Tapp, tapp, tapp-tapp. Immer derselbe Rhythmus. Ratten. Langsam fragte er sich wirklich, ob sie es mit Absicht machten, oder er schon völlig den Verstand verloren hatte. Sie kamen immer wieder, egal wie viele von ihnen er schon getötet hatte. Nicht, dass er sich über ihre Gesellschaft beschwerte. Wenn sie starben, konnte er leben. Peron kannte nicht sagen, wann er damit begonnen hatte. Die erste Ratte zu essen hatte noch Überwindung gekostet, doch der Mensch gewöhnt sich an alles. Als Gefangener musste man nur sein Schicksal akzeptieren. Wenn ein Zustand lange genug andauerte, dann war er normal. Normal. Was hieß schon normal? Seit Peron in dieser Zelle fest saß, hatte seine Definition von normal schon einige Änderungen erfahren. Immer zum schlechteren, nie zum besseren. Das schlimmste an der Gefangenschaft waren nicht die schimmligen Wände, die mit eitrigen Geschwüren überzogenen Mithäftlinge, die sadistischen Wärter, oder das ekel erregende Essen. An all das konnte sich ein Mensch gewöhnen, aber an was man sich nie gewöhnen konnte, was nie normal wurde, das war die Ungewissheit. Jede Nacht einzuschlafen und nicht zu wissen, ob der Wärter einen am nächsten Tag in Ruhe ließ, verprügelte oder die Nachricht brachte, dass jemand ein Lösegeld bezahlt hatte.
„Essen fassen, ihr dreckigen Ratten! Ihr verscheucht mir noch das ganze Ungeziefer!“, kündigte sich der Wärter an. Hinter ihm schleppten zwei kleine Jungen nicht älter als fünfzehn oder sechzehn an einer massiven Eisenstange einen überdimensionierten Kessel mit einer braunen Brühe. Vor ein paar Monaten hätte es Peron noch davor geekelt die Suppe auch nur anzusehen, doch inzwischen träumte er schon davon. Sie war die einzige Abwechslung vom ewigen Stöhnen und Jammern seiner Mithäftlinge.
„He, nicht alle auf einmal! Sonst bekommt niemand was!“, brüllte der Wärter und schmetterte den hölzernen Suppenschöpfer auf die Hand des vermeintlichen Übeltäters. Man konnte dem Wärter viel vorwerfen, doch er achtete stets darauf, dass seine Gefangenen immer gleich wenig bekamen. Peron musste ihm einen gewissen, wenn auch perversen Sinn für Gerechtigkeit zugestehen. Als der Wärter bei einer Gestalt angelangt war, die sich offensichtlich nicht rührte, stocherte er aus sicherer Entfernung ein wenig auf ihr herum. Als sie sich noch immer nicht bewegte, setzte er wieder mit seiner kratzigen Stimme an: „Wieso sagt den niemand was, dass ich ein Maul weniger zu stopfen habe. Der ganze Teller ist jetzt für die Katz!“ Demonstrativ schüttete er einen ganzen Schöpfer Suppe auf den glitschigen Zellenboden. Wie auf ein Signal hin, krochen diejenigen, die dumm oder hungrig genug waren in Richtung der kleinen, dampfenden Pfütze. Nun zeigte er sich wieder seine sadistische Ader. Mit einem Tritt zerschmetterte er dem Häftling, der ihm am nächsten war, das Gesicht. Die Zeit gefror in diesem Moment. Peron schien seinen Körper zu verlassen und über der Szene zu schweben. Sein Geist löste sich von der Szene. Zuerst sah er den Ausdruck im Gesicht des Opfers. Die Wangenmuskeln, die Augen- und Stirnfalten, die sich alle genau so verzerrten, dass ein Bild erschreckender Perfektion entstand. Er empfand schon fast so etwas wie eine tiefe Bewunderung für die Abscheulichkeit, die sich seinen Augen darbot. Peron war vollkommen abgekapselt. In seiner Wahrnehmung zog sich dieser Augenblick, der nur wenige Sekunden gedauert hatte, über Stunden. Ein Schleier aus hauchfeinen roten Tröpfchen zerstäubte direkt vor ihm und brach das Licht so, dass die sonst so trostlose Zelle von kleinen roten Lichtkegeln erleuchtet wurde. Dann hörte er eine Stimme. „Erwache!“. Peron konnte nicht sagen, woher sie kam, oder ob er sie überhaupt hörte und sie nicht nur das Produkt seiner eigenen Fantasie war. Blut spritzte aus dem Gesicht des Opfers und floss in einem kleinen Rinnsal den Boden entlang. Wie zwei Flüsse die einander zum ersten Mal trafen, vermischte es sich mit den Resten der ausgeschütteten Suppe. Als der Wärter und die beiden kleinen Jungen mit dem leeren Kessel und der Leiche die Zelle verließen, warf Peron einen Blick auf den bewusstlosen Häftling und wusste, dass es morgen wieder einen Teller Suppe weniger geben würde.
Peron vermochte es nicht zu sagen, aber es schien ihm, als würden die Gesichter seiner Mithäftlinge immer leerer. Mit jedem neuen Tag wich die Angst ein Stück weit der Resignation. Direkt neben ihm lag, Aleph. Ein kleiner Straßenjunge aus den Gassen Leora. Normalerweise musste man für Diebstahl nur ein bis vier Wochen im Gefängnis verbringen, doch nicht, wenn man die falsche Person bestohlen hatte. Obwohl sie nun schon seit vier Monaten nebeneinander angekettet waren, hatte Peron nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Der schwere Kerker war für Aleph vielleicht auch mehr ein Segen als ein Fluch, wenn man es von einer anderen Seite betrachtete. Die mächtigen Eisenketten verhinderten nicht nur, dass er sich bewegen konnte, sondern auch alle anderen. In anderen Teilen des Gefängnisses wurden Jungen in seinem Alter regelmäßig vergewaltigt. Gegenüber von Peron saß der Mann, den alle nur den alten Oh nannten. Sein verrunzeltes Gesicht strahlte eine gewisse Wärme und Geborgenheit aus, die in starkem Kontrast zur Stimmung in der Zelle stand. Niemand wusste wie alt er, denn er konnte nicht sprechen. Jedenfalls nicht wirklich. Wann immer sich sein Mund öffnete, kam nur ein schwaches Oh heraus – deshalb der Name. Keiner kannte seinen richtigen Namen. Viele machten den Scherz, Oh kenne auf alles eine Antwort, aber eben nur eine. Dann waren da noch Dick und Stumm, sie waren Kollegen. Beide hatten als Söldner in der Marine des Stadtstaates gedient, bis sie es sich mit ihrem Kommandanten verscherzt hatten. Dick bestand nur aus Haut und Knochen und sein einst blondes Haar war entweder ausgefallen oder erbleicht. Als er noch auf dem Schiff gedient hatte, war er Koch gewesen. Noch in der ersten Nacht, die er einsaß, schwärmte er von seiner in Butter gebratenen Goldbrasse mit Zitronengras, Thymian und Kartoffeln. Schon nach einer Woche sprach er nicht mehr vom Essen, sondern träumte nur noch davon. Stumm war derjenige in der Runde, der der düsteren Stimmung immer noch etwas Komisches abgewinnen konnte. Er scherzte stets, welche Ratte er heute verspeisen sollte, wenn einem der Patriarch schon eine so große Auswahl bot, sollte man sie auch nutzen. Plötzlich waren Schritte zu hören. Wachen. Aber sie trugen keine Suppe bei sich. Im düsteren Licht der Kerzen konnte Peron erkennen, es waren vier Personen. Einer war Wärter. Hinter ihm gingen zwei Soldaten aus der Garde des Patriarchen. Ihre mit Gravuren verzierten Schwertscheiden kratzten an den engen Gängen des Korridors und ihre Rüstungen hoben und setzten sich geräuschvoll bei jedem ihrer Schritte. Die vierte Person jedoch gab Peron Rätsel auf. Eine Gesichtsmaske mit weißen, stilisierten Blitzen auf jeder Seite, die anderen Farben nicht zu erkennen, verdeckte einen Blick auf sein Antlitz. Weder Emotion noch einen Hinweis auf sein Aussehen gab sie preis. Die Stoffe in die sie sich hüllte, zeugten jedoch von der adligen Herkunft, verhinderten aber durch ihren großzügigen Schnitt jeden Hinweis auf das Geschlecht. Perons Herz raste, als die ungleiche Gruppe vor der Zelle zu stehen kam. Der alte Oh, gab nur mehr ein schreckhaftes Oh von sich und auch Stumm riss keine Witze mehr. Die Wache schloss die Zellentür auf und die beiden Soldaten betraten die Zelle. Sofort bauten sie sich vor den Gefangenen auf, damit keiner auf dumme Gedanken kam. Dann folgte ihnen der unbekannte Aristokrat. Sein Gang wirkte leicht und glich eher einer Fee als einem Menschen. Wie eine Puppe bewegte sich ihr Kopf und mit einem toten Augen musterte sie die Gefangenen. Etwa zehn Minuten lang sah sie jedem immer wieder tief in die Augen. Der alte Oh gab noch einige Ohs von sich und verdeckte jedes mal sein Gesicht, wie um sich zu entschuldigen wippte er mit dem Oberkörper immer wieder im selben Rhythmus vor und zurück. Dann als die Unbekannte sich endlich entschieden hatte, machte sie eine kleine Geste. Eine die Peron das Mark in den Knochen gefrieren ließ. Wie die Hand des Todes zeigte ihr Zeigefinger in seine Richtung. Und obwohl sie ihn nicht berührte, schien sie seine Stirn zu durchbohren und in sein tiefstes Inneres zu blicken. Das war das Signal. Der Wärter kam auf ihn zu und mit einer mühsamen Drehung, öffnete der Schlüssel die Ketten, die Peron schon seit mehr als zwei Jahren gehalten hatten. Die Kälte fraß sich beißend in die Haut an der Stelle, die die Schnallen solange umfasst hatten. Die beiden Soldaten zogen ihn hoch und schleiften ihn zwischen sich haltend langsam nach draußen. Peron konnte es zwar nicht sehen, aber ihm schien, als starrte ihm sein mysteriöser Erlöser ein Loch in den Rücken. Seine Augen schmerzten und seine Lunge brannte, als er den Innenhof des Gefängnisses erreichte. Dort wartete schon eine Kutsche, die in Reichtum und Eleganz seinen Befreiern in nichts nachstand. Das Wappen zeigte den orangen Fuchs der Reliani. Die Reliani waren eine der einflussreichsten Familien in Leora. Sie kontrollierten den Handel mit Farben, Metallen und Hölzern. Peron merkte nur noch wie er auf die weiche gepolsterte Bank der Kutsche gelegt wurde, bevor er das Bewusstsein verlor.
Kapitel 2
Als Peron erwachte, war es das erste Mal seit Monaten, dass er aufwachte, weil er ausgeschlafen war und weil eine der Ratten damit begonnen hatte an seinem Fuß zu knabbern oder noch schlimmer, einer seiner Mithäftlinge. Ihm stieg auch nicht der Geruch von Moder, Urin, Fäkalien oder Erbrochenem in die Nase. Nur der Duft von frisch Brötchen und würzigem Käse lag in der Luft.
„Ich wusste nicht welchen Käse sie bevorzugen würden, aber nach Jahren Gefängnisküche nahm ich an, sie würden in dieser Beziehung nicht allzu viele Forderungen stellen.“, vernahm er eine Frauenstimme von der anderen Seite des Raumes. Es war dieselbe wie die hinter der Maske. Doch ohne die Maske war sie ein weitaus schönerer Anblick. Die rotblonden Locken waren zum größten Teil hochgesteckt. Nur vereinzelt fielen sie ihr von der Stirn. Sommersprossen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Mädchenhaftigkeit, obwohl er sie auf Anfang zwanzig schätzte. Ihr Gesicht wechselte von unschuldig-verspielt zu nachdenklich. Ihr langes blaues Kleid streifte leicht über den Boden und war mit Stickereien verziert. Ihre grauen Augen starrten ihn an, als wäre er eine Kiste Silber. Nachdem schon eine Minute vergangen war und sie noch immer nichts gesagt hatte, ergriff Peron mit einem schlechten Gefühl im Magen das Wort.
„Ich verstehe nicht...wieso bin ich hier?“, fragte Peron. Aus seiner Zeit als Schmied kannte er die perversen Spiele, denen einige Adlige nachgingen. Je höher der Titel, desto ekliger der Zeitvertreib. Die Freiherrn jagten Hirsche, die Patrizier Menschen hieß es. Doch niemals erfuhr man woher diese Gerüchte stammten, wer sie in Umlauf gebracht hatte. Jeder, der das Gerücht verbreitete, stritt es am nächsten Tag ab oder verschwand. Auf einmal fühlte sich das Bett nicht mehr ganz so kuschelig an. Der Samt schmiegte sich nicht mehr an seine Haut, sondern verursachte ein Jucken am ganzen Körper.
„Wie soll ich sagen...“, sagte sie mit einer leicht nachdenklichen Stimme. In jeder anderen Situation hätte ihn diese Stimme erregt, doch im Moment war sie wie der eisige Hauch des Winters. „...ihr verfügt über gewisse Talente, die für uns von Nutzen sein könnten.“ Erst jetzt bemerkte Peron, dass eine weitere Person im Zimmer war. Es war einer der Leibwächter, die er schon am Vortag gesehen hatte. Es handelte sich um einen Nuun. Seine Haut war so dunkel, dass er ohne Probleme mit den Schatten verschmelzen könnte. Sein starrer, durchdringender Blick brachte jede Hoffnung auf Flucht zum erlöschen. Nicht viele Nuun lebten in Leora. Wie viele seiner Landsleute war er kräftig gebaut und überragte die meisten anderen Menschen.
„Ihr habt sicher schon Matuni bemerkt. Er spricht nicht, aber er ist vollkommen loyal, bis in den Tod. Nur falls du auf falsche Gedanken kommen solltest.“, warnte sie ihn. „Ich bin Elisa, oder wenn du es förmlicher haben willst. Freiherrin Elisa aus dem Hause Reliani. Einzige Tochter und Erbin des Ratsherrn Elias Reliani.“ Wie um das Gesagte zu unterstreichen vollführte sie einen Knicks.
„Wenn du dich bereit erklärst für unser Haus zu arbeiten und den Eid auf uns ablegst, werden wir dafür sorgen, dass du eine Unterkunft bekommst und alle Menschen mit denen du Probleme hast, werden sich von dir fernhalten.“, schlug sie ihm vor.
„Ich...“, begann Peron, doch noch bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, unterbrach sie ihn schon wieder.
„Ich verlange nicht von dir, dass du dich sofort entscheidest. Ich werde dir die Grundlagen deiner zukünftigen Arbeit für unser Haus erklären und danach hast du eine Woche Zeit dich zu entscheiden.“, schlug sie ihm vor.
„Es ist nicht gerade so, dass ich andere Pläne hätte, aber wieso habt ihr gerade mich aus dem Gefängnis geholt und welche Talente meint ihr in mir zu erkennen. Meine Schmiedekunst, kann sich mit einem billigen Hufschmied messen, aber mit keinem, der euch zur Verfügung steht. Wenn ihr mich für einen Meuchelmord anheuern wollt, so glaube ich, dass ich auch in diesem Bereich nicht besser bin, als ein Dieb, den ihr in jeder billigen Taverne anheuern könnt und einen besseren Liebhaber als mich findet ihr bei eurem Status und eurer Schönheit allemal. Ich hoffe ich trete euch damit nicht zu nahe.“, sagte Peron. Als Elisa in Lachen ausbrach, wusste Peron nicht, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
„Ich sehe schon, dass ihr von anderen stets das Schlechteste annehmt. Aber wer könnte es euch schon verübeln. Monate in einem feuchten, schimmligen Kerker zuzubringen, macht einen nicht unbedingt zu einem positivem Menschen. Ihr habt Recht. Eure Talente sind ein wenig spezieller. Nicht viele Menschen besitzen das, weswegen ich euch aus eurer Lage befreit habe.“, sagte sie und verfiel wieder in ihre nachdenkliche Pose. Gerade öffnete sie den Mund zum Sprechen, verharrte aber im letzten Moment wieder im Schweigen. Die nächsten Minuten fiel kein Wort und Peron wagte es nicht die Stille zu stören. Niemand konnte sagen wie schnell Adelige ihre Meinung änderten. Dann plötzlich, gerade, als Peron sich an die Stille gewöhnt hatte, redete sie weiter.
„In jedem Stadtstaat und auch in jedem Reich gibt es gewisse Ebenen, die von verschiedenen Menschen besetzt werden. Es gibt ganz unten die Ausgestoßenen und Bettler. Dann gibt es Bauern und Sklaven. Handwerker und Händler. Ritter und Priester. Und schließlich die Häuser. Alle haben ihren Platz. Niemand würde auf die Idee kommen an der grundlegenden Ordnung zu rütteln, denn jenseits der Ordnung liegt nur das Chaos.“, sagte sie und dachte wieder einige Minuten nach bevor sie weitersprach. „Genauso besteht auch die Realität aus verschiedenen Ebenen. In jeder Ebene wird sie von einer Unzahl an verschiedenen Wesen bevölkert. Jedes Lebewesen hat eine ihm zugewiesene Ebene und seinen Platz in dieser. Das ist die natürliche Ordnung der Dinge. Doch an manchen Orten hat etwas die Grenzen zwischen diesen Ebenen aufgerissen und etwas schlüpft hindurch oder wirkt hindurch. Nicht alle Wesen können diese Bruchstellen nutzen.“
„Welche Wesen? Wieso erzählt ihr mir das alles?“, fragte Peron.
„Wesen so unglaublich schön, dass ihr Anblick dich nie wieder loslassen wird, aber gleichzeitig mit einer so hässlichen Seele, dass es dich auf der Stelle töten würde, ohne, dass du es in irgendeiner Weise provozierst. Andere stinken so bestialisch, dass jeder, der sich ihm nähert in Ohnmacht fällt und ein wehrloses Opfer wird. Doch wir können sie nicht einfach töten. Denn wen der tote Körper zu lange in einer falschen Ebene verweilt, sucht er sich selbst einen Weg zurück und reißt dabei ein Loch zwischen den Ebenen auf. Du könntest mich eine Priesterin oder ein Medium nennen, das den Seelen den Weg in die richtige Ebene zeigt. Wir müssen die Körper und Seelen wieder zurückschicken, um die Grenzen zu erhalten.“, erklärte Elisa.
„Und wie komme ich bei der ganzen Sache ins Spiel?“, fragte Peron. „Was habe ich mit dem Seelenheil überirdischer Wesen zu tun.“
„Du, Peron, bist ein Medium.“, sagte Elisa. So als wäre diese eine Aussage die Antwort auf seine Frage, machte sie wieder einen kleinen Knicks, drehte sich um und ging davon. Ihre Schritte waren dabei so sanft, dass Peron meinte sie schwebe über den Boden.
Es mussten einige Minuten vergangen sein, da hörte Peron erneut Schritte. Instinktiv zuckte er zusammen. Noch zu tief saß die Erinnerung an den schweren Kerker. Doch der groß gewachsene Mann, der erschien hatte wenig Gemeinsamkeiten mit einem Wärter. Wortlos betrat er den Raum, nur eine angedeutete Verbeugung als Begrüßung. Gerade als Peron ihn etwas fragen wollte, deutete der Diener auf seinen Mund. Peron verstand nicht und machte ein ratloses Gesicht, ohne zu wagen das Schweigen zu brechen. Schließlich zuckte der Diener mit den Achseln und öffnete den Mund. Nun hatte Peron eine Antwort, auch wenn er sich wünschte niemals die Frage gestellt zu haben. Die vordere Reihe seiner Zähne fehlte und dort, wo sich seine Zunge befinden hätte sollen, bewegte sich nur ein vernarbter Strang aus Sehnen, Adern und Fleisch. Peron schreckte bei dem Anblick zurück. War das ein Vorgeschmack auf die Wesen, die ihn erwarten würden? Während Peron noch immer regungslos im Bett saß, hatte der Diener ein Tablett mit einer kleinen Mahlzeit auf dem Tisch platziert und eine Garnitur Kleidung auf einen Sessel gelegt. Noch bevor Peron sich bedanken konnte, war der Diener wieder verschwunden. Erst jetzt spürte er seinen leeren Magen. Wenn man wenig aß, wurde man erst dann hungrig, wenn es etwas zum Essen gab. Die Speise bestand aus einem großzügigem Stück Käse, frischem Schwarzbrot, einer Schüssel Jogurt und zwei Äpfeln. Nach den Monaten im Gefängnis war dieses einfache Gericht ein Festmahl für Peron. Er schlang beim Essen so schnell, dass er sich einige Male verschluckte und husten musste. Nur langsam gewann er den Kampf gegen seine Gier und aß in langsameren Bissen. Der Käse und das Brot lagen ihm wie Steine im Magen und Peron fühlte sich nach dem Essen schlechter als davor. Sein Hunger war zwar nicht gestillt, aber wenn er noch einen einzigen Bissen aß, meinte Peron platzen zu müssen. Er konnte nicht sagen wieso, aber schon kurz darauf wurde von seiner Müdigkeit übermannt und fiel in einen unruhigen Schlaf. In seinem Traum war er wieder im Gefängnis und sah die Gesichter. Der kleine Aleph, der alte Oh, Dick und Stumm. Sie alle hatten sich mit ihren Ketten an den Händen um ihn versammelt und töteten ihn mit ihren Blicken. Warfen ihm vor, dass er sie verlassen hätten, nur der alte Oh, sagte einfach nur Oh. Doch in diesem einfachen Oh steckte mehr Verachtung als in jeder Beleidigung. Schweiß gebadet fuhr er aus dem Bett hoch. Doch als er den weichen, samtenen Stoff unter seinen Händen spürte, da wusste er, dass es nichts anderes als schlechte Erinnerungen waren.
Als Peron endlich wach wurde, stand die Sonne schon fast am Zenit. Hartnäckig fuhren die Strahlen über seine geschlossenen Augenlider. Nur widerwillig raffte er sich hoch. Ironischerweise fühlte sich sein Rücken nun schlimmer an, als im Gefängnis. Aber es war ein gutes Zeichen, dass er seinen Körper wieder spürte. Ohne Eile streifte er sich die Kleidung über. Das frisch gewaschene Leinen schmiegte sich an seine Haut. Es schien ihm Ewigkeiten her, dass er das letzte Mal saubere Wäsche gespürt hatte. Als er in die Schuhe schlüpfte, die er unter dem Sessel vorfand, bemerkte er einen kleinen Lederbeutel, gefüllt mit so vielen Kupfermünzen, wie ein einfacher Arbeiter an den Docks in drei Monaten verdiente. Peron kam sich wie ein Eindringling vor und musste sich ständig vergegenwärtigen, dass er hier auf Wunsch des Handelshauses war. Vorsichtig wie ein Reh, das gerade Witterung aufgenommen hatte, wagte er sich auf den Gang hinaus. Auf der rechten Seite ging der Gang noch ungefähr zwanzig Meter weiter. Links konnte man die Brüstung einer Stiege erkennen. Seine Schuhe verursachten fast überhaupt keinen Ton, als er den reichverzierten Teppich entlang ging. Als Peron die an der Brüstung ankam, sah er einige Meter unter sich unzählige Arbeiter, Küchenmädchen und Köche durch die Gänge laufen. Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter, denn plötzlich fühlte er eine leichte Schwäche in seinen Beinen. Als er unten angekommen war, sah er wie sich eine Person, die zuvor noch Anweisungen an die Köche gegeben hatte aus der Ansammlung aus Menschenkolonnen löste und auf ihn zu kam.
„Heutzutage ist es so schwierig vernünftiges Personal zu finden. Die Köche kochen die falschen Rezepte, die Zimmermädchen putzen die falschen Zimmer und, und ihr müsst der geheimnisvolle Gast aus, aus...woher kommt ihr noch gleich? Da schimpfe ich über die Inkompetenz anderer und dann bin ich selbst nicht besser. Aber wo bleiben den meine Manieren. Darf ich mich vorstellen. Ich bin Cornelius Coravus, der Aufseher von Haus Reliani. Fräulein Elisa Reliani lässt sich entschuldigen, aber sie hat mich...“, dann machte er eine kurze Pause, um Luft zu holen, „...persönlich damit beauftragt mich um euer Wohl zu kümmern und natürlich hat man mich verpflichtet absolute Diskretion über euren Aufenthalt zu bewahren. Aber euch langweilt das ganze Gerede bestimmt nur. An euren Augen kann ich sehen, dass ihr schon ein Loch im Bauch habt. Wenn ihr mir bitte folgen möget. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein kleines Mahl für euch vorzubereiten.“
Peron folgte Cornelius bis zu einem Raum, in dem sich eine fünf Meter langer Tisch befand, beladen mit so vielen Speisen, dass zwanzig Menschen davon satt werden konnten. Ente gefüllt mit Salbei, Ziegenkäse und Spinat. Datteln in Speckmantel auf Pinienkernen und mit Honig beträufelt. Blutwürste mit gebratenen Zwiebeln und gebackenen Äpfeln auf Kartoffelpüree, darüber einige Stückchen Butter, die gerade dabei waren zu schmelzen. Gierig lud sich Peron eine großzügige Portion von der einen und dann von der anderen Speise auf seinen Teller. Nach einigem Zögern begann auch Cornelius, nicht ohne sich ein heimliches Grinsen zu verkneifen.
„Ich muss schon sagen, es passiert nicht oft, dass sich so hochrangige Gäste über einfache leorische Küche freuen.“, bemerkte Cornelius.
„Entschuldigt mein Verhalten, doch es ist schon einige Zeit her, dass ich das letzte Mal ein so reichhaltiges Mahl genießen durfte.“, sagte Peron.
„Ja, ja, auf Schiffen sind Bauer und Edelmann gleich, wenn die Reise lang genug dauert, essen beide Zwieback und Schnaps.“, erwiderte Cornelius, „Ein altes Seemannssprichwort. So hat man mir zumindest gesagt. Ich muss gestehen, dass ich noch nie das Vergnügen oder die Qual hatte eine lange Schiffsreise zu machen. Wenn ihr mir die Frage erlaubt, nur diese eine. Sind da, wo ihr herkommt die Frauen auch so geheimnisvoll, wie hier bei uns? Ich habe nun schon seit vier Jahren das Vergnügen für Fräulein Elisa Reliani und Haus Reliani zu arbeiten und doch schafft sie es immer wieder mir neue Rätsel aufzugeben.“, sagte Cornelius mit einem fragenden Blick.
„Mir scheint, obwohl wir uns erst seit wenigen Augenblicken kennen, haben wir schon eine Gemeinsamkeit gefunden. Aber wie heißt noch gleich das Sprichwort: Eine Frau braucht ihre Geheimnisse,“, erwiderte Peron.
„Wie wahr, wie wahr. Mein geschätzter und doch so unbekannter Freund.“, sagte Coravus.
Nachdem sie fertig gegessen hatten, bat Peron darum sich auf sein Zimmer zurück ziehen zu dürfen. Trotz den zahlreichen Angeboten von Cornelius, schaffte es Peron sich schließlich durchzusetzen. Erleichtert atmete er durch, als sich endlich die Tür seines Zimmers hinter ihm geschlossen hatte. Peron hoffte, dass er nicht zu viele Zweifel an seiner Identität gesät hatte. Verschlossenheit hatte seinen Preis, denn je mehr man Fragen auswich, desto mehr nährte man den Verdacht und Peron konnte es sich wirklich nicht leisten, dass jemand Nachforschungen über ihn anstellte. Gerade als er wieder in Gedanken über die ganze Situation versank, klopfte es an der Zimmertüre. Sein Herz begann zu rasen. Schlug ihm bis zum Hals. Doch als er die Stimme von Elisa vernahm, beruhigte er sich wieder. Zumindest ein wenig.
„Ich hoffe du hast dem guten alten Coravus keine zu großen Lügengeschichten aufgetischt. Er ist ein sehr genauer und neugieriger Mann, nicht immer eine gute Eigenschaft bei Menschen. Ich musste noch einigen Geschäften beiwohnen. Die ersten Schiffe mit der Teeernte sind eingetroffen und Vater wollte unbedingt, dass ich anwesend bin.“, erklärte Elisa mit gähnendem Mund. „Dieses Jahr scheint das Wetter gnädiger zu den Bauern gewesen zu sein,...“, fuhr sie fort, „...aber ich glaube dich interessiert das weniger.“ Einen Moment lang schien ihr Blick ab zu gleiten, so als konzentrierte sie sich auf etwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. „Aber wir mischen uns heute unter die Leute.“, sagte Elisa und zog dabei ein kleines Lederbeutelchen hervor. „Im Hafen sind heute nicht nur Teeblätter angekommen. Wir besuchen einen alten Freund von mir. Wobei..., Freund beschreibt nicht ganz genau, die spezielle Beziehung, die wir haben. Du wirst ihn mögen. Ihr habt denselben düsteren Gesichtsausdruck. Wenn ich nicht besser wüsste, würde ich sagen ihr seid Geschwister.“, sagte Elisa und verzog ihr Gesicht kurz zu einer Grimasse und setzte dann wieder die desinteressierte, aristokratische Maske auf. „Wir gehen allein. Wenn ich Matuni mitnehme, errege ich nur Aufmerksamkeit. Und komm ja nicht auf falsche Gedanken. Ich glaube zwar, dass ich dir trauen kann, aber falls nicht, dann ist Matuni noch das geringste deiner Probleme.“
„Ich habe also kaum eine Wahl?“, stellte Peron leicht hilflos die rhetorische Frage.
„Ich bekomme immer, was ich will.“, erwiderte Elisa.
Wieder zurück im seinem Zimmer, fand Peron einen neuen Stapel Kleider vor. In einer halben Stunde musste er sich mit Elisa treffen. Langsam begann Peron wirklich an die Geschichten zu glauben. Immer wieder schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Aussteigen bevor es zu spät war. Er konnte zwar nicht sagen, was genau ihn erwartete und wovor genau er Angst hatte, aber sein Magen und sein Herz sagten ihm, dass es nichts gutes bedeutete. Im besten Fall spielte eine reiche, verwöhnte Händlertochter, ihre seltsamen Fantasien nach und er war der neueste Protagonist ihrer Wahnvorstellungen. Im schlechtesten Fall war alles, das sie sagte wahr und er durfte den Jagdhelfer spielen. Hastig schnürte er die braune Hose zu, streifte das weißgraue Hemd über und schlüpfte in den schwarzen Mantel. Die Kapuze ragte so weit über seinen Kopf, dass sein Gesicht in ihrem Schatten verschwinden konnte. Am Tisch lag noch ein kleiner Dolch. Der bronzene Griff endete in zwei Drachenköpfen, die in entgegengesetzte Richtungen schauten. So weit Peron es sagen konnte, war die kurze Klinge fein gearbeitet und von hoher Qualität. Er würde ihm gute Dienste leisten, wenn die Dinge nicht so liefen wie geplant. Als er in den Hof vor dem Handelshaus trat, wartete dort schon eine verhüllte Gestalt, die nur Elisa sein konnte. Nur die Zeit würde sagen, ob sie seine Retterin, oder seine Nemesis war.
In jeder größeren Stadt gab es ein gewisses Viertel. Es war meistens das älteste und das merkte man auch. Im Fall von Leora war es Suarosikai wie ein Appendix hing er an der Stadt und saugte sie aus ohne etwas zurückzugeben. Benannt nach den geschickten Seefahrern aus dem Osten, die sich hier niedergelassen hatten. Inzwischen hatte aber die Geschichte die Suarosi schon lange vergessen. Ein heruntergekommenes Viertel in einer fremden Stadt, war das letzte, was noch an sie erinnerte. Den ganzen Bezirk durchzog eine Melange aus Gestank und Verrat. Es war ein Ort, der nur denen Nahrung bot, die vom Verfall zerrten. Wie Maden im toten Fleisch aßen seine Bewohner alle Fremden, die sich zu tief in die nebligen Gassen wagten. Wenn jemand hier her kam, um Geschäfte zu machen, dann wollte er es versteckt vor den Augen der Stadtwache Leoras machen. Hier war der einzige Ort in der Stadt, in den ihr Arm nicht reichte. Schon vor seiner Zeit im Gefängnis hatte Peron öfter mit zwielichtigen Gestalten zu tun gehabt. Auch er hatte öfter nicht verzollte Ware gekauft oder bestimmte Substanzen genossen, doch niemals hatte er sich dafür hier her gewagt. Als sie durch das Seidentor schritten, betraten sie das Viertel. Das Tor hatte seinen Namen von den unzähligen wertvollen Stoffen, die einst in großen Ballen hindurch getragen, wurden um in Kleider für die Oberschicht verwandelt zu werden, doch das war genauso wie die einstige Pracht, eine Geschichte aus längst vergangenen Tagen. Heute waren die einzigen teuren Kleider, die das Tor passierten, auf den Körpern der verschiedenen Clanchefs, die das Viertel unter sich aufgeteilt hatten. Regierten in der Oberstadt die Handelshäuser, so waren es hier im Suarosikai die Clans. Sie lebten nach ihren eigenen Regeln, die wenig mit denen der restlichen Stadt zu tun hatten. Dreckige, zerlumpte Gestalten drängten sich an den noch verkommeneren Häuserreihen und boten gestohlene Waren oder ihren Körper an. Aus ihren Augen war jeder Stolz gewichen, jedes Gefühl von Selbstwert war in ihnen schon vor langer Zeit gestorben. Zu Perons Überraschung schien das Elisa wenig zu kümmern. Sie schritt die Straße entlang, als befänden sie sich noch immer im Händlerviertel. Schon bald bemerkte Peron, dass zwei Augenpaare jeden ihrer Schritte beobachteten. Die Schatten. So nannte man die Mitglieder der Clans, die dafür sorgten, dass nichts passierte, was nicht den Segen ihrer Chefs besaß. Unbeirrt folgten sie ihrem Weg. Vergeblich versuchte sich Peron die Gassen einzuprägen. Zu unbekannt, zu planlos und zu eintönig wirkten sie. Jede Farbe, die die Häuserwände einst verziert hatte, war verblasst. Leere Plätze, gefolgt von dicht gedrängten Straßen. Schließlich blieb Elisa vor einer schwarzen Tür mit türkis verfärbten bronzenen Ringen stehen. Die Halterungen bestanden aus Löwenköpfen, die ihr Maul um die Ringe schlossen wie um ihre Beute. Sie klopfte in einem bestimmten Muster. Zweimal schnell hintereinander, dann eine Pause, dann dreimal, wieder eine Pause und schließlich wieder zweimal. Die mächtigen Türflügel verbargen jedes noch so kleine Geräusch von innen. Dann nach einigen Minuten schienen die beiden Löwen kurz zu zittern und die Türe öffnete einen kleinen Spalt weit. Nun drangen ein schweres Schnaufen und kratziges Husten nach draußen. Ein kleines Augenpaar erschien vor ihnen.Der Mann vor ihnen mochte etwa sechzig Jahre alt sein. Ein stolzes Alter für jemanden der im Suarosikai lebte. Schnell erkannten die alten, aber geübten Augen Elisa. Doch als sie Peron erblickten, wendeten sie sich ab und der Mann wollte die Türe wieder schließen.
„Keine Fremden. Das war unsere Abmachung, keine Fremden.“, sagte der Alte. In seinem Gesicht bildeten sich neue Falten und er begann wieder zu husten.
„Warte! Ich weiß, das war gegen unsere Abmachung, aber ich musste ihn bringen. Schau, der Anhänger!“, sagte Elisa. Peron verstand wie immer fast überhaupt nichts. In den Augen des Alten konnte man ein nervöses Funkeln sehen. Unschlüssig fuhr er sich mit seinen hageren Fingern durch sein dünnes Jahr. Es dauerte einige Minuten, doch schließlich siegte die Neugierde über Angst und Misstrauen. Vorsichtig entsperrte er das Sicherheitsschloss und öffnete die Türe.
„Er kann reinkommen. Aber fass' mir ja nichts an!“, sagte der Alte und beobachtete sorgfältig, wie die beiden durch die Türe traten. Langsam trotteten sie hinter ihm her. Sein Geschäft war riesig. Wo immer man hinschaute, ragten riesige Regale in die Höhe. In ihnen stapelten sich Schriftrollen, mit Wachs verschlossenes Keramiktöpfe, Gläser mit Kräutern und eingelegten Tieren, getrocknete Wurzeln und Blüten. Einige der toten Tierköpfe schienen sie wie stumme Wächter zu beäugen. Wenn man sie lange genug anstarrte, begann der Verstand einem Streiche zu spielen. Bei jedem ihrer Schritte erzitterten die Regale ein wenig und Staub rieselte auf sie hinab. „Was du angreifst, musst du zahlen.“, murmelte der Alte an Peron gerichtet,
„Ich...“, begann Peron, doch Elisa berührte kurz seinen Arm und schüttelte nur den Kopf. Der dunkle Mantel, den er trug, schlief über den Boden und wirbelte links und rechts den Staub auf. Vor einem runden, großen Tisch kamen sie schließlich zu stehen. Er war aus zwei verschiedenen Hölzern gearbeitet. Eines hellbraun wie eine Melange, und eines so dunkel, dass es fast schon schwarz sein hätte können. Zusammen formten sie ein Muster. Helle, konzentrische Kreise durchwoben das dominante Dunkel.
„Setzt euch, setzt euch.“, sagte der Alte, „Also, was kann ich für Euch tun, für eure Familie?“
„Als ich vor drei Wochen von einer unserer Farbholz Plantagen zurückkam, sah ich eine Kolonne von Gefangenen. Sie waren alle auf dem Weg zurück in die Stadt. Verbrecher, zumindest die meisten. Das Amulett begann einfach zu leuchten. Ganz genauso wie bei..., bei Lucretius.“, als Elisa den Namen ausgesprochen hatte, stockte sie kurz. Sie musste schwer schlucken. Eine einzelne, kleine Träne zog ihre feucht-kalte Spur auf ihrer Wange.
„Es ist zwar nicht meine Art Leute aufzumuntern, aber in diesem Fall kannst du dir keine Schuld geben und das sage ich nicht nur, weil du meine beste Kundin bist. Er hat sich das ganze selbst eingebrockt. Wenn man etwas aus einer anderen Ebene beschwören will, dann muss man einen Preis bezahlen, ein Opfer. Hättest du ihn nicht getötet, wer weiß, was passiert wäre. Mit diesen Dingen spielt man nicht. Das hat er genauso gut gewusst, wie wir. Hättest du nicht ein Opfer dargebracht, dann wäre vielleicht die ganze verdammte Grenze zwischen den Ebenen verschwommen. Niemand weiß welche Konsequenzen das gehabt hätte. Die Regeln sind klar. Metall für Metall, Holz für Holz und Blut für Blut. Der Preis musste beglichen werden!“, sagte der Alte. „Glaubst du, ich hätte nicht auch schon viel geopfert. Alles, was du hier siehst hatte seinen Preis und vielen der Gegenstände war er vielleicht zu hoch. Aber die Regeln wurden immer eingehalten. Man kann nichts nehmen, ohne auch etwas zu geben!“
„Aber ich hätte mir nie gedacht, dass der Preis eines Tages einmal so hoch sein könnte. Verdammt er war mein Halbbruder!“, schrie Elisa.
„Er war ein Bastard!“, erwiderte der Alte kalt. „Niemand kann sich über die Regeln hinwegsetzen. Dieses Ding, rennt immer noch irgendwo herum. Dein Halbbruder kann nur hoffen, dass er dort drüben einen schnellen Tod findet. Wir wissen beide, dass es auf den anderen Ebenen Wesen gibt, die eine sadistische Freude daran haben zu foltern und zu verstümmeln.“
„Nennst du das etwa Dankbarkeit. Er, ich meine wir, haben dich unterstützt, dir die Clans vom Hals gehalten und so zahlst du es uns zurück.“, der Zorn in ihren Augen, glich dem einer Furie. Auch der Alte zeigte nun das erste Mal so etwas wie Furcht, die durch seine Maske aus Stolz und Hochmut stach. „Du weißt genau, wer mein Vater ist!“
„Und genau deshalb weiß ich, dass er wahrscheinlich froh isst, dass er einen Bastard weniger hat, der einen kleinen Vatermord plant!“, war die unwirsche Reaktion des Alten. Plötzlich wie aus dem Nichts fuhr Elisas Hand in die Höhe und schmetterte mit solcher Wucht gegen die Wange des Alten, dass er kurz das Gleichgewicht verlor und gegen den Tisch stieß. Der Alte raffte sich mühsam und unter schwerem Stöhnen wieder auf. Blut ran ihm in einem schmalen Streifen über sein Gesicht. Doch nicht Schmerz, sondern ein hämisches Grinsen war zu sehen. Er hatte sich von seiner anfänglichen Unsicherheit wieder befreit und Eitelkeit siegte über die Vernunft.
„Dieses eine Mal verzeihe ich euch, doch ich lasse es mir nicht auf ewig bieten. Ohne mich könnt ihr euer ganzes Geschäft vergessen!“, sagte er triumphierend. „Wer ist er überhaupt? Euer neuer Beschützer, Liebhaber, Freund?“ Mit einer Handbewegung gebot sie Elisa still zu sein und Peron selbst reden zu lassen.
Wie tausend feine Nadeln spürte Peron den Blick des Alten auf sich ruhen. Schwer wie Fels und starr wie eine Schlange und genauso giftig. Es waren erfahrene Augen. Augen, die schon vieles gesehen hatten und jeden Panzer durchdringen konnten. „Er soll selbst reden, oder kann er das überhaupt?“ Wie verflogen war sein Zorn auf Elisa. Er war einer Neugierde gewichen. Neugierde, die viel gefährlicher sein konnte als Zorn.
„Ich bin Peron, Sohn von Pelar.“, sagte Peron und versuchte seiner Stimme Ausdruck zu verleihen, doch zu lange hatte sie unter feuchter, stickiger Luft und wenig Übung gelitten. Eigenschaften, die dem Alten nicht entgingen.
„Mehr wollte ich nicht. Nur ein paar Manieren. Ich bin Victor Soras und das...“, er formte mit seiner Hand eine wellenartige Bewegung nach, „..., das ist mein Reich, wenn du es so willst. Hier findest du alles, was du suchst oder auch nicht suchst – solange es sich um die verborgenen Dinge dreht. Ich schätze einmal, Elisa hat dich schon einigermaßen eingeweiht, sonst wärst du nicht hier.“ Und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Oder sie ist noch dümmer als ich gedacht habe.“ Wieder unterbrach das Schallen einer Ohrfeige die Konversationen. „Mein Fehler. Ich hatte ganz vergessen wie reizbar sie ist.“ Peron konnte nicht sagen, wieso sie sich von ihm demütigen ließ, doch es musste einen guten Grund geben. Niemand sprach so mit einem Mitglied des Hochadels. „Ich und Elisa haben eine kleine Abmachung, oder nennen wir es eher Versicherung. Ich muss sie nur immer wieder daran erinnern, dass sie sich auch daran hält. Aber entschuldigt mich. Wir waren gerade dabei zu erörtern, was dich so wichtig macht, dass die kleine Elisa dir ihr Vertrauen schenkt. Also entweder hat sich die liebe Elisa bei einem ihrer Ausflüge kräftig ihr hübsches Köpfchen gestoßen, oder...“, seine Hände wirkten beim Sprechen wie die eines Predigers, „....,oder du hast etwas zu bieten, an dem sowohl ich, als auch sie interessiert sind.“ Einige Momente grübelte er vor sich hin. „Natürlich. Wie konnte ich das nur übersehen. Es gibt ja gar keine andere Möglichkeit.“, sagte er und verschwand hinter einem seiner Regal. Triumphierend marschierte er mit einem leeren Einmachglas und einem erwartungsvollen Blick auf Peron zu. Zuerst war es nur ein einfaches leeres Einmachglas, doch Peron fühlte, dass das nicht stimmte. Die leichte Unsicherheit setzte sich in seinem Herzen fest und wuchs dort zu Panik heran. Die Regale begannen zu knirschen und ächzen. Fast schien es so als schrien sie ihn an. Kisten und Gläser polterten und hallten durch die leeren Gänge. Trotzdem konnte Peron seinen Blick nicht von dem Glas lösen, das ihm der Alte entgegenhielt. Peron meinte so etwas wie „Nimm mich!“ und „Zerbreche es!“ zu vernehmen.Ein Blick zur Seite auf Elisa verriet ihm, dass sie die ganze Sache nicht weiter kümmerte. Gelangweilt saß sie am Sessel, die Beine überkreuzt und wippte mit ihnen leicht hin und her. Der Lärm hatte inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass sogar das Denken schwer viel. Es war aber eine andere Art von Geräuschen. Sie schienen nicht von außen zu kommen. Sein Trommelfell zeigte kein Anzeichen von Schmerzen. Plötzlich schwebte aus dem Glas eine durchsichtige Wolke aus Dampf hervor, die sich in einen nebligen Kopf verwandelte. Er wuchs und wuchs, bis er beinahe schon doppelt so groß war wie sein eigener. Peron spürte die Angst wie tausend Nadeln in seinem Rücken. Der Nebel kam auf ihn zu. Tollpatschig schritt er ein Stück weit zurück und stieß dabei seinen Sessel um, der mit einem unüblich lautem Knall zu Boden viel. Nun war der Kopf nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Ganz langsam, wie um seine Angst auszukosten, stieß es nach und nach einen übel riechenden, schwefeligen Nebel aus. Peron wollte noch weiter weg, doch plötzlich stieß mit dem Rücken an eines der Regal. Der metallene Beschlag eines Buches bohrte sich erbarmungslos in seine Schulter, doch als er schreien wollte, versagte ihm die Stimme. Die Fratze blieb unverändert vor seinem Gesicht. Nun bildete der Nebel eine Zunge, die langsam und qualvoll über seine Haut strich. Sie fühlte sich an wie kochendes Öl. Peron spürte wie seine Haut sich langsam vom Körper schälte. In Gedanken verfluchte er sich selbst. Er hatte doch gewusst, dass Elisa nichts gutes im Schilde führen konnte. Doch gerade als die Schmerzen am größten wurden und er nicht mehr wusste wie lange er sie noch ertragen konnte, hörten sie auf. So schnell und unwirklich wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Ungläubig griff Peron nach seinem Hals und tastete an den Stellen entlang, wo ihn die Zunge berührt hatte. Er erwartete das Gefühl von offenem, versengtem Fleisch, doch alles, was er spürte war seine raue Haut. Nun verstand Peron, was hier vor sich gegangen war. Dieser Geist, oder was auch immer es war, war in seinen Kopf eingedrungen und hatte mit seiner Wahrnehmung und seinen Empfindungen gespielt. Er musste wohl einige Zeit reglos dagestanden haben, denn als er sich wieder umblickte, hatte der Alte das Glas schon wieder irgendwo verstaut und Elisa sah ihn leicht genervt an. Peron wollte sich eigentlich nur ein bisschen hinsetzen, doch als er auf den Sessel niedersank, fielen ihm die schweren Augenlider zu. Bald schon versank er in einen tiefen Schlaf.
Langsam drangen wieder Geräusche an Perons Ohr. Nervtötend wie Regentropfen, die gegen das Fenster trommeln, rissen sie ihn aus dem Schlaf. Niemand schien zu bemerken, dass er aufgewacht war und so konnte er auch einige Schnipsel des Gesprächs vernehmen, das neben ihm statt fand.
„Du bist wahnsinnig! Es hätte ihn töten können. Du und deine Arroganz.“, hörte er Elisa den Alten anfauchen.
„Ah-roh-ganz?“, fragte der Alte und betonte jede Silbe einzeln. „Wenn er der ist, für den du ihn hältst, kann ihm nicht viel passieren und wenn nicht...“, er machte eine kurze Pause, „...dann ist es eh besser, wenn es ihn hier erwischt! Hier kümmert sich niemand um einen zusätzlichen Toten.“
„Ist dir denn komplett egal, ob jemand lebt oder stirbt?“, fragte Elisa.
„Arch!“, sagte der Alte und machte mit der Hand eine abweisende Geste, „Ob er nun hier stirbt, draußen auf den Straßen, oder durch einen deiner Leibwächter ist doch egal. Aber er hat den Test bestanden, also müssen wir ihn nicht beseitigen.“ Nach wenigen Sekunden fügte er hinzu: „Zumindest noch nicht.“ Unvermittelt machte Peron eine kleine Bewegung mit dem Fuß und stieß dabei an ein Tischbein. Sofort waren zwei Augenpaare auf ihn gerichtet. Doch wenn das Gefängnis Peron eines gelehrt hatte, dann war es die Täuschung. Als hätte er einen schlechten Traum fuhr er leicht mit dem Kopf hin und her. Peron betete, dass sie es ihm abnahmen. Aber nachdem nach einigen oder vielen Minuten -er vermochte es nicht zu sagen- noch immer niemand versucht hatte, ihn zu wecken, nahm er an, dass sie es ihm abgenommen hätten.
Nach einiger Zeit, er war inzwischen wirklich eingeschlafen, stieß ihn etwas hart an der Schulter. Seines wohl verdienten Schlafes beraubt, blinzelte er in den schwachen Schein einer Kerze und erhob sich nur widerwillig. Das Erste, was er sah, war Elisas Gesicht. Wie verflogen waren Zorn und Anspannung. Nach den Gesprächsfetzen, die Peron aufgeschnappt hatte, wusste er nicht, ob er sich über ihre gute Stimmung freuen sollte, oder ob sie ihn beunruhigte. Es war vielleicht ein bisschen von beidem. Als sie wieder nach draußen auf die Straßen des Suarosikais traten, brachen schon einige goldene Sonnenstrahlen durch den bewölkten Himmel. Sie hatten die ganze Nacht im Haus des Alten verbracht. Elisa sah ihn nur strahlend an und fragte: „Frühstück?“
Sonnenstrahlen brachen durch die dicken Wolkenberge und tauchten sie in ein golden-oranges Licht. Die vielen kleinen Fischerboote waren bereits ausgelaufen und ließen die Anlegestellen verlassen zurück. Doch auf dem Markt herrschte schon emsiges Treiben. Elisa und Peron hatten den Suarosikai inzwischen verlassen und den Fischereihafen der Stadt betreten. Frauen mit langen Messern boten Fische und Meeresfrüchte an. Im Kampf um die Scharen an Kunden drohten sie einander teils ernst, teils gespielt mit ihren scharfen Klingen. Der Duft von rohem und gebratenem Fisch vermischte sich mit der salzigen Meerluft. Ein leichtes Nieseln wusch die Sünden der vergangenen Nacht von den Bürgern. Vor vielen der Stände standen eiserne Kessel und kochten über einem kleinen Feuer. Brühen aus Fischresten, Kartoffeln, Gemüse und würzigen Kräutern brodelten vor sich hin. Elisa schnippte einer der Frauen eine bronzene Münze entgegen. Mit einer geschickten Bewegung fing diese sie aus der Luft und ließ sie in einem kleinen Beutel gleiten, der gleich wieder zwischen ihren Brüsten verschwand. Elisa sank auf einen der kleinen Hocker nieder, die die Frau inzwischen aufgestellt hatte. Ohne auf eine Einladung zu warten setzte sich Peron neben sie. Die Brühe duftete herrlich. Erst jetzt spürte Peron wieder seinen Hunger. Gierig schlang er den ersten Löffel hinunter und verbrannte sich prompt die Zunge. Elisa, die ihn die ganze Zeit über dabei beobachtet hatte, konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Keine Angst es ist sicher noch genug davon da. Wenn du willst kann ich dir auch jeden Kessel in der Straße kaufen.“, lachte Elisa.
Peron konnte sich einen bösen Blick nicht verkneifen. Doch schon nach wenigen Sekunden wich die ernste Grimasse einem Lächeln. Zuerst wollte er nur sein Maske fallen lassen, doch dann übermannte es ihn. All die Zeit im Gefängnis hatte er vergessen, wie es sich anfühlte glücklich zu seinen. Nach wenigen Sekunden war er dabei so laut, dass er seltsame Blicke von den Leuten um ihn herum auf sich zog.
„Da, wo du herkommst, hat man anscheinend eine seltsame Art von Humor.“, sagte Elisa und setzte dabei ein gespielt ernstes Gesicht auf.
Langsam durchschnitt das kleine Boot das brackige Wasser des Suarosikais. Nicht viele Hafenarbeiter gingen hier ihrem Gewerbe nach und der undurchdringliche Nebel tat an diesem Tag noch sein übriges. Samuel verstand es jedoch eine Chance zu nutzen, wenn sie sich ihm bot. Der Fremde bot ein ganzes Säckchen voll mit Gold für die Löschung einer Ladung. Nervös rieb er seine Hände, dann hob er die Laterne und leuchtete in alle Richtungen. Kein Schiff konnte bei diesem Wetter den Hafen anlaufen. Plötzlich wie aus dem Nichts schwebte ein einzelnes kleines Licht durch die Nebelwand auf ihn zu. Wie vereinbart gab er das Leuchtsignal. Wenig später folgte die Antwort. Samuel hatte Mühe das Boot unter Kontrolle zu halten als das Schiff an ihm vorbei glitt. Mit lautem Rasseln fuhr der Anker ins Wasser. Dann manövrierte Samuel sein Boot in Richtung Schiff.Einen Moment später fiel auch schon eine Strickleiter an der Schiffswand herab. Samuel folgte der Einladung ohne groß darüber nach zu denken. Als er die Sprossen erklomm, konnte er nicht sagen, ob es die Kälte oder die Angst war, die ihn zittern ließ. An der letzten Sprosse packten ihn zwei Paar kräftige Arme und zogen ihn hoch. Vor ihm standen zwei in dunkelbraune Ledermäntel gehüllte Gestalten, schwarze Masken verbargen ihre Gesichter. Ohne Worte, nur mit einem leichten Nicken, grüßten sie ihn. Samuel vermochte nicht zu sagen, was sie verbargen. Wie der Nebel das Schiff, so tauchte das kleine bisschen Stoff, die Fremden in Geheimnisse. Er wagte nicht einen einzigen Ton von sich zu geben. Schweigend folgte er den beiden. Die Holzlatten knirschten fluchend unter ihren schweren Stiefeln. Zumindest etwas schien die tödliche Stille durchbrechen zu können. Metallisches Rasseln drang an sein Ohr, als die Tür zu Kapitänskajüte geöffnet wurde. Mit einer schlichten Handbewegung deuteten sie ihm, er solle voraus gehen. Samuel zuckte zusammen, als die Türe ächzend ins Schloss fiel. Schummriges Licht erhellte den Raum notdürftig. Trotz der geringen Größe des Zimmers, konnte der Kapitän eine beachtliche Bibliothek aufbieten. Grauschwarze, fettige Strähnen hingen von seiner Stirn. Als er den Kopf hob, offenbarte er das Gesicht eines weit gereisten Mannes. Jede Falte, jede Narbe erzählte eine eigene Geschichte. Die dunkelgrauen Augen maßen Samuel mit einer berechnenden Kälte, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Setz' dich!“, befahl der Kapitän. Ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, folgte Samuel dem Befehl. Seine Stimme schwang mit derselben Macht wie die mächtigen Wellen an den Klippen. Sie wirkte fremd. Menschlich, aber fremd. Samuel konnte spüren, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich.
„Du sollst für mich fünf Kisten an Land bringen. Fünf Kisten.“, sagte der Kapitän. „Auf dem Kai unter der Königsbrücke wird jemand auf dich warten. Den ersten Teil deiner Bezahlung wirst du jetzt erhalten. Den zweiten bei der Übergabe.“, sagte er ihm und warf ihm einen kleinen verschnürten Lederbeutel zu.
„Wie soll ich wissen, wem ich die Ladung übergeben soll?“, fragte Samuel. Der Schweiß tropfte in kleinen Perlen von seiner Stirn.
„Er wird dich finden, du musst nur warten. Einfach warten. Er wird dich finden.“, sagte der Kapitän. „Aber nun geh. Ich habe Geschäfte, die nicht warten können.“
Die beiden Männer führten ihn zu den Kisten. Vorsichtig senkten sie die Fracht auf sein kleines Boot. Als er wieder allein war, schwor sich Samuel, nie wieder solche Aufträge anzunehmen. Dann öffnete er den kleinen Lederbeutel und änderte seine Meinung. Zum Vorschein kamen mehrere Goldmünzen. So viel wie er in einem ganzen Jahr verdiente. Mit dem Geld konnte er in ein besseres Viertel ziehen, ein neues Boot kaufen, besser essen. Vorsichtig und routiniert manövrierte er das Boot durch die Nebelschwaden, die sich ein wenig gelichtet hatten. Fast lautlos schob sich das Boot in die Anlegestelle. Wie erwartet stand dort eine verhüllte Gestalt. In wenigen Minuten hatte er die Kisten an Land geschafft. Irgendetwas sagte ihm, dass er den Auftrag so schnell wie möglich erledigen sollte. Mit ruhigem, gemächlichen Schritt kam der Fremde auf ihn zu.
„Deine Bezahlung.“, hauchte der Fremde mit derselben unheimlichen Stimme wie der Kapitän. Aus seinem Gürtel zog er ein kleines Beil und zerschlug mit einigen festen Hieben das sperrige Holz der Kisten. Zum Vorschein kam nur das Stroh des Füllmaterials. Den eigentlichen Inhalt konnte Samuel nicht erkennen. Einige Minuten wühlte der Fremde in den Kisten herum und schien ein wenig nervös. Doch schließlich wandte er sich an Samuel und sagte ihm: „Du bist ein ehrlicher Mann. Deswegen tut es mir doppelt leid, was ich jetzt machen muss.“ Bevor Samuel reagieren konnte fuhr das Beil in sein Brustbein. Er wollte schreien, doch seine Stimme verklang lautlos im Nebel. Donnernd schmetterte sein Körper auf den kalten Stein. Der kleine Beutel verstreute klirrend all die Münzen. Samuel konnte nur noch zusehen, wie seine Zukunft sich auf einen Schlag in Nichts auflöste. Mit einem letzten Blick konnte er noch sehen, wofür er gestorben war. Kleine schwarze Statuetten ließ der Fremde in seinem Mantel verschwinden. Dann löste er die Leine vom Boot und stieß es weg. Als er sich über Samuels reglosen Körper beugte, wusste dieser schon, was passieren würde. Mit einem Ruck rollte er ihn vom Kai und verschwand, genau so lautlos wie manch anderes Geheimnis im Suarosikai.
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2013
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