Es ist nicht mehr weit, redete sie sich ein. Nur noch ein paar Schritte und wir können ausruhen. Wir werden einen Unterschlupf für die Nacht finden und unbehelligt schlafen können.
Jeder Schritt kostete sie mehr Überwindung. Jedes Anheben des Fußes nahm ihr ein wenig mehr der ihr noch verbliebenen Kraft. Nur die kleine Hand, die sich ängstlich an die ihre klammerte, hielt sie davon ab, aufzugeben. Sie war der einzige Grund, sich nicht am Rand der staubigen Straße zusammenzukauern und sich von dem beißend kalten Wind in den Schlaf wiegen zu lassen.
Wenn sie ehrlich war, war dort noch etwas anderes. Ein leises Ziehen, das sie zu sich zu rufen schien. Und es kam näher. Ein weiterer Grund, durchzuhalten.
Trotz der schneidenden Kälte der Nacht und dem anhaltenden Regen, war ihr heiß. Sie wusste nicht, ob die Wärme von ihrem Fieber her rührte oder ihre Tochter - die gerade erst dabei war, ihre Magie zu entdecken – versuchte ihr Wohlbefinden zu steigern. Wann immer das kleine Mädchen seine Magie benutzte, geschah dies noch unbewusst. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Tochter zu lehren, wie diese die Gaben, die ihr geschenkt worden waren, nutzen konnte.
Wenn ihr nur die Zeit vergönnt wäre ...
Sie keuchte, als ihr Brustkorb sich schmerzhaft zusammenzog und sie mühsam nach Luft schnappte. Sie krümmte sich unter einem Hustenanfall zusammen und ging in die Knie, nicht länger dazu in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
»Mutter!« Der verzweifelte Ausruf ihrer Tochter traf sie mitten ins Herz. Sie konnte die fieberhafte Hitze spüren, die von den Händen ihrer Töchter ausging. Diesmal war sie sich sicher, woher die Wärme kam. Sie konnte spüren, wie das Kind Magie aus der Umgebung zog. Die Luft um sie herum veränderte sich.
Und plötzlich hörte es auf zu regnen. Verwundert sah sie auf. Nein, beschloss sie. Der Regen hat nicht gestoppt. Die Luft ist nur warm genug, um die Tropfen verdampfen zu lassen, ehe sie uns erreichen können.
Aber die Wärme half. Es gelang ihr, sich aufzurichten und noch einmal ihre Kräfte zu mobilisieren. Sie benötigte einige Anläufe, doch schließlich stand sie wieder auf ihren eigenen Füßen. Sie blickte zu ihrer Tochter. Die hellbraunen Augen waren angstvoll geweitet, ihre Haut blass vor Schreck. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Das Mädchen erwiderte es zögerlich.
»Es ist nicht mehr weit.« Sie war sich nicht sicher, ob sie zu dem Kind oder sich selbst sprach. Doch sie ergriff wieder die kleine Hand und starrte stur geradeaus, während sie erneut einen Fuß vor den anderen setzte.
Es würde noch eine Weile dauern, doch sie wollte den Ursprung des Ziehens finden. Es fühlte sich derart vertraut an. Es schien Sicherheit zu versprechen. Wenn sie nur ihre Tochter unterbringen könnte. Ein wenig Schlaf und Ruhe ... Nun, es war fraglich, ob es ihr helfen würde. Doch für das Kind wäre es gut.
Sie ging erneut zu Boden. So sehr sie es auch versuchte, sie fand nicht die Kraft aufzustehen. Selbst das Flehen ihrer Tochter erreichte sie nicht. Es ging einfach nicht mehr. Ihre Kraft war aufgebraucht. Der Funke würde erlöschen. Was würde aus ihrem Kind werden?
Mayara ...
Der letzte Gedanke, bevor die Dunkelheit sie sanft in die Arme schloss, galt ihrer Tochter.
Warm. Weich.
Der Geruch von Kräutern und sonnengewärmter Erde stieg ihr in die Nase.
Der Traum war seltsam. Oder war dies die andere Seite? Das Land der Göttin? Sie wollte die Augen öffnen, doch es gelang ihr nicht. Die Lider waren zu schwer. Sie versuchte, die Hand zu heben ... irgendwas zu bewegen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ihre Glieder nahmen den Befehl nicht wahr.
Sie spürte, wie sie mit etwas Leichtem zugedeckt wurde. Es klang wie das Rascheln von Blättern. Wurde sie mit Laub bedeckt?
Sie hörte das Plätschern von Wasser. Kurz darauf wurden ihre Lippen mit ein paar Tropfen des kühlen Nasses benetzt. Gierig danach versuchte sie den Mund zu öffnen. Es gelang ihr nicht. Doch einige Tropfen gelangen in ihren Mund. Welch eine Wohltat. Kühl floss das Wasser ihre ausgetrocknete Kehle hinab.
Dann wurde es wieder dunkel.
Sie öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder. Das Licht schien sie zu verbrennen. Neben ihr bewegte sich etwas. Mayara?
Nein. Dafür waren die Schritte zu schwer, die Hände, die sie berührten zu groß.
Angst befiel sie. Und diese brachte sie dazu, die Augen erneut zu öffnen. Langsam diesmal, damit sie sich an den Lichtschein gewöhnen konnten. Zunächst sah sie nur verschwommen. Es dauerte, bis ihre Sicht sich klärte.
Gütige, weise Augen blicken sie an. So viel Liebe ... war dies die Große Mutter? Dann bewegte sich ihr Gegenüber und sie erkannte die alte Frau, die sich nun zur Seite lehnte, um nach etwas zu greifen.
»Es ist noch nicht an der Zeit, in die Schatten zu gehen, Schwester«, erklärte die Alte mit rauer Stimme. »Du wirst noch eine Weile bei uns bleiben.«
Sie wollte nach Mayara fragen. Wollte wissen, wie es ihrem süßen, liebevollen Mädchen ging. Doch ihr Mund war ausgetrocknet ebenso wie ihre Kehle, Worte zu formen schien ein unerreichbares Unterfangen zu sein.
Die Alte schien es zu bemerken. Sie half ihr, sich ein wenig aufzurichten und reichte ihr dann einen Becher mit Tee. Ob sie geahnt hatte, dass sie erwachen würde? Der Tee besaß genau die richtige Temperatur.
Wieder schien die Alte zu erraten, was in ihr vorging. »Dein Erwachen war abzusehen. Ich habe den Tee zubereitet und auf dem Ofen warm gehalten.«
Nachdem sie ein paar Schlucke genommen hatte, sank sie zurück in die Kissen. Wie erschöpfend es doch war. Doch nun musste sie die Frage stellen. »Mayara?« Weiter kam sie nicht. Ein Hustenanfall schüttelte sie.
»Dem Kind geht es gut. Wir haben nicht viel von ihr erfahren können. Ich weiß nicht, warum dein Weg dich zu mir geführt hat. Doch deine Tochter beherrscht Feuer und Luft. Es ist selten, dass ein Kind gleich zwei Gaben der Großen Mutter erhält. Und da deine Tochter gesegnet ist, vermute ich, auch du besitzt eine der Gaben?«
Sie nickte. »Erde«, murmelte sie heiser.
Das Lächeln der Alten hob ihre Runzeln nur noch mehr hervor. »Die Meine ist Wasser. Sind wir nicht gesegnet, alle vier Gaben unter einem Dach zu finden. Sei Willkommen in meinem Heim, Schwester. Mein Name ist Aiga. Ich wache über den magischen Ort hier.«
»Dilar«, erwiderte sie knapp.
»Was führt dich her, Schwester?«
»Jäger.«
Das Gesicht der Alten wurde blass. »Ihr habt sie gesehen?« Ein Nicken. Aiga senkte den Blick. »Ich habe die Gerüchte nicht glauben wollen.« Nun sah sie Dilar wieder in die Augen. »Ihr seid vor ihnen geflohen?« Wieder ein Nicken. Aiga lächelte. »Dann heiße ich euch – dich und deine Tochter – erneut in meinem Heim willkommen. Soll es von nun an auch euer Heim sein und uns allen Schutz, Behaglichkeit und die Liebe einer Familie geben.«
Stumm starrten sich die beiden Frauen an. Dilar verspürte reine Dankbarkeit. Einen Platz für sie und Mayara. Ein Ort, den sie ihr zu Hause nennen konnten. Eine neue Freundin.
Dann seufzte Aiga. »Ich hoffe, du hast keine all zu große Angst, vor den Feen aus der Anderswelt. Denn ich lebe hier, um den Durchgang zu bewachen. Wann immer sie in unsere Welt kommen, reisen sie über dieses Land.«
Dilar war nicht fähig, etwas zu sagen. Doch für die Aussicht auf Gemeinschaft statt Einsamkeit, würde sie auch die Anwesenheit der Feen in Kauf nehmen.
»Mutter! Mutter schau doch mal«, rief Mayara und winkte ihr aufgeregt zu. Das Mädchen stand auf einem Stück umgegrabener Erde und half Aiga dabei, Samen einzupflanzen.
Dilar hatte mit Hilfe ihrer Magie das kleine Stück Land umgegraben. Seit der Nacht vor zwei Jahren, in der sie ihren Weg zu Aigas Land gefunden hatten, erschöpfte Dilar schnell. Es ging ihr besser, doch die Krankheit hatte sie nie ganz verlassen.
»Mutter!« Der Vorwurf, der nun in der Stimme ihrer Tochter mitschwang, brachte Dilar Lächeln. Wenn dies alles war, was ihr Kind aufregte, ging es ihnen gut.
Sie hob die Hand, um ihre Augen damit vor der Sonne zu schützen. »Ich seh dich ja, Kind«, rief sie zurück. »Aber du sollst die Samen in die Erde legen. Sieh zu, wie Aiga es macht.«
Mayara folgte der Anweisung. Dilar beobachtete sie glücklich. Ihre Freude wurde einzig dadurch getrübt, dass sie nicht dazu in der Lage war, ihnen zu helfen. Das Wetter war winterlich und zehrte an ihren Kräften.
Sie hätte ihre Gabe vielleicht nicht nutzen sollen, dann wäre sie jetzt nicht derart entkräftet. Doch sie wollte ihren Anteil der Arbeit erledigen. Und ihr Element war nun einmal die Erde. Sie lockerte sie und reicherte sie an, damit sie genug Ernteertrag haben würden. Ausreichend, dass sie auch im nächsten Winter nicht hungern mussten.
Sie erhob sich von der Bank und ging entschlossen ins Haus. Wenn sie schon nicht dabei Helfen konnte das Saatgut auszubringen, könnte sie wenigstens für einen kräftigen Eintopf sorgen. Sie konnte außerdem einen Tee kochen. Mayara und Aiga würden sich freuen, wenn sie nach getaner Arbeit gleich etwas essen konnten.
Dilar durchstöberte die Vorratskisten. Als sie in der Küche nicht genug fand, betrat sie den Vorratsraum. Er war nicht groß und inzwischen auch nicht mehr gut gefüllt. Zu beginn des Winters war er voll gewesen.
Sie nahm einige Kartoffeln aus der Kiste, griff sich Stängel der getrockneten Kräuter und ein Glas des eingelegten Gemüses. Dilar seufzte. Gerne würde sie auch Fleisch in den Eintopf tun. Doch ihre Mittel waren knapp und ihre Fähigkeiten für die Jagd mangelhaft. Wenn sie versuchten, etwas Fleisch im Dorf zu erstehen, berechnete man ihnen das doppelte des normalen Preises. Dafür zahlte man ihnen nur die Hälfte des Wertes von den Dingen, die sie verkauften.
Es war nicht einfach, doch es war sicher. Das Land war geschützt und Mayara durfte unbeschwert aufwachsen. Von den Schwierigkeiten, die sie manchmal mit den Dorfbewohnern hatten, wusste das Mädchen nicht. Mit sieben Jahren war sie einfach zu jung um mit solchen Dingen konfrontiert zu werden.
Sie ging in die Küche und begann die Dinge zurechtzulegen, die sie benötigte. Es war eine klägliche Menge. Doch es würde reichen, wenn sie den Eintopf zusammen mit dem Brot aßen, das Aiga heute Morgen gebacken hatte.
Dilar dachte nach. Sie könnte ihre Freundin bitten ihre Gabe zu nutzen, um einige Fische aus dem Fluss zu ihnen zu locken. Es würde den Eintopf ergänzen. Dann entschied sie sich dagegen. Sie sollte in aller Ruhe das Saatgut ausbringen. Um die Fische könnte man sich später immer noch kümmern.
Still ihren Gedanken folgend, begann sie mit ihrer Arbeit.
»Es wird Zeit, mal wieder das Dorf aufzusuchen«, sagte Aiga, während sie sich satt in ihrem Stuhl zurücklehnte.
»Ich weiß«, bestätigte Dilar betrübt. Die Dorfbesuche waren immer sehr unangenehm, mussten jedoch gemacht werden. »Ich werde morgen dort hingehen. Uns geht das Salz aus und Vache hat letztes Mal einige Tränke geordert. Sie will uns vier Kupfer pro Flasche zahlen.«
Aiga stieß ein abwertendes Zischen aus. »Dann rechne lieber mit zwei Kupfer pro Flasche. Sie wird einen Weg finden. Das tut sie immer.«
Dilar warf ihrer Freundin einen mahnenden Blick zu. Mayara sollte von all dem nichts mitbekommen. Doch sie musste zugeben, Aiga hatte recht. Vache stammte von einem Stamm der Hexen ab. Ihre Magie war verwaschen, doch sie besaß gerade genug davon, um jemanden damit Schaden zu können.
»Darf ich mitkommen?«, fragte Mayara.
»Nein, du bist noch zu jung. Wenn du größer bist, werde ich dich mitnehmen«, antwortete Dilar. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Aiga war zu alt, um den Handkarren den ganzen Weg in die Stadt zu ziehen und ein Pferd besaßen sie nicht. Doch wenn sie zukünftig ihre Waren auf dem wöchentlichen Markt anbieten wollten, benötigte Dilar Hilfe. Einer der Gründe, wieso sie es in diesem Jahr noch nicht taten. Und auch im Nächstem nicht. Aiga war zu alt und sie selbst war durch ihre Erkrankung geschwächt.
»Bitte?«, fragte Mayara nun, in einem neuerlichen Versuch.
»Du kannst morgen mit mir zum Fluss kommen. Wir werden ein paar Fische fangen und eine Menge Spaß haben«, versprach Aiga dem Mädchen.
Als die Kleine begann zu strahlen und aufgeregt zu erklären, was sie alles machen wollte, schenkte Dilar ihrer Freundin einen dankbaren Blick. Es wurde von mal zu mal schwerer, Mayara davon abzuhalten, mitzukommen. Doch so lange ihre Tochter nicht auf die Idee kam, sich heimlich und alleine auf den Weg dorthin zu machen, würde schon alles gut gehen. Und wenn sie oder Aiga sie mal aus den Augen verloren, halfen ihnen die Wesen des Kleinen Volkes – eine Unterart der Feen – die auf ihrem Land lebten. Sie achteten aufeinander. Während Aiga oder Dilar ihnen regelmäßig Beeren oder Milch auf die Türschwelle stellten, half das Kleine Volk ihnen, indem sie Kleinigkeiten im Haus erledigten oder die Tiere im Stall versorgten. Einige von ihnen schienen auch im Stall zu leben, doch da war Dilar sich nicht sicher.
Doch sie war dankbar sich nicht jeden Tag um die fünf Hühner und die Ziege sowie die beiden Schafe, kümmern zu müssen. Wenn die Wesen des Kleinen Volkes die Stallarbeit erledigte, nahmen sie ihren Anteil des Ertrags gleich mit. Dies konnte Heu sein, etwas Ziegenmilch oder Wolle. Sie waren wählerisch, zahlten die Dinge, die sie erhielten, jedoch gerne zurück. Und wenn man ihre Freundschaft erlangte, von der Dilar hoffte, sie teilten sie miteinander, konnte man sich immer auf sie verlassen. Sie schützten das Land, auf dem sie lebten. Da die drei Frauen, die in der Hütte lebten, dies ebenfalls taten, beschützte das Kleine Volk auch sie.
Nur bei ihrem Besuch im Dorf morgen, würde sie auf sich allein gestellt sein. Denn sobald sie Meadowcove verließ, das Land über das Aiga und nun auch sie wachten, würde sie das Kleine Volk und jeglicher Zauber der sie und das Land schützte zurücklassen.
Dilar seufzte und betrat dann den kleinen Laden, den Vache leitete. Hier bot sie ihre Waren feil und hier suchten jene Bewohner Hilfe, die einige ganz spezielle Wünsche hatten. Dilar mochte die Atmosphäre des Ladens nicht. Was wahrscheinlich nicht der Laden schuld war. Natürlich war er es nicht Schuld. Doch Vaches Magie - so schwach sie auch war – hing überall schwer in der Luft.
Doch wenn sie genug Kupfer verdienen wollten, um die Kleinigkeiten, zu kaufen, die sie nicht selbst herstellen oder ernten konnten, mussten sie sich mit der Frau auseinandersetzen. Es gab keine andere Möglichkeit, da es kaum einen Dorfbewohner gab, der von ihnen etwas kaufen wollte. Vache gab die Tränke, Kräutermischungen und Salben, die sie ihnen abkaufte, als ihre eigenen aus. Dilar vermutete, dass die Frau noch ein wenig an der Mixtur änderte, um es wirklich ihres nennen zu können ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Doch Beweise dafür gab es keine.
Das Dorf Tolham beherbergte nur ein paar hundert Einwohner und einige wenige Farmen, die Freiherrn, Baron Avidus unterstanden. Ihm gehörte beinahe alles, bis auf das Land von Meadowcove und eine der Farmen. Der Hof des alten Koira hatte einmal zum Land von Meadowcove gehört. Vor etlichen Jahren hatte Aigas Mutter dieses Stück Land an Koira abgetreten. Warum, wusste Aiga nicht zu sagen. Doch es bestand eine, wenn auch nicht intensive, Freundschaft zwischen dem Mann und Aiga. Wenn es etwas am Haus zu reparieren gab, bot er sich an und verlange als Bezahlung lediglich einen Kanten Brot oder eine Kräutermischung, die er morgens als Tee zum Frühstück trank. Er war einer der wenigen, die sie fair behandelten.
Es gelang Dilar nur schwer, sich aus ihren Gedanken zu befreien und schließlich zu Vache an den Tresen zu treten, die sie bereits erwartungsvoll musterte. Dilar zwang sich zu einem Lächeln und stellte den Weidenkorb auf den Tisch.
»Dilar. Schön, dass du da bist«, sagte Vache in einem Ton, der genau das Gegenteil besagte.
Doch Dilar verlor ihr Lächeln nicht. »Sei gesegnet, Vache.«
»Was hast du mir mitgebracht?«
Dilar begann den Weidenkorb zu entpacken, während Vache gleich dazu überging, die mitgebrachten Sachen zu untersuchen. Es dauerte eine Weile und Dilar wartete geduldig. Es fiel ihr schwer, doch wenn sie nun auf einen Preis drängte, dann verkaufte sie heute gar nichts.
Vielleicht sollte sie sich das nächste Mal auf den Weg in eine größere Stadt machen. Dort könnte sie ihre Waren womöglich zu einem fairen Preis veräußern. Doch sie wollte Aiga und Mayara nicht derart lang alleine lassen.
»Schön. Scheint alles in Ordnung zu sein«, erklärte Vache nach einer Weile. »Ich werde dir ein Kupfer pro Stück geben.«
Dilar japste nach Luft. Dann besann sie sich und schluckte ihre Wut. »Abgemacht waren aber vier Kupfer.«
Das Lächeln, welches Vache ihr nun zuwarf, war eine Spur zu scharf, um noch freundlich zu wirken. »Dies war jedoch, bevor mich Beschwerden erreicht haben. Eure Tränke und Salben wirken nicht immer, wie sie sollen. Viele brachten die Sachen zurück und verlangten eine Entschädigung.«
Jede der Salben und Tränke war wirkungsvoll, bevor du deine Finger darauf gelegt hast, dachte Dilar. Dann seufzte sie und begann die mitgebrachten Sachen wieder einzupacken. »Für diesen Preis werde ich sie nicht verkaufen. Dann fahre ich lieber in die nächste Stadt oder kippe sie in den Abort.«
Sie sah es in Vaches Augen. Das listige Aufblitzen von Wut. Dann hob sie die Hand. »Gut. Anderthalb Kupfer.«
Dilar sah sie an. »Drei.« Sie wollte wenigstens die zwei Kupfer bekommen, mit denen sie gerechnet hatte.
»Zwei. Und das ist mein letztes Wort.«
Dilar seufzte. Wenn sie sie nun nicht verkaufte, würde sie nichts zu Essen kaufen können. »Also gut. Zwei. Und nicht eine Münze weniger.« Es sollte für Salz und etwas Trockenfleisch reichen. Vielleicht ein wenig Hartkäse. Sie mussten sich an Dinge halten, die länger haltbar waren.
Vache zahlte ihr die Münzen und Dilar zählte sie nach. Es war besser, sicher zu gehen. Als sie sicher war, den Betrag erhalten zu haben, der vereinbart gewesen war, verließ sie den kleinen Laden wieder.
Draußen atmete sie erst einmal tief durch. Sie versuchte die schwere Magie aus dem Laden abzuschütteln. Als sie den Blick hob, bemerkte sie den Mann, der sie anzustarren schien.
Unsicher werdend, schenkte Dilar ihm ein zögerliches Lächeln. »Sei dein Tag gesegnet«, sagte sie und ging dann davon. Während sie sich auf dem Weg zum Händler machte, konnte sie die Blicke des Fremden in ihrem Rücken spüren. Das Kribbeln, das sich von dort aus über ihren gesamten Körper auszubreiten schien, signalisierte Gefahr.
Auf dem Heimweg begegnet Dilar dem Fremden erneut. Sie sah ihn nur von Weitem, doch sie erkannte ihn an dem schwarzen Umhang. Die Farbe war derart untypisch – selbst für den Adel, der hier lebte –, dass er gleich ins Auge stach. Wieder war da die Warnung vor Gefahr.
Der Fremde war nicht aus der Gegend, sonst wäre er ihr in den letzten zwei Jahren schon einmal begegnet. Ein Besucher vielleicht? Es war ... möglich. Eventuell ein entfernter Verwandter von Baron Avidus? Oder ein Freund? Von dem Blick, den sie auf die Kleidung hatte erhaschen können, wusste sie, wie hochwertig der Stoff war. Auch wenn der Schnitt der einzelnen Komponenten einfach gehalten worden war.
Sie hielt mitten im Schritt inne. Ihr war diese Art von Kleidung schon einmal begegnet. Nun, als sie realisierte wo, fiel es ihr schwer, zu atmen. Hexenjäger, schallte es in ihrem Kopf.
Sie brauchte ein wenig, bis es ihr gelang, die Kontrolle über ihren angsterstarrten Körper zurückzugewinnen. Dann setzte sie ihren Weg fort. Sie musste sich beeilen! Musste zurück nach Maedowcove! Mayara ... sie durfte nicht in Gefahr geraten!
Würde der Schutz über dem Land reichen, um die Hexenjäger fernzuhalten? Was wäre, wenn nicht?
Nun, wo sie einmal in Bewegung war, rannte, sie so schnell sie konnte. Sie wollte zu ihrer Tochter. Wollte ... Sicherheit.
Er hatte sie gesehen. Sie war sich sicher, er wusste, wer sie war. Was sie war. Wusste er auch von Aiga und Mayara? Wie konnte sie sie schützen? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, um sie zu schützen? Und Aiga? Sie hatte dermaßen viel für sie getan. Ihnen ein zu Hause gegeben, als sie nicht wussten wohin. Sie war ihr eine gute Freundin und Mayara eine gute Lehrerin.
Da kam ihr ein Gedanke. Würde der Hexenjäger hier verweilen, wenn er sah, wie sie die Stadt verließ? Oder würde er ihr folgen? Wenn er ihr folgte ... sie könnte ihn in einen Hinterhalt locken.
Die Magie, die sie dafür nutzen musste, würde ihr den letzten Rest ihrer Lebenskraft rauben, doch wenigstens wäre ihre Tochter weiterhin sicher. Ihr Herz raste und ihr wurde für einen Augenblick schwarz vor Augen. Als sich ihre Sicht wieder klärte, war die Entscheidung gefallen.
Die Schutzzauber, die sie über ihre Hütte gelegen hatten, bevor sie vor ihnen davonliefen, waren nicht genug gewesen, um die Hexenjäger fernzuhalten. Sie waren durch sie hindurchgegangen, als wären sie gar nicht vorhanden. Deswegen musste sie davon ausgehen, dass auch die Zauber über Maedowcove nicht reichten. Um ihre Tochter zu schützen, musste sie zu einer List greifen.
Große Mutter, lass mich die richtige Entscheidung getroffen haben, dachte sie, während sie endlich die Grenze zwischen Tolham und Meadowcove erreichte.
»Es gibt keinen anderen Weg? Bist du dir sicher?«, erkundigte Aiga sich, während sie beide vor dem behaglichen Kaminfeuer saßen.
Trotz der Wärme der Flammen, fror Dilar immerzu. Doch sie nickte und versuchte entschlossen zu wirken. »Es gibt keinen anderen Weg. Aiga, gute Freundin. Du weißt ebenso gut wie ich, dass meine Tage, an einer Hand abzuzählen sind. Ich werde von Jahr zu Jahr schwächer und jedes Nutzen von Magie fordert einen immer größeren Tribut. Du hast mir ein Heim gegeben und du warst mir jeden Tag eine wunderbare Freundin. Nun ist es an der Zeit, meinen Teil der Arbeit zu tun.«
Aiga schüttelte den Kopf. »Das ist ein zu großes Opfer.«
»Ist es nicht, wenn Mayara dafür in Sicherheit ist. Wenn du dafür in Sicherheit bist. Wenn der Jäger mich fortgehen sieht, wird er mir folgen. Wenn ich ihn - fern von Tolham und Maedowcove – ausschalten kann, wird niemand seinen Blick auf euch richten.« Sie seufzte zitternd. »Eine Bitte habe ich noch. Lehre Mayara, was du kannst. Sei ihr eine ebenso gute Freundin, wie du es mir gewesen bist.«
»Ich werde sie aufziehen, als wäre sie die Meine«, versprach Aiga feierlich.
Erst jetzt konnte Dilar sich ein wenig entspannen. Doch die Angst schwand nicht. Sie würde heute Nacht keinen Schlaf finden. Das wusste sie. Doch wenn Aiga und sie alles geklärt hatten, würde sie sich zu ihrer Tochter legen. Sie wollte ihrem Kind ein letztes Mal nahe sein.
Konzentriert und im Feuerschein des Kamins im Wohnraum, entwarfen die Frauen den Plan, der dazu dienen sollte, einen Hexenjäger zu töten.
Das Zwitschern der Vögel ließ sie erwachen. Dilar regte sich und zog Mayara enger an sich. Dann lächelte sie matt. Sie war tatsächlich eingeschlafen.
Vielleicht war dies gar nicht schlecht. Sie konnte jedes bisschen Energie gebrauchen, wenn sie sich heute auf ihre Reise machte.
Mayara regte sich neben ihr und blickte sie aus den hellbraunen Augen an. Sie wirkten wir flüssiger Bernstein, wenn die Sonne auf sie schien.
Dilar lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Dann zog sie das Kind an sich. »Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?«
»Mutter? Warum hast du hier geschlafen?«
»Stört es dich?«
Schnell schüttelte Mayara den Kopf. »Nein. Aber du hast das noch nie gemacht.«
Sieben Jahre alt, und derart aufmerksam. »Mir war einfach danach.«
»Ich mag es, wenn du das machst. Wir sollten das öfter machen.«
Dilar lächelte traurig. Dann küsste sie schnell den rötlichen Haarschopf ihrer Tochter und atmete deren Duft ein. Winterabende am Kamin gepaart mit einer sommerlichen Brise. Wie würde sie diesen Geruch vermissen. Er machte ihre Tochter unvergleichlich. Mal davon abgesehen, dass es nur selten Hexen gab, die mit zwei Gaben gesegnet waren, so war die Gabe der Luft jene, die nur sehr wenige Hexen erhielten. Hexen, die über die Luft herrschten, standen unter dem ganz besonderen Schutz der Großen Mutter. Hoffentlich bewahrte dieser Schutz sie auch vor den kalten Blick der Hexenjäger.
Es fiel ihr schwer, sich von ihrer Tochter zu lösen, doch schließlich gelang es ihr. Sie zwang sich zu einem munteren Lächeln. »Lass uns aufstehen. Die Vögel sind wach, also sollten auch wir auf den Beinen sein.«
Behände sprang das Mädchen aus dem Bett und eilte aus dem Raum. Verwundert sah Dilar ihr hinterher. Ihre Verwirrung löste sich jedoch, sobald ihre Tochter wieder in das Zimmer kam – mit ihrem Morgenmantel in der Hand.
»Aiga sagt, du musst dich warm halten«, erklärte Mayara und hielt ihrer Mutter den Morgenrock hin.
»Danke«, sagte Dilar lächelnd und nahm ihn entgegen.
Sie zog ihn über, mehr um ihrer Tochter einen Gefallen zu tun, denn die Kälte in ihrem Inneren konnte nichts vertreiben, und stand dann auf. Gemeinsam verließen sie das Schlafzimmer ihrer Tochter.
»Warum musst du wieder weg?« Mayara klang weinerlich, doch Dilar zwang sich darüber hinwegzusehen.
»Weil es sein muss. Ich habe noch einige Geschäfte zu erledigen.« Es war eine Lüge. Sie wusste es und Aiga wusste es auch. Es war vielleicht nicht Fair es ihrer Freundin zu überlassen, ihre Tochter aufzuklären, wohin sie wirklich ging, doch sie wollte die letzten Minuten nicht mit dem eindringlichen Flehen verbringen.
Sie wechselte einen Blick mit ihrer Freundin und sah dann wieder ihre Tochter an. »Du wirst brav sein und immer darauf hören, was Aiga dir sagt.«
»Ja«, antwortete das Mädchen gehorsam. Ihr Mädchen. Ihre Tochter. Ihr Herz ... ja, ihr Herz würde sie hierlassen.
Sie ging vor Mayara in die Hocke und zog sie in die Arme. Ein letztes Mal sog sie den köstlichen Duft ein. Dann löste sie sich beinahe abrupt von dem Kind.
»Mach es gut, meine Kleine. Pass auf dich auf.« Sie küsste Mayara auf die Stirn und wandte sich Aiga zu. »Danke. Für alles.« Einfache Worte. Aber viel mehr gab es nicht zu sagen.
»Möge die Große Mutter dich Schützen, meine Freundin.«
Sie umarmten sich. Dann warf Dilar einen letzten Blick auf das Land, das seit zwei Jahren ihre Heimat gewesen war. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie würde es vermissen. Doch sie war auch dankbar dafür, hier gelebt zu haben.
Ein letzter tiefer Atemzug, dann straffte sie die Schultern und drehte dem Land und den beiden Menschen, die ihr das wichtigste auf der Welt waren, den Rücken zu und machte sich auf den Weg.
Chandra seufzte und sah sich suchend im Garten um. Wo war ihr Bruder nur? Seit Tagen schon verbreitete er schlechte Laune. Er wirkte schon seit längerem unzufrieden, doch seit dem Besuch einiger Ladys, schien seine Wut zu dicht unter der Oberfläche zu schwelen.
Sie ging die wenigen Steinstufen hinab und steuerte zielsicher auf den Familienbereich des Gartens zu. In diese Nische zog er sich in letzter Zeit oft zurück. Wieso sucht er die Einsamkeit?
Seit seiner Ernennung zum Herren der Sonne, sollte er zufrieden sein. Jede Lady verzehrte sich nach ihm. Er musste lediglich die Einladungen in ihr Bett annehmen.
Sie waren schon immer unterschiedlich gewesen. Ihr blonder Bruder, der eigentlich vor Wärme und Mitgefühl glühte und sie. Sie war immer schon pragmatisch gewesen. Mit ihrem schwarzen Haar und den dunkelblauen Augen, war sie das genaue Gegenteil von ihm.
So auch ihre Positionen in der Anderswelt. Während ihr Bruder der Herr der Sonne und des Feuers war, der Lichtbringer, war sie die Herrin des Mondes und der Nacht. Die Jägerin. Wann immer der Mond voll am Himmel stand, brach sie zu der Wilden Jagd auf. Ein Fest zu ehren der Großen Mutter.
Sie waren es, die den Rest der Feen leiteten. Alle Herren und Herrinnen waren ihnen untergeordnet. Vielleicht bis auf jene, die dem Tod dienten. Ihnen wagte noch nicht einmal Chandra, etwas zu befehlen.
Sie erreichte die Nische und erblickte ihren Bruder. »Hier bist du«, sagte sie und ging auf ihn zu.
Er blickte auf. Die heiße Wut in seinem Blick ließ ihren Schritt kurz ins Stocken geraten. Er betrachtete sie stumm.
Chandra fühlte Unbehagen in sich aufsteigen. »Warum bist du hier, Bruder?«
»Wo sollte ich sonst sein?« Seine Stimme stand im absoluten Kontrast zu der heißen Wut in seinem Blick. Sie war kalt und unnahbar. Noch nie hatte Chandra ihn auf diese Weise erlebt.
»Nun, vielleicht im Haus. Eine unserer weiblichen Gäste genießen.«
Die Wut in seinem Blick nahm zu. Hier lag also das Problem. Doch unter der Wut konnte Chandra noch etwas anderes entdecken. Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit.
Sie setzte sich neben ihn und betrachtete ihn von der Seite. »Willst du mir sagen, was los ist?«
»Es würde nichts ändern.«
»Warum?«
»Weil ich bin, wer ich bin.«
Chandra dachte darüber nach. Er war ihr Bruder. Der Lichtbringer. Der Herr der Sonne. Was davon war das Problem?
»Die Damen ...«
»Interessieren mich nicht.«
Nun, das war neu. Früher war ihr Bruder nie abgeneigt gewesen, einer der Damen das Bett zu wärmen. Aber das war vor seiner Ernennung zum Lichtbringer gewesen, flüsterte eine Stimme in ihr.
»Red mit mir. Warum willst du die Freuden nicht genießen, die sie dir bieten?«
»Weil sie nicht mich wollen«, erklärte er bitter. »Sie wollen den Lichtbringer. Sie wollen ... Prestige.«
Chandra stutzte. War es verwerflich, wenn eine Frau einen Mann in ihr Bett einlud, der ihrem Kind die bestmöglichen Anlagen mitgab? Eine Frau musste wählerisch sein, wenn sie sich die Männer aussuchte, mit denen sie das Bett teilte. Wenn ein Kind aus einer Vereinigung hervorging ...
»Ich versteh es nicht«, gab sie nach einer Weile zu.
Sein Lächeln war zynisch und bitter. »Ich weiß. Du bist eine Frau. Wie sollst du es also auch verstehen?«
Nun bemerkte sie die Wut in sich. »Dann erkläre es mir«, forderte sie ungeduldig.
Er sah auf und blickte ihr in die Augen. Dann seufzte er. »Seit ich der Lichtbringer bin, will mich keine der Frauen mehr um meinetwillen in ihrem Bett haben. Sie wollen mich, weil ich den höchsten Titel der gesamten Anderswelt trage. Am Anfang machte mir das nichts aus, doch inzwischen ...«
»Willst du jemanden, der dich sieht. Nicht deinen Titel«, beendete Chandra den Satz für ihren Bruder. Nun verstand sie es. Doch insgeheim fragte sie sich, wann ihr Bruder derart empfindlich geworden war. Sie lächelte traurig. Hier konnte sie ihm nicht helfen. Sie war seine Schwester und er ihr Bruder. Für sie war er nicht der Lichtbringer. Doch sie konnte ihm nur die Schwester sein. Keine Geliebte - und es schien die Geliebte zu sein, die er sich wünschte.
Sie griff nach seiner Hand und drückte sie aufmunternd. »Vielleicht solltest du für eine Weile eine der anderen hohen Familien aufsuchen. Dann kommst du womöglich auf andere Gedanken und findest Ablenkung.«
Wieder lachte er verbittert. »Vor allem werde ich eine Menge Frauen finden, die mich in ihr Bett einladen«, murmelte er.
Chandra stand auf. Es hatte keinen Sinn. Im Augenblick wollte ihr Bruder nur über sein Elend grübeln. Sie musste ihm Zeit geben. Zeit, damit er wieder zu sich selbst finden konnte.
Sie verließ den Garten und ging langsam zurück zum Haus, während sie ihre Gedanken treiben ließ. Vielleicht fand sie eine Lösung, um die Stimmung ihres Bruders zu heben. Sie würde den Herren der Barden und die Herrin der Musen einladen. Sie konnten ihr eventuell helfen.
Der Tod flüsterte. Isra zügelte ihre schwarze Stute und lauschte. Er war nicht fern. Jemand würde sterben.
Auch ihr Pferd schien zu lauschen. Ob die Stute die gleichen Dinge wahrnahm, wie sie?
Sie seufzte und tätschelte dem Pferd den Hals. »Komm, lass uns unsere Arbeit tun«, sagte sie sanft. Ohne dass sie sonst etwas tun musste, ritt die Stute weiter. Isra folgte dem Flüstern der Sterbenden.
Sie ritt durch die Schatten, um ihr Ziel schneller zu erreichen. Sie war noch nicht oft in der menschlichen Welt unterwegs gewesen. Es schockierte sie jedoch, wie viele Seelen nicht in das Land der Göttin gegangen waren und stattdessen als ruhelose Geister umherstreiften. Einige Orte wurden von ihresgleichen – den Schnittern – gemieden. Hinter einigen gab es traurige Lieder von Schlachten und Verrat. An anderen Orten hatte ein törichter Verstand versucht, den Tod zu umgehen. Der Tod war unumgänglich. Für jedes Lebewesen. Es war nicht ihre Aufgabe, jemanden zu töten. Es war ihre Pflicht die Seelen zu Sammeln und in das Land der Großen Göttin zu führen. Die andere Seite des Schattenschleiers, wo die Seelen Frieden fanden, bis sie bereit waren, eine weitere Reise im Reich der Lebenden zu beginnen.
Isra gelangte an eine Weggabelung und sah sich um. Das Flüstern war nah. Suchend sah sie sich um, ließ die Stute alleine den Weg finden.
Dann sah sie die Frau. Sie stand stumm am Rande des Weges und sah ihr entgegen. Ihre durchscheinende Gestalt verriet ihr, dass sie bereits auf sie wartete.
Isra zügelte die Stute und stieg ab. Schatten legten sich über ihr Gesicht. Sie strich sich eine Strähne des schwarzen Haares aus dem Gesicht und ging auf die Seele zu, die ruhig und zufrieden schien.
»Du bist gekommen, um mich zu holen?«, fragte die Frau, als Isra endlich vor ihr stand.
Die Schnitterin lächelte und hielt ihr die Hand entgegen. »Ich werde dich zum Schattenschleier bringen. Wie ist dein Name?« Sie stellte diese Frage nicht oft, doch etwas an dieser Frau erschien ... anders.
»Dilar.« Die Frau zögerte. »Werde ich meine Mutter auf der anderen Seite treffen? Meinen Mann?«
»Sie werden dort auf dich warten«, versprach Isra.
Glücklich lächelnd ergriff die Frau ihre Hand. Sie war zu Jung. Gezeichnet, ja. Der Körper, der am Boden lag, wirkte ausgemergelt, wie nach einer langen Krankheit. Doch nicht genug, um sie bereits zu benötigen. Und sie wirkte ... zufrieden.
»Du bist mit dir im Reinen?«, fragte Isra, da sie nicht wusste, wie sie ihre Gedanken sonst in Worte fassen sollte.
»Meine Mayara ist sicher. Ich bin mit mir im Reinen, Schnitter«, antwortete Dilar.
Isra nickte und rief den Schattenschleier herbei. Sie fragte sich, was die Frau wohl erblickte. Jede Seele schien etwas anderes zu sehen. Einige gingen frohen Herzens und glücklich durch den Schleier. Andere schienen mit all ihren Sünden konfrontiert zu werden. Die Göttin war gütig, doch sie konnte auch grausam sein.
Doch Dilar schien frohen Herzens auf den Schleier zuzugehen. Isra wartete, bis die Seele verschwunden war. Dann erst ging sie zurück zu der Stute.
Erst als sie aufsteigen wollte, fiel ihr die andere Seele auf. Es war nicht verwunderlich, das sie sich vor ihr versteckte. Sie zögerte. Es gab Seelen, die sich weigerten, durch den Schleier zu gehen. Jene Seelen wurden zu Geistern. Wie stand es mit dieser hier? Würde sie ihr zum Schattenschleier folgen?
Langsam ging sie auf die Seele zu. Der Mann lief weg.
Isra folgte ihn ein Stück in den Wald hinein, der den Wegrand säumte. Dann fand sie den Körper.
Magie hing in der Luft. Der Körper des Mannes war halb unter der Erde begraben worden. Der Boden schien leicht zu vibrieren, wie ein Nachhall von dem, was hier geschehen sein musste. Isra konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, doch sie vermutete, die Frau war eine Hexe gewesen.
Sie betrachtete die aufgewühlte Erde. Ein Riss zog sich unter dem Mann hindurch. Nicht groß, doch deutlich sichtbar. Um den Fuß des Mannes war eine Baumwurzel gewickelt.
Isra erschauderte. Was konnte ein Mann tun, um eine Hexe derart zu verärgern? Sie wusste, dass die Hexen nicht immer sanft waren, aber normalerweise fügten sie niemandem Schaden zu.
Meine Mayara ist sicher. Ich bin mit mir im Reinen, Schnitter.
Die Worte Dilars kamen ihr wieder in den Sinn. Hatte der Mann dieser Mayara etwas angetan? Wenn es ihre war, um wen handelte es sich? Eine Schwester? Eine Tochter? Eine Geliebte?
Wenn es jemand war, der ihr nahegestanden hatte und der Mann ihr hatte schaden wollen ...
Das Bild, das sich Isra bot, wirkte mit einem Mal sehr viel weniger beklemmend. Sie ließ die Seele des Mannes sein wo sie war, und ging zurück zu ihrem Pferd.
ich hoffe, die Leseprobe hat dir bis hier hin gefallen. Fall ja, würde ich mich natürlich über einen kurzen Kommentar deinerseits freuen.
Wenn du nun wissen möchtest, wie es mit Mayara weitergeht, kannst du das Buch bereits vorbestellen. Ab dem 25.01.19 gibt es das Buch dann offiziell als Ebook, Paperback und kostenlos für Kindle Unlimited Leser.
Egal ob zur Leseprobe, oder zum gesamten Buch, ich freue mich immer über Rückmeldungen.
Wo ihr das Buch vorbestellen könnt?
https://www.amazon.de/dp/B07JRD2CKV
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wenn so viele einsam sind, wie sie einsam zu sein scheinen, wäre es unentschuldbar egoistisch, allein einsam zu sein.
Tennessee Williams
Für Albert, weil mit dir das Leben weniger einsam ist.