ein weiteres halbes Stündchen vor konvulsivischen Magen und Darmkrämpfen zu drücken, es halt ein Weilchen hinausschieben – ja, tatsächlich, da war noch was.
So ging man dann. Auch außer Haus. Wenn man es denn so nennen kann. Hinein in eine Welt, die im Tunnelblick und viel zu heller Sonne unterging. Ein sich Ausliefern, was sowieso nicht durchdringen würde. Und manchmal, nur manchmal, schlichen sich noch Gedanken ein, die so real waren, dass es mehr als nur
erschreckte. War es ein „Danke“, das er sagte, als er – dank der Inflation – seine letzten Cent für ein Stück Backware ausgab? Oder erschreckt ihn nur der Gedanke eben wirklich gedacht zu haben, er hätte so etwas wie eine Konversation mit einem echten
Menschen gehabt? Ströme von Leuten – sonntäglich fein herausgeputzte Gestalten mit teuren Sonnenbrillen und überzüchteten viel zu groß geratenen Ratten, zogen da ihrer Wege an ihm vorbei. Schaute nicht der eine oder andere direkt zu ihm – wie er da saß oder lag oder sich hinter eine alte Mauer kauerte? Oder wünschte sich das nur sein Denken, das zunehmend trüber und müder wurde. War das da nicht eben
seine Hand gewesen, die vor ihm auftauchte und die Flasche verschwinden ließ – in seiner Hand – Braunglas, das, gerade noch da, jetzt in Stückchen an seiner Hand klebte und ihm in die Handflächen fuhr? Oder war es nur ein Albtraum, der gerade im Begriff
war zu entstehen aber schon wieder vorbei war bevor er angefangen hatte? Denn grade als er meinte, es wäre seine Hand, schüttelte ihn der Wahnsinn wach und er träumte von einem Tag an dem er mit Gesichtern sprach. War das nicht… nein… doch! Ein Café oder eine Spelunke, die er sich früher schon zurechtgeträumt hatte. Und kannte er nicht die oliv-braunen und rosafarbenen Gesichter um sich herum, an dieser festlich gedeckten Tafel? Es musste ein Festtag sein, denn sonst würde er jetzt nicht hier sitzen und träumen er würde reden. Nein! Niemals, denn er konnte keinen Satz beenden. Es waren immer Stimmen da, die ihm ins Wort fielen. Oder glaubte er das nur? Doch er versuchte es weiter und weiter
und da tauchte wieder eine Hand im Tunnel vor ihm auf. Seltsam weiß, mit blassgrünen und schimmelig violetten Flecken und Äderchen darauf und seltsam durchscheinend. Sein Blick wanderte von der Hand zu dünnen Ärmchen, die offensichtlich dazugehörten
und weiter über einen schmalen Torso bis hin zu sich
krampfhaft überkreuzten Beinchen. „Hat er denn gar nichts an!? Stört das denn keinen?!“, meinte er gefragt zu haben. Warum sprach denn niemand mit ihm, nannte seinen Namen, sprach ihn mit seinem Namen an? Seinen Namen. Oder hatten sie ihn vergessen?
Hatte er ihn vergessen?
Zwei quietschende Mädchen rannten um den Nachbartisch um die Wette und versetzten die junge Mutter in zufriedene mütterliche Panik, ihren überteuerten Milchschaum schlürfend und selbstvergessen an den teuren Markenzigaretten ziehend. Wahrscheinlich sah ein Mädchen kurz auf und hielt im Spiel mit ihrer Schwester, die ihr Vater war, kurz inne und sah, wie ein nackter, dünner, kleiner Mann, der grade noch da war, verschwand.
Und das Milchschaum verkaufende Mädchen suchte nach Jemandem, der die offene Rechnung noch zu bezahlen hatte. Der war aber nicht mehr da. Ob ihn denn jemand hat aus der Tür gehen sehen? Nein! Welcher Mann?

Impressum

Texte: © 2008 Damien Schwartz Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt Satz und Layout: Anne Seidl Zeichnungen: © Damien Schwartz Foto Rückseite: © Anne Seidl
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2009

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