Cover

Karte von Fedora

 

Prolog

Sie spürte es schon seit einiger Zeit. Etwas näherte sich ihnen. Ein Umschwung verbunden mit der Dunkelheit. Es wogte heran, und seit einigen Tagen nahm es an Intensität zu. Was immer es war, bald schon würden sie alle eine harte Prüfung bestehen müssen.

Die Tür ging auf und ihr Bruder trat ein. Sie fuhr zu ihm herum und betrachtete ihn. Sein helles, beinahe weißes Haar, welches ihrem so sehr ähnelte, klebte in nassen Strähnen an seinem Kopf. In seinen hellblauen Augen stand Besorgnis. Doch es lag ein überhebliches Lächeln auf seinen Lippen, als er neben sie trat.

»Wir bekommen Besuch«, erklärte er, während er neben sie trat.

Sie seufzte tief. »Ich weiß, Bruder. Ich weiß.«

»Wirst du sie empfangen?«

Sie dachte einen Augenblick über die Frage hinter seiner Frage nach. Sollten sie die Besucher passieren lassen oder sie töten? Ihre Instinkte flüsterten ihr zu. Seit langer Zeit schon. Sollte sie diese nun ignorieren?

»Nein, lass sie herkommen«, antwortete sie. »Ich bin gespannt, was sie herführt.« Sie zögerte. »Schaff die Blutspeicher weg. Wir wollen unsere kleinen Gäste doch nicht verschrecken.«

»Wie du wünschst, Schwester.« Er verließ den Raum wieder und ließ sie zurück.

Sie drehte sich zum Fenster um und sah nach draußen. Unter sich konnte sie den Wald erkennen. Was dort wohl vor sich ging. Seit Dekaden hatte sie die Burg schon nicht mehr verlassen. Vielleicht war es an der Zeit, dem Ruf zu folgen und dem Umschwung entgegenzutreten.

 

»Sieh an, der Alpha des Rudels sucht mich auf. Willkommen, Luc.« Sie betrachtete den Werwolf. Die Angst in seinen Augen war ein Grund zur Besorgnis. Die Schwingungen, die von dem Mädchen in seinen Armen ausgingen, noch viel mehr. Sie betrachtete die beiden genauer. Der Alpha hatte also seine Gefährtin gefunden. Als sie auf das Mädchen zu trat, um diese seltsamen Schwingungen genauer zu untersuchen, begann der Wolf leise zu knurren. »Reiß dich zusammen, Luc«, warnte sie ihn lächelnd.

Sie betrachtete sie, ohne sie zu berühren. Es war nicht schwer zu erraten, warum sie nicht bei Bewusstsein war. Die Färbung an ihrem Arm wies klar darauf hin. »Du bringst einen der Infizierten zu mir?«

Der Wolf erwiderte ihren Blick mit stoischer Ruhe. »Ich habe gehofft, du könntest ihr Helfen.«

»Wie lange ist es her?« Sie streckte die Hand aus und legte eine Hand auf die Stirn des Mädchens. Verwunderlich. Sie bekam alles mit, was um sie herum geschah. Sie war jedoch unfähig, ihren Körper zu bewegen.

»Drei Tage.«

Ein Keuchen entfuhr ihr. »Und sie hat sich bisher nicht verwandelt?«

»Nein. Die Färbung ihres Armes ist das einzige Anzeichen. Sie geht jedoch schon wieder zurück.«

»Erstaunlich.« Sie betrachtete den Alpha. »Wir haben uns vor einigen Jahren verbündet. Doch dies bedeutet nicht, dass meine Hilfe umsonst sein wird.«

»Das ist mir bewusst.«

Sie nickte zufrieden. »Wir werden später über meine Forderungen sprechen. Folge mir.«

Der Wolf zögerte. »Ich würde lieber erst wissen, womit ich bezahlen soll.«

»Wie erfrischend. Obwohl dieses Mädchen deine Gefährtin ist, steht bei dir der Schutz des Rudels immer noch an erster Stelle«, bemerkte sie. Der Wolf nickte angespannt. »Ich verspreche dir, ich werde nichts verlangen, was dir oder den deinen schadet. Alles andere klären wir später, Wolf.«

Sie sprach das letzte Wort mit Absicht spöttisch aus. Mal sehen, wie gut er sich unter Kontrolle hatte. Doch er zitterte nicht einmal. Stattdessen wanderte sein Blick zu dem Mädchen in seinen Armen. »Wie du wünschst.«

»Nun folge mir. Mein Bruder wird sich derweil um deine Begleiter kümmern«, forderte sie ihn erneut auf und ging voran, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Dieses Spiel würde interessant werden. Und die Veränderungen, die es mit sich bringen würde, ganz bestimmt auch.

 

Bewegungslos

 

Es war ein eigenartiges Gefühl. Sie konnte alles um sich herum hören. Besser sogar, als je zuvor. All ihre Sinne schienen effektiver zu arbeiten, denn je. Sie konnte die Schritte einer Person hören, schon ehe sich die Tür öffnete. Sie nahm sämtliche Gerüche um sich herum wahr. Es war ärgerlich, dass ihre Augen geschlossen waren. Sie war gefangen in einer Welt vollkommener Dunkelheit. Ohne die Möglichkeit ihren Körper zu bewegen, war sie hilflos.

Immer noch spürte sie, wie das klebrige, dunkle Zeug versuchte sich ihrer zu bemächtigen. Aber Sophie hatte schnell festgestellt, dass es einfacher war, dagegen anzukämpfen, wenn sie sich auf ihre Verbindung zu Luc konzentrierte. Ihr Arm fühlte sich taub und eigenartig kalt an. Es war fast, als würde er nicht mehr zu ihrem Körper gehören. Ob man ihn abtrennen musste, um sie zu retten?

Sie konnte recht genau spüren, wo sich das schwarze Zeug verteilte und es gelang ihr an mancher Stelle, es zurückzudrängen.

Sie nahm wahr, wie eine Tür sich öffnete und allein an dem Atmen erkannte sie Luc. Ihr Herz machte einen Satz. Es dauerte nur einen Augenblick, da konnte sie seine Hand auf ihrer Wange spüren.

»Wenn du weißt, warum sie sich nicht bewegen kann, wieso machst du nichts dagegen?«, erkundigte er sich mit unterdrückter Wut in der Stimme. Sie konnte das Grollen wahrnehmen. Nicht mehr lange und er würde beginnen zu knurren.

»Beruhige dich, Wolf«, antwortete eine weibliche Stimme. Sophie hatte sie nun schon häufiger gehört. Sie wirkte kalt und gefühllos. Doch es war auch die Stimme, die zu den Händen gehörten, die sich um sie kümmerten. Dies war ihr bewusst. Und aus diesem Grund war sie sich noch nicht sicher, ob sie die Person dahinter mochte oder nicht. Wenn sie nur die Augen der Frau sehen könnte ...

Als Luc tatsächlich begann zu knurren, konnte sie die Frau leise lachen hören. »Du wirst von deinen Gefährteninstinkten getrieben. Wie erfreulich. Doch ich sage es dir nur einmal. Ich gebe die Nervenbahnen noch nicht frei, weil es ihr hilft. Im Augenblick würde sie wahrscheinlich unsagbare Schmerzen haben, wenn ihre Nerven arbeiten würden. Wer immer sie blockiert hat, hat ihr einen Gefallen getan.«

»Und was soll das bringen?«

»Mal abgesehen davon, dass sie keine Schmerzen hat? Sie braucht all ihre Konzentration dazu, um gegen das anzukämpfen, was sie zu korrumpieren versucht. Ich habe solche Dinge schon zu oft erlebt. Dieses Zeug nimmt nach und nach deinen Körper und Geist in Besitz und verändert sie zum absolut bösen.«

Sophie hörte, wie Luc winselte. Wie gerne hätte sie nach seiner Hand gegriffen. »Also kannst du es nur hinauszögern?« Die Resignation in seiner Stimme brach ihr beinahe das Herz.

»Ich kann die keine Versprechnungen machen, Luc«, erklärte die Frau plötzlich ungewöhnlich sanft. »Es bleibt uns nur abzuwarten. Aber die Tatsache, dass sie sich bisher nicht verwandelt hat, könnte bedeuten, dass sie die Kraft besitzt sich dagegen zu wehren und sie zu besiegen. Vielleicht spielt auch eure Gefährtenbindung eine Rolle dabei. Ich brauche mehr Informationen über sie und ihre Vergangenheit. Jedes bisschen kann helfen.«

»Es gibt da etaws«, gestand Luc leise. »Anscheinend hat ihr Vater versucht ihre Gene zu verändern. Sie trägt genetische Merkmale von uns allen in sich.«

»Von allen?« Die Frau klang überrascht.

»Vampir, Werwolf, Ghoul. Wir alle. Ihr Vater scheint in Zusammenhang zu Virtus zu stehen. Wie haben jedoch keine Ahnung, wie weit diese Verbindung geht. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass es sehr weit ist. Sophies Schwester scheint inzwischen für Virtus zu arbeiten. Auch sie wurde infiziert. Gaian war bei dem Angriff auf Sophie dabei. Sie scheint sich ebenfalls nicht verwandelt zu haben, kann ihren Körper jedoch auf Wunsch gezielt verändern.«

»Wie meinst du das?«

»Ihr Arm und ihre Finger haben sich in Tantakel verwandelt. Solche, wie wir sie schon bei einigen Leichen gefunden haben. Nur sie konnte sie bewusst wieder zurückverwandeln. Mal abgesehen von ihrem Geruch sah sie vollkommen normal aus, wenn man Gaian glauben kann.«

»Von so etwas habe ich noch nie gehört«, gestand die Frau wieder.

»Ich auch nicht. Und es jagt mir Angst ein, wie es mit Sophie weitergeht. Seit wir sie gerettet haben, hat sich ihr gesamtes Wissen immer wieder als falsch herausgestellt. Dennoch hat sie es immer wieder geschafft, sich neu zu orientieren. Sie hat die außergewöhnliche Gabe ihre eigene Angst und Panik zurückzustellen, um andere zu beruhigen. Sie will jeden um sich herum beschützen.«

»Du weißt, dies alles kann sich ändern. Es geht nicht nur um die Infektion. Ich habe noch nie von einem Lebewesen gehört, das die Gene aller vier Spezies in Fedora in sich trägt. Dazu kommt eure Gefährtenverbindung, die automatisch dazu führen wird, dass ihre Wolfsgene erwachen. Die Infektion kann auch die anderen Gene aktivieren. Wir wissen nicht, welche Auswirkungen das gesamte Zusammenspiel haben wird. Und ich kenne bisher nur einen, dem es gelungen ist, erfolgreich gegen die Infektion anzukämpfen.«

»Dein Bruder«, sagte Luc.

»Genau. Riaan selbst kann mir nicht erklären, warum oder wie es ihm gelungen ist. Und selbst heute noch gibt es Momente, in denen er stark damit zu kämpfen hat. Es ist ein lebenslanger Kampf. Glaubst du deine Gefährtin ist dafür stark genug?«

»Das ist sie.« Die Überzeugung in Lucs Stimme ließ Sophie Hoffnung schöpfen.

»Nun denn, wir wollen es hoffen. Ich werde die Nervenbahnen noch bis morgen blockiert lassen. Sollte die sichtbare Verfärbung dann nicht weiter voran geschritten sein, können wir sie versuchsweise wieder reaktivieren. Ich hoffe für dich, du irrst dich nicht in deiner Einschätzung.«

»Ich glaube fest an sie«, erklärte Luc immer noch voller Zuversicht.

»Nun denn, kommen wir zu dem Preis, den du zu zahlen hast.«

Sophie erstarrte innerlich. als sie hier angekommen waren, war schon einmal die Rede davon gewesen. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie dermaßen mit dem Kampf in ihrem Inneren beschäftigt, dass sie nur wenig davon mitbekommen hatte.

»Was verlangst du?«

»Einen Platz in deinem Dorf, sowie einen deiner Wölfe.«

Sophie spürte ein starkes Zittern, welches durch ihre Gefährtenbindung ging und in der nächsten Sekunde hörte sie das düstere Knurren eines Wolfes.

»Ach, ihr Wölfe. Es ist immer wieder erfrischend mit euch. Vielleicht solltest du mich erst einmal zu ende sprechen lassen. Nun hast du deine Kleidung zerrissen, dabei ist es vollkommen unnötig.« Die Frau lachte. »Ich will Zwei meiner Vampire als Vermittler in deinem Dorf haben. Und ich möchte dasselbe hier bei uns. Einen Wolf, der uns eure Gepflogenheiten nahe bringt. Zudem sollen sie als Vermittler dienen, damit der Informationsaustausch mit weniger Misstrauen einhergeht.«

Sophie hörte die Worte und fand die Idee gar nicht so verkehrt. Was sprach dagegen? Doch sie konnte immer noch das Knurren hören, welches den Raum erfüllte. Sich auf ihre Gefährtenbindung besinnend, versuchte sie zu erahnen, was in ihm vorging. Doch es gelang ihr nicht.

»Wie dem auch sei. Ich werde dir erst einmal die Zeit geben, darüber nachzudenken. Vielleicht willst du dich auch erst einmal mit deinem Rudel besprechen? Es spielt keine Rolle. Ich werde mich weiter um das Mädchen kümmern. Aber den Preis wirst du zahlen müssen. Wenn du dich auf mein Angebot nicht einlassen möchtest, solltest du dir Gedanken um etwas vergleichbares machen.«

Sophie hörte nicht, wie die Frau sich bewegte, doch sie vernahm das Öffnen und Schließen der Tür. Sie hatte den Raum verlassen.

 

Ein Kampf für die Ewigkeit?

 

Langsam gewöhnte Sophie sich an das Gefühl des klebrigen Zeugs. Sie ließ es nicht gewähren, noch tiefer in sie hervorzudringen, doch sie lernte, es zu akzeptieren. Wenn sie die Worte der Frau richtig verstand, musste sie auf ewig dagegen ankämpfen.

Ihre Schwester hatte vollkommen normal ausgesehen, bis zu dem Augenblick, in dem sich ihr Arm verformt und verwandelt hatte. Ob ihr dies auch gelingen konnte?

Sobald sie die Frage in ihren Gedanken geformt hatte, spürte sie, wie die schwere in ihrem Arm abnahm und sich an einen Punkt sammelte. Sophie registrierte schnell, dass dies der Punkt war, an dem Bea ihr die Spritze in den Arm gerammt hatte. War das möglich? Konnte sie die dunkle Masse wirklich allein durch ihren Willen steuern?

Nein, das wäre zu einfach. Es konnte nicht derart leicht sein. Doch im Augenblick fühlte sie sich trotz allem, was geschah, ausgeglichen. Konnte dies der Grund sein, warum es ihr gelang besser mit der Infektion umzugehen? Es waren zu viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte.

Wenn sie nur sprechen könnte. Doch sie war immer noch in dieser Starre gefangen. Es war ärgerlich, dermaßen eingeschränkt zu sein. Sobald sie ihrem Ärger nachgab, spürte sie, wie die Taubheit in ihrem Arm wieder zunahm. Sophie versuchte ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Es war ein ewiges Auf und Ab, mit dem sie sich auseinandersetzen musste. Doch was konnte sie dagegen tun? Es gab niemanden auf der Welt, der seine Gefühlen immer vollends unter Kontrolle hatte. Und sie? Sie war in den letzten Monaten so vielen negativen Dingen ausgesetzt gewesen ...

Doch es gab auch Positives. Sie hatte Luc getroffen. Und auch das Rudel. In Jalina hatte sie ihre erste wirkliche Freundin gefunden. Und diese würde bald ein Baby bekommen. Sie würde das Kleine gerne sehen. Doch dies wäre nur möglich, wenn sie den Kampf in ihrem inneren gewann. Und auch nur dann könnte sie einer Zukunft mit Luc entgegenblicken.

Es war entschieden. Sie musste einen Weg finden, damit umzugehen. Doch wie sollte es funktionieren? Sie konnte ihre Gefühle nicht immer kontrollieren. Es waren Empfindungen die vollkommen unwillkürlich auftauchten. Es gab natürlich immer einen Auslöser, doch wie sollte sie sämtliche negative Dinge von sich fernhalten.

Es war nicht verwunderlich, dass Beatrice nachgegeben und sich korrumpieren hatte lassen. Wenn es Luc nicht gäbe ... Da wäre nichts gewesen, an dem sie sich hätte festkrallen können. Doch war dies ausreichend?

Noch fühlte sie sich wie sie selbst, auch wenn sie nicht umhinkam, die dunkle Woge zu spüren, die immerzu über sie hinwegzuströmen drohte. Wenn sie nur sprechen könnte. Vielleicht würde es ihr helfen.

Dann fielen ihr die Worte der Frau wieder ein. Unsägliche Schmerzen ... Wäre es wirklich so? Würde sie Schmerzen erleiden? Könnte sie damit umgehen? Dies waren Dinge, bei denen Luc ihr nicht direkt helfen konnte. Es lag ganz allein an ihr, sich damit auseinanderzusetzen und sie auszuhalten.

Die Verbindung zu Luc half ihr, sich an ihr Selbst zu erinnern. Doch im Augenblick strömten auch keinerlei negativen Reize von außerhalb auf sie ein. Sie war gefangen in sich selbst. Alles was sie körperlich wahrnahm, erschien gedämpft. Ihre anderen Sinne waren zwar geschärft, doch die Reize hier, wo auch immer sie sich befand, waren auf ein Minimum reduziert worden.

Sie befanden sich bei Vampiren. Dies war eines der Dinge, die sie bewusst mitbekommen hatte. Luc war der Auffassung gewesen, man könne ihr hier besser helfen. Warum war das so? Was wusste sie eigentlich über Vampire?

Nicht viel. Dies war etwas, was sie sich eingestehen musste. Wenn die Informationen über die Vampire, die sie aus Lovlin erhalten hatte, ebenso falsch waren, wie jene über die Werwölfe musste sie einsehen, gar nichts über sie zu wissen.

Doch sie könnte es lernen. Sie hatte auch viel über die Werwölfe gelernt. Sehr viel sogar. Und sie lerne stetig dazu. Dies war doch vielversprechend, wenn es darum ging, mit der Infektion fertig zu werden.

Sie kam mit neuen Dingen gut zurecht, konnte sich darauf einstellen, selbst, wenn sie einmal von Selbstzweifeln geplagt wurde. War sie in den letzten Monaten auch mal gestrauchelt, so war Luc stets da gewesen, um sie aufzufangen. Und ihre Bindung zueinander wuchs mit jedem Tag.

Sie würde daran festhalten. Sie konnte nicht einfach aufgeben. Es war ihr gelungen derart viele Dinge zu überstehen und sich mit den Veränderungen, die sie mit sich brachten, klarzukommen, wieso sollte sie nicht auch das hier schaffen können? Schließlich war sie die Gefährtin des Alphas. Sie konnte das bewerkstelligen.

Oder?

Am liebsten hätte sie geseufzt. Doch auch diesmal Versagte ihr Körper den Gehorsam. Wenn es nur endlich ein Ende nehmen würde. Ihren Körper nicht unter Kontrolle zu haben war zermürbend. Es war eine Art von Kontrollverlust, mit dem sie nur schwer umgehen konnte. Hoffentlich entschied die Vampirin sich bald dazu, es zu ändern. Wenn Sophie es richtig verstanden hatte, war sie in der Lage dazu. Im Augenblick war sie bereit jede Art von Schmerzen in Kauf zu nehmen, wenn sie sich nur wieder bewegen könnte.

 

Licht in der Dunkelheit

Schritte!

Anhand des Rhythmus erkannte sie Luc. Es war seltsam. Seit sie ihre Augen nicht öffnen konnte, achtete sie viel mehr auf solche Nuancen. Nur die Vampire konnte sie vorher nicht hören. Irgendwie gelang es ihnen, sich vollkommen lautlos zu Bewegen. Ob es ein Teil ihrer Natur war?

Die Tür öffnete sich und sie vernahm den Atem zweier Personen. Also war Luc nicht alleine. Ob es die Vampirfrau war? Während sie auf Luc lauschte, der sich ihr gleich näherte, versuchte sie irgend ein Geräusch zu vernehmen, das von dem Vampir kam. Bis auf das leise, regelmäßige Atmen war jedoch nichts zu hören.

Mit ihrem gedämpften Tastsinn spürte sie, wie Luc nach ihrer Hand griff. Als nächstes hörte sie ihn Keuchen. »Lenaya, sieh!«, rief er überrascht aus.

Panik befiel Sophie. Was war los? Hatte sich etwas verändert? Würde sie sterben? Warum sagte Luc nichts?

Sie konnte ein weiteres paar Hände spüren, welches ihren Arm berührte. »Unfassbar. Das ist wirklich interessant«, murmelte die Stimme der Vampirin. Sie klang nicht panisch. Die Ruhe in den Worten der Frau beruhigte auch Sophie. Und noch etwas anderes wurde ihr bewusst. Sie kannte nun ihren Namen. Lenaya. Luc hatte ihn bisher nicht ausgesprochen. Doch in seiner Angst hatte er wohl nicht darüber nachgedacht.

»Das ist gut, oder?«, fragte Luc immer noch leicht verunsichert.

»Sehr gut. Es heißt sie scheint effektiv gegen die Infektion arbeiten zu können. Das bedeutet nicht, dass es einfach wird. Wer weiß, wodurch der Rückgang beeinflusst wurde. Doch ich denke, wir können nun beginnen die Nervenbahnen wieder freizugeben. Stückweise. So kann ich sie im Notfall wieder blockieren.«

Notfall? Wahrscheinlich wenn die Infektion sich erneut ausbreitet und die Überhand gewinnen sollte. Es war nicht leicht. Sie versuchte es bewusst zu steuern, doch sie fand den Auslöser einfach nicht.

»Wann fängst du an?«, hörte sie Luc fragen.

»Sofort. Es gibt keinen Grund noch länger zu warten. Sei so nett und lösche das Licht.«

Sophie bekam dumpf mit, wie sich eine kalte Hand auf ihre Stirn legte, gleich darauf zog ein unangenehmes Prickeln durch ihren Körper. Erschrocken sog sie die Luft ein und öffnete verwundert die Augen. Sie musste mehrfach blinzeln, bis sich ihre Ohren an die Helligkeit gewöhnten. Sie konnte wieder bewusst atmen und ihre Lider heben und senken. Ihre lebenswichtigen Funktionen waren nicht nur mehr ihren Instinkten unterworfen.

Erleichtert suchte sie Lucs Blick. Sie hätte gerne seine Hand ergriffen, doch alles unterhalb ihres Halses gehorchte nach wie vor nicht ihrem Willen.

Luc jedoch lächelte liebevoll. »Wie geht es dir?«, fragte er.

»Seltsam«, antwortete sie, ohne nachzudenken. Ihre Stimme klang belegt. Dies war nicht verwunderlich, wenn sie bedachte, dass sie seit Tagen nicht ein Wort gesprochen hatte. Sie hielt ihren Blick auf Luc gerichtet. »Wasser«, bat sie.

Er nickte und stand auf. Sie konnte spüren, wie ihre Hand bewegungsunfähig auf das Laken unter ihr fiel. Nun, wo ihre Augen nicht mehr auf Luc gerichtet waren, sah sie sich in dem Raum um. Es war ein Raum, dessen Wände, Boden und Decke aus barem Stein bestand. Das Mobiliar war aus schweren dunklen Holz gefertigt. Es gab ein Fenster, welches kein Glas besaß. Sophie erkannte, dass es Nacht war. Das Laken, auf dem sie lag, schien aus einem sehr feinem Stoff zu sein. Sie konnte trotz der Dunkelheit in dem Raum den Glanz erkennen, der von ihm ausging.

Als sie ihren Blick weiter schweifen ließ, blieb er an der Frau hängen, deren Stimme sie in den letzten Tagen schon häufiger gehört hatte. Zumindest vermutete sie in ihr die Besitzerin der Stimme. Sophie hielt inne. Zum ersten Mal sah sie einen Vampir aus der Nähe. Sie hatte sie sich anders vorgestellt. Ihre Gestalt war menschlich, was das anging, gab es keinen Unterschied. Doch ihre Haut ... sie war weiß und mit dunklen feinen Adern durchzogen. Die Augen waren Schwarz mit einer roten Iris. Das Haar war ebenfalls schneeweiß. Als die Vampirin lächelte, erkannte Sophie die scharfen Reißzähne.

»Wo bin ich?«, fragte Sophie mit heiserer Stimme, weil ich nichts besseres einfiel.

»Du bist in meinem Bergfried. Hier herrsche ich. Du solltest mir also den entsprechenden Respekt entgegenbringen«, antwortete die Frau.

Sophie nickte, fühlte sich aber zu überrumpelt, um etwas zu sagen. Luc trat in diesem Augenblick wieder zu ihr und hielt ihr einen Kelch der mit Wasser gefüllt war an die Lippen. Dankbar nahm Sophie einen Schluck und seufzte dann erleichtert. Sie fühlte sich schon gleich viel besser.

Luc fuhr ihr mit der freien Hand sanft durch das Haar, dann drehte er sich zu der Vampirin herum. »Können wir die Höflichkeiten vielleicht auf später verlegen? Ich denke dafür zu Sorgen, dass Sophie sich wieder bewegen kann, hat Vorrang.«

»Beherrsche dich, Wolf. Auch wenn ich es deiner Gefährtin für den Augenblick nachsehe, werde ich Respektlosigkeiten in keiner Weise tolerieren.«

Sophie beobachtete erstaunt, wie Luc den Blick senkte. »Verzeih mir, Lenaya.«

»Gewährt. Aber erinnere dich an deine Position hier«, erklärte die Vampirin kalt. Dann betrachtete sie Sophie. »Nun, du scheinst du selbst zu sein. Bevor ich die Starre jedoch vollständig löse, solltest du mir einige Fragen beantworten. Wenn mir diese jedoch nicht gefallen ...«

Sophie nickte. Ihr war klar, wie der Satz endete. Gefielen Lenaya die Antworten, die sie ihr gab nicht, würde sie sie einfach in der Bewegungslosigkeit verharren lassen. Nervös schluckte Sophie. Hoffentlich war sie dazu in der Lage, die richtigen Antworten zu finden. 

 

Neue Informationen und eine Vermutung

Sophie wartete angespannt. Die Vampirin schritt hoheitsvoll durch den Raum und blieb dann vor dem Bett stehen, um Sophie mit einem kalten Blick zu mustern.

»Fangen wir also an. Sag mir deinen Namen«, forderte die Frau.

»Sophie«, antwortete sie automatisch.

»Dein Alter?«

»Neunzehn.«

»Gut, gut. Lass mich mal überlegen.«

Sophie runzelte die Stirn. Was sollte die Fragerei? Welcher Sinn verbarg sich dahinter?

»Der Name deiner Mutter?«

»Meylin.«

»Deines Vaters?«

»Malik.«

Das plötzliche Fauchen der Vampirin verwunderte Sophie. Luc war im Bruchteil einer Sekunde bei ihr, um sich schützend vor ihr aufzubauen. Er hob beschwichtigend die Hände. »Ruhig, Lenaya.«

Die roten Augen der Vampirin fixierten nun ihn. »Du hast ja gar keine Ahnung«, erklärte sie immer noch fauchend.

»Von was?«, fragte er. Sophie nahm wahr, wie er begann zu zittern. Wenn dies so weiter ging, würde er sich bald verwandeln. Sophie wünschte sich, sie könnte etwas tun, um ihn zu beruhigen.

»Malik«, erklärte Lenaya mit unheilvoller Stimme.

»Was soll mir ihm sein?«

Der überraschte Ausdruck im Gesicht der Frau verwunderte Sophie. »Ihr habt keine Ahnung?«

Sophie schüttelte den Kopf. Auch Luc tat es ihr nach. Ahnung von was? Das ihr Vater etwas mit Virtus zu tun hatte. Doch, dies war ihr bewusst. Doch warum sollte diese Tatsache die Vampirin derart aus der Fassung bringen?

Das listige Lächeln, welches auf Lenayas Gesicht erschien, jagte Sophie Schauder über den Rücken. Gespannt hielt sie den Atem an.

Komm schon, Luc. Reiß dich bitte zusammen. Bitte, es bringt nichts, wenn wir sie unnötig reizen. Offensichtlich weiß sie etwas, was wir nicht wissen, flehte sie Luc stumm an. Er musste sich beruhigen.

Da ihr Blick auf ihn gerichtet war, bemerkte sie, wie er sich plötzlich versteifte. Langsam drehte er sich zu ihr herum und starrte sie verwundert an. Sie erwiderte seinen Blick arglos.

Als er nichts sagte, wurde sie unruhig. »Was ist?«, fragte sie verwirrt.

»Hast du eben etwas gesagt?«, erkundigte er sich.

Sophie schüttelte den Kopf. Lucs Blick nahm an Überraschung zu. Was hatte er nur?

»Du hast mich nicht ermahnt, mich zusammen zu reißen?«, fragte er noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck in der Stimme.

»Ich ...« Verdammt. Woher wusste er, was sie gedacht hatte? »Ich habe es gedacht«, gestand sie schließlich.

Nun begann Luc zu lächeln. Unvermittelt beugte er sich vor und küsste sie stürmisch. Sophie war zu überrascht überhaupt zu reagieren. Was war nur los mit ihm?

Als er sich wieder von ihr löste, nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände und sah ihr tief in die Augen. »Ich hab dich gehört«, flüsterte er und küsste sie, diesmal sanft, auf die Lippen. »Ich habe zum ersten Mal deine Gedanken hören können.«

Sophie war verwirrt. »Du hast meine Gedanken ...?« Sie brachte es nicht fertig, den Satz zu vollenden. Ihre Gedanken rasten und versuchten einen Sinn aus dem Ganzen zu ziehen.

»Unsere Gefährtenbindung, Sophie. Es ist die eben zum ersten Mal gelungen, mich über deine Gedanken zu erreichen.«

Es war zu viel. So wie er es sagte, musste es Sinn ergeben, doch ihr Verstand war heillos überfordert. Vielleicht war es in den letzten Monaten einfach alles zu viel gewesen. War es möglich, dass der Verstand irgendwann zu überlastet war, um die einfachsten Dinge zu verstehen?

»Unsere Bindung zu einander ist stärker geworden«, erklärte er nun.

Sie nickte. Ja, das ergab Sinn. Und als sie endlich wirklich verstand, was er da sagte, musste sie lächeln. »Das ist schön.«

Luc grinste, beugte sich vor und küsste sie erneut. »Alles wird gut«, versprach er ihr.

»Nun, ich gratuliere euch, aber wir sollten weiter machen, wenn ihr nicht wollt, dass Sophie noch länger in der Starre verweilen muss«, ertönte plötzlich Lenayas Stimme.

»Entschuldige«, sagte Luc sofort und räusperte sich. »Also, warum hat der Name von Sophies Vater dich derart aus der Fassung gebracht?«

»Dazu muss ich vorher etwas erklären«, sagte die Vampirin. »Vor einigen Monaten ist es uns gelungen, Virtus zu infiltrieren.«

»Was? Wie ist das möglich?«, fragte Luc erschrocken.

»Ich kann es dir nicht genauer erklären. Nicht bevor wir uns über die Erweiterung unseres Bündnisses einig sind. Aber sei dir sicher, es ist uns gelungen. Wir haben einige Informationen zusammentragen können. Ein Name tauchte während der Infiltrierung immer wieder auf. Malik. Weitere Nachforschungen an anderen Stellen brachten diesen Namen ebenfalls zu Tage.«

»Und weiter?« Sophie war froh, als Luc diese Frage stellte. Sie war zu schockiert, um etwas zu sagen.

»Nun, Malik ist nicht irgendein Mitarbeiter von Virtus. Er ist ein verdammt hohes Tier, wenn nicht sogar der Kopf hinter der ganzen Sache. Wir haben nicht all zu viele Informationen über ihn finden können. Nur eines ist sicher. Malik ist in unterschiedlichen Dörfern aufgetaucht. Immer augenscheinlich schwer verletzt. Die Heilerin die sich um ihn gekümmert hat, sofern sie ledig war, war später die Frau, die er geheiratet hat. Manchmal auch eine andere Frau aus dem entsprechenden Dorf. Er bekam ein oder zwei Kinder mit ihr, manchmal auch ein drittes. Dann verschwand er. Einige Jahre später, begannen Kinder aus dem Dorf zu verschwinden. Mehr als nur eines. Aber immer die Kinder, die seine Nachkommen waren.«

Sophies Herz raste. Sie hatte bereits vermutet, dass es keine Liebe gewesen war, die zu ihrer Zeugung geführt hatte. Doch ... Sie schluckte und sah Lenaya an. »Mehrere Dörfer?«

Die Vampirin nickte. »Ja, mehrere Dörfer. Von dem was wir wissen, hast du über vierzig Geschwister. Und ihre Zahl wächst von Jahr zu Jahr.«

Ein Keuchen entfuhr Sophie. Vierzig Geschwister? Kaum auszumalen, was dies bedeutete. Wie viel Dörfer hatte Malik auf diese Weise aufgesucht? »Wie viele davon sind verschwunden?«, fragte sie düster.

»Alle. Bis auf dich. Zumindest ist dies unser aktueller Wissensstand. Wie viele von ihnen die Experimente überlebt haben, weiß ich ebenfalls nicht. Sicher sind wir nur bei deiner Schwester und einem deiner Brüder.«

»Ich habe einen Bruder?« Sophies Kopf schwirrte. Sie besaß einen Bruder? Und er lebte. War er genau wie Bea?

»Wir kennen nur seine ExU-Nummer. Sein Name wurde in keiner der Aufzeichnungen erwähnt. Und hier wird es wirklich interessant. Seine Nummer lautet ExU 001.«

»Der erste«, flüsterte Sophie tonlos. Sie konnte es nicht fassen.

»Dies ist noch nicht alles. Wir konnten nie feststellen, aus welchem Dorf er stammt. Es gibt so gut wie keine Unterlagen über ihn. Über seine Herkunft konnten wir gar nichts finden. Lediglich die Information, dass er immer an Maliks Seite verweilt, sofern dieser nicht in einem der Dörfer verweilt. Wir konnten nicht ergründen, ob Malik oder ExU 001 das Sagen hat.«

Sophie runzelte die Stirn. »Also, ExM bedeutet Exemplar Mensch. Warum hat er dann eine ExU Nummer? Stand dies nicht für Exemplar unbekannt?«

»Das ist uns auch aufgefallen. Wir wissen es nicht. Es gibt zu viele Punkte, die wir noch nicht wissen und die wir einfach nicht herausfinden können.«

Luc nickte und starrte gedankenverloren vor sich hin. Er schien die Informationen auf seine ganz eigene Weise zu verarbeiten. »Das ist natürlich ein Problem. Aber was, wenn ExU 001 gar kein Abkömmling von Malik ist.«

»Was meist du?«

»Beatrice hat Sophie über ihr Blut infiziert. Was, wenn es bei Malik und ExU 001 ähnlich ist.«

»Du meinst, ExU 001 wurde von Malik infiziert?«, fragte Lenaya.

»Mein Gedanke ging eher in die andere Richtung. Was, wenn ExU 001 der erste ist, weil er der Ursprung überhaupt ist?«

Die Vampirin sah ihn nachdenklich an. »Ein Punkt, den man bedenken sollte«, stimmte sie zu. Dann seufzte sie. »Wie dem auch sei. Ich denke, ich brauche keine weiteren Fragen, um mich zu vergewissern, dass Sophie wirklich sie selbst ist. Was nicht bedeutet, dass ich nicht noch einige Fragen haben werde. Es ist an der Zeit, deine Starre zu lösen.«

 

Neuorientierung

 

Als die Vampirin angefangen hatte, ihre Nerven wieder vollständig zu aktivieren, hatte Sophie sich fest vorgenommen, als erstes Luc zu umarmen. Nun starrte sie fasziniert auf ihre Finger und betrachtete sie, wie sie sich bewegten. Nach Tagen, in denen ihr dies nicht möglich gewesen war, kam es ihr vor wie ein wunder.

Nun fehlte nur noch ihr rechter Arm. Dies war der Arm, wo Beatrice ihr die Spritze gesetzt hatte. Sie konnte sich dunkel daran erinnern, wie Lenaya etwas von Schmerzen gesagt hatte. Vielleicht wäre es besser, den Arm bewegungslos zu lassen? Doch dies würde eine unglaubliche Einschränkung bedeuten.

»Bereit?«, fragte Lenaya. Sophie nickte und biss die Zähne zusammen. Sie war auf alles vorbereitet. Irgendwie würde sie es schon schaffen.

Die Vampirin streckte die Hand aus und drückte einen Punkt an ihrem Oberarm. Dann grub die den Fingernagel der anderen Hand in ihr Handgelenk. Es dauerte ein paar Sekunden, als aus dem Druck ein unangenehmes Ziehen wurde. Und plötzlich fuhr ein Feuer durch ihren Arm. Es begann an der Injektionsstelle und schlängelte in unsäglicher Geschwindigkeit bis in ihre Fingerspitzen.

Sophie stöhnte auf und biss die Zähne zusammen, um nicht schreien zu müssen. Unwillkürlich ballte sich ihre rechte Hand zur Faust, was den Schmerz jedoch nicht entgegenwirkte.

Luc keuchte auf. »Das Mal!«, rief er. »Es breitet sich wieder aus. Du musst den Arm wieder stilllegen, Lenaya!«

»Ruhig«, sagte die Vampirin emotionslos und beobachtete den Arm.

Nun richtete auch Sophie ihren Blick darauf. Schwarze Adern überspannten die Haut und an einigen Stellen konnte sie die rindenartigen Schuppen entdecken, die ihr bereits bei Toma aufgefallen waren.

Panik ergriff sie und ihr Atem beschleunigte sich. Je konfuser ihre Gefühle wurden, desto mehr nahm die Verfärbung auf ihrem Arm zu. Mit zusammengebissenen Zähnen schloss sie die Augen und begann zu zählen. Mit jeder Zahl versuche sie sich etwas positives vor Augen zu führen.

Eins. Luc und ihre Seelenbindung.

Zwei. Jalina, ihre erste richtige Freundin.

Drei. Gaian, dem es gelang sie immer zum Lachen zu bringen.

Vier. Elara, die ihr immer geduldig zur Seite stand, wenn sie Fragen hatte.

Fünf. Bando und wie sie ihm hatte helfen können.

Sechs. Die Infektion hatte sie nicht so verändert, wie ihre Schwester.

Sieben. Sie hatte Werwölfe und Vampire an ihrer Seite, die ihr helfen wollten.

Acht. Das Rudel hatte sie aufgenommen.

Neun. Sie lernte immer mehr dazu und hatte bisher jede Hürde nehmen können.

Zehn. Sie fühlte sich immer noch wie sie selbst und nicht wie ein Monster.

Sie atmete ein weiteres Mal tief durch und wartete. Sophie fühlte sich nun ruhiger. Langsam öffnete sie die Augen. Luc und Lenaya starrten sie verblüfft an.

Ein Blick auf ihren Arm und sie kannte die Ursache. Die Verfärbung war vollends zurückgegangen. Der Schmerz jedoch war noch da, doch nun war sie darauf eingestellt.

Unsicher blickte sie wieder zu Luc, der sie anlächelte. »Geht es wieder?«, erkundigte er sich. Sophie nickte benommen. Dann folgte sie einem Impuls, stand auf und schmiegte sich an ihn. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Brust und schloss die Augen.

»Wirklich erstaunlich«, bemerkte Lenaya.

Sie spürte Lucs Nicken nur deshalb, weil er sein Gesicht in ihrem Haar vergraben hatte. Sie rückte noch ein wenig näher an ihn heran und atmete tief ein. Sie liebte seinen Geruch. Es war, als würde er jede Facette des Waldes in sich tragen. Und nun nahm sie ihn noch intensiver wahr, als vorher schon.

Nach einer Weile seufzte sie. »Das wird ein hartes Stück Arbeit«, murmelte sie.

»Was meinst du?«, fragte Luc.

»Das in den Griff zu bekommen. Ich habe es schon bemerkt, während ich mich nicht bewegen konnte. Je ruhiger ich bin, desto weniger spüre ich ... das schwarze Zeug. Sobald ich in Panik geraten bin, habe ich bemerkt, wie es sich durch meine Adern fressen wollte.« Sie trat mit gesenktem Blick von Luc zurück. »Entschuldige, ich weiß, dies ist keine Erklärung, die Sinn ergibt.«

»Doch, durchaus«, erwiderte Lenaya und musterte sie nachdenklich. »Du bist also in der Lage, den Grad - oder nennen wir es in diesem Stadium mal das Voranschreiten der Infektion - zu bemerken und einzuschätzen. Erlaube mir eine weitere Frage: Wie hast du sie zurückgedrängt?«

Sophie lächelte unangenehm berührt. »Ich habe bis zehn gezählt und mir mit jeder Zahl etwas vor Augen gerufen, was ich in meinem Leben als Positiv empfinde.« Als Lucs Kopf in die Höhe schnellte, verbreiterte ihr Lächeln sich noch ein wenig. »Keine Sorge, du warst auf Platz eins.«

Die Art, wie er ihren Blick erwiderte, sagte ihr mehr, als jedes Wort es gekonnte hätte. Luc wandte sich indes an die Vampirin. »Wie war es denn bei Riaan?«

»Anders. Er spricht nicht besonders viel darüber.«

Sophie erinnerte sich, dass der Name bereits schon einmal gefallen war. »Er ist dein Bruder, oder?«, fragte sie. Lenaya nickte nur. »Und er wurde auch infiziert?«

»Vor ein paar Monaten, als er auf einem Erkundungsgang war. Der Rest der Gruppe ...« Die Vampirin stockte und senkte den Blick.

»Das tut mir Leid«, flüsterte Sophie ehrlich betroffen.

»Es lässt sich nicht ändern.« Lenayas Stimme klang vollkommen unberührt. »Es war ein schwerer Schlag, doch wir haben danach unsere Forschungen intensiviert. Und schließlich ist es uns ja sogar gelungen, Virtus zu infiltrieren.«

»Ob ich wohl mal mit ihm reden könnte?«, fragte Sophie nachdenklich. Die Frage war mehr an sie selbst gestellt, als an die Anwesenden im Raum.

Lenaya jedoch schien zu glauben, sie hätte eine Frage an sie gerichtet. »Warum nicht. Ich denke, die heutige Nacht solltest du nutzen, um dich ein wenig Frisch zu machen. Ich werde dir etwas zu Essen bringen lassen. Ich werde Riaan sagen, dass du ihn gerne sprechen würdest.«

Sophie nickte sprachlos und sah dabei zu, wie die Vampirin den Raum verließ. Derart viel Entgegenkommen hätte sie von Lenaya gar nicht erwartet.

 

Lagebesprechung

Sophie folgte Lenayas Rat und nutzte die Zeit, um sich erst einmal ihren eigenen Bedürfnissen zu widmen. Nach einem ausgiebigen Bad, welches dank der ätherischen Öle, die Lenaya hinzufügte einfach himmlisch duftete, fühlte sie sich schon wesentlich besser.

Luc hatte sich gemeinsam mit der Vampirin zurückgezogen, tauchte jedoch auf, sobald sie das Badezimmer in frischer Kleidung verließ. Jetzt endlich, wo sie alleine waren, konnte Sophie den Fragen stellen, die sie im Beisein von Lenaya und aufgrund der vielen neuen Ereignisse noch nicht gestellt hatte.

»Wie geht es den anderen? Ist jemand verletzt worden?« Ein wenig Angst vor der Antwort hatte sie schon, doch sie musste wissen, wie es dem Rudel ging.

»Es geht allen soweit gut. Sandan wurde am Auge verletzt, doch die Vampire waren so freundlich und haben es medizinisch versorgt.« Die Art, wie Luc zögerte und ihren Blick auswich, während er antwortete, verriet Sophie, dass dies nicht alles war.

»Was noch?« Wieder dieses Zögern. Sophie fragte sich, was wohl wirklich geschehen war, als sie auf ihre Schwester getroffen war.

Endlich holte Luc tief Luft. Er hat das Auge verloren. Die Schädigungen waren einfach zu stark.«

Sophie senkte den Blick. »Wird es ihn sehr einschränken?« Sie wusste, Menschen konnten sich an derlei Dinge gewöhnen, doch wie war es für Wölfe? Hinderte es ihn so sehr bei der Ausübung seiner Pflichten, dass er sie nicht weiterhin erfüllen konnte?

Luc lächelte gerührt, offensichtlich aufgrund ihrer Sorge um das Rudel. »Er ist schon wieder wohlauf und es ist ihm noch nie schwer gefallen, sich auf neue Dinge einzustellen. IM Grunde genommen haben sich alle viel mehr Sorgen um dich gemacht. Gaian fragt alle fünf Minuten nach dir. Lenaya wollte außer mir niemanden zu dir lassen, ehe wir nicht sicher wussten, was mit dir los ist. Er tollt herum wie ein Welpe, seit er weiß, dass du okay bist.«

Nun war Sophie es, die gerührt lächelte. Sie hatte Gaian von Anfang an gemocht. Er war wie ein kleiner Bruder für sie. Sophie vermutete, auch der Jüngling betrachtete sie als große Schwester. Dies war einer der Gründe, wieso Luc es zuließ, wenn sie Zeit miteinander verbrachten. Bei den anderen männlichen Wölfen sah er dies nicht derart gelassen. Besondern bei den ungebundenen. Sie waren in seinen Augen Konkurrenten.

»Wie wird es weiter gehen?«, fragte sie. Als Luc sie fragend ansah, versuchte sie ihren Gedanken zu präzisieren. »Du bist schon viel zu lange vom Rudel fort. Du musst bald zurück.«

»Wir müssen bald zurück. Warum sagst du du? Willst du nicht mehr bei uns leben?«

»Was? Nein, das ist so nicht gemeint.« Jetzt erst realisierte Sophie, wie ihre Aussage gewirkt haben musste. »Ihr seid mein Zuhause. Ich dachte nur ...« Sie zögerte. Im Augenblick war sie sich selbst nicht sicher, was sie dachte.

»Ich habe noch einige Dinge mit Lenaya zu besprechen«, erklärte Luc. Sophie sah ihn abwartend an. Er zögerte sichtlich, ehe er zu einer Antwort ansetzte. »Sie hat für ihre Hilfe Bedingungen gestellt.«

»Was für Bedingungen?«, fragte Sophie angespannt.

»Sie möchte einen intensiveren Informationsaustausch. Um dies zu gewährleisten, verlang sie, dass wir zwei von ihren Leuten in unsere Dorfgemeinschaft aufnehmen. Außerdem sollen ein oder zwei Mitglieder des Rudels fortan hier leben.«

Sophie ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Es klang gar nicht so unvernünftig in ihren Ohren. Dann wurde ihr klar, wie wenig sie über das Verhältnis der Werwölfe zu den Vampiren wusste. Sie sah Luc in die Augen. »Was hältst du davon?«

»Ich bin mir nicht sicher. Die Idee an sich ist nicht schlecht. Doch ich bezweifele, dass jeder im Rudel dies so sehen wird.«

»Du denkst an Marlon«, vermutete Sophie.

»Auch. Aber nicht nur. Ich denke eher daran, dass ich ihm damit in die Hände spielen könnte.«

»Und das wäre nicht so gut. Mir ist nie aufgefallen, dass es noch andere gibt, die mit deiner Position nicht einverstanden sind.«

»Sie zeigen es nicht derart offen wir Marlon. Aber es gibt sie und ich bin mir darüber bewusst. Ihr Dominanzlevel liegt weit unter meinem, deswegen sagen sie nichts und halten sich zurück.«

»Aber sie gehören eher zu Marlons Fürsprechern?«

Luc nickte ernst. Seine Gedanken schienen weiter zu wandern. »Auf der anderen Seite habe ich einen Grund gehabt, vor gut einem Jahr an Lenaya heranzutreten.«

»Wie meinst du das?«

»Bis vor einem Jahr hatten wir lediglich einen Friedensvertrag mit ihnen. Selbst das wäre zu viel gesagt. Nennen wir es besser einen Nicht Angriffs Packt. Als Virtus immer dreister wurde, war es an der Zeit diesen zu erweitern.«

Ein Bild erschien in Sophies Kopf. Das Rudel auf der Beerenlichtung, wie es in Richtung des Vampirgebietes davonlief. Hatten sie sich damals nicht schon darüber gewundert? Sophie atmete tief durch. »Wenn du meine Meinung hören möchtest, ich finde die Idee gut. Es kann nur förderlich für euer Bündnis sein. Und so hat jede Partei jemanden bei den anderen, dem er bedingungslos vertrauen kann. Wenn man sich gegenseitig Zusichert, dass den Besuchern niemals der Zutritt zu strategischen und neu entdeckten Informationen verwehrt wird, fördert dies euer Vertrauen zueinander.« Sophie machte eine kurze Pause. »Außerdem hat sie ihr Versprechen gehalten. Lenaya meine ich. Sie hat mir geholfen, ohne dass du ihr irgendwas zugesichert hättest. Du hast ihr dein Wort nicht gegeben, was bedeutet du kannst immer noch ablehnen, obwohl sie uns geholfen hat. Und ich bin mir sicher, sie weiß das auch.«

Lucs Miene war nachdenklich geworden. Dann nickte er plötzlich. »Du hast recht. Sie haben uns geholfen, obwohl sie es nicht hätten tun müssen. Das mindeste was ich tun kann ist, ihr entgegenzukommen.«

Sophie lächelte ihm zu und nickte zufrieden. Wenigstens war es ihr gelungen gemeinsam mit Luc ein Problem in den Griff zu bekommen.

Der Bruder der Vampirkönigin

Am nächstem Tag wartete Sophie gemeinsam mit Luc auf Lenaya. Die Annahme Vampire seien nur nachtaktiv, hatte sich schnell als falsch herausgestellt. Sie vertrugen kein Sonnenlicht, weshalb sie ihre Aktivität vorwiegend auf die Nacht verlegten, doch sie besaßen lichtabweisende Schutzanzüge, mit denen sie sich auch tagsüber draußen aufhalten konnten.

Als Luc ihr dies erklärt hatte, war ihr wieder einmal bewusst geworden, wie wenig sie in Lovlin über die Welt wie sie wirklich war, gelernt hatte. Kurz nach ihrem Kennenlernen hatte Luc einmal angedeutet, Virtus würde die Bewohner der Dörfer absichtlich in dieser Ahnungslosigkeit belassen, damit sie nicht zu viele unangenehme Fragen stellten. Sophie war damals schon geneigt gewesen, dies zu glauben. Inzwischen war sie sich sicher, dass es der Wahrheit entsprach.

Doch was wusste sie überhaupt über die Vampire? Nicht sonderlich viel. Lenaya schien das Sagen zu haben, doch warum dies so war, wusste sie nicht. Vampire schienen sich einem Matriarchat unterzuordnen. Bei den Wölfen war es genau umgekehrt. Gedankenverloren betrachtete sie Luc. Ob es bei den Vampiren ebenfalls um Dominanz ging?

Lucs Lippen formten sich zu einem kleinen Lächeln, als er ihren Blick bemerkte. »Was ist los? Worüber denkst du nach?«

»Kannst du es nicht hören?«, neckte sie ihn.

»Nein. Selbst wenn unsere Bindung vollkommen ausgebildet wäre, würde ich es nicht hören können, außer du möchtest es. Also, was treibt dich um?«

»Ich denke über Lenaya und ihre Position nach. Sie ist doch die Anführerin der Vampire, oder?«

Luc nickte und seufzte dann. »Sie ist sogar ihre Königin. Vampire haben weibliche Herrscherinnen. Immer.«

»Warum?«

»Weil nur die Frauen bei ihnen die Gabe der Gedankenkontrolle besitzen.«

»Moment mal. Gedankenkontrolle?«, fragte Sophie erstaunt.

Luc nickte erneut mit ernstem Blick. »Vampire können die Gedanken eines Opfers, dessen Blut sie gekostet haben, kontrollieren. Es ist ihnen möglich den eigenen Willen und die Persönlichkeit eines Menschen vollkommen zu untergraben.«

Sophie starrte ihn fassungslos an. Sie hatte nicht geglaubt, dass es solche dinge wirklich gab. Sie fand die Rudelbindung der Wölfe schon faszinierend. Die Gabe über die Gedankenverbindung kommunizieren zu können war nützlich und hatte Sophie überrascht, als sie zum ersten Mal davon gehört hatte. Doch diese Gabe schadete niemanden. Doch die Vampire ...

»Wenn sie einen Menschen derart beeinflussen können, heißt das, sie haben es auf diese Weise geschafft, Virtus zu infiltrieren?«, fragte sie an Luc gewandt. Hatten sie tatsächlich einen Menschen seines Willens beraubt? Zugegeben, dies war nichts im Vergleich zu dem, was Virtus den Menschen antat. Und doch ...

»Ist gut möglich«, antwortete Luc. »Sogar wahrscheinlich. Lenaya wollte noch nichts verraten, was ich verstehen kann. Wenn unser Bündnis erst mal fix ist, kann sie es sich nicht mehr leisten, derlei Dinge weiterhin zu verheimlichen. Wir müssen dann alle mit offenen Karten spielen.«

»Es wird schon gut gehen.« Sophie griff nach Lucs Hand und drücke sie leicht. Er beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen aber sanften Kuss auf die Lippen.

Die Tür öffnete sich und Lenaya trat ein. Hinter ihr folgte ein weiterer Vampire. Er sah der Vampirin unglaublich ähnlich. Dasselbe schneeweiße Haar und die etwas gröbere Version von Lenayas fein geschnittenen, wunderschönen Gesichtszügen. Es war sofort ersichtlich, dass sie Bruder und Schwester waren.

Und doch ... Sophie mochte Lenaya, andernfalls hätte sie Luc niemals dazu geraten, sich auf ihre Bitte einzulassen. Ihr Bruder allerdings rief sofort Abneigung in ihr hervor. Sie konnte sich nicht erklären, warum dies so war, aber in dem Moment, in dem sie ihren Blick auf ihn richtete, schrie alles in ihr danach Reißaus zu nehmen. Ihre Instinkte schlugen Alarm. Sie wusste unweigerlich, dass sie in einem Kampf gegen ihn unterliegen würde.

Obwohl es schwer war einen bestimmten Ausdruck in den schwarzroten Augen der Vampire auszumachen, fiel ihr der Unterschied, jetzt wo Lenaya und ihr Bruder nebeneinander standen sofort auf. Während der Blick der Vampirkönigin zwar distanziert jedoch nicht unfreundlich wirkte, waren die Augen ihres Bruders eiskalt und berechnend.

Sophie, die immer noch Lucs Hand hielt, klammerte sich an diese und verharrte in angespannter Bewegungslosigkeit. Luc erwiderte den Druck kurz und erhob sich dann.

»Lenaya. Riaan«, sagte er und nickte den beiden zu. Sophie war immer noch nicht in der Lage, sich zu bewegen.

Die Vampirin lächelte. »Wie sich herausstellte, war mein Bruder mehr als geneigt, die Gefährtin den Alphas zu treffen. Sie ist die erste, außer ihm selbst, der es gelingt, eine gewisse Kontrolle über die Infektion zu haben.« Luc starrte sie angespannt an. »Wir glauben, es ist möglich, dass wir Sophie beibringen können, es vollends zu kontrollieren und für ihre Zwecke zu nutzen.«

»Das geht?«, fragte Sophie erstaunt.

Riaan nickte, sagte jedoch nichts. Stattdessen hob er die linke Hand und sein Gesichtsausdruck wurde noch ein wenig kälter.

Angespannt beobachtete Sophie, wie die Hand eine dunkle Färbung annahm, ähnlich, wie bei ihrem Arm zuvor. Dann wurden die Finger plötzlich länger, verformten sich, bis er anstelle der Finger fünf lange Tentakeln am Ende seiner Hand besaß.

Sophie schluckte. Sie war sich gar nicht sicher, ob sie so etwas überhaupt können wollte. Es sah nicht nur unheimlich aus, sie hätte viel zu viel Angst, dass diese Deformierung sich nicht mehr zurücknehmen ließe.

Als hätte Riaan ihre Gedanken gehört, verkürzten sich die Tentakel bis an ihrer statt wieder Finger erschienen. »Wenn man weiß wie, ist es einfach zu beherrschen«, erklärte er mit einer Stimme, die an sich samtweich hätte klingen können, wäre da nicht der arrogante Unterton gewesen. Oder bildete Sophie ihn sich vielleicht nur ein, weil ihr Instinkt ihr dazu riet ihn nicht zu mögen?

»Und wie geht so etwas?«, fragte Luc, als er bemerkte, dass Sophie nicht fähig war, zu reagieren.

»Nun, ihr werdet genug Zeit haben, es ihr auseinanderzusetzen«, sagte Lenaya nun. »Du hast mir gestern mitgeteilt, dass du dich mit dem Erweitern des Bündnisses einverstanden erklärst. Meine Entscheidung ist auf Riaan gefallen, der euch begleiten wird. Wen ihn begleitet, habe ich noch nicht entschieden.«

Sophie sackte in sich zusammen. Dies war der Vampir, der von nun an in ihren Dorf leben sollte? Hoffentlich gelang es ihr schnellstmöglich ihre Abneigung gegen ihn abzulegen.

Verhandlungen über die Rückreise

 

»Wir haben uns weitere Gedanken gemacht«, erklärte Lenaya ruhig. Riaans Blick war weiterhin unablässig auf Sophie gerichtet. Sie war bemüht, es zu ignorieren, doch so einfach wie sie sich dies vorgestellt hatte, war es gar nicht.

Sie fokussierte sich auf Lenaya und wartete gespannt darauf, bis sie fortfuhr. Die Vampirin sah Luc eindringlich an. Ein klares Zeichen dafür, dass ihm nicht gefallen würde, was sie als nächstes sagen wollte. Sophie bereitete sich innerlich bereits darauf vor, Luc zu beruhigen.

»Es wird Zeit, dass du und dein Rudel zurückkehrt, Luc. Du wirst sicherlich gebraucht und zudem brauchst du Zeit, um dein Rudel auf die Neuerungen einzustimmen. Auch was Sophie angeht.«

Lucs Augen verengten sich. »Was willst du damit sagen, Lenaya. Sag es einfach gerade heraus und hör auch um die Sache herumzureden.«

Lenaya lächelte ihn unbeeindruckt an. »Mein Vorschlag wäre, du und dein Rudel kehrt zurück in euer Dorf. Sophie bleibt noch einige Tage hier, in denen wir versuchen herauszufinden, in wie weit sie ihre Infektion wirklich unter Kontrolle hat. Mein Bruder ist ihr Kräftemäßig überlegen, so ist die Gefahr von Verletzten relativ gering.«

»Auf keinen Fall!«, warf Luc sofort ein.

Sophie hätte ihm am liebsten beigepflichtet, doch sie erkannte auch den Sinn hinter dem Vorschlag der Vampirin. Und aus diesem Grund schob sie ihre Abneigung gegen Riaan zurück und griff nach Lucs Hand. Er wandte seinen Kopf zu ihr um und starrte sie an. Sie erwiderte den Blick ruhig und sandte ein stummes Flehen aus.

Schließlich nickte er resignierend. »Wie lange?«, fragte er an die Vampirin gewandt.

»Ein paar Tage. Maximal eine Woche. Dies gibt dir genug Zeit, um dein Rudel darauf einzustellen, welche Neuerungen es geben wird. Und Sophie hat ein wenig Zeit zu lernen, ihre Gefühle vollkommen zu beherrschen.«

Unwillkürlich klammerte Sophie sich an Lucs Hand. Sie wusste, wie albern dies war, da sie selbst ihn dazu angehalten hatte. Doch seit Monaten war er immer an ihrer Seite gewesen. Und wenn nicht er, dann einer der anderen Wölfe. Es wäre nun das erste Mal, dass sie ohne die Wölfe zurückblieb. Und dann auch noch unter Vampiren.

Viele von ihnen kannte sie noch nicht. Lenaya und ihren Bruder. Das war es auch schon. Wie die anderen Vampire wohl waren? Sie schluckte und sah Luc an. »Wann wirst du aufbrechen?«

»Noch heute«, antwortete die Vampirkönigin an seiner statt. »Es gibt keinen Grund noch länger zu zögern. Wir haben alles besprochen, die Verletzungen sind versorgt worden. Nun ist es an der Zeit, die Dinge voranzutreiben.«

Luc nickte. »Du hast recht, Lenaya.« Er sah ihr ernst in die Augen. »Aber merke dir, wenn Sophie in spätestens zehn Tagen nicht wieder beim Rudel ist, werden wir kommen, um sie zu suchen.«

»Dies ist dein gutes Recht«, stimmte die angesprochene zu.

Sophie bemerkte, wie Luc sich ein wenig entspannte. Anscheinend sah etwas in dem Blick der Vampirkönigin, was ihn beruhigte. Als Sophie die Frau ebenfalls ansah, versuchte sie zu ergründen, was er dort sah.

Schlagartig wurde es ihr klar. Es war die Ruhe, die Lenaya ausstrahlte. Sie schien vollkommen mit sich und ihren Worten in Einklang. Und dies war es, was Luc seine eigenen Zweifel beiseite schieben ließ.

»In diesem Fall bleibt mir wohl nichts anderes, als dir für deine Gastfreundschaft und Hilfe zu danken, Lenaya. Ich werde mein Rudel davon unterrichten und wir brechen so bald wie möglich auf.«

Lenaya nickte, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Ihr Bruder folgte ihr.

Sophie sah ihnen mit offenem Mund hinterher. Eigentlich hatte sie so viele Fragen gehabt. Doch sie hatte nicht eine davon gestellt. Sie würde die nächsten Tage nutzen und versuchen zu ergründen, wie es Riaan gelungen war, die Infektion vollständig unter Kontrolle zu bekommen.

Seufzend fuhr sie zu Luc herum. »Es wird seltsam sein, wenn du nicht bei mir bist«, gestand sie.

Luc lächelte, beugte sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Es wird schon gut gehen. Ich vertraue Lenaya. Sie ist jemand, der sein Wort hält.«

Sophie nickte und zögerte kurz. »Und was hältst du von Riaan?«

»Ich denke, wichtiger ist die Frage, was du von ihm hältst. Ansonsten würdest du mich nicht nach meiner Meinung fragen«, konterte Luc grinsend.

Sie zog eine Grimasse. »Ich weiß nicht«, gestand sie schließlich. »Er ist mir unheimlich. Irgendwas an ihm ist eindeutig anders. Und das macht mir Angst. Ist es die Infektion oder ist er einfach generell so? Und wenn nicht, kann es sein, dass ich auch irgendwann so werde?«

»Oh je. Das ist ja eine ganze Menge, was dir da durch den Kopf geht.« Luc trat auf sie zu und zog sie in seine Arme.

»Ich weiß. Irgendwie schaffe ich es nicht, meine Gedanken zum Stoppen zu bringen. Sie rennen immerzu im Kreis.«

»Zu viel, was wäre wenn.« Luc zog sie noch näher an sich. »Es wird schon alles gut werden, Sophie. Du bist nicht alleine damit. Das darfst du nicht vergessen.«

»Ich weiß«, flüsterte sie. Sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen. Es tat gut, ihn bei sich zu haben. Wie sollte sie die nächsten Tage ohne ihn nur überstehen?

Sie blieben eine Weile Arm und Arm stehen, ehe Luc sich von ihr löste. »Komm, dann kannst du dich noch vom Rudel verabschieden«, flüsterte er und griff nach ihrer Hand.

Sophie nickte und folgte ihm dann aus dem Raum.

 

Allein unter Vampiren

 

Es war seltsam. Seit Luc fort war, fühlte sie sich anders als erwartet nicht alleine. Sie konnte ihn immer noch spüren. Ihre Gefährtenbindung war selbst wenn er nicht in ihrer Nähe war. Doch es war seltsam ihn nicht in ihrer Nähe zu haben. Ihr Geist fühlte sich weiterhin erfüllt, ihr Körper vermisste seine Anwesenheit.

Lenaya versuchte ihr die Zeit zu vertreiben, indem sie immer wieder Sophies Anwesenheit forderte, doch meistens war Riaan an ihrer Seite. Er sprach selten ein Wort, doch er musterte sie stets aus seinen kalten, schwarzroten Augen. Es war ihr unangenehm und sie wusste einfach nicht mit ihm umzugehen.

Bei dem gemeinsamen Abendessen traf Sophie schließlich auch den anderen Vampir, der sie zu den Wölfen begleiten würde. Noah war ebenfalls nicht sehr gesprächig, doch wesentlich freundlicher als sein Artgenosse. Seine Ausdrucksweise ließ auf ein außerordentliches Maß an Intelligenz schließen, wenn er einmal begann zu sprechen. Warum konnte er nicht derjenige sein, der ihr helfen sollte die Infektion beherrschen zu lernen.

Nach dem Abendessen sollte sie gemeinsam mit Riaan ausprobieren, inwieweit sie die Veränderung bewusst steuern konnte. Sophie graute davor. Was, wenn es außer Kontrolle geriet? Was, wenn sie die Veränderung nicht stoppen konnte und sie für immer blieb? Es gab zu viele Wenns in diesem Szenario. Doch weigern konnte Sophie sich auch nicht. Lenaya würde ohnehin darauf bestehen, somit war diese Option hinfällig. Und genau aus diesem Grund würde sie die Zähne zusammenbeißen und es durchstehen.

Während des Essens schwiegen die Männer beharrlich. Lenaya jedoch schien es zu genießen endlich einmal Gesellschaft zu haben. Sie fragte Sophie nach ihren Gewohnheiten oder wie es gewesen war, in Lovlin zu leben. Als Sophie ihr erklärte, wie rückständig das Dorf war, wirkte Lenaya überrascht. Dies wiederum verwunderte Sophie.

»Ich dachte ihr wisst darüber Bescheid, weil auch die Wölfe es wussten. Als ich Luc begegnete, sagte er etwas davon, wie gezielt man uns in den Dörfern von jeglichen Neuerungen fernhält um unangenehme Fragen zu umgehen«, setzte Sophie zögernd an.

»Es ist uns nicht unbekannt. Doch auf das Ausmaß war ich nicht vorbereitet«, erklärte die Vampirkönigin ruhig. Dann lachte sie plötzlich. »Meine Güte, es muss ein Erlebnis gewesen sein, die moderne Welt zu erkunden. Duschen, Waschmaschinen, sogar etwas einfaches wie elektrisches Licht. Diese Dinge sind dir wirklich vollkommen neu gewesen?«

Sophie dachte an ihren ersten Tag im Dorf der Wölfe und musste lächeln. Ein wenig peinlich war es ihr schon, doch die Begeisterung in Lenayas Augen, bewegte Sophie dazu ihr einige Dinge zu erzählen. »Als ich hinter die Funktion des Lichtschalters gekommen bin, habe ich ihn erst einmal mehrfach an und aus gemacht, um sicher zu sein, dass es wirklich so ist, wie vermutet. Aber die Dusche hat mich noch viel mehr begeistert. Es ist wunderbar. Und die Grotte – gut, die Wölfe nennen sie schlicht Badehaus – aber so etwas wunderbares habe ich zuvor noch nie gesehen.«

»Es hat in jedem Fall einen Eindruck bei dir hinterlassen. Du kommst ja aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.« Lenaya sah die beiden Männer in der Runde an. »Nun, ich bin sicher, ihr werdet euch dort wohl fühlen.«

Riaan starrte seine Schwester nur wortlos an und zuckte schließlich mit den Schultern. Noah jedoch seufzte. »Es ist nicht der Komfort, Beziehungsweise dessen Fehlen, was mir Gedanken macht, meine Liebe. Ich habe mich bereit erklärt, in der Funktion als Botschafter umzusiedeln. Doch Wölfe bleiben nun einmal Wölfe. Ihrer animalischen Natur werden sie nur schwer widerstehen können.«

»Und was ist mit unserer animalischen Natur?«, erkundigte Lenaya sich.

Noah schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Du hast natürlich recht. Auch wir sind unseren Instinkten unterworfen. Doch nehme ich mir die Freiheit heraus, zu behaupten, wir seien kultivierter als die Wölfe.«

Sophie war sich nicht sicher, ob sie sich beleidigt fühlen sollte oder nicht. Sie sah wieder zu Lenaya, die immer noch mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen Noah betrachtete. Anscheinend amüsierte sie das Gespräch. Dies gab den Ausschlag für Sophie die Anmerkung zu ignorieren. Zudem schien Noah selbst seine Worte mehr zur Unterhaltung der Vampirkönigin zu wählen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sie ernst nehmen sollte.

Stattdessen versuchte sie das Thema zu wechseln. »Wie sieht eigentlich euer Tagesablauf aus?«, erkundigte sie sich. »Bei den Wölfen weiß ich es, da ich nun schon einige Zeit bei ihnen lebe. Doch wie ist das bei euch? Geht ihr auch wie die Wölfe jagen? Habt ihr Gemeinschaftsabende?«

Alle drei Vampire im Raum wandten die Köpfe zu ihr um. Noha war so nett und setzte zu einer Antwort an. »Wir gehen auf die Jagd, allerdings sieht es bei uns ein wenig anders aus, als bei den Wölfen. Ich werde das nun nicht vertiefen, da ich dich nicht verschrecken möchte. Und vielleicht könnte man unsere Bälle als Gemeinschaftsabend bezeichnen. Ansonsten sehen unsere Tage recht trist aus. Jeder hat seine Aufgabe in der Gemeinschaft, dies ist wohl etwas, was wir mit den Vampiren gemeinsam haben. Doch sind wir nicht so eng miteinander verbunden, wie das Rudel. Unsere Bindung liegt in der Stärke der Königin, der wir dienen.«

»Also gibt es mehrere?«, fragte Sophie interessiert weiter.

Nun nickte Lenaya. »Durchaus. Es gibt ja auch mehr als ein Wolfsrudel. Aber unser Reich ist mit das stärkste. Die anderen Königinnen haben nicht derart viel Macht. Also unterstehen sie meinem Befehl. So wie auch Luc der mächtigste Alpha unter allen Wölfen ist. Sein Handeln und Tun gibt die Vorlagen für die anderen Rudel. So ist es auch bei uns.«

Sophie dachte kurz darüber nach. Es ergab Sinn, doch die Vorstellung es könnte noch viel mehr Vampire geben, die womöglich so waren, wie Riaan gruselte sie. Sie versuchte das Gefühl zurückzudrängen, indem sie lächelte.

Lenaya legte ihr Besteck beiseite und klatschte in die Hände. »Nun, ich würde sagen, es ist an der Zeit das Essen zu beenden. Sophie, du wirst mit Riaan gehen. Ich bin gespannt auf euren Bericht.«

Die Königin der Vampire erhob sich und verließ den Raum. Sophie starrte ihr wortlos hinterher, dann ließ sie ihren Blick unsicher zu den männlichen Vampiren im Raum wandern.

Beherrsche dich!

 

Nachdem das Essen beendet war, folgte Sophie dem Bruder der Vampirkönigin aus dem Speisesaal. Sie befiel ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung mit Riaan alleine sein zu müssen. Was hatte er vor? Wie wollte er beibringen, die Veränderung bewusst zu steuern? War dies überhaupt möglich?

Bisher war es ihr gelungen, ihre Gefühle - und damit die Infektion - gut unter Kontrolle zu behalten. Doch Luc war auch stets an ihrer Seite gewesen. Nun war er fort und konnte sie nicht mehr durch seine bloße Anwesenheit unterstützen. Hinzu kam ihre Abneigung gegen Riaan. Es fiel ihr schwer, diese abzulegen, da sie nicht wusste, woher sie rührte. Einzig ihre Angst davor womöglich jemanden zu verletzen, der ihr viel bedeutete, veranlasste sie dazu, Riaan zu folgen und sich dem entgegenzustellen, was auch immer er für sie plante.

Er führte sie in einen großen Saal. Aus Noahs Erzählungen wusste sie von den Bällen, die die Vampire gelegentlich abhielten. Aus diesem Grund erkannte Sophie den riesigen Raum als Ballsaal.

Riaan trat in die Mitte des Raumes und sah sie abwartend an. Sophie folgte der stummen Aufforderung und ging zu ihm hinüber. Als sie vor ihm stand, war es an ihr zu warten. Der Vampir tat zunächst nichts. Er starrte sie wortlos an.

Sophie runzelte die Stirn. Was sollte das? Wollte er sie absichtlich nervös machen? Oder diente es lediglich dazu sie zu ärgern?

Wenn sein Ziel war ihren Unmut zu wecken, zeigte sein Verhalten Erfolg. Die stoische Miene ließ ihre Unruhe mit jeder vergangenen Sekunde wachsen. Ein Stich fuhr durch ihren rechten Arm. Sophie kannte die Bedeutung davon bereits. Sie war dabei sich zu verwandeln. Ängstlich schloss sie die Augen und versuchte sich innerlich zur Ruhe zu zwingen. Da es beim letzten Mal schon Wirkung gezeigt hatte, versuchte sie erneut zu zählen, doch die Tatsache, dass sie immer noch Riaans Nähe spüren konnte, war nicht hilfreich.

Angespannt ballte sie die Hand zur Faust. Sie fühlte sich fremd an. Vermutlich war ihr Arm inzwischen komplett dunkel verfärbt.

Plötzlich traf sie etwas hart am Hinterkopf. »Beherrsche dich!«, ertönte Riaans Stimme gleich darauf.

Ein Knurren stieg in Sophies Kehle hoch. Sie Fixierte ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Es ärgerte sie maßlos, dass er unverfroren genug war, zu lächeln.

Ehe sie etwas sagen konnte, was sicherlich nicht schmeichelhaft war, schlug er sie erneut mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf. »Beherrsche dich!«, wies er sie erneut an.

»Lass das!«, fauchte Sophie im selben Augenblick.

Er packte ihr rechtes Handgelenk und quetsche es. Durch den Schmerz war Sophie dazu gezwungen nach unten zu sehen. Ihr Arm war bis in die Fingerspitzen verfärbt. Sie war sich nicht sicher, doch ihre Finger wirkten länger als zuvor. Augenblicklich kam ihr das Bild ihrer Schwester in den Sinn. Sie wollte jedoch nicht, dass ihre Finger sich in Tentakeln verwandelten.

Riaans Finger schlossen sich fester um ihr Handgelenk. Unwillkürlich fletschte Sophie die Zähne und knurrte ihn an. Verwundert über ihr eigenes Verhalten schnappte sie nach Luft. Ob dies die Wolfsgene in ihr waren?

Sie schluckte und befreite sich dann mit einem Ruck aus dem Griff. »Lass das!«, fuhr sie ihn erneut an und trat einen Schritt zurück.

»Willst du die Sache unter Kontrolle bekommen? Dann lern gefälligst, all deine negativen Emotionen zu ignorieren!«, bemerkte Riaan ungerührt.

»Ach, als ob das so einfach wäre«, bemerkte sie trocken.

»Lerne es. Beherrsche deine Gefühle und lasse dich nicht von deinen Gefühlen beherrschen.«

»Und wie soll ich das machen?«

»Hör auf zu fühlen!«

Sophie starrte Riaan ungläubig an. Aufhören zu fühlen? Wie sollte das denn funktionieren? Nun, der Vampir schien es recht gut hinzubekommen, doch ... War es vielleicht genau das der Grund, wieso sie eine solche Abneigung gegen ihn hegte. Hatte sie unbewusst seine Emotionslosigkeit gespürt? Spielte es überhaupt eine Rolle. Sie wollte kein gefühlskaltes Monster werden. Beatrice, ihre Schwester, war so. Und Riaan anscheinend ebenso. Wieso er weiterhin bei den Vampiren war, konnte sie sich nicht erklären. Es schien nicht an dem Gefühl der Familienzusammengehörigkeit zu liegen.

Sie schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Mit jedem Atemzug rief sie sich das Bild von Luc vor Augen und fokussierte sich darauf. Plötzlich konnte sie das Licht ihrer Gefährtenbindung klar sehen. Und dies brachte sie dazu, auch Luc deutlich zu spüren. Er schien sie zu bemerken, denn Sophie spürte, wie er seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf ihre Verbindung legte.

Und mit einem Mal konnte sie seine Stimme wahrnehmen, wie sie ihr ruhig und ein wenig belustigt zuflüsterte, sie sollte ruhig bleiben. Sophie konzentrierte sich darauf und spürte, wie es ihr wirklich gelang etwas zu entspannen.

Zwei weitere Atemzüge fühlte sie sich endlich wieder, wie sie selbst. Langsam öffnete sie die Augen und richtete den Blick auf ihre Hand. Erleichtert atmete sie auf, als sie feststellte, wie normal sie aussah.

»Das ist nicht richtig«, bemerkte Riaan. »Du willst doch lernen, es für dich zu nutzen, oder nicht? Warum tust du dann nicht, was ich dir sage?«

Sophie hob den Blick und sah ihn lange an. Dann atmete sie ein weiteres mal tief durch und sagte mit gefährlicher Ruhe: »Weil ich kein gefühlloses Monster bin und auch niemals sein werde. Es mag vielleicht für dich funktionieren. Doch für mich ist dieser Weg nicht der richtige.«

»Dann wird die Infektion dich beherrschen und irgendwann gänzlich verschlingen. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als dich zu töten.«

Ein bitteres Lächeln umspielte Sophies Lippen. »Das bleibe abzuwarten, nicht wahr? Noch hab ich mich gut im Griff. Und solange dies so ist, werde ich meinen eigenen Weg gehen.« Ohne auf ein weiteres Wort von Riaan zu warten, drehte Sophie sich um und verließ den Ballsaal mit erhobenen Kopf.

 

Der Weg nach Hause

 

Es dauerte drei Tage, bis Noah und Riaan bereit zur Abreise waren. Sophie war es gelungen dem Vampir weitgehend aus dem Weg zu gehen. Selbst Lenaya hatte nicht noch einmal versucht, sie zu einer gemeinsamen Übungsstunde mit ihrem Bruder zu überreden.

Nun, am Tag der Abreise, stand Sophie vor dem riesigen Eingangsportal des Bergfrieds in dem die Vampire lebten. Erst jetzt stellte sie verwundert fest, wie unauffällig der riesige Gebäudekomplex war. Der größte Teil war in den massiven Stein versengt worden und passte sich perfekt an seine Umgebung an. Sophie wollte sich gar nicht vorstellen, wie viele Jahre es gedauert haben mochte, um einen Komplex dieser Größe in den Berg zu bilden. Selbst mit den technischen Möglichkeiten von denen Sophie nicht einmal einen Bruchteil kannte, würde es eine sehr lange Zeit brauchen. Davon war Sophie fest überzeugt.

Jetzt, wo sie sich das erste Mal seit Tagen draußen befand war Sophie dankbar für die warme Kleidung, die sie von Lenaya erhalten hatte. Kaum zu fassen, wie kalt es hier war. Sicher, der Sommer neigte sich dem Ende zu, doch es sollte nicht derart kalt sein.

Sie richtete den Blick auf Lenaya und lächelte. Trotz ihrer teils unterkühlten Art mochte Sophie die Vampirin inzwischen sehr. Sie freute sich auf Luc und die anderen Wölfe, doch sie würde die Vampirkönigin vermissen. »Vielen Dank für alles, Lenaya«, sagte sie und blickte in die schwarzroten Augen.

Lenaya trat einen Schritt vor und legte die Hände auf Sophies Schultern. »Es war ein Erlebnis dich hier zu haben. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder. Mich interessieren deine Erfahrungen mit der Infektion brennend.«

»Ich werde dich auf dem laufendem halten«, versprach Sophie. Dann trat sie beiseite, damit Noah und Riaan sich ebenfalls verabschieden konnten.

»Macht eure Sache gut. Ihre repräsentiert nun jeden von uns.«, ermahnte Lenaya die beiden. Die Vampire nickten ernst und verneigten sich dann formell.

»Verlasse dich ruhig auf uns, Schwester«, antwortete Riaan.

Lenaya nickte, sagte jedoch nichts weiter. Sie ging wortlos wieder zurück in den Bergfried. Für Sophie ein klares Zeichen zum Aufbruch.

Und genau hier tauchte der nächste Punkt auf, der ihr Sorgen bereitete. Als sie mit den Wölfen unterwegs gewesen war, hatte Luc sie getragen, da sie mit der Geschwindigkeit der Wölfe nicht mithalten konnte. Sie wusste nichts darüber, wie schnell Vampire waren, doch würden sie Rücksicht auf sie nehmen, wenn sie nicht mithalten konnte? Bei Noah war sie sich da beinahe sicher, doch wie war das mit Riaan? Er schien sehr eigensinnig zu sein und selten Rücksicht auf andere zu nehmen. Würde Noah genug Einfluss auf ihn nehmen können, damit er auf ihre menschliche Natur Rücksicht nahm?

Sophie drängte den Gedanken beiseite. Sie konnte sich damit immer noch auseinandersetzen, wenn es soweit war. Sie sah zu ihren Begleitern und zwang sich zu einem zuverlässigen Lächeln. »Dann mal los«, sagte sie und begann den Weg entlang zu laufen. Die Männer folgten ihr schweigend.

Nach ein paar Schritten jedoch, blieb Sophie erneut stehen und stutze. In welche Richtung sollte sie sich wenden? Noch nie war sie im Gebiet der Vampire gewesen. Sie besaß nicht einmal eine Ahnung, wie weit genau sie von ihrem Zuhause entfernt war. Sie wandte sich zu Noah um. »Ich denke, ihr geht besser vor.«

Ein spöttisches Lächeln legte sich auf Noahs Züge. »Kleines Menschlein, hat keine Ahnung, wo es hinlaufen soll.« Die Belustigung in seiner Stimme nahm seinen Worten viel von dem Spott darin.

»Dann zeig mir armen, orientierungslosen Menschlein doch einmal den Weg.«

Noah lachte, ging jedoch an ihr vorbei, um sich an die Spritze der kleinen Prozession zu setzen. Riaan hatte ihre kurze Konversation mit ausdrucksloser Miene verfolgt. Sophie sagte nichts dazu, auch wenn er ihr damit erneut negativ auffiel. Stattdessen folgte sie Noah, der bereits fröhlich pfeifend voranging.

»Du kommst wohl nicht oft raus?«, vermutete sie, als sie schließlich neben ihm her ging.

»Nicht wirklich. Ich gehöre nicht zur Jagdgesellschaft und auch nicht zu den Kundschaftern. Damit beschränken sich meine Aufenthalte draußen auf das Kampfgeschehen, bei einem Angriff. Da wir jedoch niemals angegriffen werden ...« Er beendete den Satz nicht, sondern zuckte lediglich mit den Schultern.

»Ist das nicht furchtbar eintönig?«

»Wie man es nimmt. Ich bin ein Mann des geschriebenen Wortes. Meine Welt sind Bücher und Texte.«

»Du liest?«

»Und ich schreibe. Geschichten, um meine Königin zu unterhalten, die Geschichte unseres Volkes, Gedichte. Alles eben, was mir in den Sinn kommt.«

Nun war Sophie ernsthaft interessiert. »Und wo findest du deine Inspiration, wenn du nicht nach draußen gehst?«

»Das können unterschiedliche Dinge sein. Das Lächeln einer Person, der Geruch des nahenden Herbstes, eine Vollmondnacht im Sommer, der erste Schnee des Jahres ... Ich könnte ewig so weiter machen. Inspiration ist überall zu finden, wenn man danach sucht und sich darauf einlassen kann. Sobald einen der Kuss der Muse erhascht, ist man machtlos gegen sie. Es kann auch das Leuchten in deinen Augen sein, wenn du an deinen Wolf denkst. Du siehst, es sind kleine Dinge, die zu großen Geschichten werden.«

Sophie holte sprachlos Luft. Was sollte sie auch auf Derartiges sagen? Deswegen ließ sie sich die Worte durch den Kopf gehen. Es klang schön, was er sagte, doch sie selbst konnte sich nichts darunter vorstellen. Sie war nie der kreative Typ Mensch gewesen. Sie nahm die Dinge, wie sie kamen, und passte sich ihnen an. Oh, sie war neugierig und von einem starken Erkundungsdrang gepaart mit einem schier endlosen Wissensdurst getrieben, doch ihre Kreativität war dahinter zurückgeblieben. Sie lächelte Noah an. »Irgendwann möchte ich etwas lesen, was du geschrieben hast.«

Der Vampir erwiderte ihr Lächeln unverbindlich, ehe sie ihren Weg schweigend fortsetzten.

 

Als die Sonne aufging, suchten sie sich einen geschützten Platz, um zu rasten. Sophie war dankbar für die Pause, nachdem sie die ganze Nacht durchgelaufen war. Seufzend ließ sie sich auf den Boden der kleinen Höhle sinken und lehnte sich gegen die Wand. Es war nur gut, dass die Vampire sich lautlos bewegten, denn so gelang es ihr ein wenig wegzudämmern.

Erst als jemand sie an der Schulter berührte, schreckte sie wieder auf. Erschrocken wich sie zurück, als sie in die abgedunkelten Gläser blickte, die den Vampiren als Sichtfenster bei ihren tageslichtabweisenden Anzügen dienten.

»Wir sollten langsam weitergehen«, ertönte Noahs Stimme, die durch den Anzug seltsam gedämpft klang.

Sophie nickte benommen und rappelte sich auf. Die ersten paar Schritte schwankte sie leicht, weil sie noch nicht vollständig erwacht war. Ihr Körper hatte auf die Aufforderung reagiert, ehe ich Gehirn dazu gekommen war, den Dämmerzustand zu verlassen.

Zielsicher packe Noah sie unterstützend am Oberarm, um sie ein paar Schritte zu führen. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, fühlte sich jedoch immer noch nicht wach genug, um etwas zu sagen.

»Wenn wir die Pausen knapp halten, können wir schon Morgen Abend in dem Gebiet der Wölfe sein«, erklärte Noah.

Sophie war sich nicht sicher, ob sie es mit nur knappen Pausen schaffen konnte. So oder so, sie würde erst einmal lange schlafen, sobald sie zu Hause war. Sie wusste jedoch jetzt schon, ihre erste Handlung würde in einem langen Bad in der Grotte bestehen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.08.2018

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /