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Epilog


Mein Name ist Viktoria Janes und ich werde sterben.
Naja, eigentlich so halb. Die eine Viktoria wird sterben. Es gibt sie dann einfach nicht mehr. Das ist doch dann sterben oder? Wenn einer aufhört zu existieren? Denn das tue ich – hier.

Keine Sorge.
Wie gesagt, eine Hälfte lebt ja weiter.
Der größere Teil von mir. Fängt ein neues Leben an.
Jetzt nicht so wie ihr denkt. Mit aussteigen und irgendwo in Brasilien, nein.
Ein neuer Name, eine neue Welt, ein neues Ich. Das alte hat mich sowieso immer gelangweilt, also braucht ihr auch nicht traurig sein. Außerdem könnt ihr sie noch kennenlernen. Deswegen schreibe ich das hier.

Dies hier ist mein Vermächtnis an eine Welt, die für mich so lange Zuhause, aber doch eine falsche, trügerische Heimat war. Mein ganz persönliches Exil in der Hölle.
Ein kleiner Bericht über das Leben und den Tod von Viktoria Janes.
Die alte alte Viktoria werdet ihr aber nicht mehr kennenlernen. Dann müsste ich noch mehr erzählen. Von meiner Jugend. Vom ersten Mal. Aber das ist alles nicht wichtig.

Das erste Mal ist nie wichtig. Wichtig ist das Zweite. Die Zeit davor.
Da fängt alles an. An einem strahlend hellen Sonntag ist Viktoria gestorben.
Unter der grausam spottenden Sonne bin ich plötzlich durch die Innenstadt getaumelt.
Da war ich schon tot. Aber ihr werdet sehen, dass ich noch 500 Seiten brauchen werde um das zu merken.
Das war der Anfang. Damit sollte man dann doch anfangen oder?


13. Juli


Kennt ihr das Gefühl zwischen Träumen und Wachen, den Moment, wenn man, noch nicht wach, die ersten zaghaften Schritte des Tages über seinen Rücken tapsen lässt?

Die salzige Luft strömte in meine Lungen und die Sonne ließ den Staub durch den Raum tanzen. Das Schiff knarrte im leichten Wellengang und von draußen hallten schon die Stimmen der anderen. Gähnend schwang ich die Beine aus dem Bett und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Lang, braun und zerzaust.
Hexenhaar nannte Tamir es immer.
Hexe. Naja irgendwie passte es ja.
Ich stand auf und öffnete das kleine Fenster.
Der Wind kam herein und begrüßte seine Herrin wie ein treuer Hund.
„Herrin des Windes“, ja ich weiß das klingt ziemlich verrückt, aber die Geschichte eines Großstadtmädchens, das durch eine Tür in eine fremde Welt gerät und zur gefürchteten Piratin aufsteigt, klingt noch viel verrückter und ich muss mich jeden Morgen aufs neue davon überzeugen, dass es tatsächlich meine Geschichte ist.
Ich streckte mich noch mal ausgiebig und spritze mir eine ordentliche Ladung Wasser ins Gesicht.
Dann schnappte ich mir eine Hose, zog meine Stiefel über und zum Schluss schlüpfte ich noch in eins von Tamirs Hemden. Es war mir zwar viel zu groß, aber ich liebte den Duft.
Während ich mich anzog dachte ich über mein Ziel nach: der Salenische Hexenkreis, nahe am südlichen Himmelstor, die Inseln meines Volkes. Meine Heimat. Dort würde ich endlich, Menschen treffen die waren wie ich.
Zwar war Ajo, die Navigatorin unseres Schiffes, auch eine Hexe von den Salenischen Inseln, doch sie stammte von den Feuerhexen und hatte mir, außer meiner Herkunft nicht viel verraten können.
Zum Beispiel, wie es kam, dass ihr zwar hier geboren, aber in der anderen Welt aufgewachsen war.
Bei dem Gedanken, was ich alles erfahren würde, konnte ich die Ankunft, die immer noch 2 Tage hinter dem Horizont lag, kaum noch erwarten. Ich trieb den Wind in die Segel und trat nach draußen in die Sonne. Dari jagte Pan wütend über das Deck, Sirius döste an der Reling und in der Kombüse schepperten die Töpfe, scharf gewürzt mit einer Diskussion zwischen unserem Schiffskoch Sangie und Ajo.
Tamir, der große Käpt’n der Jeeva, lehnte am Mast und grinste mich an. „Nicht so stürmisch Prinzessin! Wenn du den Wind so weiter treibst reißen uns gleich noch die Segel.“
Ich sah nach oben und seufzte. Der Wind ließ ein wenig nach. „Tut mir leid. Ich kann es nur einfach nicht mehr erwarten endlich anzukommen.“
Den Arm um mich legend, zog er mich zu sich ran und wie so oft verlor ich mich in dem wundervollen, tiefen Ozean seiner Augen. Das Wasser das um unser Schiff herumtänzelte, hätte keine schönere Farbe haben können.
Meine Augen erinnerten hingegen an einen stürmischen, grauen Regentag.
Aber Tamir schaffte es immer die Wolken in meinen Augen zu durchbrechen und auch jetzt fingen sie wieder an zu strahlen. „Aber ich bin mir irgendwie nicht sicher, dass ich da wirklich hin will.“ Sprach ich meine Sorgen der letzten Tage aus. Tamir sah mich verwirrt an. „Aber es war doch das was du wolltest, oder nicht? Wissen wo du hingehörst.“
„Das weiß ich doch schon längst.“ Hauchte ich lächelnd und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Und ohne euch halte ich es keine zwei Tage aus! Und wer weiß wie lange das dauert!“
Zu meiner Überraschung, strahle Tamir mich noch breiter an, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich. „Wie kommst du nur auf die verrückte Idee, dass wir dich da einfach absetzen und wieder abhauen? Du solltest uns inzwischen besser kennen. Ich lass meine kleine Prinzessin doch nicht alleine!“
„Versprochen?“ Das flaue Gefühl in meinem Magen wollte einfach nicht verschwinden. Irgendetwas lag in der Luft das mein Herz rasen ließ. Die Luft knisterte schon fast, wie von einer unsichtbaren Spannung elektrisiert. Das alles ließ diese friedliche Stille, die uns umgab nur noch unwirklicher erscheinen.
„Ich verspreche dir, dich niemals alleine zu lassen!“
Und jetzt dürft ihr raten was als nächstes geschah. Es ist doch immer das gleiche. Sowas passiert auch immer in diesem Momenten in denen alles perfekt erscheint und es sind immer diese platten Klischeesätze die eine Katastrophe heraufbeschwören.


„Was soll schon schiefgehen?“
„Gleich ist es vorbei, jetzt kann uns nichts mehr passieren!“
„Ich werde dich niemals verlassen!“

Man steht so da, denkt sich nichts Böses und auf einmal fällt dieser Satz. Bevor man noch eine Chance hat darüber nachzudenken, was tatsächlich noch alles schiefgehen kann und das niemals eine verdammt lange Zeit beschreibt, drückt das Schicksal schon auf seinen großen roten Knopf und lacht über die Menschen die sich immer wieder wundern das sowas tatsächlich passiert. Aber ich schweife ab.
Ich wollte seinen Kuss gerade erwidern, wollte ihm hundert Dinge sagen, die mein Herz gerade ausspuckte, als unser Schiff in einen dichten Nebel geriet. Dick wie Watte aber von einem dunklen und dreckigen grau, der alles in einer unheimlichen Stille erstickte. Und plötzlich stand ich alleine da. Tamir war aus meinen Armen verschwunden und die Planken unter meinen Füßen waren das einzige das mir jetzt noch halt gab.
„Tamir!“ schrie ich in den Nebel, doch jeder Ton wurde gleich wieder verschluckt und statt einer Antwort war da nur drückende Stille, eine Stille, die mir in die Lungen kroch und mir die Luft zum Atmen nah. Hustend taumelte ich über das Schiff, suchte verzweifelt nach Halt und einem der anderen. Aber es war nichts mehr da, nur Nebel. Nur Stille. Das letzte was ich noch spürte waren die harten Planken als mein Kopf auf den Boden schlug.



14. Juli


Hitze.
Eine gnadenlos brennende Sonne, die auf meinen Körper knallte.
Hin und wieder begann der Boden zu vibrieren und ein tiefes Grollen rauschte vorbei. Die Luft war erfüllt von einem geschäftigen Brummen und über allem schwebte ein bestialischer Gestank.

„He, Mädchen alles in Ordnung?“
Blöde Frage. Das war tatsächlich mein erster vernünftiger Gedanke.
Erst danach dämmerte mir warum genau das eine blöde Frage war.
Ich lag in der prallen Sonne auf dem Boden in wer weiß was für einem Drecksloch.
Erweckte also irgendetwas an mir den Eindruck das alles in Ordnung war?
Widerwillig öffnete ich die Augen in blinzelte in das sonnenbebrillte Gesicht einer rundlichen Dame die sich über mich gebeugt hatte.
Ich wollte gerade eine patzige Antwort abfeuern als hinter der Dame ein schwarzer Sportwagen vorbeiraste. Ein Auto?
Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich war mit einem Schlag hellwach.
Der Boden auf dem ich lag war ein gepflasterter Bürgersteig und der beißende Gestank war eine Mischung aus Abgasen und den Düften die aus dem überquellenden Mülleimer emporstiegen, neben dem ich lag.
„Moment mal, bist du nicht das Jones Mädchen das verschwunden ist?“
Die Frau wollte mich festhalten, doch ich versank immer tiefer in einem Albtraum, von Schock und Entsetzen gelähmt, taumelte ich wie eine Betrunkene umher, starrte die besorgte Frau an wie einen Alien und langsam dämmerte mir wo ich war.
Der Rest versank in einem einzigen Schrei.

15. Juli


15. Juli


Piep…piep…piep…piep
Dieses Mal war mir kalt, aber die Kälte kam aus mir selbst. I
ch lag in einem weichen Bett und es roch nach Desinfektionsmitteln und Waschpulver.
Um nicht schon wieder in den Abgrund blicken zu müssen, ließ ich die Augen geschlossen und versuchte einfach nichts zu denken. Doch nach einiger Zeit ging mir das monotone Piepen auf die Nerven und ich schlug die Augen auf um nach der Quelle des Geräusches zu suchen.
Es kam von einer Maschine zu meiner Rechten, die in beständigen Ausschlägen meinen Herzschlag protokollierte.
Die steifen Bettlaken raschelten als ich mich etwas aufsetzte.
Da spürte ich ein Gewicht auf meinen Beinen.
Ein blaues Sweatshirt hob und senkte sich in einem ruhigen Rhythmus und unter der Kapuze drang außer mausgrauen Haaren ein leises Schnarchen hervor.
Plötzlich erschien mir der Abgrund unter mir ein wenig kleiner.
Wenn es irgendwo Hoffnung gab, dann unter dieser Kapuze.





20. September


„Ich möchte zu gerne wissen wo du gewesen bist.“
Martin Bellamy grinste mich neugierig an und drückte mir eine kühle Flasche Bier in die Hand.
Noch immer regnete es und der Wind zerrte an meiner für diese Jahreszeit viel zu dünnen Jacke.
Aber mir war nicht kalt.
Seit Wochen wankte ich nur noch durch die Gegend, wie ein Traumwandler der den Weg zurück nicht findet. Heraus aus dem Albtraum.
„Du hast versprochen es mir zu erzählen!“
Bellamys spitzes Mausgesicht hatte es früher immer geschafft mich zum Lachen zu bringen. Aber mir war jetzt nicht zum Lachen zu Mute.
Schon seit zwei Monaten nicht mehr.
Wie so vieles schien ich auch mein Lachen dort gelassen zu haben.
Und es wartete auf mich. Schon der Gedanke daran brannte wie Feuer und ich bereute mein Versprechen.
Was hatte ich mir dabei gedacht ihm alles erzählen zu wollen?
Schon jetzt spiegelten sich Angst und Sorge in seinem Gesicht.
Er fürchtete sich schon vor der bloßen Vorstellung von dem was ich ihm erzählen könnte. Aber was wusste er schon?
„Ach komm schon, Sturmprinzessin!“
Ich musste lachen. Und weinen. So hatte er mich schon immer so genannt.
Aber dieses Mal hatte es eine andere Bedeutung. Für mich.
Für ihn war ich immer noch das kleine stürmische Mädchen, das im Nachthemd durch den Mitternachtssturm tanzt.
Er sah in mir den freiheitsliebenden Rebell, den aufbrausenden, wütenden und sanft umher spielenden Wind.
Für ihn was es ein Spaß, ein Kinderspiel.
Für mich nicht. Nicht mehr.
Ich holte tief Luft und der Wind verstummte. Nun war es nur der gleichmäßig rauschende Regen der meine Geschichte begleitete.
„Die meisten sagen ich bin abgehauen und hab die letzten 2 Jahre auf der Straße gelebt. Ich hab Frau Humbert sogar sagen hören das ich bestimmt Drogenabhängig war und angeschafft hab.“ Das war wohl das lächerlichste von allen Gerüchten.
Ich? Eine Hure? Das war schon fast beleidigend. Immer hin war ich….
Bellamy wurde zappelig.
„Ja das weiß ich doch schon. Sowas durfte ich mir die ganze Zeit anhören als du weg warst. Ich weiß auch das das Schwachsinn ist! Du hättest dein Leben nicht für die Gosse aufgegeben. Ich will wissen wofür du dein Leben hier wirklich aufgegeben hast!“
Wofür du mich aufgegeben hast, warf sein Blick hinterher.
Ja er hatte Recht. Er hatte es wirklich verdient die Wahrheit zu erfahren.
„Weißt du was, was Spitznamen angeht hast du echt ein goldenes Händchen.
Du glaubt gar nicht wie genau sie treffen.“
Mit diesen Worten hob ich die Hand und der Wind brach los und heulte wie ein treuer Hund. Bellamy zuckte zurück.
„Viki! Machst du das?“
Ich nickte langsam. Ob ich wollte oder nicht, der umher tollende Wind zauberte mir ein Lächeln auf das müde Gesicht.
„Ziemlich cool was? Das ist sogar im Mare Elenna was besonderes. Ich mein klar, die meisten können da irgendwas abgefahrenes, aber die Elemente beherrschen, das können nur die Menschen einer einzigen Insel. Und so wie ich das verstanden habe, gehöre ich zu denen.“
Erst Bellamys Gesicht machte mir klar, dass ich vielleicht mit dem Anfang und nicht dem Mittelteil hätte beginnen sollen.
„Okay, noch mal von vorne.“
Ich ließ den Wind um meinen Kopf streichen und fing mit dem Tag an als neben meinem Fenster plötzlich eine schlichte Holztür aufgetaucht war.
In einer Wand die vom zweiten Stock steil nach unten führte. Doch anstatt in die Luft, führte die Tür auf eine Insel.
Wo ein Schiff vor Anker lag.
Dort war ich auch auf Tamir und seine kleine Bande gestoßen.
Tamir….
Der Wind verriet den Aufruhr in meinem Innern und ich brauchte ein paar Momente bis ich weiterreden konnte.
Ich überraschte mich selber.
Meine schlimmsten Befürchtungen waren gewesen das ich zusammenbrechen würde, anfangen zu weinen, vor Bellamy.
Aber äußerlich blieb ich ruhig.
Ich erzählte ihm alles, von dem riesigen Ozean, der mit kleinen Inseln gespickt war wie eine Frühlingswiese mit Blumen.
Vielleicht hatte ich einfach keine Tränen mehr übrig, die die verlorene Freiheit beweinen konnten.
Oder das Leben betrauern, das Leben als Pirat an Tamirs Seite, das wilde Leben auf den Schwingen des Windes.
Zum 1000 Mal musste ich an die Geschichten denken, in denen ein Mädchen in eine fremde Welt gerät und plötzlich merkt das sie Teil irgendeiner hanebüchenen Prophezeiung ist und eigentlich gar nicht die ist für die sich das arme Mädchen immer gehalten hat.
Aber warum durften die bleiben? Warum durften sie den großen strahlenden Helden heiraten und an seiner Seite im Wunderland glücklich werden?
Lag es daran das ich keine Welt gerettet hatte? Hätte ich mir das Leben dort verdienen müssen?
War es in solchen Welten verboten ein unbeschwertes, glückliches Leben zu führen ohne dafür Kopf und Kragen riskiert zu haben?
Nicht das ich das nicht getan hätte.
Wie oft habe ich meinen Kopf buchstäblich aus der Schlinge ziehen müssen.
Hab ich nicht oft genug mein Leben für meine neuen Freunde riskiert?
Und zum 1001. Mal keimte in mir der Gedanke einer Verschwörung.
Was wenn mich jemand absichtlich aus dem Weg geräumt hatte?
Dieser Gedanke machte mein Exil noch unerträglicher.
Was wenn meine Freunde Hilfe brauchten?
Jetzt in dieser Sekunde von einem unbekannten Feind ermordet wurden?
Der Wind heulte so gequält auf das Bellamy mir besorgt die Hand auf den Arm legte.
„Alles in Ordnung?“

Blöde Frage. Verdammt blöde Frage. Nichts war in Ordnung. Natürlich nicht.

Mir war das Wertvollste weggenommen worden was ich besessen hatte und die Ungewissheit machte mich krank. Wie so vieles andere auch, woran ich mich früher nie gestört hatte.
„Ich bekomme keine Luft mehr, diese Welt erstickt mich, ich bin ein Gefangener den man einmal an der Außenwelt hat schnuppern lassen um ihn danach wieder in sein dunkles Gefängnis zu stecken, jetzt nur mit dem Wissen was er haben könnte wenn er frei wäre. Ich habe wundervolle Freunde verloren und keine Ahnung ob sie noch Leben, alle starren mich an als ob ich Freak wäre, nicht das sie das nicht vorher auch schon getan hätten, und das Einzige was diese oberflächlichen, erbärmlichen –“
mir fiel kein Wort ein was den Abschaum meiner Abschlussklasse gebührend beschrieben hätte,
„interessiert ist das ich auf einmal nicht mehr der pummelige, schüchterne Freak bin den man doch so toll verarschen kann.
Damien fragt mich plötzlich ob wir uns Abends mal zum „lernen“ treffen wollen und Anna und Edi sind auf einmal ganz scharf drauf meine BFF’s zu sein.
Kurz, diese Welt macht mich krank! Ich glaub du kommst selber drauf ob alles in Ordnung ist!“
Ich stand auf und stapfte wortlos davon.
Ich wusste das ich unfair und unnötig hart gewesen war, aber im Moment war ich einfach zu aufgewühlt um mich um seine verletzten Gefühle zu Sorgen.
Er würde es verstehen. Er hatte es immer schon verstanden.
Meine Launen wortlos ertragen und meinen Frust aufgenommen.
Jedes Mal. Ohne sich zu beschweren. Immer für einander da. In Guten und Schlechten Zeiten.
Ja, Bellamy war wirklich der einzige Grund warum ich diesen Qualen nicht schon längst ein Ende gemacht hatte.
In trostlosen Gedanken versunken ging ich durch die trostlosen Straßen der großen Stadt. Das quirlige Getriebe war verflogen, meine Bewunderung in Rauch aufgelöst.
Jetzt tauchten plötzlich Gitterstäbe vor den Gardienen der farblosen Gebäude auf, überall bildeten sich schmutzige Flecken auf der weißen Weste der ach so schönen Stadt.
Der brave Junge von gegen über ging mit der Mustermedizinstudentin Händchenhaltend spazieren. Noch vor zwei Jahren hätte ich von so einem Leben geschwärmt.
Inzwischen konnte ich die Ketten sehen die sie an ein freudloses Leben voller Regeln und Erwartungen banden.
Müde schleppte sich der Wind neben mir her. Er stank nach Auspuffgasen und Müll, verirrt und verendet zwischen Häuserfronten.

Noch eine Straße weiter und ich stand vor dem, was ich früher stolz als mein Zuhause verteidigt hatte. Inzwischen erinnerte es mich wie alles andere auch, nur an das was ich nicht hatte.
‚Warum warst du nicht in der Schule?‘
‚Du stinkst schon wieder nach Alkohol!‘
‚Wenn du es hier so schrecklich findest, warum gehst du nicht wieder zurück zu deinen Drogenfreunden?‘
‚Warum redest du nicht mit mir?‘
‚Was ist bei dir nur falsch gelaufen?‘
Irgendwie sowas in der Art hatte ich zu erwarten.
Meine Mutter würde in der Tür stehen und über mich herfallen wie ein römischer Herr über seinen Sklaven, der eine Karaffe mit Wasser verschüttet hatte.
Doch heute stand niemand in der Tür.
Nur der Geruch von Wein und Zigaretten begrüßte mich in der kalten Wohnung.
Irgendetwas stimmte nicht.
„Mama?“ Ein wenig hilflos irrte mein Ruf durch die Zimmer und brauchte eine Weile bis er mir etwas aus der Küche zurückbrachte.
„Komm bitte in die Küche, Viktoria!“
Mein Unbehagen stieg, der kraftlose, von Wein und Traurigkeit beschwerte Klang in der Stimme meiner Mutter verhieß nichts Gutes.
Langsam betrat ich die Küche.
Der Anblick, der sich mir bot, bestätigte alles.
Meine Mutter saß zusammengesunken am Küchentisch und starrte auf die leere Weinflasche vor sich. Kein seltener Anblick, der mir allenfalls Mitleid entlockt hätte.
Doch am Waschbecken stand ein steifer, breitschultriger Anzug, dessen schwarze Lackschuhe über das Linoleum quietschten als er mit festen Schritten auf mich zu kam und mir zur Begrüßung fast die Hand brach.
„Es freut mich dich kennenzulernen Viktoria. Mein Name ist Doktor Montaire.“
Viele von euch werden jetzt so blöde Fragen wie „Was ist hier los?“ oder „Was wollen sie von mir?“ erwarten, aber ich konnte mir schon denken was los war.
Ich sagte also nichts, lächelte lieb und wartete bis der Doktor meine Hand wieder los lies und entleerte den Rest vom Weinglas meiner Mutter über seiner perfekt gescheitelten Frisur.
Jetzt musste ich schnell handeln.
Der Doktor stand ungünstig und in einem Wettrennen zurück zur Haustür hätte ich bestimmt den Kürzeren gezogen.
Also wählte ich die nächstbeste Alternative und verschanzte mich in meinem Zimmer.
Der Doktor hatte nicht gerade einen zierlichen Eindruck gemacht und die Kommode, die ich vor die Tür geschoben hatte würden für seine Schraubstockhände sicher kein großes Hindernis sein. Aber ich brauchte sowieso nur eine kurze Auszeit.
Ich zerrte meine Ledertasche, das einzige was ich von Mare Elenna mitnehmen durfte, aus ihrem Versteck, legte sie aufs Bett und stieß das Fenster auf.
Dann war mein Handy dran. Bellamy war meine einzige Hoffnung.
„Was ist los?“ Seine besorgte Stimme antwortete mir nur Sekunden nachdem ich die Nummer gewählt hatte.
Er kannte mich eben zu gut. Er wusste, dass ich nicht einfach so anrufen würde.
Nicht nach meiner vorherigen Szene.
„Die wollen mich in eine Anstalt stecken!“ zischte ich panisch und schnappte nach Luft. Schon der bloße Gedanke nun vollends eingesperrt zu werden schnürte mir die Luft ab.
„Da ist so ein Doktor in unserer Wohnung!“ Der in diesem Moment schon gegen meine Tür bollerte.
„Ich hab nicht mehr viel Zeit! Hilf mir bitte!“
„Ich komme sofort!“ war die knappe Antwort.
Für mich kam dieses sofort aber leider zu spät, denn in diesem Moment krachte Doktor Montaire durch meine Zimmertür. Jetzt musste ich Zeit schinden.
„Rot steht ihnen gut!“ spöttelte ich und deutete auf die Weinflecken auf seinem Hemd.
Mein Gegner blieb ruhig und nahm mir so jede Angriffsmöglichkeit.
Er stand wie eine Festung in den Resten meiner Tür und so lange er seine Soldaten nicht nach draußen schickte hatte ich keine Chance.
„Bitte Viktoria, ich will dir doch nur helfen. Wir wollen doch nur wissen was mit dir passiert ist und dir helfen das Trauma aufzuarbeiten.“
Ich musste lachen. Das war so absurd.
„Hören sie mir mal zu. Das hier, das alles ist mein Trauma! Nicht das was ich zurückgelassen hab. Wenn es nach mir ginge wäre ich auch immer noch da, aber wie sie sehen interessiert sich niemand dafür was ich will! Und wenn ich ihnen erzählen würde was mit mir passiert ist würden sie mich gar nicht erst wieder aus ihrer fabelhaften Anstalt raus lassen. Sie wollen mir helfen? Das einzige was mich wieder glücklich machen würde können Sie mir sicher nicht geben, also warum tun sie sich nicht einfach den Gefallen und verschwinden von hier?“
Nun meldete sich auch meine Mutter zu Wort, die irgendwo hinter dem Doktorschrank zu stehen schien.
„Jetzt sei doch vernünftig und hör auf so wirres Zeug zu reden. Wenn du so weiter machst endest du wirklich noch als Yunkie in irgendeinem Bordell.“
Der Doktor nickte zustimmend und kam auf mich zu.
„Es ist wirklich für alle das Beste wenn du jetzt einfach mitkommen würdest.“

Ein Vorteil an meinem neuen Leben war, das ich gelernt hatte in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben. Ich blickte mich um – Flucht unmöglich.
„Das ist wahrscheinlich das Beste.“ Sagte ich langsam und verzerrte meine Lippen zu einem Lächeln um den Impuls zu unterdrücken ihm ins Gesicht zu spucken.
„Schön das du mir da zustimmst, Viktoria. Es wird dir bei uns gefallen. Die Soumrak - Klinik hat einen hervorragenden Ruf und das sogar auch außerhalb unseres Landes!“
Soumrak? Der heruntergekommene Psychoknast, der sich 20 Kilometer von jeglicher Zivilisation im Wald versteckte?
Nun kam doch Panik auf. Irgendwas war hier faul.
Meine Mutter, so verrückt sie auch war, würde da niemals von sich aus anrufen.
Was zum Teufel machte dieser Doktor hier und was wollte er ausgerechnet von mir?
„Darf ich mir eben meine Sachen holen?“
Der Doktor lächelte wieder und diesesmal schien ein Hauch von Wahnsinn über sein unscheinbares Gesicht zu flimmern.
Langsam, fast tranceartig drehte ich mich um und stopfte wahllos Sachen in meine Tasche, zum Schluss auch noch Tamirs Hemd, das ich hütete wie einen Schatz.
Dann tippte ich noch eilig eine SMS in mein Handy: "Die bringen mich nach Soumrak. Irgendwas stimmt nicht! Hilfe!"

Ich wickelte das Handy in Tamirs Hemd und hoffte, dass Bellamy irgendetwas einfiel um mir zu helfen.Dann hörte ich die ungeduldigen Schritte des Doktors und schloss die Tasche hastig.
„Fertig?“ er riss mir die Tasche aus der Hand und packte mich am Arm.
„Los, komm jetzt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Ein letztes Mal warf ich einen hilfesuchenden Blick zu meiner Mutter.
Doch die umklammerte nur ein neues Weinglas und sah mich entschuldigend an.
Wortlos stolperte ich dem Doktor das Treppenhaus hinterher und riss mich erst los als wir draußen im Regen standen.
Meine Mutter war nicht mit runtergekommen, dafür stand Frau Humbert in der Tür und musterte mich misstrauisch.
„Was glotzen Sie so? Darf ich meine Freier nicht zuhause empfangen?“ blaffte ich sie an und stieg in den schwarzen Wagen der mich stark an einen Leichenwagen erinnerte.
Als sich der Wagen in Bewegung setzte sah ich flüchtig etwas an uns vorbeirauschen.
Ein blaues Sweatshirt und mausgraue Haare.
Wenn bei irgendwem Hoffnung zu finden war, dann bei Martin Bellamy.

Stundenlang fuhren wir durch verschlafene Dörfer die sich unter dem regenverhangenen Dunst zusammenkauerten oder, was noch schlimmer war, durch ein großes graues Nichts. Stunde um Stunde reihten sich Wälder an Felder und Weiden an Flüsse.
Ich hatte inzwischen vollkommen die Orientierung verloren und erst als ich die Straßenschilder nicht mehr lesen konnte wurde ich unruhig.
Nová Ves v Horách
War das erste Schild was ich im dunklen Dämmerlicht entziffern konnte.
In Deutschland waren wir auf jeden Fall nicht mehr.
Aber wo waren wir dann? Polen, Tschechien?
Das ganze hörte sich mehr nach Tschechisch an und ich konnte mich noch erinnern, dass die Autobahnschilder eine nicht mehr allzu große Entfernung nach Dresden angezeigt hatten.
Vorsichtig zog ich mein Handy aus der Tasche und informierte Bellamy über unsere Reiseroute. Doch dieses Mal wurde ich bemerkt.
„Das wird dir hier nicht viel nützen.“ Sagte der Doktor beiläufig.
„Wir haben hier ein vollkommen unzureichendes Mobilfunknetz.“
Er grinste einmal „freundlich“ in den Rückspiegel und hantierte am Radio.
Meine Stimmung hob ich schlagartig, denn im selben Moment brach mein Handynetz zusammen. Wunderbar jetzt hatte Doktor Frankenstein auch noch einen Handystörsender in seinem Auto. Zum Glück hatte meine SMS noch gerade so auf den Zug aufspringen können allerdings stellte sie sich als vollkommen wertlos heraus, da ich mir noch geschlagene sechs Stunden die tschechische Landschaft ansehen durfte bis wir endlich an einem kleinen Ort anhielten dessen Schild zum Glück beleuchtet war.
Mosty u Jablunkova
Hurra, 3-Sterne Luxuswellnesshotel ich komme!
Wenn ihr jetzt aber glaubt das wäre unser Ziel muss ich euch leider enttäuschen. Dr. Frankenstein hielt an einer schäbigen Tankstelle, füllte seinen Leichenwagen wieder auf und nun wurde es richtig herrlich. Wo ich schon die deutsche Felderlandschaft mit ihren kleinen Kuhweiden und den friedlichen Wäldern als schrecklich empfunden hatte, drängte sich mir nun die Frage auf, ob wir nicht schon längst in Transsilvanien und auf dem Weg zum Schloss von Vlad III. Drăculea

waren.
Um jetzt noch alle anderen Horrorfilmklischees zu bedienen schließt die Augen und stellt euch einen perfekten Gruselwald vor durch den sich eine kleine schlaglochübersäte Straße windet.
Er ist stockfinster und die Scheinwerfer des Autos tasten sich wie bleiche Finger durch die Dunkelheit.
Noch eine Biegung und ihr erblickt Frankensteins Sommerresidenz.
Ein altes, heruntergekommenes Gemäuer mit schief hängenden Türen und grauenvollen Schreien die aus dem Keller klingen.
Fledermäuse flattern aus dem Dachgebälk und von irgendwoher tönt das gespenstische Leuten einer einsamen Glocke.
Wir kommen an, der bucklige Hausdiener Igor macht uns die Tür auf und grinst mich mit verfaulten Zähnen an.
Schon kommt eine Schar von Zombiekrankenschwestern um mich zu einer von ihnen zu machen- und nun stellt euch in diesem Szenario mal ein Duplikat der Schwarzwaldklinik vor.
Passt irgendwie nicht, oder?
Dann könnt ihr sicher meine Überraschung verstehen als wir um die nächste Biegung fuhren und tatsächlich vor der kleinen Schwester der Schwarzwaldklinik hielten.
Ein sauberes, weißes Gebäude das friedlich vor sich hin schlummerte.
Ein untersetzter Portier öffnete uns die Tür und bestand darauf meine Tasche zu tragen. In der warmen und hellen Eingangshalle warteten zwei überraschend gut ansehende Krankenpfleger auf mich, drückten mir eine Tasse Kakao in die Hand und führten mich zu meinem Zimmer. „Ich hab dir doch gesagt, dass es dir bei uns gefallen wird, Viktoria!“ sagte der Doktor zufrieden und lächelte über mein fassungsloses Gesicht.
Mein Zimmer war auch keine vermoderte Gummizelle, sondern ein freundlich eingerichteter Raum mit einem großen Fenster. „Wir lassen dich jetzt mal in Ruhe ankommen, du musst todmüde sein.“
In diesem Fall hatte er zu mindestens Recht.
Seitdem ich angekommen war hatte sich eine bleierne Müdigkeit in meinen Gliedern breitgemacht. Ich zog die Tür hinter mir zu, warf meine Klamotten auf einen Stuhl und verkroch mich unter der Bettdecke. Bevor ich aber noch eine Gelegenheit hatte meine Situation zu bedenken sank ich schon in einen tiefen Schlaf.


Ich irrte durch die Klinik, ein leerer Gang nach dem anderen, hunderte von Türen, Weinen, Wimmern, Schreie. Versuchte ich eine der Türen zu öffnen, war sofort eine dauerlächelnde Krankenschwester zur Stelle, die mich freundlich aber bestimmt zurück zu meinem Zimmer führte. Über allem lag das traurige Heulen des Windes, gemischt mit einem alten Lied, das ich im Mare Elenna gelernt hatte.

Über allen Horizonten
Nur Schweigen im Nichts
Und der einsame Wanderer
Verbannt ins Exil
In die ewige Wüste
Um zu trauern
der ersten Liebe Tod
und so sucht er für immer
das was nicht ist
und niemals mehr wird.

21. September


Am nächsten Morgen schreckte ich wenig erholt aus dem Schlaf und langsam beschlich mich ein ungutes Gefühl.
Irgendwas stimmte hier nicht und das hätte mir schon gestern Abend auffallen müssen.
Ein nettes Zimmer und ein leckerer Kakao machten aus dem Doktor noch lange nicht den Weihnachtsmann.
Die Luft war inzwischen ziemlich stickig geworden und als ich das Fenster öffnen wollte, bestätigten sich meine Sorgen.
Die Fenster waren verschlossen und es sah auch nicht danach aus als ob sie dazu gebaut worden waren.
Ich steckte also in einer merkwürdigen Psychoklinik fest und war vollkommen abgeschnitten von meiner mächtigsten Waffe.
Ich wollte mir gerade frische Sachen aus meiner Tasche holen, als mir auffiel das ich die nicht mehr gesehen hatte, nachdem der Portier sie mir abgenommen hatte.
Wütend schleuderte ich mein Kissen an die Wand und fegte damit die halbvolle Kakaotasse von Tisch.
Als ich mir den Scherbenhaufen etwas genauer ansah, wurde mir auch der Grund für meine plötzliche Müdigkeit klar.
Aus der braunen Brühe auf dem Boden, kam der gleiche Duft emporgestiegen, den ich von der Einschlafmilch meiner Mutter kannte.
Wenn die Tasse nicht schon kaputt wäre hätte sie spätestens jetzt ein gewaltsames Ende gefunden.
Ich warf mich zurück aufs Bett und schrie in die Matratze.
Wie hatte ich nur so blöd sein können? Kaum zwei Monate zurück und schon hatten sich meine Instinkte ins Nirvana verabschiedet.
Um neun Uhr kam eine Krankenschwester um mir mein auf den ersten Blick köstliches Frühstück zu bringen.
Wortlos wischte sie schnell den Kakao vom Boden und teilte mir mit, das Doktor Montaire mich um zehn in seinem Büro sprechen wollte.
Dann ließ sie mich wieder alleine und ich machte mich daran die Toilette mit meinem Frühstück zu füttern.

Zwar blickte ich dem ganzen etwas wehmütig hinterher, denn mein Magen hing mir inzwischen in den Kniekehlen, aber das Beruhigungsmittel in meinem Begrüßungskakao war mir eine Lehre.
Als ich aus dem Bad zurück war, fand ich weiße Krankenhauskleidung auf meinem Bett. Widerwillig schlüpfte ich in die weißen Leinen und verließ mein Zimmer.
Zielsicher fand ich den Weg zurück zur Eingangshalle und traf unterwegs sogar auf andere Patienten, die aber allesamt mehr mit sich selber als mit ihrer Umwelt zu tun hatten.
Wieder wunderte ich mich über die Offenheit der Klinik, doch ich traute dem Braten nicht. Zu Recht.

Kaum kam die Eingangstür in Sicht, eilte die Rezeptionistin zu mir. „Guten Morgen Viktoria!“ strahlte sie mich an und hakte sich bei mir unter. „Komm ich zeig dir wo du hin musst!“
Soviel zum Thema Freiheit. Sie stoppte an einer großen dunklen Eichenholztür, klopfte und schob mich rein.
Der Doktor saß in einem typischen Lederchefsessel kaute auf einer Kubanischen Zigarre und grinste mich selbstgefällig über seinen Schreibtisch hinweg an.
„Guten Morgen, Fräulein Janes. Gut geschlafen?“
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und funkelte mein Gegenüber feindselig an.

„Okay, jetzt hören sie mir mal zu!“ Es mag sein das man der Katze die Krallen gezogen hatte, aber fauchen konnte sie immer noch. „Ich weiß nicht was sie mit diesem Schmierentheater hier bezwecken, aber mich legen Sie damit nicht rein. Sie haben mich hier gegen meinen Willen verschleppt, Sie sind ungefragt bei uns aufgetaucht und jetzt halten Sie mich hier fest. Gestern Abend haben Sie mich unter Drogen gesetzt und mir meine Sachen weggenommen, also tun Sie mir den Gefallen und hören Sie mit diesem verlogenen Mist auf!“

Das breite Grinsen viel ihm aus dem glattgebügelten Gesicht, stattdessen schob er mir eine Tasse Kaffee zu. „Wohl doch nicht so gut geschlafen, was?“
Wortlos nahm ich die Tasse und schüttete ihm den frischgebrühten Inhalt in die Visage. „Mehr fällt ihnen nicht ein?“
Der Doktor zog ein Stofftaschentuch aus seiner Jackettasche und entfernte den Kaffee.
„Tja, es tut mir Leid Viktoria. Ich habe es dir wirklich leicht gemacht, aber wenn du es uns unbedingt schwer machen willst, bitte.“
Von hinten packten mich Schraubstockhände und der Doktor gab den Händen ein Zeichen.
„Was soll das werden? Lass mich los du großer Affe! Pack die Spritze weg! Hey, wag es nicht! Verdammt, was haben Sie mir da gegben….“
Der Doktor schien mir den Nebel, der für meine Lage verantwortlich war direkt ins Hirn gespritzt zu haben. Ich sah alles, ich hörte alles und das in einer schon fast ungewöhnlichen Schärfe. Aber in meinem Kopf verlor sich dann alles.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn meinem Körper irgendwelche sinnvollen Befehle geben. Ich sackte in meinem Stuhl zusammen und hörte das hämische Lachen des Doktors.
„Wisst Ihr, Prinzessin, ich muss zugeben, dass ich gehofft hatte, etwas Nützliches aus Euch herauszubekommen, aber da habe ich mich wohl verschätzt.
Tja, im Moment muss ich mich wohl damit zufrieden geben, dich aus dem Verkehr zu ziehen.
Ich weiß, eure Residenz hier, wird nicht ganz so luxuriös sein, wie sie Euch auf den Salenischen Inseln erwartet hätte, aber ich fürchte das müsst Ihr nun ertragen.“
Wovon zum Teufel redete der? Woher wusste er von den Salenischen Inseln?
Und vor allen Dingen, warum nannte er mich eine Prinzessin?
Okay, das alles waren Gedanken die mir erst viel später kamen, denn im Moment dachte ich Garnichts. Wer auch immer hinter mir stand, zerrte mich hoch und schleppte mich zurück in mein Zimmer.
Ich landete in meinem Bett und die Tür wurde hinter mir geschlossen.
Dann versank alles endgültig im Nichts.

15. November


Ein kleiner Stich in den Oberarm. Einer von vielen. Es drang kaum in mein Bewusstsein.
Eine Ohrfeige. Jemand hatte mir tatsächlich ins Gesicht geschlagen. Noch mehr überraschte mich meine eigene Reaktion. Ich schlug zurück.
Der plötzliche Impuls katapultierte mich mit einem Schlag wieder ins hier und jetzt. Es war ein Gefühl als würde ein Verdurstender aus der Wüste direkt in eine kühle, klare Quelle springen, nur ohne die Gesundheitsrisiken. Der Nebel lichtete sich und meine Gedanken flossen wieder.
Und sie flossen schnell. Wo war ich? Was war passiert? Warum war ich wieder wach? Doch dann drehte sich alles nur noch um das stöhnende Bündel das in der Zimmerecke lag. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein Pfleger. Die Kleidung ließ zu mindestens darauf schließen. Doch diese Haare…
„Verdammt Viki, ich glaub du hast mir die Nase gebrochen!“
„Bell-hust, räusper, hust, Bellamy?“
Mein Hirn musste wohl noch etwas benommen sein, denn ich brauchte noch ein paar Augenblicke bis ich endlich aus dem Bett sprang und meinem besten Freund um den Hals fiel.
„Es tut mir so leid Viki!“ nuschelte er in meinen Kittel. „Das ich so lange gebraucht habe! Aber mein Tschechisch ist ein wenig eingerostet! Ich hab echt gedacht, dass ich dich nicht mehr lebend wiederfinde.“
In meinem Magen machte sich ein komisches Gefühl breit. Ob es an dem komischen Essen der letzten… ja was eigentlich… ?
„Was meinst du mit lange gebraucht?“ ich traute mich kaum die Frage auszusprechen.
Bellamy sah mich mitleidig an und wies stumm zum Fenster.
Draußen lag Schnee. Und nicht nur ein paar verirrte Herbstflocken. Alles war bedeckt von einer dichten Schneeschicht.
„Nein! Nein das ist nicht möglich!“
„Wir haben November! Es tut mir so leid!“
„Ist nicht schlimm. Es ist nicht deine Schuld. Die Hauptsache ist, das du jetzt da bist. Also los, verschwinden wir von hier!“
Nun erlaubte sich auch Bellamy ein Lächeln.
„Naja, wenigstens stehe ich hier nicht mit leeren Händen da.“ Er wies zur Tür, wo zu meiner großen Überraschung meine Tasche stand!
„Oh mein Gott, wie bist du da dran gekommen?“ rief ich und umarmte ihn ein weiteres Mal. „Ich hab mich hier anstellen lassen. Einfach ein bisschen auf beschränkt tun und keine Fragen stellen. Eigentlich bin ich schon seit gestern hier, aber da konnte ich das noch nicht riskieren.“ Er ging zu seinem Medikamentenwagen und zog einen zusammenklappbaren Rollstuhl aus dem untersten Fach.
„Bitte sehr, ihre Limousine, my Lady!“
Ich stieg ein und vergrub mich in der Decke die Bellamy mir gereicht hatte.
„Und du glaubst, das klappt?“ fragte ich skeptisch, als er mir noch meine Tasche unter die Decke steckte.
„Ich hoffe mal.“ Er grinste mich noch mal an und wuschelte mir durchs Haar.
„Ansonsten sind wir beide erledigt.“
Dann setzte er einen dermaßen stumpfen Gesichtsausdruck auf, dass ich angefangen hätte zu lachen. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Aber so blieb mir nichts anderes übrig als den Kopf nach vorne fallen zu lassen und zusammenhanglose Worte zu brabbeln.
Zu meiner großen Überraschung schenkte uns auch niemand größere Beachtung. Bald waren wir in einem Bereich der Klinik angekommen, indem uns niemand mehr über den Weg lief. Eine unheimliche Stille hatte sich auf alles gelegt und die Zimmer schienen alle leer zu sein.

… und so sucht er für immer
das was nicht ist
und niemals mehr wird…

Ich sprang aus dem Rollstuhl und für einen schrecklichen Moment glaubte ich mich wieder in meinem Albtraum.
„Hast du das auch gehört?“ fragte Bellamy und drehte den Kopf in alle Richtungen um noch einen Ton zu erhaschen.
„Wir müssen den Ursprung finden!“ rief ich und warf mir meine Tasche über die Schulter.
„Das ist ein Lied aus dem Mare Elenna! Hier ist irgendwo jemand, der vielleicht weiß was das hier alles zu bedeuten hat!“
Bellamy sah mich wenig überzeugt an, doch ich ließ ihm einfach keine Zeit zum überlegen.

Über allen Horizonten
Nur Schweigen im Nichts
Und der einsame Wanderer

Da war es wieder! Gang für Gang hastete ich durch die Klinik und tatsächlich hörte es sich so an als würde ich näher kommen.

…Verbannt ins Exil
In die ewige Wüste
Um zu trauern…

Nach zwei weiteren Korridoren, hatten wir endlich die Tür erreicht, die das Lied in die Klinik entließ.

…der ersten Liebe Tod
und so sucht er für immer…

„Du hast doch bestimmt Schlüssel für die Zimmer oder?“
Bellamy zog sie aus der Tasche und wog sie unschlüssig in der Hand. „Viki, du hast keine Ahnung was da hinter sein könnte!“
„So wie es sich anhört ein kleines Mädchen, oder ein drei Meter großer Hulk mit Stimmproblemen!“ Ungeduldig schnappte ich ihm die Schlüssel aus der Hand und öffnete klickend das Schloss.

Drinnen war aber zunächst nur Schwärze. Das Lied verstummte abrupt und dann leuchteten zwei Saphire auf.
„Ihr seid keine Pfleger und ihr seid keine dieser armen Kranken.
Was tut ihr hier, Junge aus dieser und Mädchen aus meiner Welt?“
Die Stimme schien zunächst vollkommen Körperlos aus dem nichts zu kommen.
Die Saphire schienen zu flackern und als sich meine Augen langsam an das Licht gewöhnt hatten, nahm auch das Nichts um die Saphire Gestalt an.
Und formten ein Gesicht! Die Saphire waren Augen!
Der Rest des zarten Gesichts schimmerte weiß und der Körper verschwamm, eingehüllt in schwarze Tücher, mit dem dunklen Hintergrund.
„Beeil dich!“ rief Bellamy ängstlich und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Vorsichtig trat ich in den Raum und näherte mich dem geheimnisvollen Mädchen.
„Ich bin hier um dir zu helfen!“
Irgendetwas stieg aus den tiefen meiner Erinnerung auf.
Ein altes Bild, aus der Zeitung? Von Flugblättern?
Ein verdrecktes, durchnässtes Blatt Papier kam mir in den Sinn.
Darauf abgebildet: ein Porträt der Kesaré Ozaena. Der Kaiserin des Mare Elenna.
Ein kleines Mädchen, mit weißer Haut und saphirblauen Augen!
„Gütig von dir, Mädchen meiner Heimat, mir zu helfen, wo doch du es bist die am meisten Hilfe braucht!“
Wenn ich die Stimme hätte beschreiben müssen, mir wäre wohl das sanfte Säuseln einer seichten Sommerbrise eingefallen, untermalt mit dem Rauschen eines unendlichen Ozeans.
„Verdammt Viki, wir bekommen Besuch!“
Ich sank ehrfürchtig vor meiner Kaiserin auf die Knie.
„Verzeiht mein ungebührliches Verhalten, Kesaré!
Aber wir müssen jetzt hier verschwinden! Das Wichtigste ist, dass wir Euch jetzt sicher hier raus bekommen!“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren!“
Die Kaiserin stand auf und ging langsam auf den Flur. Draußen konnte man schon hastige Schritte hören.
„Wo geht’s hier raus?“ rief ich Bellamy zu, der wiederum seine Augen kaum von der Kaiserin wenden konnte. „Zwei Gänge und dann die Treppe runter. D
as schaffen wir nicht mehr, die Pfleger sind gleich hier!“
Hektisch blickte ich mich um. So gerne ich Bellamy vertraute, aber der schlaksige Junge war wohl kaum der Typ der die Gorillaarmee des Doktors aufhalten könnte und ich war von meiner stärksten Waffe abgeschnitten. Oder doch nicht.
Wie alle Fenster die ich bis jetzt in dieser Klinik gesehen hatte, war das kleine Exemplar, das den Flur nur spärlich beleuchtete nicht zu öffnen.
Zu mindestens nicht auf dem normalen Weg. Innerlich schalt ich mich für meine eigene Blödheit und sah mich nach einem Fensteröffner um.
Da fiel mir der Schlagstock auf, den Bellamy an seiner Pflegeruniform trug.
Mein Gott, was ein sympathisches Personal! Als Waffe taugte das Ding nicht viel, vor allen Dingen nicht in Bellamys Händen.
Aber zum Zerschlagen von Glas war es bestens geeignet.
„Okay hör mir genau zu. Du gibst mir deinen Schlagstock, nimmst jetzt die Kaiserin und verschwindest von hier! Überlasst mir den Rest!“
Bellamy nickte, fummelte nervös an seinem Gürtel rum und fluchte.
„Warum muss denn immer Gewalt die Lösung für alles sein?“ fragte die Kaiserin, legte ihre Hand beruhigend auf Bellamys und richtete ihre andere auf die Fensterscheibe.
Sie verschwand! Der Wind rauschte herein und tobte um mich herum.
Mir war, als bekäme ich seit Monaten endlich wieder Luft.
„Eine n Schritt weiter und ich töte euch alle!“
Eine vor Wut und Anspannung überschnappende Stimme donnerte durch den Flur und der Doktor tauchte auf, einen Revolver von sich streckend.
„Glaub mir, das hättest du nicht tun dürfen Miststück!“ zischte er bedrohlich und richtete seine Waffe auf Bellamy, der die Kaiserin reflexartig hinter sich schob.
„Verschwindet von hier!“ rief ich und ließ den Wind um meinen Körper streichen.
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Bellamy drehte sich um, packte die Kaiserin, wollte losrennen, der Doktor schoss und Bellamy stürzte.
Der weiße Pfleger Kittel färbte sich rot und kleine Tropfen schlugen wie Perlen auf dem dreckigen Linoleumboden auf.
„BELLAMY!“ ich wollte gerade zu ihm, als die Kaiserin ihn mit einer unglaublichen Leichtigkeit hochzog.
„Gewalt sollte nie die Lösung sein, vergiss das nie!“
Ihre Stimme erinnerte nun mehr an das tiefe Grollen eines herannahenden Sturms.
„Aber letztendlich sind wir alle Menschen und die haben Gefühle!“
Und meine sollten sie jetzt spüren! Ich ließ den Wind aufheulen und drohend durch den Korridor peitschen.
„Oh, äußerst beeindruckend, aber am Ende doch nutzlos. Was willst du gegen meine Pistole ausrichten? Sie anpusten?“
Er lachte dröhnend und ließ den Revolver klicken.
„Sagen Sie mal, Doktor, haben sie schon mal etwas von einem schneidenden Wind gehört?“ ich hob die Hand und ließ sie blitzschnell durch die Luft schnellen.
Das war ein Trick den ich mir von Sirius, unserem Schwertkämpfer, abgeguckt hatte, nur das der Klingen nutze. Wie auch immer, der Trick zeigte wie immer Wirkung und der Gorilla hinter dem Doktor verlor den Kopf.
„Macht jetzt das ihr verkommt!“ brüllte ich den anderen durch den aufbrausenden Wind zu.
Die Kaiserin nickte und strich sich mit der Handfläche einmal über Stirn, Nase und Lippen – ein alter Abschiedsgruß der ein baldiges Wiedersehen versprach.
Ich erwiderte die Geste, indem ich meine Hand in umgekehrter Richtung über mein Gesicht strich.
Das verschaffte dem Doktor genügend Zeit sich zu fangen.
„Ich habe dich unterschätzt, das war ein Fehler.
Ich habe doch für einen Moment deine Herkunft vergessen.“
Verdammt! Warum musste der Einzige, der etwas von meiner Herkunft wusste, ausgerechnet mein größter Feind sein? War ja mal wieder klar, warum sollte es auch ein einziges Mal einfach sein?
Er richtete den Revolver auf mich und grinste verzerrt. „Lebt wohl, Prinzessin. Oder nein, das wohl eher nicht, denn leider, hat diese Welt keinen Himmel!“
Ich seufzte, ließ den Wind verstummen und schüttelte den Kopf.
„Sie müssen mir verzeihen, denn auch ich habe Sie falsch eingeschätzt.“
Stimmt, der Kerl war ja noch beschränkter als seine Lakaien. Reichte nicht eine kopflose Leiche? Da mussten eben schwerere Geschütze ran.
Naja, das ganze hätte mir jetzt nicht viel genützt, denn wenn der Doktor geschossen hätte, wäre ich wahrscheinlich in Sekunden tot.
Aber er war viel zu sehr damit beschäftigt sich in seinem Erfolg zu suhlen.
Kleiner Tipp für alle Berufs- und Freizeitbösewichte: Der Grund, warum die Guten in den Filmen immer gewinnen und sich aus so schwierigen Situationen, meine gerade zum Beispiel, immer in letzter Sekunde retten können, ist eurer Narzissmus.
Ganz ehrlich wenn ihr den Helden sofort umbringen würdet, als stundenlang eure megagenialen Weltherrschaftspläne oder Zukunftsvisionen vor eurem Erzfeind auszubreiten, würdet ihr am Ende auch mal gewinnen. Aber so haben sie immer genug Zeit den Bösen zu überrumpeln.
So, weiter gehts. Wo waren wir? Ach ja, der Doktor stand also da im Korridor, hatte die Waffe auf mich gerichtet und feuerte nicht! Tja, sein Pech. Dann war eben wieder ich dran.
Ich ließ den Wind vor mir aufbranden, sich türmen und stauen, wie eine riesige Welle, Schicht um Schicht vergrößerte ich den Druck, bis selbst ich den Wind kaum noch halten konnte.
Dann entließ ich die Kraft in einem Schlag und der Doktor verschwand aus meinem Sichtfeld.
„Ich mach dich fertig Viktoria! Du kleine Schlampe wirst es noch bereuen! Ich mach dich fertig, dich und deinen kleinen Freund! Wartet es nur ab!“
Da ich aber keine Lust hatte zu warten, machte ich mich schnell aus dem aufgewirbelten Staub und zwei Gänge und eine Treppe später stand ich im Schnee.
Meine Anspannung und die Sorge um Bellamy hatten aus dem leisen Rieseln des Schnees einen tosenden Sturm werden lassen und ich brauchte einige Momente um mich und den Wind soweit zu beruhigen, dass ich mehr als 2cm Sichtweite hatte.
Da blitzten plötzlich Scheinwerfer auf und ein dröhnender Motor näherte sich.
Geblendet vom Licht, war mein erster Reflex wegzurennen, doch dann konnte ich hinter der Windschutzscheibe, zwei blaue Leuchtpunkte ausmachen.
Kurz, für meinen Geschmack sogar zu kurz, vor mir kam der Wagen rutschend zum halten und ich schlitterte zur Fahrertür. „Raus!“
Bellamy war noch bleicher als sonst und zitterte am ganzen Körper. „Nein, das geht sch-“
Ich packte ihn am Kragen und zog. „Vergiss es, so fährst du auf keinen Fall! Damit bringst du nicht nur dich um sondern uns gleich mit!“
Der rote Fleck auf seinem Kittel war auf eine eindeutig ungesunde Größe angewachsen und als ich ihn aus dem Wagen half, drängte sich mir die Frage auf, wie er den Wagen hatte fahren können.
Ich sah über ihn hinweg zur Kaiserin und sah in ihrem Gesicht dieselbe Sorge wie in meinem, sofern man in Augen, die weder „das Weiße“, die Iris oder Pupillen hatten, überhaupt Gefühle lesen konnte.
„Kannst du ihm helfen?“
Die Kaiserin nickte und kletterte auf den Rücksitz.
Ich bugsierte Bellamy ebenfalls auf den Rücksitz und nahm seinen Platz ein.
Es wurde Zeit das wir verschwanden.
Breite Reifenspuren waren das einzige was zurückblieb und auch die waren bald schon im Schnee verschwunden.

16. November


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es noch dunkel in dem großen schwarzen Geländewagen, den Bellamys Vater sicherlich vermisste.
Das lag aber eher an der Tatsache das der Wagen unter einer weißen Schneedecke schlummerte als an fehlendem Tageslicht.
Vor meinen Lippen schwebte mein gefrorener Atem und erinnerte mich schlagartig daran wie kalt es war.
Zitternd versuchte ich den Motor anzulassen, doch mit steif gefrorenen Fingern gestaltete sich das Ganze etwas schwierig.
Nach einigen Minuten hatte ich den mürrischen Motor endlich davon überzeugt anzuspringen, doch die völlig überforderte Heizung machte die Situation auch nicht viel besser und bei dem Versuch den Schnee mittels Scheibenwischer von der Windschutzscheibe zu entfernen, brach ich lediglich den Hebel ab.
Ich wollte schon gerade aussteigen und mit dem kratzen anfangen als von der Rückbank ein glockenhelles Lachen erklang.
„DU bist eindeutig schon zu lange in dieser Welt!“
Da konnte ich der Kaiserin nicht wiedersprechen.
Ich kurbelte das Fenster ein Stück runter und ließ den Wind die Arbeit machen.
Als endlich wieder genug Licht ins Auto fiel, konnte ich die beiden Figuren erkennen die es sich mit den Rücksitzen arrangiert hatten.
Bellamy hatte eine Pose eingenommen, die mich stark an der Bequemlichkeit zweifeln ließ. Ob er jetzt genau lag oder saß konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber das seine Brust sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte sah ich deutlich, genau wie die Tatsache das der rote Fleck auf seinem Kittel um keinen Millimeter gewachsen war.
Dann fiel mir auf, dass der kleine schwarze Haufen, der sich neben Bellamy zusammengekauert hatte, viel zu klein war um ein, wenn auch ziemlich zierliches, Mädchen zu beinhalten. Die Stimme der Kaiserin war aber eindeutig aus den schwarzen Stoffen gekommen.
Verwirrt lehnte ich mich an meinem Sitz vorbei näher zu den Rücksitzen und plötzlich kam auch Leben in die Stoffe.
Doch anstelle der Kaiserin tauchten flauschige Katzenohren auf!
Gefolgt von einem schmalen, pelzigen Köpfchen, vier Pfoten und ein Schwanz.
Ich muss das Tier wohl unglaublich dämlich angeglotzt haben, denn das Selbe Lachen, das ich eben schon gehört hatte, kam nun aus der Schnauze der Katze.
„Jetzt komm schon, sag mir nicht, dass du im Mare Elenna noch nie einen Gestaltwandler gesehen hast?“
Ja okay das hatte ich tatsächlich schon, aber ein Gestaltwandler im Geländewagen von Bellamys Vater mitten im Tschechischen Winter? Das hatte mich dann doch Überrascht.
„Außerdem musst du doch zugeben, dass es so eindeutig besser ist.
Man hat eben mehr Platz wenn man Klein ist.“
Die Katze wühlte sich aus den Tüchern und tapste zu Bellamy rüber. „Die Wunde ist verschlossen und seine Kräfte sollten auch zurückgekommen sein.
Nichts hilft mehr als ein erholsamer Schlaf.“
Die Katze wandte den Kopf nach rechts und links und ließ schon wieder dieses faszinierende Katzenlachen hören.
„Obwohl diese Nacht für uns alle wohl nicht so erholsam war.“
Die Katze wollte es sich gerade auf Bellamys Schoß bequem machen, als Bewegung in diesen kam und Bellamy stöhnend aufwachte.
Als er das Tier auf seinen Beinen bemerkte zuckte er vor Überraschung so heftig zusammen, dass die Katze empört miauend auf den Beifahrersitz sprang.
„Wo zum Teufel kommt diese Katze her?“ rief er perplex.
„Schön zu sehen, dass meine Kunst Früchte getragen hat!“ sagte die Kaiserin schnippisch und leckte sich eingeschnappt das Fell.
„Die redet!“
„Und eindeutig sinnvollere Sachen, als du!“
„Ich glaube, Kesaré, es wäre für uns alle das einfachste wenn Ihr eure normale Gestalt annehmen würdet.“
„Immer diese beschränkten Menschen!“ seufzte sie und schüttelte den kleinen Katzenkopf. „Mein Name ist übrigens Jolua-Vale.
Und lass das mit der Kesaré, denn hier bin ich nichts weiter als eine verirrte Reisende.“
Sie sprang zurück in den Stoffhaufen, der augenblicklich anfing zu wachsen, bis schließlich wieder das saphiräugige Mädchen darin steckte.
„Dann sollten wir uns vielleicht mal darum kümmern euch beide wieder auf den richtigen Pfad zu schicken.“
Das war Bellamys erster konstruktiver Beitrag.
Er schien sich wohl gefangen zu haben.
„Da könnte ich vielleicht helfen. Ich kann mich in dieser Welt nicht zurechtfinden, aber ich weiß wo es noch ein Tor gibt.“
Wenn es nicht die Kaiserin gewesen wäre, wäre ich ihr jetzt um den Hals gefallen.
„Ein Tor? Ein Übergang?“ meine Gedanken überschlugen sich und nahmen mein Sprachvermögen mit. „Wo, wie, kommen, wie weißt du-“
„Ich weiß, dass es ein Tor gibt, das tief verborgen im Hemolaya Gebirge liegt.“
Bellamy und ich starrten sie verwirrt an.
Ich will jetzt zwar nicht behaupten sämtliche Gebirgsketten alphabetisch aufsagen zu können, aber von einem Hemolaya-Gebirge hatte ich wirklich noch nie…
Bellamy brach in schallendes Gelächter aus.
„Ich glaub du meinst den HIMALAYA.“ Prustete er und zog erneut Joluas Entrüstung auf sich.
„Ich bezweifle, junger Mann, das du so aus dem Stehgreif die Düsternebel von Kyslen-Djorgja buchstabieren könnest! Wie dem auch sei, ich weiß nicht genau wie wir zu diesem Tor gelangen können, aber was ich weiß, ist das ein Mann aus eurer Welt, Padavin, durch dieses Tor viele Forschungsreisen in unsere Welt unternommen hat. Wenn also jemand weiß wo dieses Tor zu finden ist, dann er.“
Ich muss zugeben, der Name Padavin löste bei mir rein gar nichts aus und wir hätten wohl den kompletten Himalaya von rechts auf links drehen müssen, wenn nicht zufällig ein atmendes Geschichtsbuch auf dem Rücksitz gesessen hätte.
„Padavin? Das war eine venezianische Adelsfamilie!“
Die Kaiserin zu umarmen verbot mir meine Ehrfurcht, aber Bellamy kassierte einen dicken Kuss. „Du bist einfach der Größte!“ jubelte ich.
Gut, es war nicht viel aber wir hatten immerhin ein Ziel.
Ich ließ den Motor aufheulen und der Wagen setzte sich murrend in Bewegung.
„Wir fahren also nach Venedig um nach eventuell existierenden Aufzeichnenden eines eventuell aus Venedig kommenden Mannes zu suchen?
Ich komm mir grad vor wie im Da Vinci Code.“ Fasste Bellamy kopfschüttelnd zusammen.
„Klingt doch spannend!“
Es war das erste Mal, dass mir ein vertrautes Gefühl in der Brust aufstieg.
Ein wohliges Kribbeln, das ich all die Monate die ich jetzt schon wieder hier war, so sehr vermisst hatte. Die Vorfreude auf ein Abenteuer.
Der Hauch von Gefahr und die Chance auf ein Wiedersehen mit Tamir.

Bellamy schien sich so weit berappelt zu haben, das er wieder fahren konnte und übernahm das Steuer.
Ich war ihm da auch ziemlich dankbar für, da ich mich in diesem schneebedeckten Einheitsbrei niemals zu Recht gefunden hätte.
Aber und jetzt fragt mich nicht warum, Bellamy wusste wo es langging.
Unter einer eintönig weißbedeckten Landschaft fand er die Straßen und auch noch die richtigen Straßen. „Du bist ein wandelndes Geschichtsbuch UND ein Navi in einem.“
Hatte ich am Anfang noch gelacht.
„Bei deinem Gedächtnis und deinem Orientierungssinn könnte man fast meinen, für dich hat man einen Elefanten mit nem Delphin gekreuzt.“
Jolua hatte zunächst auch gelacht, dann aber begonnen Bellamy genauer zu mustern.
„Nun, Viktoria, dir sollte die Herkunftsgeschichte und das Leben der Xysephos vertraut sein oder?“
Im ersten Moment hatte ich ihre Anspielung nicht verstanden, doch dann sind meine Augen groß geworden.
„Ja, klar!“ Oh Gott wie absurd schon alleine der Gedanke war.
Bellamy ein Xysephos? Jenem mysteriösen Volk, das weder eindeutig dem Tier noch dem Menschenreich zuzuordnen war.
Ich kam kaum noch aus dem prusten raus und Bellamy hatte verwirrt und verärgert zu uns rüber geglotzt und sich dann stumm auf die Straße konzentriert.
„Eines kann ich eindeutig sagen, Jolua, Bellamy ist eindeutig und zu 100% Mensch!“
Die Antwort der Kaiserin war nur ein Mona-Lisa-Lächeln gewesen.
Danach hatte niemand mehr etwas zu sagen gewusst.
Stumm fuhren wir durch die Stille und jeder brütete über seinen eigenen Gedanken und so zogen Stunden und Straßen an uns vorbei.
Bis die ersten Ausläufer der Alpen auftauchten und die Autobahnschilder Wien ankündigten. „Ich glaube wir sollten eine Pause machen.
Ich bin wirklich total am Ende und für ein warmes Hotelbett würde ich im Moment einiges tun.“
Dagegen war nichts einzuwenden und auf eine weitere Nacht im Auto war wohl keiner so wirklich scharf.
Bellamy nahm die nächste Abfahrt und als die ersten Lichter der Stadt auftauchten war auch die Stille vorbei, denn mit den Häusern kamen auch die Fragen der Kaiserin.
Wie es sich herausstellte, hatte sie von dieser Welt kaum mehr als die Klinik gesehen.
Während sich Bellamy an der Touristeninformation nach einem Hotel erkundigte, ließ ich mir von der Kaiserin ein Loch in den Bauch fragen.
Wobei ich, sehr zu meinem Erschrecken, ziemlich schnell an Grenzen stieß.

„Aber wie konnte es dazu kommen, dass ihr euch so in das System habt einsperren lassen?“
Für so eine Frage hatte ich jetzt wirklich keine Nerven mehr. Daher fiel meine Antwort auch etwas schärfer aus, als eigentlich beabsichtigt.
„WIR haben uns nicht einsperren lassen!
Das war die Generation vor uns und die davor.
Wir hatten da nichts mit zu tun. Das ist doch das Gleiche, wie wenn mein Vater ein Auto stielt und ich dafür ins Gefängnis muss!
Keine Ahnung warum die Menschen damals einfach mitgemacht haben. Das müsstest du sie schon selber fragen!
Vielleicht waren sie zu bequem ihr gemütliches Kleinbürgerleben zu riskieren, vielleicht hatten sie Angst vor dem Regime, ich weiß es einfach nicht.
Das ist eine Frage die man heute nicht mehr beantworten kann und ich bin auch ehrlich zu müde um es zu versuchen.“
In dem Moment kam Bellamy glücklicherweise zurück und sein Delphinhirn brachte uns sicher zu einem urig aussehenden Hotel.
Naja, so urig auch wieder nicht, was in mir die Frage aufwarf wie Bellamy diese Nacht bezahlen wollte.

„Ähem, meine Mutter hat mir ihre Kreditkarte verliehen…“
Mir war im Moment jedes Mittel Recht das mir ein Bett bescherte.
Der Rezeptionist machte zwar ziemlich große Augen als er Bellamys blutgetränkte Pflegeruniform und meinen Kittel sah, verkniff sich zu Glück aber jeden Kommentar.
Was vermutlich einfach daran lag das wir so aussahen als hätten wir einfach eine verdammt harte Nacht hinter uns gehabt und nicht weiter gefährlich waren.
Was ja letztendlich auch stimmte. Und das Gesicht der Kaiserin hatten wir unter einem meiner Kapuzenpullis verborgen.

Als wir dann endlich in unserem Zimmer waren, war mein erstes Ziel das Badezimmer.
Aber das, was mich da in dem kleinen goldgerahmten Spiegel anstarrte, war dann doch zu viel.
Bleiche Haut rahmte eingefallene restlos übernächtigte Augen ein und der abgegriffene Kittel hing schlabbrig an meinem abgemagerten Körper.
Meine erschreckende Veränderung nahm mich in den ersten Momenten so gefangen, das mir die Größte auf den ersten Blick gar nicht aufgefallen war.
Meine Haare! Meine wundervollen, langen braunen Haare!
Irgendein Mistkerl musste sie in der Klinik abgeschnitten haben, denn nun standen sie Streichholzkurz in alle Richtungen ab.
Dann fiel mir noch etwas auf. Meine Augen trübten sich. Das klare dunkle Grün meiner Augen, trübte sich ein und verschwamm.
„Es ist diese Welt die uns krank macht.
Sie trübt unsere Sinne, unsere Seele unseren ganzen Körper.
Das ist die Natur dieser Welt, sie vergiftet jeden der sich in ihr aufhält. Da trifft es natürlich alle besonders hart, die diese Welt nicht im Blut haben.“
Die Kaiserin stand in der niedrigen Holztür und musterte mich.
„Aber früher hat es mich doch auch nicht gestört! Seit ihr zurück bin habe ich wirklich das Gefühl das diese Welt mir krank mach und wenn ich mich jetzt so im Spiegel betrachte, sehe ich das mich dieses Gefühl nicht betrogen hat.“
„Dein Körper war an dieses Gift gewöhnt. Das war der Zustand den du kanntest. Dann bist du nach Hause zurück gekehrt und der Westwind hat all die Gifte buchstäblich aus dir herausgeblasen.
Das Wasser des Mare Elenna hat dich reingewaschen und dein wahres Wesen freigelegt. Und das kommt mit dieser Selbstzerstörerischen Kraft nicht klar.“
Jetzt, wo ich mir die Kaiserin genauer betrachtete, konnte ich an ihr ähnliche Symptome erkennen.
Was wohl zum Teil aber auch auf die fürsorgliche Pflege in der Klinik zurückzuführen war.
Ich seufzte und begutachtete die Ausstattung des kleinen holzgetäfelten Bades.
Allem Anschein nach, hatte Bellamy sich ein Hotel für Spontantouristen ausgesucht, denn neben den obligatorischen Miniseifen, lagen auch Zahnbürsten, Zahnpasta und Shampoo.
Die Kaiserin, ich fand es immer noch merkwürdig sie beim Namen zu nennen, hatte den Raum schon wieder verlassen und so schnappte ich mir meine Tasche und schloss mich im Bad ein. Eine heiße Dusche, eine lange heiße Dusche, war genau das was ich jetzt brauchte.
Doch ich konnte das warme Wasser keine zehn Minuten genießen bevor Jolua aufgebracht an die Tür hämmerte. „Viktoria, du musst sofort rauskommen!
Ich glaube wir bekommen Ärger!“
Entnervt und besorgt sprang ich aus der Dusche und schnappte mir die erstbesten Sachen die ich aus meiner Tasche fischen konnte.
Natürlich perfekt passend zum Wetter: Eine beige, weite Tunika und eine Jeanshose, die meine Deutschlehrerin gerne als breiten Gürtel bezeichnet hatte.
Ich hatte ja sowieso nicht vor diesen Abend noch rauszugehen. Jedenfalls nicht freiwillig.
Im Zimmer standen Jolua und Bellamy an dem der Straße zugewandten Fenster und tuschelten aufgeregt miteinander.
„Ich bin mir sicher das es der gleiche ist!“ zischte Bellamy und gestikulierte in Richtung Straße.
„Es sind nicht die Männer aus der Klinik, aber ich kann dir auch nicht sagen was ES ist.“
Verwirrt lugte ich über Bellamys Schulter, konnte auf der spärlich beleuchteten Straße aber nur einen schwarzen Sportwagen ausmachen und von denen hatte ich auf der Fahrt einige gesehen.
Oder immer wieder den gleichen?
„Wir werden verfolgt!“ bestätigte Bellamy meinen Verdacht.
„Montaires Leute?“
Jolua schüttelte den Kopf. „Ich kann zwar etwas spüren, aber es ist weder Mensch noch irgendwie sonst lebendig.“
„Willst du mir gerade sagen, dass wir von einer Leiche beschattet werden?“
„So könnte man mich nennen. Nur das Leichen normalerweise weder sprechen, noch laufen noch in Hotelzimmer einbrechen können.“
Kreischend wie ein kleines Kind fuhr ich herum und Jolua wurde mit einem Knall zur Katze und sprang auf Bellamys Schulter.
Vor mir stand ein Vampir. Naja, jedenfalls sah er so aus.
Abseits von glitzernden Vegetariern und tagebuchschreibenden Blutsaugern, war das, was dort im schwarzen Matrixmantel vor mir stand so ziemlich genau das, was ich mir immer unter einem Vampir vorgestellt hatte.
Dürr, leichenblass, schulterlange schwarze Haare und leere, gänzlich weiße Augen. Das Einzige was noch fehlte waren die Eckzähne und das die fehlten, sah ich an seinem Grinsen. Dafür hatte er ein spitzes Haifischgebiss. In Rot!
„Hey, hey, hey, beruhigt euch!” Beschwichtigend hob er die Hände, die mit Fingern versehen waren, die mindestens doppelt so lang waren wie meine und auch doppelt so viele Gelenke zu haben schienen.
„Ich will euch nichts tun! Und ich steh auch nicht so auf Blut. Ich bin euch von Blairwind aus gefolgt. Ich musste euch einfach kennen lernen und ich muss euch warnen!“
Nicht nur seine Finger schienen seltsam unproportioniert, seine Arme, seine Beine, alles an ihn war zu lang, zu dünn, zu… zu vielgelenkig.
Außerdem waren seine Augen zu groß, viel zu groß, größer noch als die der Kaiserin.
„Warnen? Wovor?“ Das Wesen war wirklich unheimlich und ich konnte das Bild des Vampirs immer noch nicht aus meinem Kopf verbannen.

„Ich komme von der namenlosen Insel.“
Ein Unsterblicher? Unmöglich! Das waren weise Lichtgestalten. Dieses Volk stellte schon seit Jahrhunderten die Kesaré Ozaena. Jolua stammte von dieser Insel!
„Was hat man dir angetan?“ hauchte Jolua geschockt und nahm augenblicklich wieder ihre „menschliche “ Gestalt an.
Der Unsterbliche ging vor ihr auf die Knie und nahm ihre Hand.
„Ihr müsst vorsichtig sein, meine Kaiserin! Das Einzige was dieser Doktor von euch will, ist euren Tod!“
„Was sollte ihm mein Tod bringen?“
„Das hier!“ hauchte er mit erstickter Stimme.
„Denn das geschieht mit euch, wenn es dem Doktor gelingt euch zu töten!“
Zum ersten Mal, konnte ich Gefühle in Joluas Augen lesen, denn in dem saphirblauen Ozean spiegelte sich blankes Entsetzen.
„Das ist absolut unmöglich! Wir sind Unsterbliche! Wir KÖNNEN nicht sterben, das ist völlig unmöglich…das…das muss unmöglich sein…“
Sie sank zu Boden und sah den toten Unsterblichen verzweifelt an.
„In unserer Welt können wir nicht sterben, aber in dieser… die Kette, das Band, die unsere Seele an unseren Körper bindet, ist bei mir zerstört worden.
Und nun löst sie sich auf. Ich spüre es mehr und mehr.
Meine Erinnerungen, mein Leben, alles rinnt aus mir heraus, verpuff, verdampft, steigt auf ins ewige Nichts.
Da ist so eine große Leere in mir, die ständig Größer wird. Ich…“ Er stockte und zu meiner Überraschung traten Tränen in die weißen Augen.
„…ich weiß noch nicht einmal mehr meinen Namen!
Bald bin ich nur noch eine leere Hülle, ein großes schwarzes Loch, das nur noch verschlingen, nur noch vernichten, aber niemals sterben kann!“
Also doch ein Vampir.
Das Gespräch nahm eine gefährliche Wendung, aber Jolua schien sich keine Gedanken darüber zu machen, wie weit dieses schwarze Loch schon fortgeschritten war.
Meine Zeit auf dem Mare Elenna hatte mich misstrauisch werden lassen und meine Höflichkeit etwas, sagen wir mal eingehen lassen.
Ich zog Jolua von dem Wesen weg und musterte ihn abweisend.
„Was willst du damit sagen, ein schwarzes Loch, das nur vernichten kann?“
Der Unsterbliche fuhr blitzschnell hoch und erfüllte den ganzen Raum mit einer bedrohlichen Aura.
„Was denn Hexenweib? Traust du mir etwa nicht?“
Er packte ein Bein des massiven Eichenholztisches, brach es ab und zerquetschte es wie einen reifen Käse! Die dürren, so zerbrechlich wirkenden Finger schlangen sich um das Holz, zogen zu und ließen das Holz splittern.
Er hob es hoch und schleuderte es brüllend an die Zimmerwand. Ich stolperte zurück um das Fenster aufzustoßen, doch so schnell der Wutausbruch gekommen war, verschwand er auch schon wieder.
Der Unsterbliche sank in sich zusammen, stütze sich auf den nun dreibeinigen Tisch und schlug eine Delle in die glattpolierte Oberfläche.
„Wenn sich meine Seele auflöst, nimmt sie alles Reine mit, zurück bleibt nur das Unreine, das Verdorbene, das Verwerfliche. Im Moment klammere ich mich an jedem Rest meiner Seele fest, doch schon sehr bald werde ich nur noch aus Hass, Wut und Begierde bestehen. Alles gemischt mit dieser unbändigen Kraft. Das ist der Grund warum Montaire uns Jagd. Wenn es ihm gelänge uns zu kontrollieren, wäre er unbesiegbar.“

Ein unbesiegbarer, größenwahnsinniger, skrupeloser, verrückter Wissenschaftler. Hurra, genau das was wir jetzt brauchten!
„Und deswegen bin ich hier. Ich weiß nicht was Montaire plant, aber ich weiß das er keinen von euch in die Finger kriegten darf. Weder euch, Kesaré, noch –“
„Du bist also hier um uns zu helfen?“
„Ja das bin ich…“ Antwortete der Unsterbliche grinsend und musterte mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Warum hatte Jolua ihn unterbrochen?
„Seien wir mal ehrlich, eure salenische Hexe ist die einzige die dem Doktor wirklich etwas entgegen zu setzen hat.“
Bellamy, der noch immer am Fenster stand, drängte sich an mir vorbei und baute sich vor dem Unsterblichen auf.
„Willst du mir gerade sagen, dass ich nicht in der Lage wäre die beiden zu beschützen?“ blaffte er und stach ihm mit dem Finger in die Brust.
Als Antwort griff der Unsterbliche in seinen Mantel und warf ihm eine Pistole zu.
„Wahh!“ war das einzige was der überraschte Bellamy noch zustande brachte und ließ die Waffe fallen wie eine heiße Kartoffel.
„Wie ich gesagt habe, eure Hexe ist die Einzige die euch im Notfall verteidigen kann und die solltet ihr wahrlich schonen.
Also würde ich vorschlagen ihr ruht euch jetzt aus und ich sorge dafür das euch heute Nacht niemand stört.“
Ich war inzwischen wirklich todmüde und Jolua schien ihm zu vertrauen.
Sollte er sich doch die Nacht um die Ohren hauen, ich wollte nur noch schlafen.
Aber eine Sache musste ich noch loswerden. „Gut, du darfst bleiben, aber du brauchst einen Namen!“
Die anderen starrten mich verwirrt an.
Ja ich weiß, in der momentanen Situation schien so etwas banales unwichtig, aber ich brauchte einfach einen Namen für dieses Wesen und ich hatte mir schon den perfekten ausgesucht.
„Wie wäre es mit Edward?“
Bellamy brach in schallendes Gelächter aus. Zum Glück konnten die anderen damit nichts anfangen.
„Wenn du meinst. Gut, bin ich für euch eben ab jetzt Edward.“
Edward schob einen Stuhl neben die Tür und entsicherte eine zweite Waffe die er aus den unendlichen Weiten seines Mantels gezogen hatte.
„Wir sollten wirklich langsam ins Bett gehen!“ gähnte Jolua, warf ein Kissen auf den Boden, verwandelte sich zurück in die schwarze Katze und rollte sich zusammen.
Da es in dem Zimmer nicht so recht warm werden wollte – jetzt wusste ich wieso das Zimmer bezahlbar gewesen war – schnappte ich mir die verwaiste Bettdeckte und warf sie auf das zweite Bett. Bellamy musterte Edward noch immer misstrauisch und feindselig und schien keine Anstalten zu machen schlafen zu gehen.
Für testosterongesteuerte Revierkämpfe hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv mehr, also warf ich mich auf die preiswerte Schaumstoffmatratze, schnappte mir Bellamy am Gürtel und zog ihn ins Bett.
Der Wind war inzwischen durch die vielen kleinen Ritzen und Löcher, die zuvor schon die Kälte hereingelassen hatten hereingekrochen und half mir nun das Licht auszumachen.
Er riss den kleinen Digitalwecker vom Nachttisch und ließ ich gegen den Schalter segeln. Knapp an Edwards Kopf vorbei.
„Hey was soll-“ wollte Bellamy noch protestieren, doch ich drückte seinen Kopf ins Kissen und zog zusätzlich noch die Decke drüber. „GUTE NACHT!“

17. November



„Die beiden verwirren mich.“ Edwards gehauchtes Flüstern war das Erste was ich am nächsten Morgen hörte.
„Das ist etwas kompliziert. Weißt du, es gibt doch verschiedene Formen der Liebe und so ein Menschenherz hat Platz für mehr als eine.“
Worüber zum Teufel sprachen die beiden?
„Das ist mir klar. Aber das wenige, was mir aus meiner Vergangenheit noch geblieben ist, sagt mir das ich dieses Mädchen schon einmal gesehen hab und da gehörte ihr Herz noch voll und ganz einem Piraten. Sie mögen ja Freunde sein und du kannst mich ruhig altmodisch nennen, aber sowas?!“
Jolua kicherte und so langsam dämmerte mir das die über mich sprachen! Aber warum? Ich wollte mich strecken als mir auffiel das das nicht ging. Irgendetwas hielt mich umklammert. Für den ersten Augenblick befiel mich Panik, dann kam die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück und die Tatsache das Bellamy und ich in einem Bett geschlafen hatten. Ich befreite mich aus seinem Klammergriff und sprang aus dem Bett.
„Morgen ihr Lästertanten!“ begrüßte ich die beiden Unsterblichen stirnrunzelnd.
„Los komm schon Bellamy, raus aus den Federn!“ ich drehte mich wieder zum Bett um und musste erschrocken feststellen das ich grade wohl etwas zu energisch aufgestanden war, denn in Bellamys Gesicht spiegelten sich Verwirrung, Trauer und die Frage was er falsch gemacht hatte.
„Ich glaube es wäre besser wenn… wenn wir was zu essen besorgen und vielleicht noch ein paar neue Klamotten. Ich würde sagen Viki und ich gehen los was suchen und ihr beide wartet hier drin.“
Ohje, ich hatte so das ungute Gefühl das er mit mir reden wollte und das dieses Gespräch nicht einfach werden würde. Den Vorschlag ablehnen konnte ich aber auch nicht ohne Bellamy noch mehr zu verletzen. Ich zog also meine Jacke über und wollte gerade das Zimmer verlassen als Edward von seinem Platz an der Tür aufstand und sich mir in den Weg stellte. „Ihr solltet nicht alleine raus gehen!“
„ICH KANN AUF MICH UND AUF VIKI SEHR GUT ALLEINE AUFPASSEN!“ brüllte Bellamy den überrascht-amüsierten Edward an, stieß ihn beiseite, riss die Tür auf und zog mich hinter sich her.
„Ich trau dem Kerl nicht!“ grummelte er als wir draußen ins Schneegestöber traten.
„Du kannst ihn nur nicht leiden, weil er dich nicht ernst nimmt!“ sagte ich lächelnd und knuffte ihn die Seite.
„Tust du es denn?“ Er starrte auf den Boden und wirbelte den Schnee mit seinen Schuhen auf.
„Was meinst du?“
„Jetzt tu doch nicht so. Du nimmst mich doch auch nicht ernst. Du bist hier die taffe Piratin die ihre Gegner eben mal so fertig macht und ich? Du hättest mich nicht gehen lassen wenn nicht du sondern irgendwer anders mitgekommen wäre. Ich meine klar kann ich mit deinem tollen Piratenfreund nicht mithalten aber-“
„Sag mal Bellamy, kann es sein das du eifersüchtig bist?“
Bellamy riss seinen Blick von seinen Schuhen und in seinen Augen schimmerten Tränen.
„Ich seh ja ein das du in diese komische Welt gehörst, das das deine Heimat ist, aber … aber das konntest du damals doch gar nicht wissen. Warum bist du einfach weggegangen? Ohne ein Wort zu sagen, ohne dich zu verabschieden, ohne, ohne einmal an mich zu denken? Weißt du, wir finden euer Tor, bringen euch sicher zurück und Gott ich schwöre dir das ich dich da hinbringen werde, aber was ist dann mit mir? Du hast deinen Tamir, oder wie der heißt wieder und ich darf dich ein zweites Mal verlieren.“
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
„Bellamy ich… “ Nun kamen mir auch die Tränen. Er hatte doch so Recht. Er war immer da wenn ich ihn brauchte und wenn ich ihn nicht brauchte, dann war er tatsächlich nur die kleine Maus. So war es schon immer gewesen und er hatte sich nie beschwert. Ich kam mir wirklich mies vor.
„Es tut mir so leid!“ schluchzte ich und vergrub mein Gesicht in seinem Kittel. „Du musst mir glauben, dass ich jeden Tag an dich gedacht habe. Du hast mir so sehr gefehlt das ich oft genug darüber nachgedacht habe zurückzukehren. Ich meine okay, ich hab es nie ernst gemeint, dafür habe ich meine neue Heimat viel zu sehr geliebt. Und ich hab auch an dich gedacht als ich damals durch diese Tür gegangen bin. Ich wollte dich noch holen, aber… ja in dem Moment war ich egoistisch. Ich hatte Angst das es verschwindet wenn ich zulange warte, oder… ich weiß nicht, es fühlte sich einfach richtig an. Ich musste alleine gehen. Du denkst, dass du mir nicht wichtig bist, aber es gibt wirklich niemanden der mir wichtiger ist! Ich brauche dich, du, - “ Ich musste einen Moment überlegen aber es viel mir einfach kein besserer Vergleich ein. „Du bist mein großer starker Wolf, der immer treu an meiner Seite steht und mich beschützt.“
Bellamy hatte seine Arme um mich geschlungen und nuschelte in meine Schulter. „Schon klar. Du bevorzugst einfach den Badboy, den gefährlichen Draufgänger.“
„Ich liebe Tamir, aber er hätte alleine niemals das geschafft, was du hier vollbracht hast!“
Bellamy hob den Kopf, schob mich etwas von sich weg und sah mich neugierig an.
„Du hast diese Welt wieder lebenswert gemacht. Und wäre das Mare Elenna nicht meine Heimat und gäbe es da nicht so vieles das ich wiedersehen muss, wärst du mir Grund genug hier zu bleiben!“
Und zu meiner grenzenlosen Erleichterung brach ein breites Lächeln durch die Wolken.
Er umarmte mich stürmisch und drückte mir einen Kuss aufs Haar.
„Übrigens, mir gefällt deine neue Frisur.“ Grinsend wuschelte er mir durch meine neue „Haarpracht“.
„Sieht irgendwie frecher aus, passend zu so einer kleinen Hexe!“
So alberten wir weiter und schlenderten durch verschneite Straßen, als wäre nichts gewesen. In einem niedlichen kleinen Laden besorgten wir neue Kleidung für uns. Als Bellamy aber aus der Kabine kam, mit einer schlichten Jeans, weißem T-shirt und schwarzer Lederjacke, fiel mir zum ersten Mal auf, das der kleine verhuschte Junge, gar nicht mehr so klein und verhuscht war. Zwei Jahre waren doch eine verdammt lange Zeit. Zeit genug um mindestens einen Kopf zu wachsen und ordentlich Muskeln aufzubauen. Bellamy schien meinen bewundernden Blick bemerkt zu haben, denn sein Grinsen wurde nur noch breiter.
Ich trug inzwischen eine Jeans, einen beigen Rollkragenpullover und eine braune Jacke.
Für Jolua hatten wir einen langen hellblauen Mantel und eine Sonnenbrille gekauft, mehr brauchten wir nicht, die Kaiserin würde sich wohl kaum von ihren schwarzen Tüchern trennen. Edward bekam lediglich eine Sonnenbrille und Handschuhe. Das sollte uns die neugierigsten Blicke vom Leib halten. Endlich wieder gesellschaftstauglich, machten wir uns auf Nahrungssuche und statteten uns zusätzlich noch mit jeder Menge hilfreichem Survivalkram aus, den es in der Alpenhauptstadt zur Genüge gab. Für eine Abenteuersuche im Himalaya konnte man jede Hilfe nur gebrauchen. Wir wollten uns gerade wieder auf den Rückweg machen als Bellamy vor einem Schaufenster stehen blieb. In der Auslage Messer in jeglicher Größe, Länge und Form. „Das ist doch nicht dein Ernst!“ protestierte ich doch Bellamy war schon im Laden verschwunden.
„Ich trau diesem „Edward“ immer noch nicht und er sollte nicht der Einzige mit ‘ner Waffe sein.“
Rechtfertigte er sich, während er diverse Messer in seinen neuen Rucksack stopfte.
„Er war nicht der Einzige!“ Ich konnte mir das Kichern nicht verkneifen. „Er kann aber nichts dafür, dass du seine Pistole mit einer heißen Kartoffel verwechselst!“
„Ja sorry! Ich hatte in meinem Leben noch nicht so oft mit scharfen Schusswaffen zu tun! Außerdem hat er mich überrumpelt!“
„Dir hätten wir eigentlich Pfeil und Bogen besorgen müssen!“ lachte ich. Bellamy war der beste Schütze beim Bogenschießen.
Noch zwei Straßenzüge weiter und wir bogen wieder in die Straße in der unser Hotel lag.
Edward und Jolua warteten zu unserer Überraschung schon vor dem Gebäude.
„Was macht ihr hier draußen?“ rief ich den beiden verwirrt zu.
„Wir müssen hier weg!“ antwortete Edward mit angespannter Miene.
„Montaires Leute sind bald hier!“ fügte Jolua hinzu.
„Woher wisst ihr das?“ fragte Bellamy und warf den Beiden ihre neuen Sachen zu.
Als er Edwards Gesicht bemerkte wie er die ledernen Damenhandschuhe musterte, breitete sich ein selbstzufriedenes Grinsen auf seinen Lippen aus. „Beschwer dich nicht, Bohnenstange, aber ihn unserer Welt gibt es nun mal keine ähem, Männer mit so zarten Fingerchen. Außerdem kannst du froh sein das wir dir keine Papiertüte mitgebracht haben um den Menschen dein hübsches Gebiss vorzuenthalten. Wir haben uns einfach dafür entschieden das du die nächste Zeit die Klappe hältst.“
Bevor sich das Haifischgebiss auf Bellamy stürzen konnte, schob ich mich schnell dazwischen und wechselte das Thema. „Was ist passiert? Woher wisst ihr das wir wegmüssen?“
„Weil ich denen geholfen habe euch zu finden!“ gestand Edward und zog sich wiederwillig die Handschuhe über.
„WAS? Ich habs doch gewusst das man dir nicht trauen kann du miese Ratte!!“ brüllte Bellamy und versuchte sich an mir vorbei zu schieben.
Bravo Viktoria, Situation perfekt gerettet.
„Klar, deswegen sag ich euch das ja auch jetzt und helf euch abzuhauen bevor sie hier sind. Also wenn ich tatsächlich der verräterische Maulwurf sein soll, hab ich meinen Job verdammt schlecht gemacht, findest du nicht?“
Da hatte er Recht. Wenn er uns tatsächlich hätte an den Doktor ausliefern wollen, hätte er hier einfach abzuwarten brauchen.
„Ich hab euch bei euren Fluchtversuch beobachtet und mir wurde klar, dass ich euch kennenlernen muss. Das ich euch helfen muss. Das Problem war nur das ich immer noch in meiner Zelle feststeckte und die Sicherheitsvorkehrungen augenblicklich verschärft wurden. Also hab ich mich dem Doktor als Spion angeboten. Ich sollte euch finden und ihm dann berichten wo ihr seid. Und das habe ich auch getan. Hätte ich keine Meldung gemacht wären sie wahrscheinlich schon viel früher aufgetaucht! Dank meinem Bericht aber, hab ich euch Zeit bis heute Mittag verschafft und wenn wir uns jetzt nicht schnell ins Auto setzen und verschwinden, sind sie gleich hier!“

Ob Edward nun recht hatte oder nicht, hier zu verschwinden war keine schlechte Idee, vor allen Dingen da wir alles erledigt hatten.
„Gut, dann lasst uns hier verschwinden.“
Damit war Bellamy aber ganz und gar nicht einverstanden. „Du willst den Kerl mitnehmen? Du glaubst dem? Ich hab von Anfang an gesagt das man dem nicht trauen kann!“
Ich schnappte mir Bellamys Rucksack, kramte die Schlüssel raus und ging zum Auto.
„Man kann einen Unsterblichen nicht töten, aber man kann ihm den Kopf abschneiden, wenn er versuchen sollte eine selenische Sturmhexe zu hintergehen. Und jetzt alle ins Auto!“
Im ersten Moment sah es so aus als wollte Bellamy weiterkeifen, dann funkelte er Edward noch einmal böse an und schob sich an mir vorbei zum Fahrersitz. Ich setzte mich neben ihn und die beiden Unsterblichen zogen sich auf die Rückbank zurück. War auch besser so. Bellamy und Edward konnten sich nicht so leicht an die Gurgel gehen und bei einer Polizeikontrolle fielen sie auch nicht sofort auf. Hätte wahrscheinlich eine interessante Szene gegeben wenn dem Polizisten Joluas Augen und Edwards Reste von dem was früher mal ein Gesicht gewesen war, aufgefallen wäre.
Bellamy verfiel während der Fahrt in brütendes Schweigen, nur gelegentlich gab er einen gebrummelten Kommentar zu meinem Navigationskünsten ab. Um sein Delphinhirn nicht überzustrapazieren hatte ich mir in Wien eine Straßenkarte von Europa besorgt und versuchte nun mehr oder weniger erfolgreich zu navigieren. Karten waren aber noch nie meine Freunde gewesen. Ajo hatte aufopfernd versucht sie mir etwas näher zu bringen, aber ohne größeren Erfolg.
Edward und Jolua hingegen plapperten munter auf den Rücksitzen und kommentierten staunend die „Wunder“ dieser für sie fremden Welt.
„So eine Geschwindigkeit müsste man mit einem Schiff erreichen können.“ Schwärmte Edward gerade als ein schwarzer Lamborghini an uns vorbeizischte.
„Och, das ließe sich machen!“ grinste ich. „Wenn es ein Schiff bei uns gäbe, das so viel aushält.“
„Die Kriegsschiffe. Wenn, dann überhaupt nur die Kriegsschiffe der Himmelstädte

. “
„Pah!“ stieß Edward verächtlich hervor. „Diese verrosteten Schrottlauben halten doch keinen ordentlichen Sturm aus. Das einfachste ist, sie auf offener See in ein Unwetter zu locken und dann zu warten bis diese Stahlungetüme von den Blitzen gegrillt werden.“
Das kam mir doch irgendwie bekannt vor. Tamir hatte immer die gleiche Taktik verfolgt, natürlich nur wenn es wirklich brenzlig wurde. Wir sind zum Glück immer mehr oder weniger Unbeschadet aus der Sache rausgekommen, was im Großen und Ganzen mir zu verdanken war.
Wie ein normales Schiff eine so gefährliche Strategie fahren konnte, war mir hingegen rätselhaft.
„Wir haben es immer genau so gemacht. Mir einer Sturmhexe an Bord war es bei uns natürlich noch einfacher.“
Edward sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, fast so als sähe er mich zum ersten Mal. Die Lippen öffneten sich leicht, er sog Luft ein um etwas zu sagen, blieb dann aber stumm.
Lange sagte niemand mehr etwas, bis Bellamy plötzlich ruckartig Vollgas gab.
Ich war gerade so eben halb eingenickt und schreckte ziemlich unsanft wieder hoch. „Was zum Teufel soll das werden?“ rief Edward von hinten und klammerte sich am Vordersitz fest.
„Ach, ist es dem Herrn zu schnell? Mach dir mal nicht ins Hemd! Außerdem haben wir Gesellschaft!“
Er deutete zum Rückspiegel. Zuerst waren da nur Autos. Also nichts Ungewöhnliches auf einer Autobahn. Dann fiel mir der Wagen direkt hinter uns auf. Ein klobiger schwarzer Wagen, mit tschechischem Kennzeichen, der mich auch beim zweiten Mal, und dieses Mal sogar noch stärker, an einen Leichenwagen erinnerte.
Der Doktor hatte uns gefunden.
„Das war ja so klar!“ giftete Bellamy und warf einen Blick nach hinten.
„Wir hätten ihn nicht mitnehmen sollen!“
„Bellamy…“ begann ich, doch dieses Mal war kein Halten mehr. „Nein ich hör jetzt nicht auf!“ brüllte er und schlug gegen das Lenkrad als sich ein silberner Mercedes vor ihm auf die dritte Spur drängelte.
„War klar das der uns aus der Stadt locken wollte! So ist es ja auch viel leichter uns aufzuspüren als die ganze Stadt umzukrempeln. JETZT GEH DOCH DA WEG DU VERDAMMTER SONNTAGSFAHRER!!!!!“
Dieses Mal war es Bellamy, der sich an dem Mercedes vorbeidrängelte und zwar rechts!
„Das hilft uns doch auch nicht weiter!“ Versuchte Jolua zu beschwichtigen, ihre Stimme zitterte, ob aus Angst vor Bellamy oder unseren Verfolgern konnte ich aber nicht genau sagen.
Auch ich hatte Angst. So aufgebracht hatte ich Bellamy noch nie gesehen und ich hatte wirklich schon einige Dinge ausprobiert um ihn wütend zu machen.
Wenn es so weitergegangen wäre, hätte Bellamy Edward wahrscheinlich eiskalt rausgeschmissen und so rasend wie er war hätten Jolua und ich ihm auch nicht viel entgegen zu setzen gehabt. Was ich auch nicht gewollt hätte. Da er mich doch wichtiger als Edward, der wirklich bis jetzt mehr Ärger als Nutzen gebracht hatte. Bis jetzt. Denn meine Einleitung hatte ja schon verraten, dass sich jetzt irgendetwas radikal änderte. Und das bestand darin das unsere Verfolger das Feuer eröffneten. Eine Kugel durchschlug die Heckscheibe zischte an unseren Köpfen vorbei und verließ das Auto wieder durch die Windschutzscheibe.
„Scheiße! Die schießen auf uns!“ rief Bellamy, als ob es noch niemand von uns bemerkt hätte.
Vom Rücksitz erklang das metallische Klicken einer Schusswaffe die entsichert wird.
„Tja, wie gut das ihr einen so tollen Beschützer wie Bellamy habt, der zurückschießen und euch verteidigen kann… ach nein halt, tut mir leid ich hab vergessen das er den Umgang mit Knarren meidet, aber du kannst natürlich deine Messerchen werfen.“
Und jetzt begann eine hollywoodreife Verfolgungsjagd über eine italienische Alpenautobahn. Kurve um Kurve schlitterten wir bei Eis und Schnee haarscharf am Abgrund vorbei und Bellamy wagte sich das erste Mal wieder etwas zu entspannen als unsere Verfolger bei einer besonders scharfen Kurve von der Straße abkamen und in einem Dickicht aus Dornenbüschen verschwanden.
Noch immer fuhren wir viel zu schnell, aber ich hatte das Gefühl das Bellamy jetzt erst wieder Luft holte.
„Verdammt war das knapp. Ich hab die ganze Zeit gedacht die nächste Kugel trifft mich!“ japste er und bewegte vorsichtig seine verkrampften Finger.
Die Antwort war ein Kichern.
„Es ist wirklich amüsant zu sehen das der Doktor und immer noch unterschätzt.“
Verwirrt sah Bellamy über den Rückspiegel in Joluas schelmisch blitzende Augen.
„Tja, es ist schon schwierig richtig zu treffen, wenn sämtliche Kräfte gegen einen arbeiten!“ antwortete ich lachend, konnte aber selber meine zitternden Hände kaum verbergen. Es war wirklich knapp. Vor allen Dingen, da die Tanknadel schon bedenklich tief stand.
Dafür waren wir schon überraschend weit gekommen!
Die Alpen verliefen sich rasch und schon bald kündigte das erste Schild die mysteriöse Lagunenstadt an.
„Waas? Immer noch 250 Kilometer? Da sind wir doch noch mindestens 4 Stunden unterwegs!“ stöhnte ich, hatte aber Bellamys neue Leidenschaft für zu schnelles Fahren unterschätzt und so waren es nur 2 ½ Stunden bis das Meer und die Stadt die es beherbergte in Sichtweite kamen.
Die Abendsonne färbte den Himmel in die dramatischten Farben und ließ das Meer glühen wie die ewigen Höllenfeuer. Möwen segelten kreischend über unser Auto und die kalte Luft war erfüllt von dem salzigen Duft der Freiheit.
Bellamy konnte sowas noch begeistern, aber den Rest des Autos erinnerte es nur zu gut an das, was sie nicht hatten.
„Was ein Anblick!“ seufzte Bellamy andächtig.
„Ohh ja, wirklich was ein einmaliger Anblick!“ aus Edwards Worten tropfte der Sarkasmus. Angewidert spuckte er aus dem Fenster. „Wenn du ein stinkendes, vergiftetes Morastloch von der Größe einer Teetasse als einmaligen Anblick gelten lassen willst.“
„Jungs! Wenn ihr nicht alle beide aufhört euch gegenseitig fertig zu machen, dann schmeiß ich euch beide raus! Jolua und ich kommen sehr gut alleine klar und um dir gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, Edward, ich hatte des Öfteren schon Schusswaffen in der Hand und weiß sie auch zu bedienen.“
Erneut verebbte das Gespräch und jeder hing seinen Gedanken nach. An der Küste stellten wir unser Auto in einem kleinen Dorf ab und erwischten gerade noch die letzte Fähre. Das sollte uns eine ruhige Nacht bescheren. Hoffentlich.
In Venedig angekommen standen wir zunächst ziemlich ratlos an einem kleinen Nebenkanal auf dem sich eine zarte Eisschicht gebildet hatte. Hier kämpfte der Winter zwar noch um seine Vorherrschaft, trotzdem war es jetzt, wo die Sonne nicht mehr wärmen konnte, empfindlich kalt zwischen den alten, hohen Palazzos, deren selten beleuchtete Fenster uns misstrauisch von oben herab musterten. Mir drängt sich das Gefühl auf das wir hier nicht erwünscht waren. Vielleicht weil wir hier waren um dieser Stadt eines ihrer 1000 Geheimnisse zu entreißen?
„Wir sollten uns ein…huaa… Hotel suchen und dann gleich Morgen früh mit der Suche nach diesem Padavin beginnen.“ Gähnte Jolua.
„Dieses Mal suche ich aber was Besseres als diese Rumpelkammer in Wien!“ versprach Bellamy „Ich hab so das unbestimmte Gefühl, das wir hier eine Weile bleiben werden.“

18. November


Als eine sehr erholsame Nacht in einer geräumigen und vor allen Dingen beheizten Hotelzimmer , machten wir uns auf zu einer ersten Erkundungstour.
Da Bellamy das Zimmer ohne Verpflegung gebucht hatte, suchten wir zuerst nach einer Frühstücksmöglichkeit, die wir in einem kleinen Eckcafé auch schließlich fanden. Zum gemütlichen Kaffeetrinken fand aber keiner von uns so richtig die Ruhe, sodass wir uns nach kurzer Zeit schon wieder aufmachten.
Auf dem Weg am Kanal entlang geschah nichts von Bedetung, was ich jetzt zum Anlass nehmen will euch ausführlich an den Gedanken teilhaben zu lassen, die in den folgenden Momenten durch meinen Kopf zuckten.
Gibt es Zufälle? Ich meine gibt es irgendwen der irgendwo Fäden zieht oder sind das alles wirklich nur unzusammenhängende vollkommen zufällige Zufälle die sich zufällig ereignen und so zusammenhängend und vor allen Dingen sehr bedeutsam werden.
Ich weiß das waren zu viele Zufälle in einem Satz, aber genau das ging mir durch den Kopf, als wir um die Ecke in eine andere Gasse bogen und mit einer jungen Italienerin zusammenstießen, die nun ihre Einkäufe über den ganzen Boden verstreute.
„Scusi, Signora!“ stammelte Bellamy und hechtete einer Orange nach, die auf den Kanal zu kullerte.
„Non c’é problema, scusi, non ho fatto attenzione!”
Ich hatte keine Ahnung was sie da gerade von sich gab denn sehr zu meinem Leidwesen war Italienisch an meiner Schule nie Angeboten worden. Dann wanderte ihr Blick zu Edward hoch und der, ganz unbewusst, grinste sie breit an.
Das blutrote Haifischlächeln verfehlte seine Wirkung erwartungsgemäß total und das Mädchen stolperte kreischend davon, irgendwelche Worte auf Italienisch schreiend.
„Kannst du nicht aufpassen?“ blaffte, mal wieder, Bellamy.
„Jetzt rennt die rum und erzählt allen hier läuft eine Missgeburt mit roten Zähnen rum und wir haben Montaire schneller wieder an den Hacken als uns gut tut.“
„Hast du mich gerade eine Missgeburt genannt?“ knurrte Edward und stieß Bellamy hart gegen die feuchte Wand. „Hast du es gerade wirklich gewagt mich eine Missgeburt zu nennen? Mich? Einen Unsterblichen?“
Edward war so bedrohlich, dass jeder in dieser Situation den Schwanz eingezogen hätte. Bellamy eigentlich auch. Ich kann mir bis heute nicht erklären warum Edward ihm so gegen den Strich ging.
Aber die Worte die er nun ausspuckte, waren so hart, das sogar ich zusammenzuckte.
„Ja und? Was ist so besonders daran? Du nennst es unsterblich, ich nenne es, sogar zum Sterben zu blöd!“
Edwards Knurren wuchs zu dem Grollen einer Lawine an und mit einem Schrei schleuderte er Bellamy gegen die Wand, die sich auf der anderen Seite am Kanal nach oben zog. Bellamy knallte mit einem schrecklichen Knacken dagegen und rutschte ins Eiswasser.
„BELLAMY!“ schrie ich und wollte gerade hinterher springen als jemand um die Ecke bog. Jemand mit einer Pistole. Der Mann kam schreiend auf uns zu und feuerte einen Schuss nach dem anderen ab, die Edwards Brust durchschlugen als wäre sie aus Papier.
Dann stieß er mich beiseite und hechtete Bellamy hinterher. Für einen Moment war alles still, nur das aufgewühlte Wasser plätscherte gegen die Wände.
Dann brach der Mann wieder durch die Wasseroberfläche, den bewusstlosen Bellamy hinter sich herziehend.
„Konnt ihr mich helfen?“ stieß er mühsam in gebrochenem Deutsch hervor.
Für Jolua und mich das einfachste der Welt. Edward kämpfte noch immer mit den Löchern in seiner Brust.
Ich rief den Wind und hob sie beide mit Joluas Hilfe aus dem Wasser.
Was vielleicht nicht die beste Idee gewesen war.
Wie schon das Mädchen vorher fing nun auch dieser Mann, an zu schreien. Dieses Mal verstanden wir ihn aber.
„Hexe! Ihr auch Dämon! Weg! Verschwinden!“
„Beruhige dich!“ langsam kam ich auf ihn zu und schenkte ihm das freundlichste Lächeln was ich in so einer Situation zustande bekam.
„Ich bin eine gute Hexe! Ich tue niemandem etwas!“ dabei betonte ich die Worte, als spräche ich mit einem verängstigten und wilden Tier.
„Hexe! Hexe! Polizia! Aiuto! Mostro!“
„Matteo! Poam wey mar lokja! “
Eine ältere Frau betrat den Kanal von einer Seitengasse aus und musterte uns mit einem merkwürdigen Ausdruck.
„Kao ji ney tje awren. Hum, kar le nu sal tu Kesaré? “
Und plötzlich verstand ich diese Frau auch! Auch wenn ich diese Sprache seit Monaten schon nicht mehr gehört hatte, hatte ich sie doch 2 Jahre lang täglich gesprochen. Die Frau sprach Elon, die Amtssprache des Mare Elenna. Zwar hatte jedes Volk und jede Insel mehr oder weniger ihre eigenen Sprachen und Dialekte, aber zu einfachen Verständigung hatte man sich darauf geeinigt die Sprache der Unsterblichen als allgemeingültige Amtssprache anzuerkennen, da sie ja schließlich auch von der Kaiserin gesprochen wurde.
Damit ich nicht jeden Satz in der Fußzeile übersetzen muss, führe ich sämtliche Dialoge auf Deutsch weiter.
„Ihr wisst wer ich bin?“ fragte Jolua erstaunt und nahm ihre Sonnenbrille ab.
„Ja ich weiß wer ihr seid und ich kann mir den Zweck eures Hierseins denken. Folgt mir, aber der Dämon dort“ sie wies zu Edward. „Darf uns nicht folgen. Ob früher Mensch oder nicht, zu viel Hass ist schon in ihm und er ist ein zu großes Risiko für uns.“
Gut das konnte ich akzeptieren. Ich war auch im Moment ziemlich sauer auf ihn und meine Hauptsorge galt nun Bellamy.
Der junge Mann, der von der Frau glaube ich Matteo genannt worden war, murrte irgendwas auf Italienisch, hob dann aber Bellamy wieder vom Boden und stapfte weiter schimpfend davon.
„Wundert euch nicht über sein Benehmen. Unsere Geheimnisse sind zu wichtig um sie leichtfertig in die Hände von Fremden, Hexen und Dämonen gelangen zu lassen.“ Sagte die Frau und ging Matteo hinterher.

„Dürfte ich wohl ihren Namen erfahren?“ fragte ich vorsichtig ins Schweigen. Es tat so gut endlich wieder Elon zu sprechen.
„.Giade. So wie alle Hüterinnen meiner Familie.“
„Und was hütest du, Giade?“
„Den ersten Schlüssel zu Padavins Geheimnis.“
„Was?“ Zwei Augenpaare wurden groß.
„Du weißt von Padavins Geheimnis? Du kennst es?“
„Du musst lernen zuzuhören! Ich hüte den ersten Schlüssel zu seinem Geheimnis“
Naja, wenigstens ein Anfang.
Die dritte Gasse endete direkt an einem Kanal. In dem grau-trüben Brackwasser trieb leicht schaukelnd eine kleine Holzgondel.
Matteo hatte dort schon
Platz genommen und Bellamy verstaut.
Schwankend suchten wir einen Platz und bekamen so gerade alle mit.
Ächzend setzte Matteo den Holzhaufen in Bewegung und steuerte ihn sicher durch den Wasserwald.
„Es ist schade das ihr jetzt kommt und nicht im Sommer, oder zum Karneval. Ja, ja der venezianische Karneval.“ Sagte Giade mit einem verzückten Lächeln.
So plapperte sie weiter, erzählte Wissenswertes über die Stadt, zeigte auf Restaurants in denen man gut essen gehen konnte oder Bars in denen es den besten Wein gab.
„Oh, und Mädchen“ mir fiel auf das ich ihr meinen Namen noch garnicht gesagt hatte und holte das schnell nach.
„Gut dann Viktoria“ schmunzelte sie und deutete auf eine vom Kanal abzweigende Straße, von der uns bunte Schilder entgegen leuchteten.
„Wenn dir in nächster Zeit mal nach shoppen sein sollte, musst du unbedingt die Läden da vorne besuchen! Da gibt es wirklich wunderbare Stücke!“
So langsam kam mir das ganze Merkwürdig vor. Sahen wir wirklich so aus als hätten wir Lust und Zeit für Shopping? Oder auch die ganzen Restauranttipps. Wir waren nicht hier um Urlaub zu machen, wir mussten das Tor zum Mare Elenna finden und zwar so schnell wie möglich. Ich ertrug die Nähe zum Meer kaum noch und der Gestank des Kanalwassers konnte das feine Salzaroma auch nicht ganz überdecken.
„Hör mal Giade, ist wirklich nett, dass du uns das alles erzählst, aber… wir sind nicht hier um Urlaub zu machen. Wir müssen Padavins Geheimnis finden und zurück in unsere Heimat.“
Für einen Moment sah Giade aus als würde sie wütend werden, doch dann lächelte sie ein mysteriöses Mona Lisa Lächeln und schwang sich aus der Gondel. Matteo hatte schon die Halteleine ausgeworfen und um einen Pfahl gebunden. „Da wären wir!“ verkündete Giade und mir fiel auf, dass ich keine Ahnung hatte wo wir waren, oder wie wir hier hergekommen waren. Giades Vortrag hatte mich doch so sehr in Anspruch genommen das ich kaum auf den Weg geachtet – da hatte sie uns ja schön ausgetrickst. Sie hatte die ganze Zeit so viel geredet das wir nicht mitbekommen wo wir hinfahren. So ganz schien sie uns also doch noch nicht zu vertrauen. Vielleicht wegen Edward?
Wie in allen Häusern Venedigs, war das Erdgeschoss spartanisch eingerichtet. Uns begrüßte also eine leere, kühle Eingangshalle, mit muffigem, vermodertem Geruch und einem ramponiertem Sessel, der wohl schon einige Überschwemmungen mitgemacht hatte. Hinten an der Wand stand ein großer Schrank, der aussah als würde er zusammenbrechen, sobald man ihn nur schief anguckte. Alles in allem war ich von dem Anblick nicht sonderlich überrascht, fügte er sich doch in das Bild was ich schon immer von Venedig gehabt hatte. Doch irgendetwas störte mich und Jolua gab dem ganzen schließlich einen Namen. „Gibt es hier keine Treppe?“ fragte sie verwundert und spähte durch die Halle. Das war es also. Das war der Fehler. Der Raum hatte keine Treppe, die normalerweise in die oberen Etagen führte.
Es gab noch nicht einmal Türen. Da war nur dieser große leere Raum, ein Sessel und ein Schrank.
„Sucht man Geheimnisse, muss man manchmal unter die Oberfläche der Dinge blicken.“ Sagte Giade und steuerte direkt auf den Schrank zu.
„Und was kommt jetzt? Liegt Padavins Geheimnis etwa in Narnia?“
Erst als mich drei verständnislose Augenpaare anblickten wurde mir klar, dass der Einzige, der über diesen Witz hätte lachen können, nicht bei Bewusstsein war.
„Äh, schon gut, vergesst es!“ murmelte ich schnell.
Giade öffnete den Schrank und stieg tatsächlich hinein.
Man hörte noch ein gedämpftes „Passt auf eure Köpfe auf.“ Und Giade war verschwunden. Matteo, der immer noch Bellamy trug, zog die Stirn kraus. Was auch immer dort hinter war, es würde sicher schwierig sein ihn runterzutragen.
Aber wozu gab es denn mich? Knapp unter der Decke spendeten ein paar Fenster das spärliche Licht. Zwei davon standen offen. Ich rief den Wind und legte Bellamy in seine starken Arme.
Matteo stieß einen überraschten Schrei aus, als ihm seine Last so plötzlich aus den Armen gehoben wurde, funkelte mich dann böse an und folgte Giade vor sich hin schimpfend in den Schrank.
Bellamy vor mir her schwebend betrat ich als nächstes die vermoderte Ruine. Ächzend beschwerte sich das Holz über mein Gewicht und es wurde mit einem Schlag stickig und dunkel.
In den Schrank war zwar kein verstecktes Tor nach Narnia, wohl aber eine schmale und verflucht steile Treppe, die uns, zu meiner Verwunderung, direkt in die Eingeweide der Lagunenstadt führen würde. Die Wände, an denen ich mich notdürftig abstützte waren feucht und irgendwo plätscherte Wasser.
Tiefer und tiefer stiegen wir herab, die Wände wurden immer enger und die Treppe immer steiler.
Die Kälte kroch mir in die Knochen und nach über einer Stunde war immer noch kein Ende in Sicht.
Ich wagte kaum zu sprechen, die Stille die uns Umgab war zu mächtig als das ich gewagt hätte sie zu durchbrechen. Außerdem hatte ich Angst vor der Antwort. Zudem sollte niemand merken wie erschöpft ich war.
Als Jolua mir in Wien erzählt hatte, was diese Welt, meine alte und vertraute Heimat mir jede Sekunde antat, hatte ich es einfach nicht wahrhaben wollen. Jetzt merkte ich aber mit jeder Stufe, wie schwach ich wirklich geworden war.
Die Wände begannen zu schwanken und ich hatte das Gefühl als würden sie mich langsam erdrücken.
Die kleine Kolonne stoppte abrupt, aber meine Hoffnungen wurden sofort wieder zerstört.
„Wir müssen das letzte Stück eine Leiter runter.“
War das einzige was Matteo sagte und verschwand hinter Giade in einem schwarzen Loch.
Na toll.
Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und ließ Bellamy nach unten.
„Alles in Ordnung mit dir? Du siehst sehr blass aus!“ flüsterte Jolua besorgt.
„Ja natürlich!“ zischte ich eine Spur zu hart zurück. Ich war eine gefürchtete Piratin ich ließ mich nicht von einer blöden Treppe unterkriegen.
Wütend schob ich meine Beine in das Loch.
Warum war es auf einmal so dunkel? Die Fackeln hatten bei dieser verdammten Feuchtigkeit wahrscheinlich den Geist aufgegeben.
„Mit mir ist alles-“
Meine Arme sackten weg und ich rutschte ohnmächtig in den Abgrund.

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Sicher kennt ihr das Gefühl aufzuwachen und sich zu fragen, wie zum Teufel man in diese Situation gekommen war. So eine abgedrehte Situation wie ich hatte aber mit noch viel größerer Sicherheit niemand von euch. Wenn ja würde ich die doch zu gerne mal erfahren.
Ich bin also morgens am Strand einer kleinen Insel aufgewacht und neben mir liegt, in einem unordentlichen Haufen das, was von meinem rosa Pyjama übrig geblieben ist.
Mir stellten sich im ersten Moment folgende Fragen:
Warum lag ich nicht in meinem Bett?
Warum lag mein Pyjama neben mir?
Und was mich am Meisten interessierte:
Wer lag neben mir?
So langsam kamen die Erinnerungen wieder.
An die Schnapsidee durch eine Tür zu gehen die urplötzlich in meinem Zimmeraufgetaucht war und leider nur in eine Richtung führte.
An den super heißen, aber doch etwas merkwürdigen jungen Mann, der mir in einem Dschungel auf einer Insel mitten im Wo-auch-immer begegnet war und mir seitdem buchstäblich nicht mehr von der Seite gewichen war. Und zwar buchstäblich. Was auch die letzten beiden Fragen klärte. Angefangen hatte alles mit einem oscarreifen Tobsuchtsanfall, der vor allen Dingen darauf zurückzuführen war, dass der Typ nicht meine Sprache sprach, die Worte die aus seinem Mund kamen total unfreundlich klangen und er mich stundenlang durch den Wald gescheucht hatte.
Irgendwann war bei mir dann einfach das Maß voll gewesen, ich war stehen geblieben und hatte mich geweigert auch nur einen Schritt weiter zu gehen.
Darauf war ein ziemlich amüsanter Streit gefolgt der daraus bestand das wir uns gegenseitig Worte an den Kopf warfen die wir nicht verstanden. Aber es ging eh mehr darum sich anzubrüllen.
Wir wären uns wohl auch an die Gurgel gegangen wenn meine Wut nicht auf irgendeine total abgefahrene Art einen ziemlich beeindruckenden Orkan verursacht hätte der etwas noch viel abgefahreneres mit mir verursacht hatte.
Als hätte der Wind wie ein Herbststurm feuchte, faulende Blätter aus meinem Körper geweht und neue, in allen Farben strahlende Blätter zurückgelassen.
Alles fühlte sich irgendwie neu an. Rein. Klingt pathetisch ich weiß, aber irgendwie fühlte es sich an als wäre jetzt alles richtig. Als wäre ich ein zweites Mal geboren worden.
„Wow, was zum Teufel war das?“
Im ersten Moment hatte ich mich gefragt wer da gesprochen hatte, dann machte der Typ wieder der Mund auf.
„Jetzt sag nicht, dass du das gemacht hast?“
„Jetzt verstehst du mich ja doch!“
Der Mistkerl hatte mich die ganze Zeit verarscht!
„Ja natürlich versteh ich dich! Du hast ja auch endlich damit aufgehört so einen Quatsch zu reden! Wusste ich doch, dass du unsere Sprache sprichst. Das du jetzt aber fließend Elon sprichst wundert mich aber doch. Was sollte dann das Theater vorher?“
Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Stirn mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger in Falten gelegt.
Was redete er da bloß?
„Ich spreche fließen was? Hör mir mal zu ich habe wirklich keine Ahnung wo ich hier gelandet bin und ich kenne eure Sprache schon garnicht!
Die einzigen Fremdsprachen die ich hatte, waren Französisch und Englisch!“
In dem Moment als ich die Worte ausgesprochen hatte war mir aufgefallen wie unpassend sie auf einmal klangen. Als würden sie nicht zum Rest passen, als würde man –
Der Kerl hatte Recht! Ich hatte tatsächlich angefangen eine andere Sprache zu sprechen. So selbstverständlich und unbewusst als wäre es meine natürliche Muttersprache.
Gefolgt war ein langes Gespräch in dem wir uns endlich erzählen konnten was wir uns schon die ganze Zeit versucht hatten klar zu machen.
Wir hatten uns an den Strand gesetzt, ein Feuer entzündet und der Kerl, der sich mir als Tamir vorgestellt hatte, hatte mir eine Art Apfel gegeben mit der inneren Konsistenz von Pudding. Über dem Feuer geröstet war es einfach köstlich. Pamerula hieß das Ganze glaube ich.
Ich schloss die Augen, grub meine Finger in den warmen Sand und dachte noch einmal an die vergangene Nacht.
Ich hatte mir tausend Arten ausgemalt ihn umzubringen, aber so zu zweit am Feuer, waren buchstäblich die Funken geflogen.
Wir hatten geredet, gelacht und dann, das muss ich jetzt zu meiner Entschuldigung sagen, hat er mich einfach geküsst! „Du bist das mit Abstand schrägste Mädchen, dass ich je getroffen habe, aber du bist auch verdammt süß!“
Ich frage mich bis heute was es an einem verschwitzten, verdreckten Mädchen in einem rosa Pyjama süß finden konnte, aber er hatte meine totale Überraschung schamlosausgenutzt und mich noch einmal geküsst.
„Du glaubst wohl das du dir alles nehmen kannst was du willst oder?“ ich ließ die Worte über seine Lippen streichen und fuhr mit der Hand durch seine Haare.
Tamir grinste und tat es mir gleich. „Tja, Prinzessin, ich bin ein Pirat. Ich kriege immer was ich will.“
Das hatte er auch. Stück für Stück war die zerfledderte Leiche meiner Bettbekleidung in den Sand gewandert.
Und glaubt ihr mir jetzt, dass ihr meine Situation nicht toppen könnt? Immerhin bin ich in irgendeiner Parallelwelt die aus einem einzigen riesigen Ozean zu bestehen scheint. Ich liege nackt im Sand und ein Pirat ist gerade ausgiebig damit beschäftigt mit meinen Haaren zu spielen.
Tamir grinste mich an. „Aufstehen, Prinzessin! Jetzt lernst du den Rest der Truppe kennen!“
„Was? Jetzt?“ Ich stand auf und klopfte mir den Sand vom Körper, so gut es ging.
„So? Meinst du nicht das ich ein bisschen Underdressed bin?“
Tamir lachte. „Oh ja da hast du recht. Sirius und Sangie fallen ja noch die Augen raus wenn sie dich so sehen. Mit einer Hand am Kopf sah er sich um, lachte noch einmal und zog mit dem Fuß etwas aus dem Sand auf dem wir gelegen hatten.
Ein hellbraunes Laken, das Tamir gestern Abend für uns ausgebreitet hatte, bevor wir angefangen hatten den Sand umzugraben.
„Nur für den ersten Eindruck.“ Sagte er augenzwinkernd und warf es mir zu. „Danach kannst du Sachen von Ajo haben.“
Skeptisch musterte ich den sandigen Stofffetzen wickelte ihn mir dann aber doch um. Besser als mein Eva-Kostüm war er allemal. Ehrlich gesagt war er sogar besser als mein rosa Pyjama. Ich schüttelte den Sand aus meinen Haaren und versuchte sie in eine einigermaßen anständige Form zu bringen.
„Hey, Prinzessin. Du gehst zu Piraten und nicht auf einen Ball der Ceasaré.“ Er nahm meine Hand und zog mich zu sich heran. „Außerdem sehen sie so wuschelig viel besser aus!“
Ich hatte nicht übel Lust ihm die Hose, die er sich gerade angezogen hatte, wieder runter zu ziehen.
Dafür war aber keine Zeit. Am Horizont zogen dunkle Wolken auf und ich hatte irgendwie das Gefühl nicht noch einmal so einen Sturm wie gestern heraufbeschwören zu können.
„Wir sollten uns beeilen. Ansonsten könnte das hier ziemlich ungemütlich werden.“
Tamir starrte mich an als hätte ich gerade verkündet, dass der Weihnachtsmann zum Tee geladen war.
Dann lachte er. Er lachte generell ziemlich oft. Aber es war auch kein Lachen das irgendwann auf die Nerven ging. Es war vielmehr diese besondere Art von Lachen die jede Regenwolke vertreiben konnte. Naja, bis auf die, die sich gerade pechschwarz am Horizont auftürmten.
„Weißt du, du bist echt süß, wenn du so naiv bist. Die Wolken sind schon seit gestern Mittag da. Wir wollten uns hier verstecken und warten bis der Sturm vorbei ist. Seitdem du hier bist, oder eher seit dem du deinen kleinen Tobsuchtsanfall hattest, sind sie nicht einen Meter näher gekommen.“
Stellt euch mal bitte ein kleines, blondgelocktes Mädchen vor, in einem weißen Nachthemdchen, das im elterlichen Wohnzimmer den Weihnachtsmann persönlich bei der Arbeit erwischt. So ungefähr habe ich in dem Moment geguckt als Tamir mir erzählen wollte das ich mal eben so aus dem Unterbewussten eine riesige Unwetterfront in Schach hielt. Was war ich denn, eine Wetterfee?
„Du hast gestern einen halben Tornado entfesselt und wunderst dich das du dafür verantwortlich bist?“
„Das bin also wirklich ich gewesen?“
„Hey, du bist im Mare Elenna. Wer hier landet ist auf irgendeine Art immer ein Freak. Schon die Tatsache das du hier bist macht dich zu was Besonderem.“
Das war das erste Mal. Ich? Was Besonderes?
Das erste Gute in diesem Chaos. Naja, das Zweite. Das Erste, war Tamir.
„Tamir? Taamir? Verdammt, Mann wo steckst du?“
Hinter einer Felsgruppe, die unsere kleine Bucht vom Rest des Strandes abschnitt, kam ein junger, ziemlich muskulöser Mann, der sein dunkelgrünes(!) langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
Unter einem breiten schwarzen Gürtel steckten zwei lange Schwerter die in der Sonne blitzten.
„Das glaub ich doch jetzt nicht!“ rief er wütend als er uns bemerkt hatte.
„ Wir machen uns Sorgen um dich und du reißt dir hier irgendwelche Weiber auf! Das ist ja mal wieder typisch!“
Typisch? Da drängte sich mir irgendwie die Frage auf, wie oft der schon mit irgendwelchen Weibern hier im Sand gelegen hatte.
„Ey komm entspann dich, Sirius! Ich würde gerne wissen was du machen würdest wenn dir eine bildhübsche selenische Hexe über den Weg läuft, die noch dazu seit gestern Abend den Taifun zurück hält.“
Selenische was?
Die Antwort schien Sirius jedenfalls zufriedengestellt zu haben. Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht. „Ne Sturmhexe was? Na hast du dir aber mal nen richtig wertvollen Schatz an Land gezogen. Bei so einer hübschen Hexe, hätte ich auch vergessen was meine Aufgaben sind, Käpt’n.“
„Käpt’n?“ Das hatte er doch glatt vergessen zu erzählen.
„Ja, ich wollte nicht angeben!“ Tamir fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Auch etwas, das er ziemlich häufig tat. „Ich bin Käpt’n der Jeeva. Und das hier ist unser Vize. Ach ja, und die junge Dame hier ist Viktoria.“
„Wenn du das noch einmal sagst, schneid ich dir die Zunge raus!“ zischte ich und schlug ihm gegen die Schulter. Ich hasste es einfach wenn mich jemand Viktoria nannte. Nur meine Mutter tat das. Wenn sie betrunken war. Wenn sie mir sagen wollte, ich sollte doch bitte heute woanders schlafen. Was zur Folge hatte das Bellamy immer genau wusste, wann auch immer ich spontan abends vor seiner Haustür stand, das meine Mutter einen neuen Wochenabschnittsgefährte hatte.
„Wow. Ganz schön kratzbürstig die Kleine.“Ich hatte irgendwie das Gefühl das ich Sirius mögen würde.
„Weißt du, ich passe mich einfach der Umgebung an. Aber wir sollten jetzt mal los gehen, sonst schicken die noch mehr zum suchen los.“
Ich habe an diesem Tag nur ein einziges Mal zurückgeblickt. Es gab nur einen letzten Gedanken, an das, was ich so selbstverständlich zurückließ.
Dieser Gedanke galt Bellamy.

20. November


„Warum zum Teufel wacht sie nicht auf?“
Diese ungeduldige Stimme passte so gar nicht nach… ja wo war ich überhaupt. Gerade war ich noch auf dem Schiff gewesen, aber jetzt? Ich lag in einem weichen Bett und fühlte mich total erschlagen. Aber wie war ich hier her gekommen? Ich konnte mich nicht daran erinnern ins Bett gegangen zu sein.
Halt. Stopp. Da war noch etwas. Ein dunkler Gang, eine steile Treppe und ein schwarzes Loch.
Ja, jetzt kam alles wieder. Die Erinnerungen an das was passiert war und die Erkenntnis, dass ich nicht auf dem Schiff war.
Gut, das war geklärt. Aber wo war ich jetzt?
Ich nahm alle Kraft zusammen und öffnete die Augen.
Bellamy saß neben dem Bett und hielt meine Hand.
Ich fühlte mich wie erschlagen. 50 Kilometer Marathon, danach zu viel Schnaps und auch noch die Treppe runtergeflogen.
Okay letzteres stimme wahrscheinlich auch.
„Ist sie wach? Sie muss das Liobanöl noch einmal nehmen.“
Liobanöl? Dari, unsere Schiffsärztin, hatte es als Waffe gegen alles benutzt, mal mit mehr mal mit weniger Erfolg. Aber wie kam Giade in den Besitz eines elennischen Baumöls?
Irgendjemand zog meinen Unterkiefer nach unten und ließ eine süßlich herbe Flüssigkeit in meinen Mund laufen. Die Hand zog sich zurück und mein Kopf sank erneut ins Kissen. Ich hatte nicht übel Lust wieder einzuschlafen, für alles andere fühlte ich mich noch viel zu schwach. Doch auf einmal strömte die Kraft zurück in meine Glieder. Eine angenehme Wärme breitete sich bis in die Spitzen meines Körpers aus und verwandelte sich in ein Kribbeln, das es nicht länger möglich machte, still liegen zu bleiben.
„wasispasiert?“ nuschelte ich, öffnete die Augen und richtete mich soweit es ging auf.
„Gott, hast du uns einen Schrecken eingejagt Viki!“
„Tumirleid!“
Meine Augen schmerzten noch etwas vom Licht, aber langsam konnte ich etwas erkennen. Ich lag in der Ecke eines Gewölbes, das in dem warmen beruhigenden Licht einiger Kerzen flackerte.
Von den Wänden war kaum etwas zu sehen, jeder Fleck war mit Bücherregalen vollgestellt, sogar der massive Eichenholztisch in der Mitte des Raums, bot keinen Platz mehr für alles, was nicht aus Leder, Pergament oder Tinte bestand.
Alles wirkte ruhig, harmonisch und so wunderbar alt, das ich mich zum ersten Mal auf diesem Planeten heimisch fühlte.
Das einzig störende war ein helles elektrisches Licht aus einer Zimmerecke. Dazu erfüllte ein helles Klicken den Raum. Es klang seltsam fremd in diesem Raum, der in der Vergangenheit stillzustehen schien.
Ich hob den Oberkörper noch weiter, um die Quelle der Lichter ausmachen zu können und fand sie in einem weiß-glänzenden Laptop, der auf dem Schoß von Matteo friedlich vor sich hin surrte.
Was auch immer der Bildschirm gerade preisgab, Matteo tippte angeregt auf der Tastatur herum.
„Gini schreibt das Montaire in der Stadt aufgetaucht ist.“
Und vorbei war es mit der Ruhe. Stöhnend zwang ich meine Beine aus dem Bett, wurde aber von gleich sechs Armen zurückgedrückt.
„Mach dir mal keine Sorgen, Viktoria. Er war schon so oft hier und musste jedes Mal mit leeren Händen wieder verschwinden.“ Giade lächelte mich aufmunternd an und betrachtete mich dann nachdenklich.
„Du brauchst jetzt erst mal eine leckere Suppe damit du wieder zu Kräften kommst.“
Noch etwas Liobanöl hätte zwar mehr gebracht, aber ich nickte einfach nur dankend.
„Dieses Mal wird er aber nicht wieder verschwinden.“ Sagte Bellamy düster. Mir fiel auf, dass seine rechte Schulter in einem Verband steckte und dass es unter der Kapuze seines Pullovers weiß hervor blitzte.
Ich drückte seine Hand die meine immer noch umschlossen hielt und strich mit der anderen über seine verletzte Schulter.
„Und wie geht es dir?“
Bellamy lächelte und fuhr sich über den Kopf.
„Ach geht schon. Ich lass mich doch von diesem Draculaverschnitt nicht unterkriegen.“
„Aber Bellamy hat Recht. Montaire weiß, dass wenn wir hier sind und nicht eher gehen werden bis wir haben was wir brauchen.“ Sagte ich.
„Und wenn wir jetzt nach den Hinweisen für das Portal suchen, ist das Risiko zu groß das wir diesen kranken Dr. Frankenstein hinterher noch ins Mare Elenna führen.“ Ergänzte Bellamy.
„Oh wirklich tolle Aussichten!“ grummelte ich und sackte zurück ins Kissen.
„Gott, ich hätte ihm den Kopf abschlagen sollen, genau wie seinen Handlangern.“
„Ma, dom ner zani, dom flux par. Tai wir amra loga!“
Giade war gerade mit einer dampfenden Schüssel eingetreten und sah Bellamy lächelnd an. Bellamy?
Der zog die Stirn kraus, als müsste er stark überlegen und stammelte schließlich etwas, das ich tatsächlich als Elon identifizieren konnte!
„Di wiri amra, ji amra arimen tu fas.“

„Seit wann sprichst du Elon?“ rief ich erstaunt und nahm dankbar die Nudelsuppe entgegen.
„Mit irgendwas musste ich mich ja in den letzten 6 Tagen beschäftigen und-“
Weiter kam er nicht. Ich hatte ihm vor Schreck eine große Portion Nudelsuppe ins Gesicht gespuckt.
„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst?“
Bellamy lachte, obwohl ihm Frühlingszwiebeln das Kinn herunter tropften. Heiße Frühlingszwiebeln.
„Was denn? Die Tatsache, dass ich mal ne Sprache lerne oder das du sechs Tage weg warst? Ehrlich Vik, du warst scheintot. Fast ganztot wenn Giade nicht dieses coole Öl gehabt hätte. Du glaubst garnicht was die hier alles haben! Bücher, Karten, Forschungsgeräte aus allen möglichen Epochen, Ländern, Welten! Ich hab Karten vom Mare Elenna gesehen!“
Seine Augen leuchteten und wanderten zu dem Tisch auf dem sich zahlreiche aufgeschlagene Bücher stapelten, gemischt mit Karten und allerlei nautischen Instrumenten, die aber nur im Mare Elenna eine Verwendung finden würden.
Die Magnetfelder, die Tiefseeströmungen und vor allen Dingen die wandernden Sterne machten eine klassische Navigation unmöglich. Orientiere dich mal nach den Sternen, wenn sie innerhalb von wenigen Stunden am anderen Ende des Himmels stehen, hin und her hüpfen oder einfach mal das Leuchten einstellen. Das verzerrte Magnetfeld des Mare Elenna macht zudem einen Kompass vollkommen unbrauchbar. Einzig die Tiefseeströmungen, die den ganzen Ozean wie ein feingliedriges Spinnennetz durchzogen, machten eine Navigation erst möglich. Auf dem Tisch, halb verborgen, lag ein Aeegolit. Eine Art tellergroßer Kompass, dessen Nadel mit Meereswasser gefüllt war und, warum auch immer, die Strömungen unter sich spührte und sich anpasste.
Man war also nur ein kleiner Stein auf einem riesigen Damespiel. Hielt man sich nicht an diese Strömungen, irrte man oft Wochenlang über die blaue Weite bis man endlich wieder eine Route fand.
Ich fuhr mir mit den Händen durchs Gesicht um zu verbergen wie sehr mich dieser Raum mitnahm.
„Ich werde mich hier auf jeden Fall nicht verkriechen. Je eher wir gefunden haben wonach wir suchen, desto eher können wir nachhause.“
Bevor ich etwas gegen die Schatten auf Bellamys Gesicht tun konnte, stürmte das Mädchen herein, das wir am Morgen…ähm am Morgen vor sechs Tagen am Kanal getroffen hatten.
„Oh du bist wach! Schön!“ begrüßte sich mich auf Elon.
„Ich bin Ginevra . Du, dein Freund und ich gehen nach oben und wandeln auf Padavins Spuren.“
Das hörte sich schon besser an.
„Wie geht Gast?“ fragte Bellamy mit einem höhnischen Grinsen in katastrophalem Elon.
Gini lachte hell, aber Jolua verzog das Gesicht.
Hatte ich irgendeinen schlechten Scherz verpasst?
„Von welchem Gast redet ihr hier?“
Das Klicken in der Zimmerecke verstummte und ein selbstzufriedenes, kaltes Lachen erklang.
„Wir haben beschlossen, euer bissiges Schoßmonster ein wenig Gastfreundschaft anzubieten. Wir konnten ja nicht zulassen, dass er Montaire in die Hände fällt. Jetzt hat er seine eigenen vier Wände und wir sieben ihm die Luft sogar noch extra vorher.“


„Er ist doch kein Tier!“
„Guck ihn dir an! Er ist ein Dämon! Ein gemeingefährliches Monster!“
„Er braucht Hilfe und keinen Käfig!“

„Ich kann euch hören!“

„Reicht es dir denn nicht, dass dieses Ding deinen Freund fast umgebracht hat?“
„Er hat ihn provoziert, das war nur ein blöder Streit!“

„Hallo? Ich bin hier!“

„Blöder Streit? Bei einem blöden Streit wird vielleicht ein Zahn ausgeschlagen oder ein blaues Auge verteilt, wenn das da mal ausrastet, reißt es dich in Stücke als wärst du Papier! Bellamy kann froh sein, dass es nur seine Schulter erwischt hat!“

„Verdammt! Hört endlich auf über mich zu reden als ob ich nicht da wäre!“
Edward schlug gegen die Gitterstäbe, die in altersschwacher Angst erzitterten.
Matteo und ich hörten auf uns anzubrüllen und starrten Edward an, als hätten wir ihn gerade erst bemerkt.
Matteo schnaubte verächtlich und wandte sich ab.
„Er ist und bleibt eine Gefahr für uns alle! Solange sich das Monster nicht unter Kontrolle hat bleibt es
im Zwinger.“
Seine harte Stimme verhallte mit dem kalten Echo seiner Schritte in der Dunkelheit.
„Es tut mir so leid!“ flüsterte ich leise und wich seinem Blick aus.
Als ich ihn doch ansah, spiegelten sich Überraschung und Verwirrung in seinem Gesicht. Glaubte ich zumindest. Es war schwierig in leeren weißen Augen und einem Haifischgebiss irgendeine Mimik zu lesen.
„Du bist nicht sauer?“
Eine Stimme so rau wie eine Katzenzunge und so rauchig wie ein Kamin.
Blöde Metapher ich weiß, aber mir fiel nichts Besseres ein.
In diesem Moment klang sie so wunderschön, so passend, so richtig, so perfekt.
Und in diesem Satz, den ich sooft schon gehört hatte, meinte ich plötzlich etwas Vertrautes gehört zu haben, einen vertrauten Klang.
Ein anderes Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf, aber es war zu flüchtig, zu schnell wieder verflogen, als das ich es hätte fassen können.
„Nein, nicht wirklich. Klar, das was du Bellamy angetan hast werde ich nicht so schnell vergessen und dann die Sache mi t Montaire…aber darum geht es hier nicht. Du bist genauso Opfer in dieser Sache wie ich. Ein der Heimat entrissener Wanderer den keinen Platz mehr hat.
Oder es liegt an meinem Piratenblut, das ich es einfach nicht ertragen kann jemanden eingesperrt zu sehen.“
„Glaubst du für mich ist das einfacher? Es ist für keinen Pirat einfach eingesperrt zu sein.“
„Du warst Pirat?“


„Viki? Vik, wo bleibst du? Komm Gini will los!“
Bellamys Stimme durchschnitt das merkwürdige Band, das für kurze Zeit zwischen uns geherrscht hatte und holte mich mit einem Schlag zurück in die Realität. So sehr ich mich dem Mare Elenna hier verbunden fühlte, so weit war es doch noch von mir entfernt. Das hier war nichts als eine trügerische Illusion. Mein Weg führte mich über die Oberfläche.
„Ich komme wieder!“ hauchte ich und lief dann schnell zurück zu Bellamy.

„Ich weiß echt nicht was du immer noch für diesen Freak übrig hast.“ Grummelte Bellamy zur Begrüßung.
Ich sah ihn tadelnd an. „Ich bin genauso Freak wie er!“ Thema erledigt und zum Glück hielt auch Bellamy ausnahmsweise mal die Klappe.
An der Treppe, die vermutlich nach oben führte wartete Gini schon auf uns. Ihre leichte, quirlige Art, die schwarzen Haare und das leicht elfenartige Aussehen erinnerten mich an irgendwen. Vielleicht an eine Romanfigur aus einem Buch…oder einem Film…

„Jetzt kommt schon! Wir haben viel zu tun!“ trällerte sie uns entgegen. Trotz der eisigen Kälte, die oben immer noch herrschen musste, trug sie nur ein hellblaues Kleid, das von zahlreichen kleinen Blümchen übersät war und locker um ihre Knie schwang. Darunter steckten dürre Beine in viel zu großen Stiefeln.
Und der weiße Trenchcoat, den sie momentan noch in den Armen trug, schien auch nicht wirklich warm zu halten.
Sie stand schon auf der ersten Stufe, aber als sie mich sah, sprang sie wieder herunter, schüttelte den Kopf und zupfte mit leidvollem Gesicht am Kragen meines nicht mehr ganz so frisch aussehenden Pullovers.
„Ne, vergiss es! So lass ich dich nicht nach oben! Wir sind hier in Venedig. Dafür haben wir noch Zeit! Komm mit!“
Ohne Wiederspruch zu dulden, zog sie mich hinter sich her, zwei enge Gänge entlang in ein kleines gemütliches Zimmer. Ein Bett, ein Schreibtisch auf dem ein kleines Netbook schlummerte. Das war alles. Der Rest wurde von einem gigantischen Kleiderschrank eingenommen. Auf den stürzte Gini sich nun und beschoss mich mit allem was ihre Finger zu fassen bekamen.
„Hm, nein… nein, nein das auch nicht. Wie wäre es mit dem hier? Ja das ist doch was!“
Unter Ginis strengem Blick schlüpfte ich in eine enge schwarze Röhrenjeans, ein langes lila Top und eine genauso lange schwarze Wolljacke.
Skeptisch betrachtete ich meinen viel zu tiefen Ausschnitt, aber Gini war zufrieden.
„Zeig was du hast!“ Kicherte Gini und kramte in einer kleinen Holztruhe. Zum Vorschein kam eine feingliedrige silberne Kette mit zwei venezianischen Masken.
„Wow, die ist wunderschön!“ staunte ich. Gini nickte und reichte sie mir. „Ja schon. Aber noch längst nicht alles. Sie ist der Schlüssel. Der Schlüssel zu Padavins Geheimnis.“
„Was? Den hast du einfach in einer Schmuckschatulle liegen?“
„Wolltest du ihn stehlen, würdest du da suchen?“
Da hatte sie wieder recht. Vorsichtig ließ ich die Kette durch meine Finger gleiten. Sie fühlte sich warm an, es war fast als spürte man einen leichten Energiestrom unter dem Silber fließen.
„Hinab! Hinaus! Herauf! Hinweg!“
Ein feines Wispern, wie ein Windhauch strich durch den Raum. Mir war, als hörte ich zwei Stimmchen streiten.
„Hinab! Hinaus! Herauf! Hinweg!“
Wieder diese Stimmchen. Der leichte Energiestrom begann zu pulsieren und die Kette wand sich in meiner Hand wie eine Schlange.
Diese Bewegung kam aber nicht von der Kette selbst sondern von den beiden Masken, die sich immer wieder über einander schoben und in dieser ständigen Bewegung miteinander zu streiten schienen.
Meine Augen wurden noch größer als ich hörte, woher die Stimmchen kamen.
Die Masken sprachen!
Ich dachte das Mare Elenna wäre verrückt, aber langsam fragte ich mich, welche Welt wirklich die verrücktere war.
„Was hat das zu bedeuten? Hinaus, hinab, kein sehr präziser Hinweis.“
Aber die Verwunderung in Ginis Augen war noch weit größer als meine.
„Sie hat was gesagt! Es ist Jahre her. Seit wir sie gefunden haben hat sie nur einmal was gesagt.“
„Und was?“
„Bringt uns den-“
Ihre Augen vergrößerten sich noch einmal und sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Den Sturm! Oh Gott, wie blöd. Bringt uns den Sturm! Ja natürlich! Wir hätten gleich darauf kommen können, das du damit gemeint bist.“
„Jetzt komm schon! Das ist doch lächerlich! Ich meine, ich hab ja schon einiges gesehen, aber Prophezeiungen sind der allergrößte Schwachsinn. Niemand konnte vor 400 Jahren oder so wissen was heute passiert! Nicht mal Elennas Götter können so viele Faktoren berücksichtigen! Die Zukunft verändert sich ständig – das ist unmöglich. Der Sturm! Das kann alles heißen. Vielleicht ist es auch einfach nur ein Hinweis. Wir müssen hinab, hinaus, herauf und hinweg und wir brauchen einen Sturm.“
Ich sah Gini an, dass ich sie nicht überzeugt hatte, aber im Moment war mir das egal. Schon allein die Vorstellung, dass irgendwer schon vor Jahrhunderten gewusst hat, dass ich hier landen würde, jagte mir schauer über den Rücken. Ich schlüpfte in die Stiefel, die Gini mir hingestellt hatte und zog sie zur Tür.
„Prophezeiung hin oder her, ich glaube nicht das wer auch immer vorhergesehen hat, dass wir hier versauern.“
Wir gingen den Weg zur Treppe zurück und fanden Bellamy, Matteo und Giade beunruhigt und angespannt am Fuß der Treppe stehen.
Dann tauchte Joluas blasses Gesicht aus der Dunkelheit des Treppenschachtes auf.
„Dort oben sind auf jeden Fall Leute. Zwei Männer mindestens. Sie haben sich aber nicht sonderlich Intelligent angehört. Vielleicht finden sie den Eingang nicht. Ich glaube nicht das die beiden Hohlköpfe daoben darauf kommen im Schrank zu-“
Sie brach abrupt ab.
Dumpfes Splittern, das Bersten von altem morschen Holz und eine dröhnende Stimme die von oben herab durch den engen Schacht polterte.
„Wir wissen dass ihr da unten seid! Kommt hoch!“

„Die Mistkerle sind doch nicht so blöd!“ zischte Matteo, angespannt umklammerte er den Griff seiner Pistole.
„Die wissen ganz genau, dass wir sie einfach über den Haufen schießen würden.“
„Nur gut, dass wir dafür ausgerüstet sind längere Zeit hierzubleiben!“ sagte Gini, sprang ein paar Stufen hoch und brüllte den Gang hoch „Kommt doch runter wenn ihr uns haben wollt! Wir kommen ganz bestimmt nicht hoch!“
Trotz der angespannten Situation wurde mir plötzlich klar, dass der stundenlange Abstieg, gar keine Stunden gedauert haben konnte. Die Stimmen klangen zwar dumpf und verzerrt, aber bei weitem nicht so, als würden sie einen kilometerlangen Tunnel bewältigen müssten.
Mit meinen Kräften stand es also wirklich nicht mehr zum Besten.
„Kommt hoch oder wir schicken die Kleine hier in Einzelteilen zu euch runter!“
Alarmierte Blicke wurden ausgetauscht.
„Von wem sprechen sie? Wir sind doch alle hier!“ Gini sah hilfesuchend zu Giade, doch die
starrte in den Treppenschacht, als könnte sie der Schwärze irgendetwas abringen.
Als Antwort schwebte ein dünnes ängstliches Stimmchen von oben zu ihnen herab.
„Mamma! Mamma! Deve andare! Mamma! Vai!“
„Pezzi di merde!“ knurrte Matteo.
„Noemi!“ Giade drängte sich an Matteo, Gini und Jolua vorbei und bevor sie einer von uns aufhalten konnte, war sie schon die Sprossen der rostigen Leiter hochgeklettert.
„Giade aspetta! Giade!“ rief Matteo noch. Dann folgte er ihr.
Bevor mir auch noch Gini in den sicheren Tod lief, packte ich sie am Arm und riss sie zurück.
„Das ist Selbstmord!“
Wie zur Bestätigung meiner Worte, peitschte der Nachhall eines Pistolenschusses durch den Treppenschacht.
Die Männer grölten, das kleine Mädchen schrie.

Gini starrte mich nur verständnislos an.
„Aber das ist Giades Tochter! Die haben ihre Tochter! Ich muss ihnen helfen!“
„Das versteh ich auch.“ Beschwichtigte ich sie. Bestimmt schob ich sie von den Stufen runter und schob sie zu Bellamy.
„Die sind wegen mir hier. Nicht wegen euch. Bleibt hier unten und wartet.“ Ich nahm die Kette wieder ab und drückte sie Jolua in die Hand. Dann sah ich meinen besten Freund an. Er hatte schon verstanden und schüttelte den Kopf.
„Du weißt selber, dass du da nicht alleine hochgehst.“ Sagte er bestimmt. Er schob sich an mir vorbei und schwang sich die Leiter hoch.
Ich schüttelte den Kopf. Und folgte ihm. Kurz vor der Leiter blieb ich noch mal stehen.
„Ihr bleibt hier!“ Ich warf Jolua die Kette zu.
„Beschütze die Kersaré Ginevra! Versteckt euch irgendwo und wartet ab bis die Luft wieder rein ist.“
Ginis Protest erstickte ich mit einer Handbewegung.
„Ihr seid hier um dem Schlüssel zu schützen! Das ist deine Aufgabe! Also schütze ihn!“

Ich kletterte die Leiter hoch und zog mich in den engen Treppengang, wo Bellamy schon auf mich wartete. Von hier aus konnte ich sogar schon das trübe Licht der Eingangshalle sehen. Peinlich.
Außer dem Licht, drangen noch ein erhitzter Streit und ein verzweifeltes Wimmern zu uns.
„Mamma…..Mamma….“
„Ich nichts sagen! Niente, pezzo di merda! Giammai!“
„Wo ist der Schlüssel? Wo ist das Tor?“
„Mamma….Mamma…“
„Nicht hier! Woanders! Sparite!“
„Mamma….“
Langsam schlichen wir uns an die Öffnung heran, die inzwischen nur noch aus ein paar zersplitterten Holzresten bestand. Sie hatten, den Schrank nicht nur aufgebrochen, sondern ihn gleich einfach abgerissen.
Jolua hatte Recht gehabt. Es waren zwei Männer, riesige Schränke in schwarzen Anzügen. So wie man sich die Handlanger eines Bösen eben vorstellt.
Matteo stand an der Rückwand der riesigen Halle und verbarg das kleine Mädchen, Noemi, hinter seinen Rücken. Weit aufgerissene Augen starrten hinter ihm hervor auf einen zusammengesunkenen Haufen neben dem Schrank.
Giade lag dort. Aus einem runden Loch in ihrer Stirn tröpfelte ein feines Rinnsal Blut.
Für mich war der Anblick nichts neues, doch ich spürte die Bellamy neben mir zu zittern begann.
„Ah wie schön, dass sich die Prinzessin auch mal blicken lässt!“ Schrank Nr. Zwei hatte uns bemerkt.
„Rauskommen!“ grunzte er und wedelte ungeduldig mit seiner Pistole.
Die Schusswaffen, die sie uns entgegenstreckten, wirkten wie Spielzeug in ihren Pranken. Wie tödliches, grausames Spielzeug.
Während wir aus der Schrankruine kletterten suchte ich die Wände hektisch nach Fenstern ab.
Die gab es auch. Alte, staubige Fenster, ließen trübes Morgenlicht herein und wehrten sich ratternd gegen den Wind, der von draußen dagegen drängte.
Doch selbst als ich ihn rief, blieben die altersschwachen Rahmen stark.
Die Tür war auch verschlossen. Und wieder einmal war ich abgeschnitten.
Die beiden Männer aber, standen mitten im Raum.
Sie standen da, schwiegen und grinsten.
„Wo ist der Schlüssel?“ fragte Schrank 1. „Wo ist das Tor?“ fragte Schrank 2.
„Kein Schlüssel hier! Nie war! Sparite! Pezzi di merde!“ brüllte Matteo und blickte hektisch zu mir herüber. Sein Blick suchte die Kette.
Selten hatte ich so viel Hass in einer Stimme gehört.
„Er hat Recht! Sie wissen nichts!“ sagte ich ruhig und bestimmt. Ich ging an Giades Leiche vorbei zu den beiden Männern. „Wir haben schon alles abgesucht. Er ist nicht hier.“
Schrank Nr. 2 schenkte mir ein kaltes und verzerrtes Grinsen.
„Na wenn das so ist.“ Der Pistolenlauf, der eben noch auf mich gedeutet hatte, schwenkte herum und spuckte seinen Inhalt in Matteos Gesicht.
Ein Schuss hallte durch den Raum und mischte sich mit den Schreien des kleinen Mädchens.
Die Fenster ratterten immer lauter. Der Wind spürte meine Wut und heulte um die porösen Mauern.
„Wo ist der Schlüssel?“ fragte Schrank 1
„Wo ist das Tor?“
Keinen Zentimeter hatten die Beiden sich bewegt.
Aber das Mädchen starrte die Waffen nur mit starren Augen an. Ihre kleinen Hände klammerten sich fest an Matteos tote Hand.
Dann schüttelte sie den Kopf, immer und immer wieder.
„Lasst sie in Ruhe!“ schrie ich die Männer an, wand mich aus Bellamys Armen und stolperte auf die Kleine zu.
„Sie ist noch Kind, ihr Schweine sollt sie in Ruhe lassen!“
Ich kam nicht mehr zu dem Mädchen.
Peng.
Das Gesicht des Mädchens erstarrte.
Blut lief über ihr weißes Puppengesicht und formte sich zu einer einzelnen Träne.
Als sie zu Boden fiel, brach der Sturm in einem kreischenden Splittern durch die Fenster.
„Geh zurück zur Treppe, Bellamy!“ schrie ich durch den aufbrausenden Wind, der Holzsplitter und Glasscherben durch die Halle wirbeln lies.
Die Schränke hieben mit den Armen um sich, versuchten die Scherben und Holzplanken weg zu schlagen und feuerten dabei blindlings in den jahrzehntealten Staub, der sich nun noch zusätzlich von Boden, Wänden und Decke löste.
„Du miese kleine Schlampe! Wenn du denkst, dass du uns mit diesem kleinen Kunststück aufhältst hast du dich getäuscht.“ Fluchte einer der zwei Schränke.
Aber ich hörte es kaum.
Ich hörte kaum das Ächzen und Stöhnen des alten Gemäuers, noch das bedrohliche Knacken der Dachbalken.
Ich ließ den Sturm von der Leine, ließ ihn toben und sog seine Kraft in mir auf. So lange hatte ich ihn einsperren müssen. Hatte ihn kleingehalten, eingesperrt zwischen Wohnblöcken und Zimmerwänden.
Sollte er doch alles einreißen, sollte doch alles über uns zusammenbrechen. Hauptsache einer von uns beiden war frei.
Kugeln zischten um meinen Kopf, vermischten sich mit Staub, Dreck und Schutt. Das Haus löste sich auf, gab den Gewalten die in ihm tobten mehr und mehr nach.
Doch ich blendete das alles aus. Wurde eins mit dem Wind, tobte mit ihm, spürte für einen Moment wieder die Freude der Freiheit…
Jemand packte mich am Arm, rüttelte mich und schrie mir Worte ins Gesicht die ich nicht verstand.
Ich war der Wind. Ich war ungebunden und unbesiegbar….
Immer noch dieses Zerren an meinem Arm, Füße die wie von selber anfingen zu laufen, dem Zerren nachgaben.
Immer wieder diese Worte.
Ein Name immer und immer wieder.
Ein Name. Was für ein Name? Mein Name? Mein Name!
Mit einem Schlag brach die Wirklichkeit wieder über mich herein. Bellamy hatte mich am Arm gepackt und zerrte mich zum Ausgang. Wie er den in diesem Chaos finden wollte war mir schleierhaft. Das Bersten von Holz und Stein, das Auseinanderbrechen von jahrhundertelang Zusammengefügtem kreischte in meinen Ohren. Das ganze Haus stürzte langsam aber sicher über uns zusammen.
Vor uns leuchtete ein heller Fleck aus dem Dunst auf.
Der Ausgang? Der Ausgang! Hustend und Keuchend stolperten wir ins Freie. Zeit für eine Verschnaufpause gab es nicht.
„In … die … Gondel!“ stieg Ginevra zwischen heftigen Hustenanfällen hervor.
Ich sah Jolua, Bellamy, Gini und zu meiner Überraschung auch Edward in die Gondel klettern. Ohne mich noch einmal umzusehen, löste ich die Leine und sprang hinterher.

21. November


Ich saß am Fenster unseres Hotelzimmers und starrte auf die Straße. Die Sonne erhob sich gerade aus der weichenden Dunkelheit und ließ die Wellen auf den Kanälen funkeln.
Seit unserer Flucht hatte niemand mehr ein Wort gesprochen, aber das Unausgesprochene sprang trotzdem laut schreiend durchs Zimmer.
„Es ist deine schuld! Du hast sie hergebracht!“ rief es mir gerade wieder zu.
„Ihr habt sie zu euch geholt und ihnen vertraut und dafür sind deine Freunde jetzt tot!“ zischte er Gini ins Ohr, die sich auf dem Bett unter eine Decke gekauert hatte.
Neben mir saß, in dem unbeholfenen Versuch mich irgendwie zu trösten, Bellamy. Hin und wieder zuckte seine Hand, als wollte sie sich auf meinen Arm oder meine Schulter legen, aber das ließ er nicht zu.
Zu gut wusste er, dass es nicht helfen würde.
Er wusste, dass er mich nicht vor etwas beschützen konnte das in mir war.
Und in mir tanzten Schuldgefühle, Hass und Wut einen wilden Reigen und wirbelten alles in mir durcheinander bis mir der Kopf schwirrte.
„Ich brauch frische Luft!“ verkündete ich der Stille, stand auf, schnappte mir meine Jacke und flüchtete nach draußen.
Wo trieb es mich hin? Zum Meer natürlich.
Zu einem eingepferchten, nach Gift und Müll stinkendem Rest dessen was draußen auf mich wartete. Ich kam nur bis zur Lagune.
Das Meer zu sehen, zu hören, zu riechen, es war wie für einen Verdurstenden ein Glas kühlendes, frisches Wasser zu trinken, in dem Wissen, dass es mit tödlichem Gift versetzt war.
Ich schloss die Augen und versuchte alles einfach auszublenden. Ließ nur das feine Wispern des Windes, das Rauschen des Meeres, den Geruch nach Salz, Fischen und Algen an mich heran.
Ich bildete mir ein das Knarren von Takelagen, das Knarzen von Sonnen- und Salzgebleichten Planken zu hören.
Über mir kreischte eine Möwe.


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Der Wind strich leise über das morsche Holz, die zerrissenen Segel hingen schlaff herunter, nur ab und zu durch eine verirrte Böe aufgeschreckt.
Eine Möwe stakste über das Deck des alten heruntergekommen Schiffes und zupfte zaghaft an einem Haufen Lumpen, als wollte sie prüfen ob es essbar wäre. Doch die modrig feuchten Lumpen, die müde an einem ausgeblichenen Gerippe hingen, konnten das Interesse der Möwe nicht wecken. Von der einstigen Pracht und Schönheit der kaiserlichen Galeone war nichts mehr geblieben und inzwischen kümmerten sich nicht mal mehr die Möwen um die hohen Würdenträger und ihre wichtige Aufgabe.
Im Laufe der Jahre war der Kahn in Vergessenheit geraten und schon bald erinnerte sich niemand mehr an das Schiff oder die Namen der verschwundenen. Die Möwe hatte inzwischen alle Gerippe abgeklappert und war zu dem frustrierenden Schluss gekommen, dass hier nicht viel zu holen war. Sie schlug ein paar Mal mit den Flügeln und stieß zwei kurze schrille Schreie aus. Ein kleiner Logger, der am Horizont vor den sich auftürmenden Wolkenbergen kaum zu erkennen gewesen war, setzte sich in Bewegung und kam auf die Schiffsruine zugeschossen. Obwohl kaum ein Lüftchen die schwüle Luft bewegte, waren die Segel des Loggers straff gespannt und ächzten unter dem Druck des Windes. Dann beschrieb das Schiff einen Bogen und nur wenige Augenblicke später standen die beiden Schiffe parallel nebeneinander. Musterten sich misstrauisch wie alte Kontrahenten.
Die Möwe erhob sich anmutig und noch im Flug lösten sich wirbeln hunderte von Federn von dem Tier und verbargen es für einige Sekunden. Dann sprossen Arme, Beine und ein Kopf aus den Federn und eine junge Frau landete leichtfüßig auf der Rehling des Loggers. Die fünf Personen, die an Deck auf die Frau gewartet hatten, sahen sie erwartungsvoll an. Sie streckte ihre Glieder und schüttelte den Kopf.
„Alle tot. So wie das Schiff und die Leichen aussehen, auch nicht erst seit gestern.
Aber das was von der Kleidung übrig ist sieht teuer aus. Könnte also noch was zu holen sein.“ Sie strich sich eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht und musterte ihre fünf Crewmitglieder. Tamir, Käpt’n der Jeeva, lehnte lässig am Mast und grinste sie an. Pan und Dari, zwei Brüder, die sich nur ihn ihrer Liebe zu Schießpulver ähnlich waren, hatten die Seile und Enterhaken schon in den Händen und spähten begierig zum anderen Schiff. Auch Sirius wachsamer Blick klebte an unserem Gegenüber, seine Hand ruhte locker auf den Griffen seiner Schwerter. Und dann wanderte Ajos Blick zu mir. Und dort blieb er auch. Sie musterte mich von den schwarzen Stiefeln bis zu den braunen, krausen Haaren und wieder runter. Ihr Blick verfinsterte sich. Ja gut, ich trug wieder mal eins von Tamirs Hemden, aber heute Morgen war einfach keine Zeit gewesen. „Du musst lernen deine Kräfte besser zu kontrollieren!“ fuhr sie mich an. „Du reißt das Schiff noch in Stücke!“
Ich verdrehte die Augen und seufzte genervt.
Jeder hier wusste, dass es nicht darum ging.
Ihrer Meinung nach würde ich nicht das Schiff, sondern die Mannschaft auseinanderreißen.
Ihrer Meinung nach brachte eine Romanze unter Piraten, noch dazu aus derselben Mannschaft, immer nur großen Ärger.
Dabei verstand ich ihr Problem überhaupt nicht.
Da ich sowieso jede Nacht bei Tamir schlief, hatte sie unser Zimmer für sich alleine.
„Das Schiff (die Mannschaft meinte ich) hält mehr aus als du denkst!“ meine Lippen zauberten ein spöttisches Lächeln hervor, auf dem sich schon die Freude spiegelte über das was kam. „Mehr als du jedenfalls!“
Ein starker Windstoß fegte über das Deck und stieß Ajo von der Rehling. Ihr wütender Schrei wandelte sich in das empörte Kreischen einer Möwe, die ihren Sturz – leider – kurz vor der Wasseroberfläche abfing und sich nach oben in den Ausguck verzog.
„Du legst auch überhaupt keinen Wert darauf, dass sie dich irgendwann mal mögen könnte oder?“ Kopfschüttelnd löste Tamir sich vom Mast und wuschelte mir liebevoll durch die Haare.
In seinen Augen spiegelten sich so viele Dinge auf einmal. Sein Piratenblut, sein Freiheitsdrang, seine draufgängerische Art gemischt mit einer nachdenklichen Seite. Es ergab eine Farbe, mal strahlend blau, wie das Meer an einem Sommertag.
Mal dunkel und tief, wie die Abgründe des ‚Ozeans und mal grau und aufgepeitscht wie sturmdurchwühlte Wogen.
Mal zog Wut dunkle Streifen durch den blaugemischten Farbtopf und ein anderes Mal streute jemand glitzernde Funken darüber.
Mir malte es jedes Mal ein Lächeln auf das Gesicht, wenn mir klar wurde, dass diese Funken meinetwegen in seine Augen rieselten und dort kleben blieben.
„Ich würde sagen, wir haben wichtigeres zu tun als uns um Stutenbeißereien zu kümmern!“
Sirius hatte mal wieder Recht.
Der Schiffskadaver vor uns schien schon regelrecht auseinander zu brechen.
„Ihr habt Sirius gehört!“ rief Tamir, jetzt wieder ganz Käpt’n.
Pan und Dari kletterten bereits an den Seilen zum Schiff rüber.
Ich schloss die Augen, atmete tief ein und ließ den Wind um meinen Körper fließen. Ich rannte los, sprang ab und ließ mich einen herrlichen Moment lang vom Wind über das Wasser tragen.
Ich öffnete die Augen…


…und sah eine Gruppe japanischer Touristen albern kichernd irgendwelche Inseln fotografieren.
Seufzend schüttelte ich den Kopf und riss meinen Blick vom Meer los.
Es hatte keinen Sinn.
Je weniger ich an meine Heimat dachte, desto besser.
Vielleicht würde der Schmerz dadurch weniger.
Vielleicht würde es helfen sich ein wenig selbst zu belügen.
Ich drehte mich wieder zum Meer und ließ mich auf eine spröde, bröckelige Mauer fallen.
Natürlich würde es nicht besser, natürlich würde es nicht helfen.
Zwei Möwen zankten sich lauthals um einen zerrupften Fisch.
Die beiden erinnerten mich an all die kleinen und großen Streitereien die Ajo und ich im Laufe der letzten zwei Jahre heraufbeschworen hatten.
Ich beobachtete die Möwen eine Weile und stellte mir vor, dass die Eine lange blonde Haare und die Andere strubbeliges Hexenhaar hatte.
Zum ersten Mal seit Beginn meines Exils erlaubte ich mir ganz bewusst meine sorgsam gehüteten Schätze hervorzuholen. Kramte sie aus meinen Erinnerungen, rieb den Staub ab und ließ sie in der Sonne funkeln.
Zu meiner Überraschung blieb der Schmerz aus.
Die Sehnsucht. Das allesverschlingende schwarze Loch.
Stattdessen überkam mich eine Ruhe wie schon lange nicht mehr.
Es war ein Fehler gewesen das alles wegzuschließen.
Wo sonst sollte die Lösung liegen wenn nicht dort?
Innerlich schalt ich mich selber für diese Blödheit.
Ich hatte Jolua noch nicht einmal gefragt wie sie hier her gekommen war! Oder Edward.
Und alles nur weil ich so eine Angst davor hatte, mich mit meinen Erinnerungen auseinander zu setzen.
Da fiel mir auch meine Tasche ein.
Meine schäbige, abgewetzte Ledertasche.
Ich hatte sie im Lagerraum der Jeeva gefunden und sie seitdem ständig mit mir herumgetragen.
Als ich plötzlich neben dieser Mülltonne lag, hatte man auch die Tasche bei mir gefunden und das obwohl ich sie noch seelenruhig neben Tamirs Bett gelegen hatte als ich seine Kajüte verlassen hatte.
Warum war die Tasche also mit mir verbannt worden?
Was war so besonders an dieser Tasche?
Nicht die Tasche, der Inhalt!
Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich rücklings von der Mauer fiel.
Ohne auf die Schrammen an meinen Händen zu achten rannte ich zurück zum Hotel.

Im Hotel angekommen, stürzte ich mich auf meine Tasche und entleerte den Inhalt wortlos auf meinem Bett. Neben ein paar Kleidungstücken, einer Zahnbürste, meinem Handy und anderen weltlichen Dingen, lagen nun auch Überbleibsel des Mare Elenna auf meinem Bett.
Tamirs Hemd, ein kleines Notizbuch eine angelaufene Silberkette und ein zusammengefalteter Zeitungsbericht über die verschwundene Tochter einer Salenischen Königin .
All das hatte kaum Bedeutung. War nur für mich von Wert. Und in dem Büchlein waren Notizen und Skizzen von Inseln, ein paar selbst gekritzelte Karten.
Aber da war auch noch etwas anderes. Es lugte unter dem vergilbten Papier des Artikels hervor und blinkte mich im Licht der Glühbirne spöttisch an. Na? Endlich auch mal drauf gekommen? schien es mir zu zuflüstern.
Es, war ein Aeegolit. Waren die anderen, wie schon mal erwähnt, tellergroß, hatte dieser hier, kaum den Durchmesser einer Taschenuhr.
Die, mit einer blutroten Flüssigkeit gefüllte Nadel, ruhte auf einem Ziffernblatt aus Onyx, wurde von einer Goldfassung umgeben und von Diamantglas überdacht.
Schon aus materieller Sicht war das Ding schon ein Vermögen wert, aber dann hätte man es sicherlich nicht mit mir hierher gebracht.
Also musste es etwas anderes sein.
Joluas fassungsloses Japsen war genau die Bestätigung die ich brauchte.
„Wo hast du das her?“
„Auf so einem heruntergekommenen Wrack gefunden. Das war das einzig wertvolle, was wir finden konnten. Eigentlich ein Wunder, bei dem Schiff.“
Jolua stolperte zum Bett und nahm den Aeegoliten behutsam in die Hände, als wäre er ein junger Vogel.
„Nun verstehe ich auch warum man uns hierher verbannt hat. Dieser Aeegolit in den Händen einer Hexe, wäre für viele eine große Gefahr.“
„Was meinst du? Was ist so besonders daran?“
Ich stopfte meinen Kram wieder in die Tasche und hockte mich aufs Bett.
Neben mir wühlte sich ein bleiches Gesicht aus einem Deckenhaufen und Gini sah mich verwundert an.
„Das ist nicht dein ernst oder? Die zwei Tempel? Die herrschenden Schwestern ?“
„Natürlich kenne ich sie! Die kennt im Mare Elenna jedes Kind.“ Antwortete ich ihr mit einem Stirnrunzeln. Klar kannte ich sie, die Frage war nur woher sie sie kannte.
„Wir sind Nachkommen der Padavins. Die Geschichten und Erlebnisse meines Vorfahrens sind über die Jahrhunderte überliefert worden. Ich weiß so viel über eure Welt als wäre sich selber dort gewesen.“
Gut, das erklärte so einiges. Aber wenn selbst die Nachfahren des großen Padavin nicht wussten wo das Tor war, sah es echt schlecht aus.
„Was ist denn jetzt mit diesen Tempeln? Kann mich mal bitte jemand aufklären?“
Mein Kopf fuhr herum und mein Mund klappte auf. Wir hatten uns auf Elon unterhalten und ich hatte, mal wieder, Bellamy völlig vergessen.
Er schien es aber trotzdem verstanden zu haben. Wie war das möglich?
Auch die anderen musterten ihn.
„Dafür, dass er sechs Tage gelernt hat, versteht er aber erstaunlich viel!“ zischte Edward misstrauisch. Zu Schlitzen verengte Augen starrten mich an. „Hast du uns irgendwas verschwiegen?“
„Außer das ich intelligenter bin als du? Naja das ist aber auch kein Geheimnis!“ Bellamys Antwort kam sofort und in fließendem Elon, was jetzt selbst ihn zu überraschen schien.
Was ging hier vor?
Bevor sich Edward und Bellamy mal wieder an die Gurgel gingen, perlte Joluas helles Lachen durch den Raum und zog damit alle Gedanken auf sich.
„Entschuldigt, dass es mir erst jetzt bewusst wird. Ich hatte einfach nicht gedacht, dass es auch hier möglich ist.“ Sie kicherte noch einmal und klang dabei wie ein kleines Mädchen. „Und ich habe mich schon gewundert, wieso ich euch alle verstehe. Das liegt alles an mir!“
Jetzt fiel es mir auch wieder ein. Eine der Eigenschaften die man einer Cesaré nachsagte, war die Fähigkeit, alle Sprachen und Kulturen zu vereinen. In ihrer Gegenwart sprachen alle eine Sprache. Ohne Unterschiede und Missverständnisse. Um Gleichheit und Frieden zu schaffen. So war der Plan. Natürlich kann man sich auch den Schädel einschlagen, wenn man die gleiche Sprache spricht. Nur kann man da keine Missverständnisse vorschieben.
„Elon ist die Sprache die die Meisten von uns sprechen. Das würde Bellamys rasante Fortschritte erklären!“ sie kicherte noch einmal, doch dann wurde ihr Gesicht wieder ernst.
„Vor 200 Jahren, teilten sich die Unsterblichen und die Selenischen Hexen die Macht in unserer Welt. In den Zwei Tempeln wurden je eine Hexe und eine Unsterbliche ausgewählt, die fortan als Suarelle de Cesa gemeinsam über das Mare Elenna herrschen sollten. Waren sie einmal geweiht, konnte niemand das Band mehr trennen und niemand konnte ihnen ihre Macht noch streitig machen.
Diese Zwei Tempel, waren im Zentrum des Selenischen Hexenkreises auf einer kleinen Insel und sie sicherten schon seit Jahrtausenden das Gleichgewicht in unserer anarchischen Welt.
Weißt du, Bellamy, es gab nie so etwas wie eine Regierung, oder Ordnung. Das ist in einer Welt, die aus millionen von kleinen Inseln besteht und von Piraten und Ungeheuern bevölkert wird auch gar nicht möglich.
Aber dennoch haben die Suarelle eine gewisse Autorität gehabt. Ihrem Wort hat man glauben geschenkt. Ihren Rat haben alle befolgt. Rechtschaffende Bauern und wilde Piraten im gleichen Maße. Man konnte die Zeit damals als geordnetes Chaos beschreiben.
Bis zu dem Tag, an dem die Selenischen Hexen dieses Bündnis verraten haben.“

„Das ist nicht wahr!“ unterbrach ich Joluas Vortrag. „Bis heute ist nicht bewiesen, dass es unsere Leute waren!“
Jolua sah mich mit einem mitleidigen Blick an.
„Ihr seid Hexen und ihr habt schon immer versucht, das Gleichgewicht der Suarelle zu euren Gunsten zu verschieben! Es tut mir leid und ich kann verstehen, dass du das nicht wahrhaben willst. Aber es können nicht die Unsterblichen gewesen sein! Das ist gar nicht möglich! Hass und Gier sind uns fremd. Sie kommen in unserer Seele nicht vor.“

„Ach? Aber in unserer?“ So langsam wurde ich richtig wütend. Wie oft hatte ich mir das schon anhören müssen. „Ja klar, die bösen, sündhqften Hexen! Ihr seid nicht so heilig wie ihr denkt!“ schnappte ich und funkelte sie böse an.
„Ihr tut immer so, als wäret ihr Heilige, aber weißt du was? Nicht alles was auf den ersten Blick gut ist, muss auch im Inneren gut sein. Ich habe schon so manchen wunderschönen Apfel aufgeschnitten, nur um ein verrottetes Inneres zu finden! Also hör-“

„Das ist doch jetzt total unwichtig! Wer damals was verbockt hat. Wie lange ist das inzwischen her? Wen kümmert das noch?
Meine Güte, wir haben wichtigeres zu tun!“
Es kam selten vor, dass ich sprachlos war. Dies war einer dieser Momente.
Mit offenem Mund starrte ich Bellamy an, der in der Ecke am Fenster saß, aber trotzdem den ganzen Raum auszufüllen schien. In seinen Augen lag plötzlich diese Stärke, die ich an Tamir so geliebt hatte. Warte.
Habe ich gerade wirklich „hatte“ gedacht?
Ich wandte meinen Blick schnell von Bellamy ab und starrte beschämt auf meine Hände. Manchmal hasste ich mich wirklich.
„Du hast recht. Tut mir leid, Jolua. Wir haben Wichtigeres zu tun!“ gab ich kleinlaut zu.
Auch Jolua schien von Bellamy beeindruckt zu sein.
„Nein, mir tut es leid! Das war sehr unsensibel von mir! Wir können nicht sicher sagen, was damals passiert ist!“ Sie schenkte mir ein zaghaftes Lächeln.
„Was wir aber wissen, ist, dass die Suarelle seit dem Tag, nicht mehr zusammen herrschten und nurnoch eine Cesaré aus den Reihen der Unsterblichen herrschte.
Aber unsere Macht schwand mehr und mehr. Ohne das Bündnis, brachten die Freien uns keinen Respekt mehr entgegen.“
Ein spöttisches Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Ja ich weiß, ich hätte es gut sein lassen sollen. Aber das konnte ich noch nie gut.
„Ja und weißt du woran das lag? Weil ihr so reine und fehlerfreie Wesen seid!
Die Freien, und damit meine ich Piraten und alle anderen die sich keinen Regeln unterwerfen wollen, würden niemals jemanden respektieren, der so ist wie du!“ stichelte ich. Aber Jolua ging nicht darauf ein. Sie bot einfach nie eine Angriffsfläche.
„Ja du hast recht. Das ist uns dann klar geworden, aber wir haben immer versucht, den Schein zu waren. Aber die Welt versank mehr und mehr im Chaos und die Freien wurden zu Wilden –“
Ich musste sie schon wieder unterbrechen. Aber mir fehlten die Zankereien mit Ajo und ich kam gerade in Fahrt.
„Nicht alle! Tamir und die anderen, waren noch genauso wie die Freien von früher. Und sie waren nicht die Einzigen!“

„VIKI! Halt. Die. Klappe!“ Nun war Bellamy aufgestanden und warf mir einen Blick zu, der keinen Wiederspruch duldete. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
„Verdammt noch mal! Da sind gestern drei Menschen gestorben! Unseretwegen!
Weil euch irgendwer tot sehen will! Wegen diesem DING! Mit unseren endlosen Streitereien tun wir nur eins! Wir verhöhnen den Tod von Giade und Matteo und allen anderen die vielleicht schon wegen dem hier sterben mussten!
Also reißt euch endlich zusammen!“
Vier Augenpaare starren ihn an.
„Bellamy….“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Ich weiß, dass du gerne die taffe Kämpferin spielst und du hast dir noch nie was sagen lassen, aber das hier ist kein Spiel oder eine Schulhofschlägerei. Gerade du solltest eigentlich wissen, wie ernst es ist und was auf dem Spiel steht. Besser als ich.“

Ich senkte den Blick. Noch nie hatte ich mich so geschämt.
Bellamy schüttelte den Kopf und setzte sich neben Jolua und ließ sich von ihr alles Weitere erklären.
Dass das Bündnis mit diesem Aeegoliten erneuert werden könnte, die alte Ordnung wieder aufgebaut und dieses finstere Kapitel beendet werden könnte.
Dass es viele gab, die diese rechtlose Ära ausnutzten um ihre eigene Macht zu stärken. Dass es tausend Gründe gab, den Aeegoliten zusammen mit uns zu verbannen.
Ich sah wieder hoch und beobachtete ihn eine Weile.
Wieder fiel mir auf, er hatte sich verändert.
Er war etwas geworden, was ich früher so verzweifelt gesucht hatte. An ihm. An allen Jungs. Was ich in Tamir gefunden hatte. Ich seufzte und sah aus dem Fenster in den Himmel. Wer oder was auch immer gerade da oben saß um meine Geschichte zu schreiben, musste wirklich einen sehr schrägen und grausamen Humor haben.

Impressum

Texte: Namen und Handlung sind geistiges Eigentum der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2012

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