Namira erhob sich, dabei klapperten ihre langen, gold strahlenden Schuppen leise. Ihre Glieder waren steif gefroren, so dass sie sich erst einmal ein wenig streckte. Wehmütig blickte sie nun den kupferfarbenen Drachen an, der noch immer neben ihr in einem Nest aus Moos schlief. Sein kühler, ruhiger Atem erfüllte die Höhle mit einer beruhigenden Ruhe. Namira wollte nicht weg von Xanthos. Aber sie konnte nicht. Sie musste fort, sie durfte nicht mit Xanthos zusammen sein. Das war gegen den Kodex. Und wer den Kodex brach musste dafür büßen. "Wieso verbietet der Kodex eigentlich Freundschaft zwischen Sonne und Mond?" murmelte die Drächin traurig. Doch sie wusste genau, dass sie mehr als freundschaftliche Gefühle für den Drachen der Nacht hatte. Sie wusste, sie liebte ihn. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie Xanthos ein letztes Mal ansah. "Leb wohl. Ich werde dich vermissen." hauchte sie ihm ins Ohr, dann verschwand sie. Löste sich auf. Was zurück blieb waren nur einige Sonnenstrahlen, die nach einiger Zeit ebenso verschwunden waren, wie die goldene Drächin selbst.
Als Xanthos endlich erwachte, da war Namira bereits seit mehreren Stunden fort. "Namira?" rief er fragend in die Leere hinein. Wo war sie? Vorhin lag sie noch neben ihm.. aber da war nun nur ein leeres Nest. "Namira, wo steckst du? Namira? NAMIRA!" Panisch lief der Monddrache in der Höhle umher. Er suchte die goldene Drächin. Doch er fand sie nicht. Dann bemerkte er, dass ihr Nest kalt war. So, als wäre Namira bereits seit Stunden fort. Oder so, als wäre sie nie da gewesen. Einige rötliche Tränen rannen aus Xanthos Augen. "Oh Namira.. Wieso hast du mich verlassen?" jammerte er verzweifelt. Der Schmerz war unvorstellbar, so als hätte ihm jemand das Herz zerschnitten. Bis sein Verstand ihm klar machte, dass diese Liebe zwischen ihnen nicht sein durfte. Er war der Drache der Nacht, sie die Drächin des Tages. Es war ihnen verboten, sich zu lieben. Es war ihnen verboten, auch nur befreundet zu sein. Dämlicher Kodex. Doch Xanthos liebte sie nun mal, und jetzt war sie fort, einfach so! "Namira, ich liebe dich doch." murmelte der Drache schwach. Dann trottete er mit hängendem Kopf und schleifendem Schweif zum Ausgang seiner Höhle. Er breitete die Flügel aus, dabei rasselten seine feinen, kupferfarbenen Schuppen wie ein Kettenhemd. Er stieg hianuf, weit hinauf, in den von goldenem Sonnenlicht erhellten Himmel. Da wusste er, Namira war noch da. Sie war dieses Licht. Und Xanthos lächelte wieder.
Falko seufzte laut auf. "Wieso muss eigentlich immer ich die 'Drecksarbeit' machen?" Erschöpft wischte er sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn, dabei strich er sich auch gleich einige karamellbraune Haarsträhnen bei Seite. Dann griff er erneut nach dem Schwamm, tauchte ihn zurück in den Eimer, der mit schaumigem Wasser gefüllt war, um ihn dann wieder an die Fensterscheibe zu drücken. Mit kreisenden Bewegungen schob er den Schwamm an der Scheibe entlang. 'Fenster putzen… das könnte doch auch mal jemand anderes tun.' dachte sich der Junge genervt. Er wollte den Schwamm grade mit neuem Schaumwasser tränken, als eine schrille Stimme nach ihm schrie. "FALKOOOO!" Vor Schreck ließ dieser den Schwamm fallen. "Herrgott im Himmel, Miranda! Erschreck mich nicht immer so." fauchte Falko das schwarzhaarige Mädchen an, welches auf einmal hinter ihm stand. "'Tschuldige." sagte sie kleinlaut, plapperte dann aber erneut drauf los: "Ich hab da ein Buch gefunden, ein ganz altes, das musst du dir mal ansehen! Das ist ein richtig tolles Buch, es handelt von zwei Drachen die-" Da unterbrach Falko sie. "Mach mal halblang. Ein altes Buch, schön. Es geht um Drachen? Ah ja. Also kann es sowieso nicht wahr sein. Aber gut, erzähl mir was mit den Drachen passiert." "Nun, die Drachen sind unsterblich ineinander verliebt. Allerdings ist es ihnen verboten, zusammen zu sein. Der Kodex verbietet es ihnen, der Kodex des Drachengeschlechts. Sie dürfen nicht beisammen sein, weil das Männchen über die Nacht und das Weibchen über den Tag wacht." führte Miranda ihren Bericht fort. Falko protestierte: "Aber das ist doch dämlich, weswegen bitteschön sollte man zwei Lebewesen verbieten, sich zu lieben?" In diesem Moment betrat eine weitere Person den Raum. Das graubraune Haar des schlanken, jungen Mannes stand in alle Himmelsrichtungen ab, sein weißer Kittel wirkte zerknittert. Theleus Cross sah aus wie immer. "Onkel Thelu!" rief Falko verwirrt. "Ja, Neffe, ich bin's." grinste Theleus. "Und Kinder, wisst ihr was? Die Geschichte aus diesem Buch ist wahr. Der Monddrache und die Sonnendrächin sind seit jeher dazu verdammt, sich nacheinander zu sehnen. Ein Zusammensein ist für sie unmöglich." Mirandas Augen wurden groß. "Wenn diese Geschichte wahr ist.. aber.. nein. Das ist ja schrecklich!" "Oh ja, das ist es wirklich." Stimmt der Professor ihr zu. Falko runzelt die Stirn. "Miranda.. würdest du bitte dieses Buch holen gehen? Ich würde es mir gerne mal anschauen." Der siebzehnjährige Junge wusste nicht, wieso, aber er fühlte sich dem Drachenpaar aus diesem Buch irgendwie verbunden. Miranda blickte ihn fragend an. "Wieso willst du denn das Buch haben?" "Ich muss den Drachen helfen, Miranda. Ich weiß nicht wie, aber ich muss es einfach. Und dazu brauche ich erstmal dieses Buch." sagte Falko ernst, während er Miranda tief in die Augen blickte. "Ist ja süß von dir." lächelte sie und flitzte danach sofort los, um das Buch zu holen. Theleus sah seinen Neffen verwirrt an. "Wie bitteschön willst du das anstellen?" murmelte er kopfschüttelnd. "Ich weiß es nicht. Aber ich werde es schaffen." war die Antwort.
"Öh, Falko.. sag mal, willst du nicht vielleicht mal das Putzzeug da weg tun?" Theleus prustete laut vor Lachen. Auch Falko fing an zu Lachen. "Upps." brachte er dann noch heraus, schnappte sich den Eimer mit Schaumwasser, den Schwamm und schaffte die Fensterreinigungsutensilien beiseite.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2012
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