Die Sirene
Mein Herz klopfte. Wie ein Minenarbeiter mit der Hacke schlug es gegen meine Brust. Mir war schon beinahe schwindlig. Heute. Heute würde ich sie wiedersehen. Vier lange Wochen waren vergangen. Keine allzu lange Zeit, doch mir kam es so vor wie Monate. Noch immer spürten meine Lippen die ihren. Schloss ich die Augen, fühlte ich ihre zarten Hände über meinen Körper wandern und ihn sanft streicheln. Ihr Kichern, wenn ich dasselbe bei ihr machte. Nach nichts sehnte ich mich mehr als bei ihr zu sein. Ein Kribbeln lief mir über den Nacken, jedes mal, wenn ich daran dachte. Ihre Lippen. Ihre Zunge, die sich an meiner festsaugte, wenn sie aufeinandertrafen. Ihr...Doch es gab auch noch die andere Seite. Die dunklen Gedanken, die sich einschlichen, wenn man nicht aufpasste. Geboren aus unerfüllter Begierde. Genährt durch lange Trennung. Grün triefende Eifersucht fraß sich plötzlich in mein Herz. Wie tropfender Schleim infizierte sie meine anderen Gefühle und verwandelte Weiß in Schwarz. Was? Was gab ihr das Recht mich so zu quälen. Sich mir absichtlich so lange zu entziehen. War es gar Absicht? Kalte Berechnung? Schon zogen dunkle Wolken auf und umhüllten meinen Verstand. Aus Sehnsucht wurde Schmerz. Aus Schmerz wurde Hass, doch... Ein letzter Aufschrei meiner Vernunft verhallte klanglos in der Leere, die mich jetzt erfüllte. Was gab ihr das Recht? Wie eine Sirene hatte sie mich in die gefährlichen Klippen gelockt und jetzt, da ich Schiffbruch erlitten hatte, ließ sie mich elend verdursten. Meine Stirn pochte. Doch diesmal war es eine andere Leidenschaft. Was auch immer in mir sich nach Liebe gesehnt hatte, sann nun nach Rache. Ein letztes Zögern, doch dann war es zu spät. Nervös schritt ich im Zimmer auf und ab. Meine ungeschickten Finger zogen eine Zigarette aus der Schachtel. Lautlos fiel sie zu Boden. Dann noch eine. Frustriert schmetterte ich mein Feuerzeug in irgendeinen Winkel. Wutentbrannt fuhren meine Hände in die Haare. Zornig gruben sie sich in die Kopfhaut und hinterließen klebrige, juckende, blutige Wunden. Ich verfluchte sie. Ebenso gut hätte sie selbst ihre spitzen Krallen in meinem Fleisch versenken können. Mein Körper war heiß und kalt zugleich. Nach nichts sehnte ich mich mehr, als dass auch sie meinen Schmerz fühlen könnte. Als ich einen schnellen Blick in den Spiegel warf, vermeinte ich ein kleines Funkeln in meinen Augen zu sehen. Ich musste mich aus ihrem Bann befreien. Doch wer konnte sagen, dass das ausreichte? Wer sagte, dass sie mich nicht wieder einfing. Ein Gefühl von noch nie dagewesener Klarheit umfing mich. Ich musste es beenden. Ein für alle Mal. Niemals wieder sollte ein Mann dem Bann dieser Hexe erliegen. Nervös trommelten meine Finger am Schreibtisch. Ich wusste, was ich zu tun hatte, nur nicht wie. Wie konnte ich mich und all die anderen ahnungslosen Männer vor ihr beschützen? Von wahnsinnigem Eifer getrieben, wanderten meine Augen über den Tisch. Womit beginnen? Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich nur noch fünf Minuten hatte. Sie kam immer pünktlich. Niemals zu spät. Dann stach mir die Schere ins Auge. So lang wie mein Unterarm war sie. Mit rostigen Flecken übersät, aber immer noch scharf. Vorsichtig glitt mein Zeigefinger über die Schneide. Nicht vorsichtig genug. Ein dicker roter Tropfen quoll aus meiner Fingerkuppe und fiel auf den Schreibtisch. Plötzlich läutete es. Mein Herz stockte. Mit aller Kraft presste ich die Schere flach an meinen Rücken. Wie ein verstecktes Präsent. Langsam schritt ich zur Tür. Der Schweiß rollte mir in dicken Perlen über die Stirn. Ich hatte Mühe mich aufrecht zu halten. Mit zitternden Händen drehte ich den Türknauf. Langsam. Ganz langsam. Mir war, als öffnete ich ein Tor zur Hölle. Ehe ich mich versah, umfingen mich ihre Arme wie die Tentakel eines grässlichen Ungeheuers und alle Kraft wich von mir. Mit einem dumpfen Laut bohrte sich die Schere in den Fußboden. Es war zu spät. Wieder hatte mich ihr Zauber umfangen. Unfähig irgendetwas zu tun, fragte ich mich wie lange es diesmal anhalten würde. Wie lange es diesmal dauern würde bis ich wieder einen Moment der „Klarheit“ hatte. Ein Teil von mir hoffte niemals.
Texte: Peter LOgar
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2013
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