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Karte Fedora

Prolog

Der dichte Nebel verschluckte sämtliche Geräusche des Waldes. Kein Tier war zu hören. Nicht einmal der Wind schien sich in dieser verhängnisvollen Stunde bemerkbar machen zu wollen.

Gehetzte Schritte kurzer Beine durchbrachen die Stille. Angestrengter Atem begleitete sie. Ein Kind lief verängstigt zwischen den Bäumen umher. Ein Mädchen von gerade mal Dreizehn Jahren. Halb blind durch den Nebel fiel sie immer wieder über die eigenen Füße. Hände und Knie waren inzwischen blutig von den unzähligen Versuchen ihre Stürze abzufangen. Hektisch sah das Kind sich um, in der Hoffnung ein Versteck zu entdecken. Wo könnten sie ihre Verfolger nicht finden? Welcher Schlupfwinkel wäre gut genug?

Resignierend schüttelte sie den Kopf. Sie würde sich nicht verbergen können. Nicht vor ihnen! Tränen sammelten sich in ihren Augen. Schniefend wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Augen. Dann lief sie stolpernd weiter. Wie lange konnte sie noch durchhalten? Gab es überhaupt eine Chance ihnen zu entkommen?

Der Nebel und die Kälte setzten ihr allmählich zu. Neben der Anstrengung, ihren Verfolgern zu entkommen, merkte sie, wie ihre Kräfte immer mehr schwanden. Ihre Schuhe waren inzwischen vollkommen durchnässt. Sie zitterte mittlerweile nicht mehr nur vor Angst.

Sie musste bald ein Versteck finden. Das Tempo konnte sie nicht mehr lange durchhalten. Ein Unterschlupf, der ihr die Möglichkeit gab, sich ein wenig auszuruhen. Würde sie heute Nacht sterben, wenn es ihr nicht gelang, vor den Jägern zu fliehen? Würden sie sie töten? Oder erlag sie am Ende einfach der Kälte und erfror?

Sie blieb nochmal einen Augenblick stehen, um zu lauschen. Nichts war zu hören. Doch nur, weil sie nichts hören konnte bedeutete dies nicht, dass ihre Verfolger aufgegeben hatten.

Wenn sie nur genau wüsste, wo sie sich befand. Sie könnte sicherlich nach Hause finden. Doch sie hatte keine Ahnung.

Sie dachte an ihre Mutter und ihre kleine Schwester. Würden sie sie vermissen? Suchten sie bereits nach ihr? Sie war nicht die Erste, die verschwand. Nicht das erste Kind.

Immer, wenn ein Kind nicht wieder nach Hause kam, machte sich das gesamte Dorf auf die Suche. Wenn man die Vermissten nicht fand, glaubte man, sie hätten sich im Wald verlaufen. Oder eine der Kreaturen, die dort lebten hätten sie gefressen. Doch das hier ... das war viel schlimmer.

Das Mädchen stolperte erneut. Nun fand sie nicht die Kraft wieder aufzustehen. Ihre letzten Kräfte mobilisierend stemmte sie sich auf Hände und Knie und kroch voran. Vielleicht konnte sie weit genug in das Unterholz kriechen, um gut genug versteck zu sein. Wenn nicht ...

Das Knacken von Zweigen ließ sie erstarren. Schwere, sichere Schritte näherten sich ihr mit rasanten Tempo. In Gedanken entschuldigte sie sich bei ihrer kleinen Schwester. Nach dem Tod des Vaters hatte sie ihr versprochen, immer auf sie aufzupassen. Sie würde dieses Versprechen nicht halten können.

Inzwischen machte sie sich nicht mehr die Mühe, ihre Tränen wegzuwischen. Sie sackte in sich zusammen und wartete auf das unvermeidliche Ende. 

 

Das seltsame Verhalten der Werwölfe

 

Sophie stellte den Eimer ab und streckte sich. Erschöpft und durchgefroren zog sie die Jacke enger um sich. Die Hälfte des Rückweges lag bereits hinter ihr. Der Brunnen lag in der Dorfmitte. Das Haus, in dem sie und ihre Mutter lebten, befand sich ein Stück außerhalb.

Früher hatten sie nahe bei der Gemeinschaft gelebt. Doch das war vorher gewesen. Vor dem Verschwinden ihrer Schwester. Als sie in das andere Haus gezogen waren, hatte ihre Mutter ihr erklärt, sie könne die mitleidigen Blicke nicht ertragen. Sophie waren sie nie aufgefallen. Dies war nun schon neun Jahre her.

Neun Jahre ... und doch dachte sie immer noch jeden Tag an ihre ältere Schwester. Der Tag ihres Verschwindens war ihr immer noch stark im Gedächtnis geblieben. Sie war neun gewesen. Zu beginn hatte sie noch viel nach Beatrice gefragt. Doch schnell war ihr aufgefallen, wie traurig ihre Mutter diese Erkundigungen machten. Inzwischen stellte sie ihre Fragen nicht mehr laut. Und ihre Mutter? Auch sie sprach nie über Beatrice. Es war, als hätte es ihre Schwester nie gegeben.

Die Menschen im Dorf sprachen ebenfalls nicht über Bea. Auch nicht über die anderen Kinder, die im Laufe der Jahre verschwunden waren. Man suchte die Wälder eine Weile nach ihnen ab – wenn man sie nicht fand, entschied man, dass sie von einer der Kreaturen entführt und verspeist worden waren. Doch Sophie konnte das nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben.

Sicher, sie wusste, wie gefährlich die Bewohner des Waldes sein konnten. Die Ghoule und Werwölfe waren nicht zu unterschätzen. Auch die Vampire in den verlassenen Ruinen nahe der Stadt waren gefährlich. Doch seit dem Verschwinden ihrer Schwester hatte sie versucht mehr über jene Kreaturen herauszufinden. Ghoule ernährten sich von Toten. Also wären die verschwundenen Kinder nur tot interessant für sie. Die Wölfe hielten sich von den Wäldern nahe des Dorfes fern. Zu viele von ihnen waren den Waffen der Männer und der Magie – die einige der Dorfältesten in sich trugen – zum Opfer gefallen. Und die Vampire? Diese brauchten mehr Blut, als ein Kind ihnen geben konnte. Sie würden einen Erwachsenen als Beute bevorzugen.

Es war also nicht wahrscheinlich, dass sie die Schuld trugen. Die Ursache musste also eine Andere sein. Doch Sophie konnte nicht offen fragen. Verschwand jemand aus dem Dorf, betrauerte man denjenigen eine kurze Zeit und dann sprach man nie wieder über ihn. Sie wollte Antworten. Doch niemand sonst schien es zu kümmern. So blieb ihr nichts anderes übrig, als im geheimen Nachforschungen anzustellen.

Seufzend schüttelte sie die düsteren Gedanken ab. Sie sollte das Wasser nach Hause bringen. Ihre Mutter benötigte es. Lustlos griff sie nach dem Eimer, der vor ihr auf dem Boden stand und machte sich wieder auf den Weg.

»Sophie, bist du das?«

»Ja, Mama«, gab Sophie zur Antwort. Wer sollte es sonst sein? Sie füllte das Wasser in den Kessel und stellte den Eimer neben den Spülstein.

Ihre Mutter kam aus dem Schlafraum und betrat die Küche. »Du warst lange fort«, stellte sie fest.

Sophie runzelte die Stirn. War sie wirklich derart lange weg gewesen? Bis auf ihre kurze Pause war sie nicht abgelenkt worden. Konnte es sein, dass sie dermaßen in Gedanken versunken gewesen war? Ihre Mutter sah sie immer noch an und schien auf eine Erklärung zu warten. Sophie rang sich ein Lächeln ab. »Ich musste auf dem Weg Pause machen. Der Eimer kam mir heute schwerer vor, als sonst.«

Die Erklärung schien zu genügen. Zumindest nickte ihre Mutter knapp und wandte sich dann der kleinen Kochstelle zu. Sophie blickte sich in dem bescheiden eingerichteten Wohnraum um. Ihr Heim bestand ausschließlich aus dem Schlafzimmer, das Sophie und ihre Mutter sich teilten, und dem Wohnraum, der nur aus der Küche und einer Sitzmöglichkeit bestand.

Plötzlich befiel Sophie ein Gefühl der Beklemmung. Sie musste raus hier. Ohne einen triftigen Grund ließe ihre Mutter sie jedoch nicht gehen. Seit dem Verschwinden ihrer Schwester war ihre Mutter übervorsichtig. Wenn sie wüsste, wie oft Sophie sich heimlich schlich, um die angrenzenden Wälder zu durchsuchen ...

»Wenn du noch etwas mit dem Essen brauchst, kann ich Beeren sammeln gehen«, bot Sophie ihrer Mutter an.

Der Blick, den sie erntete, verhieß nichts Gutes. »Du weißt, ich möchte nicht, dass du alleine herumstreunst.«

Sophie konnte ein genervtes Seufzen nicht unterdrücken. »Herumstreunen kann man das nicht nennen, Mama. Das Beerenfeld liegt gleich neben dem Dorf. Die Wachen können mich sehen, während ich dort bin. Also bin ich sicher«, konterte sie. Diese Diskussion führten sie jedes Mal, sobald Sophie beschloss, alleine hinauszugehen.

»Wenn du wartest, dann komme ich mit dir«, versuchte ihre Mutter einzulenken.

»Mama. Ich bin schon bald Achtzehn. Ich muss auf eigenen Beinen stehen können. Denk doch einmal darüber nach. Die Meisten treten mit Neunzehn bereits in den Wachdienst ein. Oder suchen sich eine andere nützliche Arbeit. Doch wie soll ich mich in einem Jahr entscheiden, was ich machen möchte, wenn ich nicht weiß, wo meine stärken liegen? Und die kann ich nicht finden, wenn ich ständig unter deinen wachsamen Augen bin.«

Es wirkte. In dem Wissen, dass Sophie recht hatte, seufzte ihre Mutter. In einem Jahr schon bekam Sophie ihr eigenes kleine Haus im Dorf. Und sie würde entscheiden, mit welcher ihrer Fähigkeiten sie der Gemeinschaft helfen konnte. Es war eine Verpflichtung.

»Also gut«, lenkte ihre Mutter ein. »Aber bleib in Sichtweite der Wachen.«

»Natürlich, Mama«, versprach Sophie, während sie bereits nach dem Korb griff. »Mach dir keine Gedanken, ich bin schon bald zurück.« Ehe ihre Mutter noch etwas sagen konnte, war Sophie schon durch die Tür.

Sophie bemühte sich gemächlich zu gehen, bis sie außer Sichtweite des Hauses war, damit ihre Mutter nicht sehen konnte wohin sie sich wandte. Sicher, es gab ein Beerenfeld in der Nähe des Dorfes, doch wenn sie ein Stück weit in den Wald hineinging, würde sie saftigere Beeren finden. Und da sich die wenigstens Dorfbewohner dort hintrauten, gab es dort reichlich davon. Ihr Korb wäre im Nu gefüllt und dann könnte sie sich den Rest der Zeit ein wenig umsehen.

Sobald sie sicher war, dass die Blicke ihrer Mutter ihr nicht mehr folgen konnten, rannte sie los. Sie war den Weg schon oft gefolgt. Sie brauchte nicht darüber nachdenken, wie sie laufen musste, um den Augen der Wachposten zu entgehen. Als sie vor drei Jahren mit ihren Streifzügen begonnen hatte, war sie oft erwischt worden. Doch mit jedem Mal war sie geschickter geworden. Inzwischen brauchte sie nicht mehr aufpassen. Sie wusste, wohin sie musste, um unentdeckt zu bleiben.

Sobald sie den Schutz der Bäume erreichte, ließ sie auch die letzte Vorsicht fallen. Niemand würde ihr hier her folgen. Die Jäger gingen in den frühen Morgenstunden fort. Sie lief also nicht Gefahr, einen von ihnen hier zu begegnen. Und die Wächter blieben in der Nähe des Dorfes. Solange es keinen Anlass gab, den Wald zu betreten, tat dies auch niemand.

Sie ging nur ein Stück in den Wald hinein, ehe sie stehen blieb. Zwar war sie auf der Suche nach Antworten, doch sie war nicht dumm. Ihr war klar, wie gefährlich es sein konnte, alleine umherzustreifen. Aus diesem Grund hatte sie vorgesorgt.

Sie ging zu einem Baumstumpf. Vor einiger Zeit musste dieser Baum von einem Blitz getroffen worden sein. Das Überbleibsel bot ein kleines Versteck. Es war nicht viel, doch Sophie war es gelungen, einen der Dolche heimlich aus der Schmiede mitzunehmen. Es sollte reichen, um sich damit verteidigen zu können, wenn etwas versuchte sie anzugreifen. Zumindest war sie nicht vollkommen schutzlos.

Sie griff in das Baumloch und zog den in Leder geschlagenen Gegenstand hervor. Nachdem sie den Dolch griffbereit in ihren Hosenbund geschoben hatte, sah sie sich um. Der Wald wirkte anders. Sie konnte es nicht beschreiben. Es schien ruhiger als sonst. Die normalen Geräusche, die sonst von den Tieren kamen, die mutig genug waren, sich in die Nähe des Dorfes zu wagen, schienen verstummt zu sein. Nicht einmal Vögel ließen sich vernehmen. Sie unterdrücke ein Zittern. Es wirkte, als lauerte etwas im Schatten der Bäume.

Lovlin war noch nie ein sicherer Ort gewesen. Die Gebiete der Vampire, Ghoule und Werwölfe lagen zu Nahe an dem kleinen Dorf. Überall in Fedora gab es Landschaft, die nur einer Spezies vorbehalten war.

Doch weit abseits der großen Städte, war es ein harter Kampf das Land gegen die düsteren Bewohner Fedoras zu verteidigen. Und der Wald war offenes Gelände. Jede Spezies konnte sich dort befinden. Sofern man mutig genug war, diesen zu betreten.

Sie blieb einige Minuten ruhig stehen. Bis auf die Stille schien nichts ungewöhnlich zu sein. Sophie zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich färbt Mutters übertriebene Vorsicht langsam auf mich ab, beschloss sie. Dann griff sie nach dem Korb und machte sich auf den Weg zu der Sammelstelle.

Sophie bemerkte erst, wie aufgewühlt sie gewesen war, als die Beerenbüsche in Sicht kamen. Die Anspannung in ihren Muskeln ließ ein wenig nach. Dennoch blieb sie wieder einige Minuten lauschend stehen, ehe sie damit begann den Korb mit Beeren zu füllen.

Ihr war es gelungen den Korb zur Hälfte zu füllen, als ein Heulen die Stille durchbrach. Langsam und vorsichtig, um keinen Laut zu machen, ging Sophie auf einen der höheren Bäume zu. Nun kam es ihr zu Gute, dass sie bei ihren ersten Besuchen hier die Gegend genau erkundet hatte. Das Blätterwerk der Baumkronen war dicht und bot ihr ein gutes Versteck. Sie besaß zwar den Dolch, doch Lasslo, der Waffenmeister des Dorfes, betonte immer, die beste Art zu kämpfen sei dem Kampf aus dem Weg zu gehen. Besonders, wenn der Gegner einer der Übernatürlichen war.

Flink und geschickt kletterte Sophie auf den Baum. Mit dem Korb in der Hand gestaltete es sich etwas schwierig, doch ließe sie ihn unten stehen, könnte er sie verraten.

Es gelang ihr, hoch genug in den Baum zu klettern, damit das dichten Blätterwerk sie verbarg. Ob ihr Geruch sie verraten könnte? Nun wo sie darüber nachdachte, war dies durchaus möglich. Werwölfe sollten einen guten Geruchssinn besitzen. Womöglich glaubten sie, sie habe sich davongestohlen. Hoffentlich gingen sie davon aus. Welcher Mensch wäre schon töricht genug und floh nicht eilig, wenn Werwölfe sich näherten. Wenn es die Wölfe waren. Ihr Territorium lag dieser Stelle hier am nächsten – von dem Dorf mal abgesehen.

Als ein weiteres Heulen durch den Wald zog, bestätigte sich Sophies Befürchtung. Die Wölfe. Und sie waren nah. Zu nah.

Für gewöhnlich wagten sie sich nicht derart nah an das Dorf heran. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Jede Spezies besaß ihr Gebiet. Der Wald war für alle zugänglich. Dort waren die Menschen in den Augen der Übernatürlichen lediglich Beute. Wagten sie sich jedoch zu nahe an das Dorf heran ...

Durch den Schutzwall und die gut ausgebildeten Wachen war es schwer, auch nur ansatzweise in die Nähe der Dorfmauer zu kommen. Gelang es ihnen doch einmal, schritten die wenigen Magier ein. Es waren nicht viele. Drei Magier aus der Hauptstadt Mecea hatten sich bereiterklärt bei ihnen zu leben. Sie gewährleisteten ihren Schutz. Es war ein Zugeständnis an die kleineren Siedlungen gewesen. Die meisten Menschen zog es in die sicheren Städte. Zu viele, um sie zu versorgen.

All jenen, die sich bereit erklärten in den wilden Territorien Siedlungen aufzubauen, um ausreichend Nahrung für die Städte zu produzieren, versprach man angemessenen Schutz. Je nach Größe der Siedlungen unterscheid sich die Anzahl der Magier. Was Lovlin anging, so war es schwer gewesen, überhaupt Hexenmeister davon zu überzeugen, bei ihnen zu leben. Ihr Dorf war am weitesten abgeschieden von dem Schutz der Städte.

Nach dem Heulen durchzog wieder Stille den Wald. Sophie war beinahe geneigt zu glauben, die Wölfe seien weiter gezogen. Doch ihre Beine waren vor Angst zu schwach, um wieder von dem Baum herunter zu klettern.

Es stellte sich als eine glückliche Fügung heraus. Gerade als Sophie sich sicher genug fühlte, um den Abstieg zu wagen, ertönten leise, selbstsichere Schritte. Sophie konnte sie nur hören, da alle andere Lebewesen im Wald verstummt zu sein schienen. Oder waren sie vielleicht geflüchtet? Nahmen sie etwas wahr, was den Menschen im Dorf entging? Den Geräuschen nach zu Urteilen, handelte es sich um mehr als nur einen Wolf.

Nun, Sophie bezweifelte, dass sie trotz ihres Dolches auch nur mit einem der Übernatürlichen fertig werden könnte. Aber gleich mit mehreren? Dies war von vorne herein ein aussichtsloser Kampf. Sie musste sich still verhalten. Sich an Lasslos Rat erinnernd, versuchte sie in ihrem Versteck nichts zu tun, was die Wölfe auf sie aufmerksam machen könnte.

Mit angehaltenem Atem wartete Sophie.

Und dann traten die Werwölfe auf die Lichtung mit den Beerenbüschen. Es waren sechs. Einer von ihnen schien ein wenig größer als die anderen. War es womöglich ihr Anführer? Sein Fell war heller, als das seiner Weggefährten, und seine Augen blitzten bernsteinfarben im auf, als sich das Licht in ihnen spiegelte.

Sie blieben stehen und schienen auf etwas zu warten. Der größte von ihnen, hob den Kopf und schien nach etwas zu schnüffeln, doch dann verweilte auch er reglos. Noch nie hatte Sophie einen der Übernatürlichen aus solcher Nähe betrachten können. Und schon gar nicht so viele von ihnen. Sie schienen sich kein Stück zu bewegen, während sie warteten. Was war der Zweck hinter diesem Verhalten?

Es war schon ungewöhnlich genug, dass die Wölfe sich derart nahe an das Dorf heranwagten. Das, was hier geschah, widersprach jeglicher Logik. Sie wussten, die Jäger des Dorfes überquerten die Lichtung hier oftmals. Sie setzten sich mit ihrer Handlung einer unweigerlichen Gefahr aus.

Eine Ahnung, wie lange sie im Baum festsaß, hatte Sophie nicht. Sie war zu fasziniert von dem Bild, das sich ihr bot, um das Vergehen der Zeit zu beachten.

Plötzlich ertönte ein Ruf. Es war kein Wolf. Doch Sophie konnte das Geräusch nicht einordnen. Die Werwölfe hingegen schienen genau auf dieses Zeichen gewartet zu haben. Sobald der Ruf verklang, zogen die Wölfe weiter. Sophie schienen sie nicht bemerkt zu haben.

Sie wartete noch eine Weile, ehe sie es wagte, sich zu bewegen. Sie hatte lange genug in dem Baum ausgehalten, damit ihre Muskeln schmerzten.

Doch das war nun nicht wichtig. Sie alle lernten vieles über die Übernatürlichen im Unterricht. Und sie bekamen auch einiges mit. Gerade Sophie, die oftmals den Geschichten der Wachen und der Jäger lauschte. Hatte es etwas wie heute schon einmal gegeben? Wenn Sophie die Richtung korrekt deutete, in die die Wölfe gezogen waren, dann näherten sie sich dem Vampirgebiet. Doch Wölfe und Vampire trauten einander nicht. Die Gruppe hatte jedoch nicht so gewirkt, als zogen sie in den Kampf. Und was hatte es mit diesem eigenartigen Ruf auf sich. Es schien ein Zeichen gewesen zu sein.

Sophie wusste, sie konnte auf ihre Fragen heute keine Antworten finden. Sie würde darüber nachdenken. Sie würde auf die Berichte der Jäger warten und sie belauschen, wenn sie von ihrem heutigen Ausflug erzählten. Vielleicht war sie so in der Lage, ein paar Antworten zu finden. Nun jedoch, musste sie sich sputen, um rechtzeitig nach Hause zu kommen.

 

Der Lauschangriff

 

Natürlich kam Sophie zu spät. Ihre Mutter war sogar zu besorgt gewesen, um sie auszuschimpfen. Stattdessen drücke sie ihre Tochter erleichtert an sich. Sophie murmelte etwas davon, die Zeit aus den Augen verloren zu haben. Die Wahrheit konnte sie ihrer Mutter kaum erzählen.

Wie gerne würde sie sich jemanden anvertrauen. Irgendwen, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte. Doch wer kam dafür schon in Frage? Sie kam zwar mit allen gut klar, doch es gab niemanden, den sie als Freund ansah. Selbst wenn, die eigentliche Frage war doch: Gab es jemanden, dem sie genug traute?

Die Jäger kehrten erst nach Einbruch der Dunkelheit ins Dorf zurück. Ihre Mutter schlief dann bereits. Sophie könnte sich unbemerkt zur Schenke schleichen, um zu lauschen. Ob sie ebenfalls etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten? Wenn, dann war dies die beste Möglichkeit, etwas darüber in Erfahrung zu bringen.

Sie aßen gemeinsam zu Abend. Da Sophie sehr viel später als erwartet nach Hause gekommen war, musste ihre Mutter den Eintopf erneut erhitzen. Bei den ersten Löffel, bemerkte Sophie, wie hungrig sie war. Sie hatten reichlich gefrühstückt, doch inzwischen war es später Nachmittag.

Während des Essens sprachen sie nicht viel miteinander. Sophie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Und ihre Mutter war nie besonders gesprächig.

Früher war es einmal anders gewesen. Doch das war vor Beatrices Verschwinden. Es war, als hätte ihre Schwester die Fröhlichkeit ihrer Mutter gleich mitgenommen. Was zurückgeblieben war, entsprach einer von Kummer und Sorgen zerfressenen Frau.

Kurz nach dem Verschwinden ihrer Schwester hatte Sophie sich oft gefragt, ob es wohl anders gekommen wäre, wenn ihr Vater sie nicht verlassen hätte. Ihre Mutter sprach niemals über ihn und Sophie selbst war zu klein gewesen, um sich an ihn erinnern zu können. Auch im Dorf schien es niemanden zu geben, der ihr etwas über ihn erzählen wollte. Er war Teil ihrer Fragen gewesen, die sie inzwischen aufgegeben hatte zu stellen.

Nach dem Essen half Sophie ihrer Mutter dabei, das Geschirr zu reinigen und die restliche Hausarbeit zu erledigen. Sie beschlossen, die Beeren für den nächsten Tag aufzuheben.

Mit jeder vergangenen Minute wuchs Sophies Unruhe. Ihre Mutter machte keine Anstalten, sich ins Bett zurückzuziehen. Dies jedoch war notwendig, damit Sophie sich davonstehlen konnte. Der Weg zur Schenke war nicht weit. Sie lag im Geschäftsviertel der Stadt, gleich gegenüber von dem Schmied. Sie würde die Gaststätte natürlich nicht betreten. Sie war zu jung, und Frauen sah man dort ohnehin nicht gerne. Doch es gab genügend Verstecke in der Umgebung. Aufgeheizt von der Jagd achteten die Männer ohnehin nicht darauf leise zu sprechen. Sophie würde also jedes Wort mitbekommen ... Doch dafür musste ihre Mutter endlich zu Bett gehen.

»Du siehst müde aus, Mama«, wagte Sophie, ihr einen kleinen Hinweis zu geben.

Ihre Mutter blickte von der Näharbeit auf und lächelte. »Es war ein langer Tag. Ich werde das hier noch fertig machen, und dann zu Bett gehen.«

Sophie nickte und versuchte nicht all zu unruhig zu wirken. Doch es fiel ihr nicht leicht, ruhig sitzen zu bleiben und so zu tun, als würde sie lesen. Oh, sie hatte durchaus versucht, wirklich zu lesen. Doch sie las immer nur denselben Abschnitt, weshalb sie es schließlich aufgab. Nun versuchte sie, die Zeit abzuschätzen, in der sie auf die nächste Seite umblättern musste, damit ihre Mutter nichts bemerkte.

Die Sonne war bereits untergegangen, als ihre Mutter die Näharbeit endlich zur Seite legte. Sophie sah von dem Buch auf und betrachtete sie. »Wirst du noch wach bleiben?«, erkundigte sich ihre Mutter.

Sophie nickte und hielt das Buch in die Höhe. »Es ist gerade so spannend«, gab sie zurück. Hoffentlich kam ihre Mutter nicht auf die Idee, sie nach dem Inhalt des Buches zu fragen. Sophie konnte ihr nichts darüber erzählen.

»Also gut, aber mach nicht mehr so lange.« Ihre Mutter strich ihr über das Haar, und verschwand dann im Schlafraum des Hauses.

Nun, wo ihre Mutter endlich zu Bett ging, wuchs Sophies Aufregung. Sie war gezwungen sitzen zu bleiben, bis ihre Mutter eingeschlafen war. Es nutzte nichts, wenn sie zu früh versuchte sich davonzuschleichen. Wenn ihre Mutter etwas bemerkte, bekam Sophie überhaupt keine Gelegenheit den Geschichten der Jäger zu lauschen.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen, wenn man auf etwas wartete. Sophie kam es vor wie Stunden. Doch sicherlich war nicht einmal eine Stunde vergangen, als sie das leise Schnarchen ihrer Mutter vernahm. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie eingeschlafen war.

Sophie legte das Buch zur Seite und stand leise auf. Um sicher zu gehen, warf sie noch einen Blick in den Schlafraum. Das Gesicht ihrer Mutter wirkte selbst im Schlaf sorgenbelastet. Es war nicht allein Sophies Schuld. Doch ihr war klar, zu einem Teil dafür verantwortlich zu sein. Ihre heimlichen Streifzüge – die gelegentlich etwas länger dauerten, als zunächst angenommen -, waren einer der Gründe dafür. Ein anderer war bestimmt ihr geplanter Auszug nach ihrem Neunzehnten Geburtstag.

Wenn sie könnte, würde Sophie ihrer Mutter den Gefallen tun. Damit es ihr besser ging, würde sie sich bereit erklären, weiterhin bei ihrer Mutter zu leben. Doch die Vorschriften des Dorfes sahen dies nicht vor. Sobald ein Kind das Neunzehnte Lebensjahr erreichte, hatte es die Pflicht, sich einen Lehrmeister zu suchen. Bei diesem würde sie fortan leben. Sie konnte ihre Mutter besuchen, doch dies wäre nicht dasselbe. Das Problem war nur, dass Sophie keine Ahnung davon hatte, was sie machen sollte. Sie konnte alles, aber nichts davon gut genug. Zu gerne würde sie sich bei den Wachen melden, um dort den Kampf zu erlernen und das Dorf zu schützen. Doch diese Aufgabe war Frauen untersagt. Lediglich Magierinnen durften eine Position als Beschützer einnehmen. Sie schüttelte den Gedanken ab, als sie das Haus verließ. Es war noch ein Jahr Zeit bis dahin. Ihr würde schon etwas einfallen.

Sophie war davon ausgegangen, die Jäger seien bei ihrer Ankunft bereits mitten im Gespräch. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, dass sie noch gar nicht zurückgekehrt waren.

Ein Blick auf den Mond ließ Sophie die Stirn runzeln. Derart spät waren sie noch nie zurückgekehrt. Ob etwas geschehen war? Waren sie womöglich den Übernatürlichen begegnet, die auch Sophie heute auf der Lichtung hatte beobachten können?

Wenn ja, war es möglich, dass sie überhaupt nicht mehr zurückkehrten. Es waren gleich sechs Werwölfe gewesen. Selbst ihre Jäger kamen dagegen nicht an. Unschlüssig, was sie nun tun konnte, sah Sophie sich um. Sie musste in jedem Fall vermeiden, gesehen zu werden.

Ihrer eigenen Überlegung folgend, schlich sie sich hinter die Schenke. Meistens wurden in der kleinen Gasse leere Fässer und Kisten gestapelt. Perfekt, um sich dort zu verstecken. Ebenfalls gut, um auf die Kisten hinauf zu klettern, um durch das schmale Fenster einen Blick in die Schenke zu werfen. Sophie setzte sich auf eines der Fässer und begann zu warten.

Sie lauschte den Gesprächen in der Schenke, während sie ihren Gedanken nachhing. Erst als die noch nicht heimgekehrten Jäger zum Thema wurden, zwang Sophie sich dazu, genauer hinzuhören. Man wunderte sich über die ungewöhnlich lange Jagd und fragte sich, ob etwas geschehen sei.

»Wenn sie bis zum Morgengrauen nicht zurück sind, sollten wir einen Suchtrupp nach ihnen ausschicken«, sagte einer der Männer. Sophie erkannte die Stimme von Toma. Sie waren bis vor einem Jahr gemeinsam zur Schule gegangen. An seinem Neunzehnten Geburtstag war in die Wache eingetreten. Sophie beneidete ihn. All zu gerne würde sie selbst in einem Jahr zu den Wachen gehören.

»Wir werden sehen, was passiert. Noch ist es nicht all zu spät. Und sollten sie bis morgen früh nicht zurückgekehrt sein, stellen wir eine Gruppe zusammen. Bis dahin soll jedoch niemand etwas davon erfahren«, erwiderte Sorin, der Hauptmann der Wache.

Sophie versuchte, sich auf das Fass zu stellen, um einen Blick durch das Fenster werfen zu können. Die Männer klangen sachlich, doch sie würde gerne ihre Gesichter sehen. Dann erst konnte sie mit Bestimmtheit sagen, ob sie besorgt waren, oder nicht.

Ohne viel Geräusche zu machen, gelang es ihr, das Fass nahe genug an die Wand zu schieben. Auf das Fass hinaufzuklettern, war jedoch um einiges schwerer als erwartet. Schließlich gelang es ihr.

Leider stand sie nicht so sicher, wie es wünschenswert gewesen wäre. Das Fass wackelte bei jeder ihrer Bewegungen. Sie musste gut aufpassen.

Sophie suchte Halt am Fenster. Dummerweise fehlten ihr immer noch ein paar Zentimeter, um gut durch die Öffnung blicken zu können. Resignierend stellte sie sich auf die Zehenspitzen.

Ein Fehler, wie sich herausstellte. Ein unbedachter Moment und das Fass geriet stark ins Wanken. In der einen Sekunde versuchte sie noch, dem wackelnden Fass entgegenzuwirken und in der nächsten fiel sie mit einem lauten Poltern zu Boden.

Der Aufprall trieb ihr sämtliche Luft aus den Lungen. Sophie war nicht in der Lage aufzustehen. Auch kam ihr nicht in den Sinn, dass man den Krach in der Schenke gehört haben könnte. Sie war zu sehr damit beschäftigt, zu atmen.

»Was war das?«

»Los! Schauen wir nach.«

»Wenn das einer der elendigen Hunde ist ...«

Es dauerte einige Sekunden, bis Sophie realisierte, wie sehr sie die Männer in der Schenke aufgeschreckt haben musste.

Was sollte sie nun tun? Ihr blieben nur Sekunden, um zu entscheiden. Verstecken, weglaufen oder abwarten? Noch während sie überlegte, konnte sie hören, wie die Wächter aus der Schenke stürmten.

Verängstigt versuchte Sophie, sich aufzurappeln. Dies stelle sich als schwierig heraus. Bei ihrem Sturz war es ihr gelungen, einige Fässer mehr umzustoßen. Nun lag sie – in einem Wirrwarr von Fässern gefangen – auf dem Boden. Nach dem dritten misslungenem Aufstehversuch sah Sophie ein, keine Chance zu haben, noch rechtzeitig fortzukommen.

Resignierend sah sie die Gasse entlang, in der die Wachen bereits zu sehen waren. Anstatt in der heutigen Nacht Antworten auf einige Fragen zu erhalten, war es nun an ihr, Antworten zu geben. Und die Fragen, würden nicht angenehm werden.

 

Viele Fragen und nur wenige Antworten

 

Als man Sophie auf den Stuhl hinunterdrückte, warf sie den Wächtern einen wütenden Blick zu. Unwillkürlich rieb sie sich die schmerzenden Oberarme. Mussten die Wächter sie denn gleich dermaßen grob anpacken? Sie öffnete den Mund, um etwas abfälliges zu sagen, doch dann fiel ihr Blick auf Sorin. Sie erstarrte.

Die Augen des Hauptmannes der Wache funkelten wütend, um seinen Mund lag ein verkniffener Zug. Sophie schluckte. Dies nahm ganz sicher kein gutes Ende für sie.

»Was hast du hier zu suchen?«, erkundigte Sorin sich gefährlich sanft. Sophies Gedanken rasten. Sie saß wirklich in der Patsche. Solang Sorin schrie und tobte, erlebte man lediglich seinen oberflächlichen Zorn. Doch nun wirkte er geradezu abgeklärt. Wenn sie nicht antwortete, würde er sie einfach die restliche Nacht mit jenen zornigen Blick beobachten. Sie brauchte nicht zu denken, man ließe sie gehen.

Resignierend senkte Sophie den Blick. Ein Eingeständnis, dass sie nachgab. »Ich wollte nur ...«, begann sie und brach ab. Sie konnte den Wächtern doch schlecht von ihrem Erlebnis im Wald erzählen, oder? Man würde sie schelten. Möglicherweise sogar mehr als das. Dann dachte sie an die Jäger, die immer noch nicht zurückgekehrt waren. Konnte sie es sich leisten, die Werwölfe zu verschweigen? Was, wenn die Jäger auf sie getroffen waren?

»Du wolltest nur was?«, ertönte Tomas ruhige Stimme. Sophie blickte auf und sah ihn an. Er wirkte nicht so verbissen und wütend wie die anderen Wächter. Sophie konnte sogar ein belustigtes Funkeln in seinen Augen wahrnehmen. Sie fasste einen Entschluss. Keinen Ärger zu bekommen, war bei weitem nicht so wichtig wie die ausgezogenen Jäger.

»Ich habe heute etwas beobachtet. Ich wollte nur erfahren, ob es den Jägern ähnlich ergangen ist«, berichtete sie.

Toma nickte verstehend. »Und da Frauen in der Schenke nicht erlaubt sind, dachtest du, du belauschst uns ein wenig.« Sophie wagte nicht, seine Aussage zu bestätigen.

Sorin räusperte sich. Er schien nun etwas zugänglicher. »Wenn du etwas ungewöhnliches beobachtet hast, hättest du uns das melden müssen.«

Ein Seufzen entschlüpfte Sophie. »Ich weiß. Aber ...«, sie stockte.

»Aber?« Sorin würde sie nicht so leicht vom Haken lassen.

Sein gönnerhafter Blick versetzte Sophie in Wut. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? »Aber ihr Wächter habt die unliebsame Angewohnheit, Frauen nicht ernst zu nehmen.«

Das saß! Sie konnte es an seinem fassungslosen Gesichtsausdruck erkennen. Bemüht ihre Angst nicht zu zeigen, sah Sophie ihm in die Augen.

»Nun, das liegt daran, dass ihr Frauen oftmals viel erzählt, wenn der Tag lang ist. Doch bei wichtigen Beobachtungen achten wir durchaus auf eure Worte«, sagte nun Toma.

Sophie blickte ihn verwundert an. Es wirkte, als müsse er sich mit aller Macht davon abhalten, laut loszulachen. Einzig der mahnende Blick Sorins schien ihn davon abzuhalten.

»Was hast du gesehen?«, erkundigte Sorin sich nun bei Sophie.

»Ich ...«, wieder hielt sie inne. Sie schluckte hart und begann dann von ihrem Erlebnis im Wald zu erzählen.

 

Nachdem sie fertig war, blieb es lange still. Sophie hielt den Blick gesenkt, aus Angst, was sie in den Augen der Wächter sehen könnte.

Schließlich räusperte Sorin sich. »Du hättest gleich zu uns kommen sollen. Wenn die Wölfe so nahe am Dorf sind, sollten wir davon wissen.«

Sophie nickte schuldbewusst. Natürlich war ihr das bewusst. Doch ihre Mutter hatte gewartet und sie war ohnehin davon ausgegangen, die Wächter würden sie nicht ernst nehmen. Zudem hatten die Wölfe nicht aggressiv gewirkt. Und sie waren ja auch nicht in Richtung des Dorfes gerannt.

Ein Knall ertönte und Sophie blickte auf. Toma stand mit geballten Fäusten vor ihr. Er stand unter solcher Anspannung, dass sein Körper zitterte. »Wir müssen jetzt ausziehen, um die Jäger zu suchen!«, erklärte er. Toma betonte jedes Wort einzeln.

Sorin schüttelte den Kopf. »Das würde nichts bringen.« Als Toma Luft holte, um etwas zu erwidern, hob er die Hand. »Niemanden bringt es etwas, wenn wir ungeplant losrennen. Wir werden in jedem Fall bis morgen früh warten.«

Sophie konnte sehen, wie wenig Toma dieser Befehl gefiel. Sie verstand ihn. Sein Vater gehörte zu der Gruppe von Jägern, die am Morgen ausgezogen waren. Sein Blick verhieß nichts Gutes. Würde er womöglich auf eigene Faust losziehen, um nach seinem Vater zu suchen? Ob er sich bereiterklären würde, sie mitzunehmen?

Sie sah zu Sorin, dessen Blick immer noch auf Toma gerichtet war. Sie schienen einen stummen Kampf auszutragen. Sophie räusperte sich, um die Aufmerksamkeit des Hauptmannes auf sich zu ziehen. »Kann ich gehen?«, fragte sie, als er sie endlich ansah.

Nach kurzem Überlegen nickte der Hauptmann. »Du kannst gehen. Du wirst dich zukünftig von dem Wald fernhalten. Haben wir uns verstanden?«

Seine stechend blauen Augen zwangen Sophie in die Knie. Sie nickte, um ihr Einverständnis zu signalisieren. Als sie aufstand und die Schenke verließ, plante sie jedoch bereits, wo sie Toma abfangen konnte, um herauszufinden, was er plante. Dass er etwas plante stand für sie außer Frage.

 

Sie hatte sich erneut in der Nähe der Schenke versteckt und wartete. Sophie war fest entschlossen Toma abzupassen. Ihn würde sie dazu bringen können, ihr einige Fragen zu beantworten. Und sollte er das Dorf verlassen wollen, würde sie mit ihm gehen. Dies stand für sie fest.

Das Warten war zermürbend. Was besprachen die Wachen nun noch? Gab es noch irgendetwas zu besprechen? Wahrscheinlich. Ob sie es wagen sollte, erneut zu lauschen?

Verneinend schüttelte sie den Kopf. Wenn sie sie erneut erwischten, gäbe es riesigen Ärger. Ihr Plan war so schon riskant genug. Sie musste geduldig sein.

Endlich verließen die Männer die Schenke. Sophie beobachtete angespannt, wie sie sich verabschiedeten und dann in unterschiedliche Richtungen davon gingen. Sophie behielt Toma im Auge und versuchte den richtigen Zeitpunkt abzupassen, um ihm zu folgen. Die anderen Männer durften sie nur nicht bemerken.

Es war ihr Glück, dass Toma eine andere Richtung wählte, als der Rest der Männer. Während die meisten Wachen zum Wachhaus gingen, schien Toma das Haus seiner Eltern anzusteuern. Verständlich, da seine Mutter nun alleine war.

Da Sophie nun wusste, wo er hinwollte, ließ sie sich Zeit, um ihm zu folgen. Er würde bestimmt eine Weile bei seiner Mutter bleiben.

Sie bog in die Straße ein, die zum Haus von Tomas Eltern führte. Zu dieser späten Stunde hielt sich niemand mehr auf den Straßen auf, außer der Wächter, die sich nun geschlossen im Wachhaus oder auf ihren Posten befangen. Deswegen ließ Sophie ein wenig ihrer Vorsicht fallen.

Nur noch ein kleines Stück. Sie achtete darauf, sich im Schatten zu halten, denn auch wenn die Gefahr entdeckt zu werden verschwindend gering war, so musste sie ja dennoch kein unnötiges Risiko eingehen.

Plötzlich legte sich eine Hand über ihren Mund und sie wurde in eine dunkle Nische gezogen. Zu schockiert um sich zu wehren oder zu schreien.

»Warum folgst du mir?«, zischte eine ihr wohlbekannte Stimme. Sophie entspannte sich und bemerkte, wie der Griff sich löste. Sie trat einen Schritt nach vorne und drehte sich dann zu Toma um. Dieser starrte sie wütend und mit vor der Brust verschränkten Armen an.

»Du planst etwas«, platzte Sophie heraus. »Ich habe es in deinem Blick gesehen. Etwas stimmt nicht und du glaubst, Sorin ignoriert es.«

Die Wut verschwand aus Tomas Blick und Verbitterung fand darin Platz. »Es spielt keine Rolle, was ich denke. Sorin nimmt mich nicht ernst. Er weiß selbst, dass etwas passiert sein muss. Ansonsten wären die Männer schon lange wieder da. Aber er will keine weiteren Leute riskieren, um jemanden zu suchen, den er ohnehin verloren glaubt.«

Sophies Aufregung wuchs. »Wirst du alleine nach ihnen suchen?«, erkundigte sie sich. Toma dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. »Nimm mich mit!«, forderte Sophie. »Zu zweit können wir doch viel mehr erreichen.«

»Kommt nicht in Frage. Du besitzt keinerlei Ausbildung außerdem bis du ein Mädchen.«

Einen Augenblick dachte sie darüber nach, ob sie die Bezeichnung Mädchen als Beleidigung auffassen sollte. Doch sie entschied sich dagegen. Sie wollte ihn begleiten. Wenn sie nun einen Streit vom Zaun brach, würde es sie nicht weiterbringen. »Du solltest nicht alleine gehen. Und ich bin bei weitem nicht so unerfahren, wie du glaubst. Wie sonst hätte ich mich heute unbemerkt vor den Werwölfen verstecken können?«

»Vergiss es, Sophie. Du bist meine Freundin und ich mag dich. Und genau deswegen, werde ich dich nicht unnötig in Gefahr bringen.« Er wirkte ernst und entschlossen.

Sophie seufzte. Es freute sie, dass er sie als Freundin sah, doch dies half ihr hier nicht weiter. Doch was konnte sie sagen, um ihn zu überzeugen. »Und wenn ich dich verrate?«, startete sie einen neuen Versuch.

»Bis sie dir zuhören, bin ich schon längst weg. Spare dir die Mühe. Du wirst hierbleiben.« Er zögerte kurz. Dann griff er nach ihrer Hand und sah ihr ernst in die Augen. »Und wenn ich nicht wiederkomme, kümmere dich um meine Mutter.«

Für einen Augenblick war sie unfähig, etwas zu sagen. Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. »Toma, ich werde dich nicht alleine fortgehen lassen!«

Das traurige Lächeln, welches sich auf Tomas Gesicht schlich, verwunderte sie. Dann schluckte er. »Das hier tut mir jetzt wirklich leid«, flüsterte er.

Er machte eine schnelle Bewegung und dann traf sie etwas am Kopf. Alles um sie herum wurde schwarz.

 

Der Entschluss

 

»Sophie!«

Der aufgeregte Ruf ihrer Mutter drang in ihr Unterbewusstsein vor. Stöhnend öffnete Sophie die Augen. Sie musste einige Male blinzeln, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten. Dann noch einige Male mehr, um sich an das ungewohnte Bild zu gewöhnen. Sie lag auf dem Boden vor der Tür ihres Hauses.

Wie kam sie hier her?

War eben nicht noch Nacht gewesen?

Das Gesicht ihrer Mutter trat in ihr Sichtfeld. Besorgte, von Trauer verschleierte Augen musterten sie. Und plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Die Wölfe, die Wächter in der Schenke, Toma ... Toma!

Erschrocken setzte sie sich auf. Gleich erfasste ein eigenartiger Schwindel sie und sie ließ sich wieder zurücksinken. Erst jetzt fiel ihr der Umhang auf, in dem man sie eingewickelt hatte. Ein Umhang der Dorfwache. Tomas Umhang? Sie dachte einen Augenblick nach. Hatte er sie wirklich niedergeschlagen, um sich alleine auf die Suche nach den Jägern machen zu können?

»Kind, was machst du hier? Was ist passiert?«

Die Besorgnis in der Stimme ihrer Mutter ließ sie erneut einen Versuch starten, sich aufzusetzen. Da sie diesmal umsichtiger vorging, gelang es ihr, ohne dass ihr gleich wieder schwarz vor Augen wurde.

Mit der Hilfe ihrer Mutter gelang es ihr aufzustehen. Nun, bemerkte sie, dass die Nacht noch nicht vollends vorüber war. Die Sonne ging gerade erst auf. Dennoch musste sie mehrere Stunden bewusstlos hier gelegen haben. Was hatte Toma sich nur dabei gedacht? Wo war er jetzt? Sollte sie jemanden davon erzählen?

Wahrscheinlich schon. Doch wem?

»Sophie, was ist passiert?«, fragte ihre Mutter erneut, während sie sie ins Haus führte. Schweigend ließ Sophie sich auf einen Stuhl setzen und hob ihre Hand, um die Beule an ihrem Hinterkopf zu untersuchen.

»Toma hat mich niedergeschlagen«, gestand sie schließlich stöhnend.

»Toma?« Der Unglauben in der Stimme ihrer Mutter belustigte Sophie ein wenig. Er war für sein ruhiges Gemüt bekannt. Natürlich konnte sie sich da nicht vorstellen, er würde irgendwen niederschlagen. Sophie jedoch kannte ihn besser. Er war schließlich nicht umsonst zu den Wächtern gegangen. Als sie realisierte, wie ihre Mutter sie immer noch fragend musterte, nickte sie matt. »Warum sollte er so etwas tun?«

»Ich war letzte Nacht bei der Schenke. Ich wollte die Jäger belauschen«, gestand Sophie. Nach dem Schreck, den sie ihrer Mutter verpasst hatte, rechnete sie nicht damit, ärger zu bekommen. »Als Toma zu Haus seiner Mutter ging, bin ich ihm gefolgt. Die Jäger sind nicht heim gekehrt, weswegen ich davon ausgegangen bin, er würde sich auf die Suche nach ihnen machen wollen.« Es gab keinen Grund zuzugeben, dass sie ihn begleiten wollte. »Als ich ihm androhte Sorin davon zu erzählen, bat er, ich sollte mich um seine Mutter kümmern und schlug mich dann nieder. Wahrscheinlich, damit ich die anderen Wächter nicht auf ihn aufmerksam machen kann.«

Ihre Mutter sah sie nur fassungslos an. Dann wurde ihr Blick streng. »Du hast dich fort geschlichen? Warum? Du weißt, du sollst das nicht machen.« Dann seufzte sie. »Ich werde Sorin davon unterrichten.«

»Ich komme mit«, rief Sophie sofort.

»Nein. Du wirst dich ausruhen.«

Sophie biss die Zähne zusammen. Sie würde sich diesmal nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen. Langsam ging ihr das wirklich auf die Nerven. »Spielt keine Rolle. Ich kann ihm mehr sagen, als du. Ich werde mit dir kommen.«

Ihre Mutter musterte sie. Sie schien abzuwägen, ob es sich lohnte, mit ihrer Tochter zu diskutieren. Dann nickte sie resignierend. »Also gut, du dickköpfiges Kind. Lass mich vorher deine Wunde untersuchen.«

Sophie nickte und ließ die Behandlung ihrer Mutter klaglos über sich ergehen. Sie vermied es zusammenzuzucken, als ihre Mutter einen Tinktur auf die Beule auftrug und ein scharfer Schmerz durch ihren Hinterkopf fuhr.

Nachdem ihre Mutter sie für ausreichend versorgt hielt, wies sie Sophie an, sich umzuziehen, bevor sich zu Sorin gingen. Auch hier fügte sie sich kommentarlos den Anweisungen. Sie wollte im Augenblick keinen Ärger verursachen, sondern wissen, ob es etwas neues von den Jägern gab. Und von Toma. War es ihm gelungen, sie zu finden? War auch er in Sicherheit? Oder zählte er inzwischen zu den Vermissten? Was, wenn er nicht wiedergekehrt war?

Es waren erst wenige Stunden vergangen, das wusste sie inzwischen mit Bestimmtheit. Doch wenn man in den Wäldern unterwegs war, reichte oftmals nur ein unbedachter Augenblick.

Sie beeilte sich mit dem Umziehen. Nachdem sie die Nacht in ihren Kleidern geschlafen hatte – sofern man es schlafen nennen konnte – war sie dankbar, frische Sachen anziehen zu können. Sie nahm sich sogar noch die Zeit, um sich das Gesicht zu waschen.

 

Als sie vor dem Haus der Wächter standen, atmete Sophie tief durch. Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Sie konnte aufgeregte Stimmen aus dem Inneren hören. Ob sie Tomas Verschwinden bereits bemerkt hatten?

Als ihre Mutter an die Tür klopfte, beschleunigte sich Sophies Herzschlag. Sorin hatte sie in der letzten Nacht angewiesen nach Hause zu gehen. Nun würde sie ihm gestehen müssen, sich ihm widersetzt zu haben.

Die Tür öffnete sich und das aufgeregte Stimmengewirr wurde lauter. Sorin sah ihnen entgegen. Als er den Wächterumhang in Sophies Händen erblickte, verhärtete sich sein Blick. »Was macht ihr hier?«, fragte er.

»Toma hat meine Tochter letzte Nacht niedergeschlagen, als sie ihn davon abhalten wollte, das Dorf zu verlassen, um auf eigene Faust nach den Jägern zu suchen«, erklärte ihre Mutter ohne Umschweife.

Der Hauptmann der Wache ließ den Blick kurz über Sophie schweifen und wandte sich dann wieder an die ältere Frau. »Meylin, darüber spreche ich gleich mit deiner Tochter. Es ist dennoch gut, dass du hier bist. Du kannst den Heilern zur Hand gehen. Und du Sophie kommt mit mir!«

Sophie nickte, versuchte dann jedoch durch die geöffnete Tür zu spähen. »Sind die Jäger zurückgekehrt?«

Das Seufzen des Hauptmannes verhieß nichts Gutes. »Zwei von ihnen«, antwortete er.

»Zwei von Zwölf?«, fragte ihre Mutter erschrocken. Der Wächter nickte angespannt und zog sie beide dann in das Wächterhaus.

Sophie machte einige stolpernde Schritte, bis sie weit genug ins Haus eingetreten war, damit die Tür geschlossen werden konnte. Da die Fensterläden immer noch geschlossen waren, waren sie auf das dämmrige Licht der Kerzen angewiesen.

»Du da!«, sagte er zu Meylin und deutete auf eine der Türen. Dann sah er Sophie an. »Du mit mir!«

Sophie nickte und schluckte dann. Sorin wirkte dermaßen abgeklärt ... bisher hatte sie ihn noch nie so erlebt. Er war zwar streng, was er als Hauptmann durchaus auch sein musste, doch oftmals war er nachsichtig und konnte auch über lustige Dinge lachen. Doch im Augenblick schien er so gar nicht duldsam aufgelegt zu sein.

»Setz dich«, wies er sie an. Sophie wagte es nicht, ihm zu widersprechen und nahm Platz. Sorin setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und betrachtete sie. »Und nun sagst du mir, wie Toma dich niederschlagen konnte, wenn du doch gleich nach Hause gehen solltest.«

Verdammt. Sie war ja davon ausgegangen, genau diese Frage gestellt zu bekommen. »Ich wollte ihn ausfragen«, erklärte sie. Es schien ihr die einfachste Ausrede zu sein. Und jene, die ihr wahrscheinlich am wenigsten Ärger einbrachte. »Wir kennen uns noch aus der Schule. Ich habe gehofft, er hätte noch ein paar Informationen, von denen ich nicht weiß.«

»Und? Hat er dir etwas verraten?«

»Nein.« Die Unzufriedenheit in ihrer Stimme schien Sorin zu belustigen. Aber selbst das amüsierte Funkeln in seinen Augen konnte die Sorge daraus nicht vollständig vertreiben. Dennoch wirkte er nun zugänglicher. »Wer von ihnen ist zurückgekehrt? Ist Tomas Vater dabei?«

Der Hauptmann der Wache seufzte und schüttelte den Kopf. »Zandar und Kuna sind wieder da. Sie sind schwer verletzt. Keine Ahnung wie sie es bis hier her geschafft haben.«

Sophie war verwundert über seine Offenheit. Sie war nicht nur eine Frau, sondern galt nach den Dorfregeln noch als Kind. Sie fasste ihren Mut zusammen und wagte es, weiter nachzufragen. »Haben Wölfe sie angegriffen?«

Sorin schüttelte erneut den Kopf. »Nein. Die Wunden stammen von keinem Tier, das ich ...« Er stockte und starrte sie an. Anscheinend wurde ihm gerade erst klar, mit wem er sprach. »Das geht dich nichts an. Du bist hier um meine Fragen zu beantworten, nicht umgekehrt«, erklärte er. 

Seufzend nickte sie. Es wäre ja auch zu schön gewesen ...

Bevor er noch weitere Fragen stellen konnte, erzählte sie ihm von ihrem Gespräch mit Toma. Wieder ließ sie die Tatsache aus, dass sie ihn ursprünglich begleiten wollte. Aber die erwähnte seine Bitte. Er schien nicht davon auszugehen, zurückzukehren. Wieso sonst hätte er sie darum bitten sollen, auf seine Mutter zu achten?

Ihr Blick glitt auf ihre Hände. Hoffentlich ging es ihm gut. Toma war einer der wenigen im Dorf, der sie für gewöhnlich nicht behandelte wie ein kleines Mädchen. Ja, bevor er die Schule verließ, hatten sie sogar gemeinsam geübt mit Waffen umzugehen. Von ihm wusste sie, wie sie sich den Dolch aus der Schmiede holen konnte, ohne dass Lasslo etwas davon mitbekam.

»Und das ist alles?«, erkundigte Sorin sich.

»Er muss mich in seinen Mantel eingewickelt haben, bevor er mich vor der Tür abgelegt hat, wo Mutter mich fand«, erklärte sie. Sie wusste, welche Bedeutung es hatte. Ein Wächter legte seinen Mantel niemals ab, außer wenn er die Wache verließ. Es war also nicht nur eine fürsorglich gemeinte Geste, damit sie nicht fror, sondern er hatte mit dieser Handlung seinen Austritt aus der Wache kundgetan. Ihn bei ihr zu lassen sorge dafür, dass Sorin ganz sicher davon erfuhr.

»Werdet ihr die übrigen Männer suchen? Und Toma?«, fragte Sophie, nachdem es wieder eine Weile still zwischen ihnen gewesen war.

»Nein«, antwortete Sorin prompt. »Der Zustand von den Heimkehrern deutet darauf hin, dass der Rest der Gruppe es nicht geschafft hat. Sie sind ganz bestimmt nicht mehr am Leben. Und ich bin nicht gewillt Männer hinauszuschicken, um nach Toten zu suchen.«

Sophie sah ihn an. »Und Toma?«

Ein erneutes Kopfschütteln. In den Augen des Hauptmannes konnte sie keinerlei Mitgefühl oder Trauer entdecken. »Er hat sich für seinen Weg entschieden. Nun muss er ihn auch beschreiten. Sollte er dabei umkommen, so ist es seine Sache. Wenn nicht, so hat er hier im Dorf ohnehin keinen Platz mehr.«

Fassungslos starrte sie ihn an. Konnte das sein ernst sein? Er wollte Toma aus der Gemeinschaft ausschließen? Selbst wenn er heil zurückkehren sollte, schickte er ihn damit in den Tod!

Sie dachte für einen Augenblick darüber nach, etwas dazu zu sagen. Als sie seinen kalten Blick sah, erstarb jedes Wort, welches sie hätte äußern können. Seine Entscheidung stand fest.

Während sie weiter seine Fragen beantwortete, dachte sie über Toma nach. Er war immer für die Menschen im Dorf da gewesen. Schon in der Schule hatte er sich immer für die Schwachen eingesetzt. Auch für sie. Wie viele Stunden hatten sie gemeinsam verbracht? Sophie konnte es nicht sagen. Doch über eine Sache war sie sich vollkommen im Klaren: Sie würde ihren Freund nicht im Stich lassen.

 

Die Schwierigkeit Abschied zu nehmen

 

Ohne sich ihre Unruhe anmerken zu lassen, ging Sophie im Kopf immer und immer wieder die Liste durch von den Dingen, die sie benötigen würde, wenn sie Toma folgen wollte. Sie hatte schon so viel Zeit verloren. Doch niemand sollte etwas davon mitbekommen.

Auf keinen Fall durfte sie den Brief für ihre Mutter vergessen. Ob sie es verkraften würde? Schloss man sie selbst auch aus der Dorfgemeinschaft aus, wenn sie Toma nun folgte?

Es gab viele Fragen, auf die sie die Antwort nicht kannte. Doch alles in ihr drängte danach, sich auf die Suche nach ihrem Freund zu machen. Ebenso wollte sie nach den verschwundenen Männern suchen.

Sie musste herausfinden, was geschehen war. Damals, als Beatrice verschwunden war, war sie zu jung gewesen, um aktiv etwas tun zu können. Doch sie war inzwischen achtzehn und Erfahrener. Sie würde es sich nicht verzeihen, wenn sie einfach nichts tat.

Hoffentlich verstand ihre Mutter es. Ihr war bewusst, was sie ihr damit antat. Doch es gab dermaßen viele Fragen, auf die sie die Antworten nicht im Dorf finden konnte. Sie kannte die Route der Jäger nicht. Doch sie wusste, wo sie sich nicht jagen gingen. Die Gebiete der mystischen Kreaturen. Diese Gegend war viel zu gefährlich. Auch sie würde sie meiden. Obwohl ihr kleiner Ausflug zum Beerenfeld ihr bereits gezeigt hatte, dass es keine Garantie gab.

Ihre Mutter war lange wachgeblieben. Anscheinend wollte sie ein erneutes Ausreißen von Sophie verhindern. Doch irgendwann war sie endlich eingeschlafen. Nun saß Sophie an dem einfachen Holztisch und schrieb ihrer Mutter einen Brief. Ob sie zum letzten Mal hier saß?

Tränen stiegen ihr in die Augen. Wenn sie daran dachte, wie sehr ihre Mutter nach Beas Verschwinden gelitten hatte. Sophie war alles, was sie noch hatte. Das Wissen, ihrer Mutter Schmerz zuzufügen, tat weh. Wenn Sorin Männer aussenden würde, um nach den Verschwundenen zu suchen, wäre es nicht nötig. Doch anscheinend kümmerten ihn nur jene Menschen, die im Dorf verweilten. Als Wächter und Hauptmann der Wache verließ er das Dorf so gut wie nie. Nur wenn ein Angriff der mystischen Kreaturen stattfand oder wieder einmal eines der Kinder verschwand. Selbst in diesen Fällen war der Suchradius nicht sehr weit.

Nun wo Sophie genauer über die Dinge nachdachte, realisierte sie zum ersten Mal, wie sinnlos diese Suchen waren. Sie blieben immer derart nahe am Dorf ... Kein Wunder. Es war nur logisch, dass die Kinder verschwunden blieben.

Sie schrieb die letzten Zeilen ihres Abschiedsbriefes und versuchte tröstende Worte für ihre Mutter zu finden, um es ihr irgendwie leichter zu machen. Wenigstens erhielt sie diesmal einige Abschiedsworte. Bei Bea war ihr dies nicht vergönnt gewesen.

Als sie schließlich schwungvoll ihren Namen unter den Brief setzte, liefen ihr unaufhörlich Tränen über die Wangen. Nun kamen die Zweifel. War ihr Vorhaben wirklich richtig? Sie war so fest davon überzeugt gewesen, doch nun, wo sie nur noch ihre Sachen nehmen und gehen musste ...

Verbissen schüttelte sie den Kopf. Sie durfte nicht anfangen sich durch ihre eigenen Gedanken verunsichern zu lassen. Toma ... Die Jäger ... Bea ... All die verschwundenen Kinder ... Sie war es ihnen allen schuldig. Sie war gut darin, sich zu verstecken. Wenn sie aufmerksam war, könnte sie früh genug bemerken, sollte sich ihr irgendetwas nähern.

Sophie erlaubte sich einen letzten Blick in den Schlafraum, in dem ihre Mutter friedlich schlafend in dem Bett lag, das sie sich so viele Jahre geteilt hatten. Niemals war sie davon ausgegangen, es könne ihr dermaßen schwerfallen von hier fortzugehen. Sie ballte ihre Hand zur Faust und wandte sich, immer noch weinend, von ihrer Mutter ab. Dann ging sie mir schnellen Schritten zur Haustür und trat nach draußen.

Erst jetzt erlaubte sie sich ein Schluchzen. Innerhalb des Hauses hatte sie es nicht gewagt, doch hier war die Gefahr nicht so groß, ihre Mutter zu wecken. Als sie zum Himmel blickte, war sie überrascht, wie klar die Nacht wirkte. Es hätte eher zu ihrer Stimmung gepasst, wenn es geregnet hätte. Doch das Frühjahr präsentierte sich von seiner schönsten Seite.

Mit einem schwermütigen Seufzen griff sie ihre Tasche fester und machte sich auf dem Weg hinaus aus dem Dorf.

 

Alleine im Wald

 

Noch nie war sie bei Nacht aus dem Dorf geschlichen. Bei hellem Tageslicht aus dem Dorf und in den Wald zu schleichen jagte ihr keine Angst ein. Doch nun, wo alles nur in den silbernen Schein des Mondlichtes getaucht war, kam sie nicht umhin, sich zu fürchten.

Sie nahm ihren gewohnten Weg in den Wald hinein. Sie wusste, die Wachen beobachteten diesen Pfad selten. Zumindest war dies tagsüber so. Als sie sich nun jedoch der Stadtbefestigung näherte, konnte sie die Fackeln der Wachposten erkennen. Mist. Wieso liefen sie ausgerechnet jetzt dort herum. Sollte sie warten oder sich einen anderen Weg suchen? Es war zum verrückt werden.

Sie hockte sich in einer dunklen Ecke nieder, in der sie die Posten gut im Auge behalten konnte. Irgendwann mussten sie ja fortgehen. Schließlich war Toma letzte Nacht ebenfalls aus dem Dorf gekommen.

Es dauerte eine Weile, bis die Wachen sich endlich bewegten. Angespannt beobachtete Sophie wie sie den Wall entlang gingen und sich in Richtung Wachhaus davonmachten. An den Bewegungen der Fackeln konnte Sophie erkennen, wie sie immer wieder stehen blieben, um sich umzusehen.

Als der Feuerschein endlich verschwand, wagte Sophie es, aus ihrem Versteck hervorzukriechen. Kurz blieb sie lauschend stehen. Es war nichts zu hören. Ohne noch ein weiteres Mal zu zögern, lief sie los. Sie musste nur weit genug von dem Dorf wegkommen, damit sie nicht doch noch auf die Idee kam, umzukehren. Wenn sie erst einmal im Wald war, würde sie es auch auf jeden Fall durchstehen.

Sophie schlüpfte durch eine schmale Öffnung des Holzwalls und atmete dann tief durch. Wie war es Toma nur gelungen, aus dem Dorf zu kommen? Irgendwie hatte sie sich die ganze Aktion einfacher vorgestellt. Nun spielte es keine Rolle mehr. Sie musste weiter. Je länger sie trödelte, desto größer wurde der Abstand zwischen ihr und Toma. Er war vor einem Tag verschwunden. Es war also ohnehin schon schwer genug, ihm zu folgen.

Zitternd hob sie den Kopf und sah den Wall entlang. Keine der Wachen war zu sehen. Entschlossen nickte sie sich selbst zu und machte dann den ersten Schritt auf den Wald zu. Dann den nächsten. Und noch einen.

Mit jedem ihrer Schritte wurde sie schneller. Schließlich erreichte sie den Waldrand. Erst als sie im Schatten der Bäume stand, drehte sie sich noch einmal zurück zum Dorf. Im Stillen verabschiedete sie sich noch einmal.

Der Schein einer Fackel tauchte auf und Sophie machte unbewusst einen Schritt zurück. Es war unwahrscheinlich, dass man sie hier entdeckte, doch sie musste es ja nicht heraufbeschwören. Mit den Gedanken bei ihrer Mutter und den anderen Dorfbewohnern machte sie sich auf den Weg zu dem Baumstumpf, in dem sie den Dolch aufbewahrte.

 

Keuchend blieb sie stehen und lauschte. Die Sonne ging langsam auf. Es war angenehm, nun da der Wald nicht mehr in vollkommener Dunkelheit lag. Wider erwarten war sie in der Nacht niemanden begegnet. Zu Beginn war es unheimlich gewesen, doch mit jedem Schritt war sie mutiger geworden.

Inzwischen fühlte sie sich einigermaßen sicher. Es war nichts zu hören und sie hatte ein gutes Stück Weg zurückgelegt. Ob sie überhaupt auf dem richtigen Weg war? Sie versuchte immerzu, sich in Toma und die Jäger hineinzuversetzen und sich danach zu orientieren, in welche Richtung sie wohl gegangen wären. Doch ihre Zweifel konnte sie nicht abschütteln.

Mit einem Seufzen griff sie ihren Beutel fester. Nun, wo sich ihr Atem beruhigte, nahm sie auch die Geräusche des Waldes genauer wahr. Und sie hörte auch das leise Plätschern eines Baches. Entschlossen drehte sie sich in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Sie könnte eine Pause machen. Es war ohnehin nicht ratsam, ohne Unterlass weiterzulaufen. Sie würde sich verausgaben und nicht in der Lage sein zu reagieren, sollte tatsächlich etwas passieren.

Sie seufzte erneut und ging dann auf das Plätschern zu. Es dauerte nicht lange, da sah sie den Bach. Verwundert sah sie sich um. Es musste ein Abzweig des Flusses sein, der Nahe an ihrem Dorf vorbei floss.

Sie ließ ihren Beutel in das Gras fallen, welches nahe des Flusses wuchs und setzte sich daneben. Während sie ihren Beutel öffnete um nach dem Brot zu suchen, welches sie eingepackt hatte, zog sich ihr Magen schmerzlich zusammen. Sie hätte vielleicht am Abend mehr essen sollen. Ihr war bisher nicht bewusst gewesen, wie anstrengend konsequentes Laufen sein konnte.

Mit den Händen schöpfte sie Wasser aus dem Bach und trank erst einmal ausreichend. Danach wusch sie sich das Gesicht, um sich ein wenig aufzuwecken. Als sie schließlich nach dem Brot griff und das erste Stück in den Mund steckte, schloss sie für einen Augenblick genüsslich die Augen. Vielleicht war ihr Aufbruch doch zu unbedacht gewesen.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie sich zum ersten Mal genauer um. Es kam ihr seltsam vor, dass sie Bäume nicht am Bach wuchsen. So gab es in beide Richtungen einen schmalen Streifen Gras, der vollkommen unberührt erschien. Was wohl dahinter steckte? Gab es überhaupt einen bestimmten Grund dafür. Es wirkte ungewöhnlich, doch vielleicht war sie inzwischen auch einfach zu sehr darauf ausgerichtet, dass etwas passieren musste.

Belustigt über sich selbst, schüttelte Sophie den Kopf. Dann hielt sie inne. Auf der anderen Seite des Baches lag etwas im Gras. Wieso war es ihr vorher nicht aufgefallen?

Mit zitternden Beinen stand sie auf. Erst jetzt realisierte sie, wie sämtliche ihrer Muskeln zu zittern schienen. Ob es an der stundenlangen Beanspruchung lag? Es war möglich. Mit vorsichtigen Schritten ging sie durch den Bach, um den Gegenstand zu untersuchen, der dort lag. Sie kümmerte sich nicht darum, als das Wasser durch das dünne, abgetragene Leder ihrer Schuhe drang. Auch der Saum ihres Kleides wurde nass. Doch der Bach war nicht tief, weswegen sie sich keine Gedanken darum machte.

Sie erreichte die andere Bachseite und erstarrte. Das Gras war niedergedrückt, was deutlich darauf hinwies, dass jemand hier gerastet hatte. Nicht weiter besorgniserregend. Doch dort waren dunkle Flecken im Gras. Sophie ging einige Schritte näher, um sie besser betrachten zu können.

Blut!

Schluckend sah sie zu dem Gegenstand, der sie überhaupt hier her gelockt hatte. Ein Rucksack. Auch er war mit derselben dunklen Flüssigkeit besprenkelt. Ängstlich sah sie sich um. Irgendwer war hier angegriffen worden. Das Blut war ein deutlicher Hinweis darauf.

Mit bebenden Fingern griff sie nach dem Rucksack und zog ihn zu sich. Sie achtete darauf, keine der Stellen zu berühren, die mit Blut bespritzt worden waren. Mit rasendem Herzen sah sie sich erneut um. Das Blut war nicht frisch, was sie eigentlich beruhigen sollte, doch ...

Sie schüttelte den Kopf. Während sie langsam zurück zu ihren Sachen ging, wollte sich ihr Herzschlag einfach nicht beruhigen. Der Hunger war vergessen, sie wolle nur noch fort von hier. Sie brauche ein Versteck, wo sie sich den Rucksack genauer ansehen konnte. Vielleicht konnte ihr der Inhalt Aufschluss darüber geben, wem er gehörte. War er von einem der Jäger? Die mystischen Wesen trugen ihres Wissens nach, keine Dinge dieser Art. Oder doch?

Wie viel wusste sie wirklich über die Kreaturen, von deren Existenz sie von klein auf wusste? Sie waren böse. Dies war beinahe auch schon alles. Die Vampire lebten in kleineren Gemeinschaften und gehorchten alle dem Ältesten ihrer Rasse. Und die Wölfe? Sie lebten in Rudeln unter ihrem Alphawolf. Die Ghoule ... Diese waren ihr bis heute ein Rätsel. Sie schienen keinerlei geplantes Vorgehen an den Tag zu legen.

Nun wo sie einsah, wie wenig sie wirklich wusste, kamen auch die Zweifel zurück. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie war vollkommen alleine losgezogen und war bereit gewesen, sich der Welt außerhalb der Dorfmauern zu stellen. Und nun realisierte sie, zum ersten Mal wahrscheinlich, dass sie rein gar nichts über diese Welt wusste.

Sie brauchte ein Versteck. Einen Ort, wo sie in Ruhe darüber nachdenken konnte, wie sie weiter vorgehen wollte. Ob sie überhaupt weiter gehen sollte. Wie viel Sinn ergab ihre Reise? Was konnte sie schon bewirken?

Mit dem Gefühl unendlich klein zu sein, sammelte sie ihre Sachen zusammen und machte sich auf die Suche nach einem Versteck.

 

Es war kein guter Unterschlupf. Jeder der genauer hinsah, würde sie zwischen den hohen Büschen sofort entdecken. Doch etwas anderes hatte sich nicht finden lassen. Zumindest fühlte Sophie sich hier sicher genug, um sich dem gefundenen Rucksack zuzuwenden.

Das Zittern ihrer Finger hatte inzwischen nachgelassen und so gelang es ihr die Bänder, die den Rucksack geschlossen hielten, einfach zu öffnen. Oben drauf lag ein Stück Stoff. Die braune Färbung kam ihr seltsam bekannt vor. Sie selbst besaß einen Umhang in derselben Farbe. Beinahe alle Kinder in Lovlin besaßen so einen. Sie trugen ihn in der Schule, wenn es noch zu kalt war, um sich ohne Umhang draußen aufzuhalten.

Das Zittern kehrte zurück. Kein Jäger hätte ihn mitgenommen. Sie besaßen entsprechende Jagdausrüstung. Toma jedoch ... Nachdem er sie niedergeschlagen hatte, war sie von ihm in seinen Umhang eingewickelt worden. Er hätte also auf etwas anderes zurückgreifen müssen. Konnte es sich hier wirklich um Tomas Rucksack handeln? Was war passiert? Und wessen Blut war es, das sich auf dem Rucksack befand?

Sophie bekam Panik. Sie verdrängte den Gedanken an die Begebenheiten, in denen Toma seinen Rucksack zurückgelassen hätte. Sie zog an dem Stoff und sah ihre Befürchtung bestätigt. Sie erkannte es an den geflickten Stellen, die ihr im Laufe ihrer gemeinsamen Schuljahre so vertraut geworden waren.

Ein Schluchzen drang aus ihrem Mund, während sie begann, auch den Rest der Gegenstände aus dem Rucksack zu nehmen.

Vielleicht lebt er ja noch, redete sie sich ein. Vielleicht musste er fliehen, nachdem er seine Angreifer verletzt hat und hatte keine Zeit, um seine Sachen mitzunehmen.

So hätte es sein können, oder nicht? Zumindest wies der Rucksack darauf hin, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Sie würde ihn mitnehmen und Toma wiedergeben, sobald sie ihn fand. Vorher musste sie ihn jedoch reinigen. Sie wollte ihn nicht bei sich tragen, solange sich das Blut darauf befand. Dafür musste sie jedoch noch einmal zu dem kleinen Bach, an dem sie gerastet hatte.

 

Böses Erwachen

Es war eigenartig. Obwohl sie das Blut und der zurückgelassene Rucksack sehr erschreckt hatten, war sie nun entschlossener denn je Toma zu finden. Wiesen seine zurückgelassenen Sachen nicht deutlich darauf hin, dass sie sich auf dem korrekten Weg befand? Sie hatte also die richtigen Entscheidungen getroffen.

Ihre Sachen verweilten inzwischen ebenfalls in Tomas Rucksack, so war es einfacher für Sophie sie zu transportieren. Sie hätte gleich daran denken können, einen Rucksack mitzunehmen, doch ihre Mutter besaß derartiges nicht. Es war ihr gelungen den Mut zu finden, zurück zu der Stelle am Ufer zu gehen, wo sie den Rucksack gefunden hatte. Nachdem sie ihn gereinigt hatte, war sie der Blutspur gefolgt.

Nun fand sie sich an einer Stelle, an der sie keine weiteren Spuren Entdecken konnte. Doch es gab einige Feuerstellen sowie Stellen, an denen Zelte gestanden haben mussten. Der Boden wies klar darauf hin. War hier ein Lager gewesen? Unsicher ging sie auf eine Feuerstelle zu und hielt ihre Hand darüber.

Kalt.

Wer immer hier gewesen war, schien schon eine Weile nicht mehr da zu sein. Sich ein wenig tollkühner fühlend, begann sie das Gebiet zu untersuchen.

An den Plätzen, wo die Zelte gestanden haben mussten, war nichts zu finden. Lediglich an den Abdrücken war noch zu erkennen, was sich dort befunden hatte. Sie fand jedoch einige Leinensäcke die mir Sand gefüllt waren. Welchen Sinn sie wohl hatten? Den Abdrücken nach, schienen sie das gesamte Lager umrundet zu haben.

Sophie versuchte sich einen Reim darauf zu machen, doch sie bekam es einfach nicht zusammen. Dann entdeckte sie die Spuren. Es begann mit einigen Blutspritzern. Diesmal musste Sophie nicht darüber nachdenken, was sie sah, es besaß die gleiche Färbung wie das Blut am Fluss.

Die wenigen Spritzer wechselten bald in einen unermüdlichen Strom und endeten in einer Blutlache. Ein Keuchen entfuhr ihr. Bei der Menge an Blut, das sich hier befand ... Wenn es von einem Menschen kam, hatte dieser es ganz bestimmt nicht überlebt.

Es gab noch weitere Spuren. Doch sie hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Im ersten Augenblick erinnerten sie an Spuren eines Pferdewagens mit sehr breiten Rädern, doch die Riefen die sich abzeichneten passten einfach nicht dazu. Was hinterließ solche Abdrücke? Sollte sie ihnen Folgen?

Wer oder was immer für das Blut zuständig war, schien weggebracht worden zu sein. Hier konnte sie nämlich keinen weiteren Hinweis finden. Weder eine Leichte – wofür sie wirklich dankbar war - noch andere Blutstropfen.

Ratlos drehte sie sich um die eigene Achse. Etwas erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ein Reflektieren des Sonnenlichtes. Mit großen Schritten ging sie auf die Stelle zu.

Wieder blieb sie verwundert stehen und betrachtete die Bruchstücke, die im Gras lagen. Mit gerunzelter Stirn hockte sie sich hin, um zögernd ihre Hand danach auszustrecken. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Zuerst dachte sie an das Material, aus dem die Klingen der Dolche und Schwerter gemacht worden waren. Doch es war zu fein und filigran. Der Stahl war härter und dicker.

Dieses Material hier sah nur auf den ersten Blick so aus. Doch es war noch etwas anderes. Neben seltsamen Einkerbungen, entdeckte sie ein Loch, in dem eine durchsichtige Scheibe eingelassen war. Und dahinter ...

»Was ist das?«, murmelte Sophie vor sich her. Dieses Ding war ihr vollkommen fremd. Sie griff nach einem Stück des seltsamen Materials. Es fühlte sich nicht an wie eine Klinge. Die Substanz war biegsam. Sie testete es erneut, doch diesmal mit beiden Händen. Es knackte und plötzlich war es entzweigebrochen. Fasziniert starrte sie auf die beiden Stücke in ihren Händen.

»Also kein Stahl«, murmelte sie und stand auf. Was immer es gewesen war, war inzwischen zerstört und damit wertlos. Dennoch würde sie gerne wissen, was für ein Material es war.

Ein Heulen ertönte und ließ sie erstarren. Verdammt! Ihr Herzschlag beschleunigte sich umgehend und Sophie sah sich hektisch um, in der Hoffnung ein Versteck zu finden. Das Heulen war zu nahe gewesen.

Wieder zog das düstere Jaulen durch den Wald. Diesmal gelang es ihr eine Richtung auszumachen. Hoffte sie zumindest. Es schien von überall zugleich zu ertönen.

Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte sie los. Wenn es ihr gelang, auf einen der höheren Bäume zu gelangen, wäre sie zumindest ansatzweise in Sicherheit.

Den Blick fest auf den Baum gerichtet achtete sie nicht auf ihre Umgebung. Erst als ein Poltern und animalisches Brüllen gleich vor ihr ertönte, hielt sie erneut an.

Mist, mist, mist! Diesmal war es aus der Richtung gekommen, in die sie lief. Ein düsteres Knurren, das beinahe nach menschlichen Worten klang, ertönte.

Dann brach es aus dem Schatten der Bäume hervor.

Sophie konnte einen Schrei nicht unterdrücken, während sie mit weit aufgerissenen Augen zurück stolperte. Vor ihr stand das grausigste Wesen, welches ihr jemals untergekommen war. Sie war davon ausgegangen, die Ghoule wären an Abstrusität nicht zu übertreffen, doch sie hatte sich geirrt.

Das Wesen überragte Sophie beinahe um das doppelte. Sein Körper schien an die menschliche Form angepasst worden zu sein, doch er war durch Wucherungen und Auswüchsen an Rücken und den Gelenken vollkommen entstellt. Der Kopf ruhte beinahe auf der Brust, da die Muskulatur der Arme und Schultern viel zu ausgeprägt war. Schwarzes Haar zierte den viel zu klein wirkenden Kopf. Trotz ihrer Panik, bemerkte sie jedoch die kahlen, nässenden Stellen. Schwarze Adern zogen sich über jeden Zentimeter des Körpers. Es trug keine Kleidung, doch manche Stellen seiner Haut sahen aus wie die Schuppen. Oder war es die Rinde eines Baumes. Gräulich bedeckten sie die Oberarme, Teile des Gesichts und auch ein Stück des Bauches und die Beine.

Schwer keuchend stand das Wesen da und starrte sie an. Sophie wagte es nicht, sich zu rühren – ja, sie wagte es in diesem Augenblick nicht einmal zu atmen. Ihr Verstand schien in vollkommen ungewöhnlichen Bahnen zu arbeiten als sonst, anders konnte sie sich nicht erklären, warum ihr diese entstellte Kreatur merkwürdig vertraut vorkam.

Langsam und vorsichtig machte Sophie einen Schritt zurück. Diese minimale Bewegung reichte aus, damit das Wesen erneut brüllte. Nun hielt Sophie nichts mehr. Sie wirbelte herum und rannte davon.

Sie konnte hören, wie auch die Kreatur sich wieder in Bewegung setzte. Die polternden Schritte ließen den Boden unter Sophies Füßen erzittern.

Sie musste fort von hier! Es musste ihr gelingen, dem Wesen zu entkommen. Was immer dieses Monster war, es wollte ihr ganz bestimmt nichts Gutes.

Endlich erreichte sie eine Stelle, an der die Bäume dichter standen. Sie dachte für einen kurzen Augenblick darüber nach, ob sie vielleicht auf einen davon klettern sollte, doch dann hörte sie das Brechen von Holz.

Ein Blick über ihre Schulter bestätigte, was sie vermutet hatte. Das Wesen hatte einen der Bäume einfach mitsamt der Wurzel herausgerissen. Nun schleuderte es den Stamm in ihre Richtung.

Es gelang ihr auszuweichen und dies spornte sie nur dazu an, noch schneller zu laufen.

Weit kam sie nicht. Nachdem sie einige weitere Bäume passiert hatte, kam sie schlitternd zum Stehen. Vor ihr stand der Grund für das Heulen, das sie ursprünglich dazu gebracht hatte, wegzulaufen. Das Rudel Wölfe stand knurrend und mit gefletschten Zähnen vor ihr.

Sophies Herz setzte einen Schlag aus. Sie war verloren. Es gelang ihr noch gedanklich eine kurze Entschuldigung an ihre Mutter zu senden, dann wurde ihre Welt schwarz.

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.07.2018

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