1
Mein Finger lag auf dem Kippschalter der Nachttischlampe, und weil es draußen dunkel war, dachte ich an Gott. Natürlich hatte die Sache einen Haken und draußen war es längst hell. Die Welt rumorte vor meinem Rollladen, ich hörte sie hupen und husten, es musste schon nach zehn sein, denn die Abgase der Autos kamen durch die Ritzen gekrochen, ich rümpfte die Nase und nahm den Finger vom Kippschalter.
Es war Samstag, und daran konnte auch der liebe Gott nichts ändern. Es war der Tag nach Freitag, und an Freitagabenden begab ich mich in die Kneipe »Herkules«, um mein Bier mit den Honoratioren des Viertels zu trinken, dem Metzger, dem Bäcker, dem Fliesenleger, dem Inhaber einer »Beschriftungen aller Art« verheißenden Existenzgründerklitsche, und warum die Kneipe »Herkules« heißt, ist schnell erklärt. Der sie betreibt, heißt Herkel. Man hätte die Kneipe also entweder »Ferkel« oder »Herkules« nennen können, beides hat irgendwie mit griechischer Mythologie zu tun. Oder »Heike«, was wenigstens griechisch klingt, finde ich. Doch wer sagt schon »Heike« zu seiner Kneipe? Na, ich hätte es vielleicht getan, denn eine Heike liebte ich einst. Schwamm drüber. Schwamm über alles.
Übers Gesicht. Später unter der Dusche, noch immer hielt meine Wohnung die Illusion von »Nacht« oder »früher Morgen« aufrecht, dabei war es früher Morgen gewesen, als ich heimgekehrt war, nach gewissen nicht mehr zu ermittelnden Ereignissen, die mir nicht einfallen würden, ich konnte denken was ich wollte, ich wollte aber überhaupt nicht denken. Ich erinnerte mich an des Bäckers herausgeprustete Mutmaßung, da neben der Laterne stehe ein herrenloser Koffer, das sei sofort dem Innenminister zu melden, der schicke dann die Bundespolizei. Es war kein herrenloser Koffer, es war nur ein Betrunkener. Das merkte man, wenn man dagegen trat, denn Koffer fluchen nicht, sie explodieren höchstens. Es klang wie »Leck mich am Arsch« und war, wenn der wirklich »Leck mich am Arsch« gesagt hatte, das rhetorische Highlight einer stundenlangen Konversation, deren kulinarischer Höhepunkt wie immer die frische und noch dampfende Fleischwurst des Metzgers gewesen war, von diesem aus der nahen Wurstküche geholt, wo der faule Geselle sie kochte – es musste halb vier gewesen sein – und ohne Brot verzehrt, denn der Bäcker war schon gegen Zwei gegangen, sein Handwerk wollte es so und niemand hatte Lust, die drei Straßen zur Bäckerei zu gehen, um warme Wecken für die Wurst zu erbitten. Lothar, der Wirt, kokettierte mit altbackenem Brot, wir lehnten dankend ab.
Über was wir sprachen? Über alles. Wir sprachen über »die Lage«, selbstverständlich sprachen wir über sie und hatten uns, auch normal, wieder gestritten. »Die Lage« sei wie immer (darin waren wir uns einig), also zufriedenstellend oder katastrophal oder undurchschaubar oder »doch wohl klar«. Darin unterschieden sich die Meinungen, aber das war, noch einmal, normal gewesen. Gegen zwölf hatten wir, auch wie immer, sowieso alles wie immer, unsere Weltvernichtungsphantasien, aushungern müsse man das Pack, nein, endlich mal die Atombomben einer nützlichen Verwendung zuführen, schade ums Viehzeug, schade um den schönen Planeten. Wir sind Humanisten und plädierten für schmerzfreie Selbstausrottung, einfach mal überall den Strom abschalten, dann erfrieren sie, geht schnell und macht keine Unordnung, eh keiner mehr da, der den Dreck wegkehrt . Gegen Eins hatten wir auch diesen Punkt abgehakt und besprachen die käuflichen Frauen unseres Viertels, ein paar Thais und ein paar aus dem Osten, aber nein, wir blieben sitzen und sparten unser Geld, Kopfkino hatte einfach ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis.
Es war Viertel vor zwölf, keine 4 Stunden Schlaf lagen hinter mir, aber ich schlafe nie lange, wenn ich betrunken bin. Ich begab mich ins Licht. Es war trübster Winter, es stank, es bewegte sich, es ging mir aus dem Weg, es schlug mir Wind um die Ohren, mein linker Schnürsenkel fegte über den Asphalt, der Schuh kletterte am Fersenbein hoch und wieder runter, ich würde mir eine Blase laufen. Ich holte mir zwei Brötchen. Drehte um und lief zurück. Ich stand vor der Haus, in dem ich wohne, es war wie immer, es war ganz anders, ich wusste nicht was, denn eine hübsche junge Frau ging an mir vorbei ins Treppenhaus, ich sah ihr nach, blieb stehen, dachte: Hier stimmt was nicht. Ich hatte recht. Neben der Tür hing ein goldenes Schild, noch nie hatte hier ein Schild gehangen, schon gar keins, auf dem in schwarzer Prägeschrift stand:
»Moritz Klein, Detektiv. Untersuchungen aller Art«
Ich heiße Moritz Klein. Ich wohne hier. Ich bin kein Detektiv, ich untersuche nie etwas, weder meinen Urin noch die Weltgeschichte. Und das Schild war gar kein Schild, es war goldfarbene Abziehfolie. Die Erinnerung kam zurück. Ich fluchte »Leck mich am Arsch« und riss die Folie mit einem Ruck von der Wand. Sie leistete keinen Widerstand. Drecksqualität.
2
Als ich, die zerknüllte Folie noch in der Rechten, die Treppen zu meiner Wohnung erstieg, tappte ich gleichzeitig durch einen Nebel kondensierter Ausdünstungen, dessen Schwaden sich langsam hinweghoben. Vier Säufer auf dem Heimweg. Ich sah uns nach durchzechter Nacht durch die Straßen wanken, Satzfragmente wie »Na, du hast’s gut, du hast ja keine geregelte Arbeit« klangen mir in den Ohren. Wie immer machte man sich lustig über meine prekäre Existenz, wie das jetzt wohl heißt, »hast du überhaupt was gelernt?«, fragte der Metzger und gab sich selbst die Antwort: »Nee, also siehst du.«
Etwas wurde getuschelt, von Natur aus dreckiges Lachen ertönte wie aus Jauchegruben, jemand zog mich am Arm. Ich stolperte über eine Schwelle, es roch nach irgendwas, das ich noch nie gerochen hatte, das kalte Licht von Leuchtröhren flackerte auf – ich stand im Verkaufsraum von Lüdemanns »Beschriftungen aller Art«, jener elenden Existenzgründerklitsche, in der zudem Schlüssel nachgemacht wurden und Schuhe besohlt, wahrscheinlich auch Lottoscheine angenommen und fünfzehnjährige Schulmädchen verhökert. Lüdemann hatte einst ebenfalls zum Prekariat gezählt, ein Jünger des Mindestlohns, zugleich mit einer Sehnsucht nach Kapitalismus zur Welt gekommen, der er hier frönte wie all die anderen, der Fliesenleger, der Metzger, der Bäcker, Menschen, die Frankreichs Entscheidung, die Vermögenssteuer nach deutschem Vorbild abzuschaffen, einen »Befreiungsschlag für das freie Unternehmertum« priesen und denen entgangen war, dass sie selbst niemals Vermögenssteuer bezahlt hatten oder jemals bezahlen würden. Und jetzt - ich hatte zu keuchen begonnen, denn ich wohne im 5. Stock, kein Fahrstuhl - erkannte ich Lüdemanns grinsende Fresse durch das Nebulöse der Erinnerung, hörte ihn »wenigstens ein Schild bräuchtest du, sonst bist du ja gar nichts«, und dann musste ein Text überlegt, eine Folie bedruckt worden sein.
Sieben mühsame Stufen lang schmeichelte mir der Gedanke, besondere intellektuelle Eigenschaften hätten mich in den Augen meiner Zechkumpane zum »Detektiv« prädestiniert, ein messerscharfer Verstand etwa, eine außergewöhnliche Kombinationsgabe, gehobene Schauspielerei oder wenigstens die besonders coole Art, wie ich Zigaretten mit einer Hand drehen konnte. Bis mir schließlich dämmerte – der alkohole Vorhang meiner Gegenwart hatte sich langsam zu heben begonnen -, dass es reine Phantasielosigkeit gewesen war. Ihnen war einfach nichts Besseres eingefallen, nichts Seriöseres zumal. Ein Detektiv soff (passte), war notorisch erfolglos (passte), stand irgendwo am Rand zwischen Legalität und Illegalität (passte – aber woher wussten sie das?) und trieb sich gerne mit zweifelhaften Frauen herum (Hermine – passte). Sie hatten Bücher gelesen, Filme gesehen, sie erkannten Verlierer mit geübtem Blick.
Wessen eigene Hand die Folie an die Fassade geklebt, wer als Textdichter verantwortlich gezeichnet hatte, all das würde für alle Zeiten im Dunkeln bleiben. Ich hielt die Überreste des Streiches in der Rechten, zu einer Kugel deformiert, ich beugte mich über das Geländer und sah hinunter, hielt die Hand über den Abgrund und öffnete sie. Die Kugel fiel nach unten, prallte auf den Steinboden, hüpfte ins Unsichtbare und war verschwunden. So schnell wurde man Detektiv, so schnell entsagte man dem Beruf, so schnell wurde aus dem Geschäftsmann wieder die arme Sau. Dann sah ich sie.
3
Von hinten betrachtet, gehörte sie durchaus zu den Frauen, die zu beschreiben einem der liebe Gott Hände gegeben hatte. Aber das interessierte mich nicht. Sie stand zwischen mir und meiner Wohnungstür, in der Luft lag noch das letzte Röcheln des Klingeltons. Ich blieb einen Moment hinter hier stehen, etwas schien sie sehr zu beschäftigen, denn sie hatte mich nicht bemerkt. Ich räusperte mich und sie drehte sich um.
»Guten Tag«, sagten wir gleichzeitig und lächelten gleichzeitig. »Wohnen Sie hier?« hätte sie jetzt fragen müssen, aber sie fragte gar nichts, sondern sagte lapidar: »Ich heiße Sonja Weber.« »Schön«, sagte ich und meinte es ehrlich, denn Sonja ist ein schöner Name.
Ich betrachtete Sonja Webers Gesicht wie ein x-beliebiges Bild beim hastigen Durchblättern einer Zeitschrift, schätzte sie auf solide 29 Jahre, konnte mich nicht entscheiden, ob ihr Gesicht ebenmäßig war oder nicht, ihr langes und glattes braunes Haar der Gesichtsform angemessen, die Augen braun oder blau oder grün, tief wie Gebirgsseen oder groß wie Spiegeleier, ihr Hals zu lang, zu kurz, zu faltig, verdächtig glatt. Ihre Brüste lagen unter novemberadäquatem Stoff – ein Zustand, für das Vladimir Nabokov notorisch »opak« zu schreiben pflegte - und machten nicht den Eindruck, sie seien schwer zu bändigen, ihre Figur war auf eine Art Durchschnitt, dass man nicht sofort erigierte, mein Blick war also der eines Mannes, der eine Frau nur anschaute, weil sie ihm irgendwie im Weg stand, und sie merkte es und trat zur Seite. Ich zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf, trat ein, sie folgte mir, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Sie war leichtsinnig; das merkte ich mir. Warum auch immer.
Meine Wohnung ist sehr übersichtlich. Sie besteht aus einem Wohnzimmer, das mangels Mobiliar leer ist, einem Schlafzimmer, das deshalb Schlafzimmer heißt, weil eine Luftmatratze und ein Schlafsack auf dem Boden liegen. Das Bad ist das Bad und Sonja Weber würde es nur zu sehen bekommen, wenn sie den Weg in die Gaststätte nebenan partout nicht mehr schaffen würde. Bliebe die Küche, für die ich nichts kann, denn sie war schon so eingerichtet, als ich eingezogen bin.
Wir setzten uns am Küchentisch gegenüber, sahen uns eine Weile an und schwiegen. Sie war am Zug und wusste das. Sie überlegte. Ich überlegte ebenfalls, falls sie fragen würde, ob wir nicht in mein Büro gehen sollten. Nein, würde ich antworten, das wird gerade renoviert. Alles Unsinn. Sie würde mich fragen, ob ich der Detektiv sei und ich würde »nein« antworten, »es gibt überhaupt keinen Detektiv, das war ein Scherz meiner na ja Zechkumpane.« Und genau das fragte sie.
»Sind Sie der Detektiv?«
»Ja.«
Diese Antwort erstaunte mich maßlos, Sonja Weber indes nickte nur und tat einen tiefen Seufzer. »Ich habe Ihr Firmenschild zufällig bemerkt«, sagte sie weiter. Ich blicke unter mich auf die Tüte mit den beiden Brötchen, dachte ans Kaffeekochen, »ich bin erst weitergegangen und dann wieder zurückgekommen und dann noch einmal und –», »ja«, nickte ich und meinte das Kaffeekochen, und sie wiederholte »ja« und meinte ihre Unentschlossenheit.
»Möchten Sie Kaffee?« fragte ich und sie antwortete: »Aber jetzt bin ich hier.«
Ich stand auf und ging zur Kaffeemaschine.
4
Warum hatte ich ja gesagt? Weil ich die jüngsten wissenschaftlichen Studien im Hinterkopf mit mir herumtrug, nach denen Frauen ebenso häufig Männern gegenüber gewalttätig sind wie umgekehrt? Hatte ich Angst, ein Nein provoziere sie zu verbaler Gewalt, einem saftigen »Und warum dann dieses Schild, du Arschloch?« Mag sein, aber so war es wohl nicht. Hatte ich mich etwa in sie verliebt und wollte sie mit einer abschlägigen Antwort nicht verlieren? Unfug. Erhoffte ich mir wenigstens ein sexuelles Abenteuer? Okay, nie ganz auszuschließen. Männer sind Frauen gegenüber sowieso sexuell benachteiligt, wegen dem Schwellkörper da unten, das ist eben nicht nur blanke Anatomie wie bei den Frauen, da muss man das Blut irgendwie dazu bringen – na, Sie wissen schon. Aber auch das traf nicht zu. Die Wahrheit war sehr viel profaner. Neugierde. Ich wollte einfach wissen, was Sonja Weber zu mir geführt hatte, an mir waren zu viele Krimis vorbeigerauscht, als dass ich hätte ignorieren können, dass eine Geschichte wie diese unweigerlich aus ist, wenn man einfach »nein« sagt. Einen solchen Krimi hatte ich noch nie gelesen, wie auch, denn wenn ein Detektiv »nein« gesagt hätte, wäre es auf der Stelle kein Krimi mehr gewesen, sondern – vielleicht Literatur.
Während nun der Kaffee gekocht wurde und ich zwei Tassen, zwei Teller, zwei Messer, Butter und Marmelade auf den Tisch stellte, die Brötchentüte aufriss und in die Mitte legte, erzählte Sonja Weber. Sie tat es stockend, ihre Haare fielen ihr dabei pausenlos ins Gesicht, weil sich dieses wie der gesamte Körper bewegte. Sie war aufgewühlt, jedenfalls ein wenig.
»Mein Bruder ist verschwunden«, begann sie. »Er heißt Georg Weber, ist 41 – also 7 Jahre älter als ich – » (aha, dachte ich, sie ist 34, muss man sich merken) – »und wohnt in der Lessingstraße, gleich hier um die Ecke. Vielleicht kennen Sie ihn vom Sehen.«
Sie beschrieb ihn mir, einen normalgewichtigen 41jährigen kaufmännischen Angestellten ohne besondere Kennzeichen, und ich kannte ihn natürlich nicht vom Sehen. Er sei unverheiratet, fuhr Sonja Weber fort, aber nicht schwul oder so, einfach nur unverheiratet, ein Single wie viele. Ich stand auf, nahm den Kaffee von der Wärmeplatte, schenkte uns ein, wir frühstückten, Sonja schwieg, bis sie ihr Brötchen hergerichtet und aufgegessen hatte. Mit dem letzten Krümel der Mahlzeit, dem letzten Schluck Kaffee nahm sie ihren Bericht wieder auf.
»Ich kann nicht behaupten, mein Bruder und ich hätten jemals einen engen Kontakt gehabt. Wir sind einfach zu verschieden, wissen Sie?«
Ich wusste selbstverständlich nicht und nickte.
»Eigentlich lebe ich ja in« – Sie nannte den Namen einer Kleinstadt, der mir wenig sagte – »aber gewisse Umstände haben mich gezwungen, hierher zu ziehen. Es ist nun einmal so, dass...«
Sie stockte. Schenkte sich Kaffee nach, sehnte sich wie ich nach einem zweiten Brötchen, dessen Verzehr sie wie eine gute Henkersmahlzeit bis zum nächsten Bekenntnis hinauszögern hätte können, aber die Brötchen waren alle. Sie sah mir in die Augen, schnaufte einmal tief und fragte dann:
»Wie viel verlangen Sie eigentlich? Ich meine – Honorar.«
Eine berechtigte Frage, fiel mir ein. Wie viel verlangte man? Schon die Frage allein ließ mich darauf schließen, bei Sonja Weber habe Geld nicht die Lizenz zur unbegrenzten Vermehrung. Ihre Kleidung war Kaufhauskonfektion, sie trug keinen Schmuck, kein Chanel-Odeur wehte zu mir hinüber und erotisierte mich, kurz:
»300«, sagte ich und hoffte, Sie würde nicht fragen, ob denn pro Stunde, pro Tag, pro Monat oder pauschal.
Sonja Weber fiel buchstäblich in sich zusammen, als hätte sie es schwer im Kreuz und an den Bandscheiben.
5
Es ist nun einmal so: Ich kann keine Menschen mit Geldsorgen sehen, ohne sofort wütend zu werden, deshalb schaue ich Morgens auch nicht in den Spiegel. Ok, um nicht wütend zu werden, dürfte ich das Haus niemals verlassen, keinen Fernseher, kein Radio einschalten, nicht im Internet surfen, nicht durch die dünne Wand zuhören, wenn in der Nebenwohnung wieder die Halbwüchsige quengelt, weil sie die Klamotten aus dem »Sozialkaufhaus« nicht anziehen mag. Nein, ich bin nicht gerne wütend, es bringt nämlich nichts. Was soll man tun? Den Sozialismus ausrufen? Vergiss es. Bomben basteln? Dazu fehlt mir das Talent. Beim nächsten Charity-Empfang aufgespritzte Tussen mit Silikonbeuteln bewerfen? – Hm, mal drüber nachdenken.
Ich wurde also wütend, als Sonja Weber bei der Vorstellung an drei hinzublätternde Hunderter sekundenschnell zerwrackte, ihre Statik verlor und deformiert über der Kaffeetasse hing, so dass ich um deren Heil ernsthaft fürchten musste. Sollte ich behaupten, wir hätten ab Montag »Schnuppertage« in der Detektivbranche und ich gewähre ihr den für diese Zeit vorgesehenen Rabatt von, sagen wir, 20, nein 30, nein 50 Prozent kulanterweise im voraus? Sie sah nicht so aus, als könnte sie auch nur 150 bezahlen. Also sagte ich in meiner unendlichen Menschenfreundlichkeit:
»Das ist natürlich Erfolgshonorar. Wenn ich Ihren Bruder nicht finde respektive er von sich aus wieder auftaucht, berechne ich selbstverständlich nichts.«
Das brachte sie, ebenfalls in Sekundenschnelle, wieder in den Zustand stolzen Frauentums zurück. Ihr Oberkörper richtete sich auf, straffte sich, die gute Nachricht ritzte ihr ein Lächeln ins Gesicht, sie sagte: »Oh danke, das kann ich doch nicht annehmen. Aber ich tue es.«
Ich begann mir eine Zigarette zu drehen, Sonja schielte nach dem Fenster, ich nickte, Sonja stand auf und öffnete das Fenster.
»Vor drei Tagen bin ich hier angekommen«, setzte Sonja ihren Bericht fort, »aber mein Bruder war nicht daheim. Die Hauswirtin kennt mich, sie hat mich reingelassen, alles sah aus wie immer, nur die Post lag hinter der Tür. Die Post von einer Woche. Natürlich dachte ich, hm, der ist verreist. Bei seiner Firma wusste man nichts davon. Hatten selbst schon versucht, ihn zu erreichen.«
»Und sonst nichts? Ich meine... wenn sich ein Angestellter einfach so in Luft auslöst, ohne Entschuldigung, ohne Info...«
»Kam mir auch komisch vor«, bestätigte Sonja, und weil es uns beiden komisch vor kam, dachten wir eine Weile still darüber nach.
»Gestern war ich dann bei der Polizei. Vermisstenanzeige. Die haben das nicht ernst genommen. Erwachsener Mann und so, aber sie würden mal bei den Krankenhäusern nachfragen. Dabei passt das alles nicht zu meinem Bruder. Er ist ein Pedant. Ein zuverlässiger Mensch. Ein Kontrollfreak.«
»Ein Langweiler«, fasste ich zusammen.
»Ja«, lächelte Sonja, »früher hab ich ihn Nachts angerufen, wenn ich nicht schlafen konnte, und nach zwanzig Minuten konnte ich’s dann ohne Tablette.«
Ich wagte ihr nicht zu sagen, dass sie mir damit eine weitere Karriere eröffnet hatte, falls die als Detektiv scheitern sollte, wovon auszugehen war. Ich bin so langweilig, dass jemand, der zwanzig Minuten mit mir am Telefon übersteht, schon ziemlich tot sein muss.
»Sie sind meine einzige und letzte Chance«, sagte Sonja Weber jetzt. »Werden Sie den Fall übernehmen?«
»Ich übernehme mich ständig«, antwortete ich, »aber Sie müssen mir alles erzählen. Warum sind Sie hier und nicht in Ihrem idyllischen Städtchen?«
6
Die Frage war indiskret und schon während ich sie stellte, schämte ich mich dafür. Aber ich besaß die Macht, Sonja Weber indiskrete Fragen zu stellen, eine banale Folie hatte sie mir erteilt. Das steckte wahrscheinlich sowieso hinter der ganzen Geschichte: nicht Menschenliebe, nicht Langeweile oder sonst was, sondern Voyeurismus und ein bisschen Machtgeilheit, das übliche Quantum Allmachtsphantasie, wie es auch ein Sachbearbeiter der Arbeitsagentur brauchen mag, wenn er einem zusammengefalteten Bündel Elend gegenübersitzt, das sein Existenzminimum haben möchte. Ich frage, du antwortest. Du antwortest nicht, ich senke den Daumen. Das ist auch nicht anders wie beim Weltwährungsfonds, der die Iren nach getürkten Bilanzen fragt, oder eben bei mir, der ich Sonja Weber alles fragen kann, was ich will. Sie muss antworten. Vielleicht lügt sie, aber das ist ein Risiko. Slipfarbe, Intimrasur, Lieblingsstellung – ich begnügte mich damit, sie zu fragen, warum sie ihr Nest verlassen hatte und in die Stadt gekommen war, ich war nur ein moderates Schwein.
Sonja Weber mochte wissen, dass ich ein kleines Machtspielchen mit ihr veranstaltete. Verlierer ahnen die Niederlage sofort, kluge Verlierer quälen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zurück, und Sonja Weber war klug. Sie ließ mich in meiner Beschämung zappeln, schenkte sich seelenruhig neuen Kaffee ein, ihr Blick begleitete den Qualm meiner Zigarette auf seiner Reise fensterwärts, sie legte sich probeweise ein Lächeln aufs Gesicht und wischte es wieder weg, sah mir endlich in die Augen, einen lakonischen Satz lang.
»Ich habe innerhalb von drei Wochen meine Arbeit, meine Freund und meine Wohnung verloren.«
Eine Katastrophe in Schlagzeilen. Sonjas Gesicht wurde, als sie dem Satz nachlauschte, für Momente das einer alten Frau, aber sie wischte auch das weg. Stand auf, ging zum Fenster, schloss es. Auch ich erhob mich, ging zum Schrank, nahm Stift und Notizblock aus der linken Schublade, las das Gekritzel auf dem obersten Blatt – »Filtertüten gehen aus, neue besorgen«, riss es ab und steckte es in die Hosentasche. Irgendwie kamen wir uns auf den Rückweg zum Tisch in die Quere, Sonja und ich, wir berührten uns flüchtig, »Entschuldigung« sagte Sonja, »aber nicht doch«, sagte ich, »in Kambodscha quetschen sich Hunderte von Menschen auch ohne Technobeat zu Tode, dagegen ist das gar nichts.«
Wie auch immer. Der Moment der Machtausübung war vorbei, es wurde Zeit, Professionalität zu heucheln. Hoffentlich hatte der Kugelschreiber nicht schon seinen Geist aufgegeben, die Filterpapiergeschichte lag, ich erinnerte mich, ein Jahr zurück und war natürlich vergessen worden. Aber er funktionierte nach einigem guten Zureden dann doch. Adresse des Bruders, Adresse des Arbeitgebers, der ein schlechter Arbeitgeber war und sich nicht sonderlich für seine Mitarbeiter zu interessieren schien, eine kurze Beschreibung des Vermissten – Georg Weber hätte auch George Weaver oder Georges Tisserand heißen können, so beliebig austauschbar war das alles – »haben Sie ein Foto Ihres Bruders dabei?«
Sonja Weber kramte in ihrer Handtasche und brachte eine Fotografie zum Vorschein, Bruder Georg braucht einen neuen Personalausweis und glotzt ins Objektiv, der Fotograf hat gerade »befeuchten Sie bitte Ihre Lippen und denken Sie an was Schönes« gesagt, Georg Weber befeuchtete seine Lippen und dachte an die Brüste von Heidi Klum. So ungefähr.
7
Nachdem Sonja Weber gegangen war, blieb ich noch eine Weile am Küchentisch hocken und wartete. Ich gab ihr fünf Minuten, das nun fehlende Schild am Haus zu bemerken, zurückzukommen und zu fragen, was das denn zu bedeuten habe. Es klingelte nicht und ich fragte mich, ob das erfreulich oder bedauerlich sei.
Um ehrlich zu sein, blieb ich noch eine halbe Stunde am Tisch sitzen und rauchte, damit ich nicht nachdenken musste. Dann trank ich den Rest Kaffee, damit ich nicht ständig rauchen musste. Dann ging ich aufs Klo, damit ich den Kaffee wieder los wurde. Dann ging ich zurück in die Küche, setzte mich an den Tisch, rauchte bis der Tabak alle war und begann notgedrungen mit dem Denken.
Wenn ein Ehemann nicht nach Hause kommt, mag das verständlich sein, bei einem Junggesellen ist es entweder merkwürdig oder der Anfang einer Ehe. Männer, die »mal über Nacht« wegblieben, waren nichts Besonderes, auch wenn die Nacht eine Woche dauerte. Aber Georg Weber hatte sogar sein Handy ausgeschaltet. Tat er das um ungestört zu sein, dann hätte ich die Frau, die ihn dazu gebracht hatte, gerne kennengelernt. Eine Frau, die ihr Handy freiwillig für einen Mann ausschaltete, konnte es nicht geben oder, falls wieder Erwarten doch, hatte sie es so nötig, dass ich sie gar nicht kennenlernen wollte. Komisch, dass Männer sofort chauvinistisch werden, wenn sie zu denken anfangen, dachte ich.
Was war zu tun? Warten. Georg Weber würde zurückkommen. Vielleicht um seine Sachen zu holen oder aus Erschöpfung oder ernüchtert oder nur, weil er sich daran erinnert hatte, einen Arbeitgeber zu haben. Der sich aber – und das war das Allermerkwürdigste – kaum für Weber zu interessieren schien. Sie hatten bei ihm angerufen, Weber hatte sich nicht gemeldet, und die Sache war erledigt. Andererseits: So konnte man einen unnützen Gehaltsempfänger auch loswerden. Dennoch: Der Gedanke, bei der Firma Gebhardt und Lonig anzusetzen – Sonja Weber hatte mir die Adresse in den Block diktiert -, schien mir die beste Idee, zumal ich damit bis Montag würde warten müssen, was mir sehr zupass kam. Gebhardt und Lonig residierten im Industriegebiet West und machten in »Im- und Export«. Eine Branche, bei der man sofort hellhörig wird, denn das klingt nach 123 Afghanen auf einem LKW versteckt oder LIDL-Computer für Libyen oder doch wenigstens von Halbwüchsigen mundgeblasene Pissbecher aus China.
Buchhalter sei ihr Bruder, erzählte Sonja Weber noch, und für etwas anderes hätte ich ihn auch nicht gehalten. Ich habe nichts gegen Buchhalter, aber ich mag sie halt nicht. Warum? Keine Ahnung. Aber ich ahne, dass es genügend Gründe dafür gibt. Und ich hatte eben viele Krimis gelesen, wusste, dass Buchhalter über Einblicke verfügten, die sie vielleicht besser nicht hätten, dass sie Versuchungen ausgesetzt waren wie sonst nur ein Banker. Ein paar Klicks und die Million verschwindet auf dem anonymen Nummernkonto, solche Sachen eben.
So fantasierte ich eine Zeitlang vor mich hin. Immer noch am Küchentisch, den ich nur verlassen hatte, um mir ein neues Päckchen Tabak zu holen, mein letztes. Ich würde also aus dem Haus müssen, ja, sowieso, essen musste ich auch. In meinem Geldbeutel befanden sich noch 50 Euro, auf meinem Konto erfahrungsgemäß noch weniger, und eigentlich hätte ich mir Gedanken machen sollen, wie ich die nächsten Wochen über die Runden käme, aber mir stand gerade nicht der Sinn danach, im Kreis zu fahren. Das überlasse ich Formel-1-Weltmeistern und kleinen Kindern auf dem Kettenkarussell.
8
Es half alles nichts. Ich musste zum Discounter einkaufen. Natürlich würde ich zu ALDI gehen, denn mit etwas Glück säße dort Hermine hinter der Kasse. Hermine war das, was man ein Verhältnis nennt, sie hatte mich quasi im Vorübergehen entdeckt. Eine Frau mit hervorragender Menschenkenntnis also, die kein Wikileaks gebraucht hätte um festzustellen, dass unser Außenminister »wenig Substanz« besitzt.
Sex, meine Damen und Herren, nichts weiter. Hermine wollte Sex, ich wollte Sex, das war handfester als jener »Liebe« genannte Zustand, der unweigerlich mit dem Zusammenziehen endet. Was mir schon deshalb ein Greuel war, weil Hermine einen 15jährigen Sohn namens Jonas hatte (gab es überhaupt 15jährige, die NICHT Jonas hießen?) und mich allein der Gedanke, man könnte mich für den Erzeuger jener Kreatur halten, zutiefst schockierte.
Hermine hatte heute frei, wie mir ihre Kollegin, kaum war ich im ALDI, zuraunte. Das war schade, denn wer wies mich jetzt auf die versteckten Sonderangebote hin? Außerdem kam ich mit dem, was Intellektuelle »ein Anliegen« nennen. Nein, ich war ausnahmsweise nicht notgeil. Doch ich besitze keinen Internetzugang, Hermine aber wohl, und ich hielt es für professionell, mich genauer über die Firma Gebhardt und Lonig, Im- und Export zu informieren. Also kaufte ich einen Stoffbeutel voller Waren einschließlich Tabak, stapfte den Weg zu meiner Wohnung zurück, betrachtete einen Moment lang die Stelle an der Wand, wo die Goldfolie mit dem schwarzen Prägedruck gehangen hatte, setzte mich, endlich daheim, einige Minuten still an den Küchentisch, rauchte und griff dann zum Telefon.
»Bender.«
»Ich bins.«
»Ach so. Du.«
»Ja.«
»Greif dir in den Schritt.«
»Hab ich.«
»Und?«
»Nichts.«
»Ok. Also keinen Sex. Internet.«
»Genau. Kann ich gleich vorbeikommen?«
»Ja. Jonas ist da. Er wird enttäuscht sein.«
»Hm. Ok. Bis dann.«
»Ja bis dann. Ich lass schon mal den Rechner vorglühen.«
Hermine wohnte etwas außerhalb. Ich sparte mir das Busgeld und ging zu Fuß. Trüber Nachmittag, es roch nach Badewasser und Bundesliga-Konferenzschaltung. Zwischendurch griff ich mir, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, in den Schritt um zu prüfen, ob ich neben dem Internetzugang noch einen anderen wünschte, aber meine Samstage sind meistens frigide, ich weiß auch nicht, woran das liegt.
Jonas öffnete mir die Tür. Er steckte in zwei Säcken, einen nannte er Hose, denn anderen Sweater. »Hallo« sagte Jonas und rückte seine Fensterglasbrille zurecht. »10% mehr geile Tussen für Brillenträger« – ich hasse die BRAVO und wie sie Jugendliche manipuliert.
»Sex oder Internet?« fragte Jonas, als ich an ihm vorbei in die Wohnung schlüpfte, »Internet« sagte ich knapp und innerlich feixend, denn das durfte Jonas nicht gefallen. Wenn Hermine und ich ins Bett gingen, ging Jonas in den nahen Spielsalon, wo man es mit dem Jugendschutz so genau nicht nahm, 20 Euro aus meinem Geldbeutel im Hosensack-Sack. Die Internetnutzung war kostenlos.
»Ach so«, sagte Jonas und klang tatsächlich enttäuscht. »Aber wenn du dich nachher nicht beherrschen kannst, bescheiß mich bloß nicht um meinen Zwanziger.«
Ich versprach es mit einem kurzen Nicken.
9
»Soll ich mir meine Haare abschneiden und einen Bubikopf machen lassen?«
Hermines Frage traf mich unvermittelt und stürzte meinen Stoffwechsel in ein sofortiges Chaos. So musste es dem SPD-Vorsitzenden ergehen, wenn man ihn zu einem intimen Abendessen mit Oskar Lafontaine einlud. Hermine saß vor ihrem Computer, ein knisterndes Feuer aus roten Haaren verdeckte den Bildschirm, die Rechte lag auf der Maus und streichelte das beneidenswerte Tier. Ich stöhnte auf und hauchte »Mein Gott!«. »Göttin, bitte«, korrigierte Hermine und drehte sich zu mir um.
»Du bist nicht Nordkorea und ich nicht Südkorea«, gab ich angesichts der Weltenlage zu bedenken, »also droh mir nicht.« Und drohte meinerseits: »Wenn du dir die Haare abschneiden lässt, lasse ich mir was anderes abschneiden.«
Hermine drückte ihre 1,62 an meine 1,84, ihre 55 Kilo an meine 90 - nein, korrigiere, meine 90 Kilo und 50 Gramm, Tendenz steigend.
»Dann ernenne ich dich zu meinem offiziellen Dildobeauftragten und das Problem ist gelöst. Jedenfalls für mich«, stellte sie fest und gab mir einen Kuss auf den Hals.
Wir redeten immer so. Hatten es schon getan, als ich zum erstenmal meinen Vollkorntoast auf das Laufband an der Kasse legte, hinter der Hermine Waren einscannte, »57,83« sagte und »Plastiktüte kostet 10 Cent extra.« Den Toast kommentierte sie mit »Essen Sie immer so schlappes Zeug?«, und ich antwortete: »Wenn ich ihm richtig einheize, knistert er zwischen den Zähnen und ist gar nicht mehr so trocken.«
Sie lachte und sagte: »Ich mags, wenn er gut gebuttert ist und das Zeug aus allen Poren quillt.« Ich erinnere mich, dass hinter mir ein Rentner mit einem Baguette unterm Arm stand. Was Hermine ihm wohl sagen würde? Jedenfalls war mir klar, dass sie mich soeben zu Intimitäten eingeladen hatte, mich, einen völlig Fremden, sie, eine Zierde der Vierzigjährigen, und ich fragte, wann sie Feierabend habe. Sie antwortete »Um 6« und fügte neckisch hinzu: »Mein Sohn geht gerne in den Spielsalon. Soll ich Ihnen einen 20-Euro-Schein in Ein-Euro-Münzen wechseln?«
Der Rest ist Geschichte. Ich stand Punkt 6 vor dem Discounter, wir gingen zu ihr, 20 Ein-Euro-Stücke wechselten den Besitzer. Wir machten uns über den Vollkorntoast her. So lange, bis der Spielsalon Jonas gegen Mitternacht ausspuckte und aus dem Walfisch eine Forelle geworden war.
Jetzt drückte sich Hermine noch immer an mich. Sie wartete. Ich schaute über ihre Schulter zum Bildschirm, Hermine chattete als »Wetlady_40«.
Geilo1955: Du Luder
Wetlady_40: Du Hengst
Geilo1955: Uh ah!
Wetlady_40: Keuch.
Geilo1955: Ich komme
Wetlady_40: Supi
Geilo1955: Ja
Wetlady: Schön
Geilo1955: Moment ich muss mal pinkeln
So war Hermine und ich liebte sie dafür. Jedenfalls wenn ich bei ihr war.
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Hermine tippte »Danke für den erotischen Nachmittag« ins Chatfenster und schloss es. »Und keine Pornos gucken!« warnte sie mich, stand auf, »Kaffee kochen«. Ich versprach es ihr unter Hinweis auf meine aktuelle Lustlosigkeit.
Das Internet ist nicht mein Ding. Wenn ich mich mit anderen langweilen möchte, gehe ich in die Kneipe. Steht mir der Sinn nach Unterhaltung, kann ich zwischen der rechten und der linken Wand meines Schlafzimmers wählen, zwischen der lautstarken Matratzengymnastik eines jungverheirateten Paares und den Dialogen eines altgedienten vor dem Fernseher. Nein, ich nutze das Internet nur beruflich, also notgedrungen, wenn der Umfang meiner Barschaft in den kritischen zweistelligen Bereich sinkt. Dann durchsuche ich die Stellenanzeigen, ich bin vielseitig begabt und flexibel, verfüge über hohe Teamfähigkeit und ausreichend Routine beim Durchqueren von Darmtunneln, gebe zwölfjährigen Rotznasen mit pädagogischer Inbrunst Englischnachhilfe oder sortiere in einer stinkenden Halle Müll. Mein Blut zirkuliert in den Adern von schätzungsweise 5.000 Personen, die haben etwa 10.000 Handgelenke, um die wenigstens 500 Uhren befestigt sind, auf denen »Rolex« steht, aber ostasiatischer Schrott drin ist und die ich bisweilen auf Jahrmärkten und in den dunklen Ecken noch dunklerer Gastwirtschaften verticke. Bei Bedarf halte ich auch Vorträge über die Ethik der Moderne im Spiegel der Vergangenheit (wird selten nachgefragt) oder über die 99 Möglichkeiten, einen Orgasmus hinauszuzögern, wenn die Frau nebenbei noch dringend einen Schal zu Ende stricken muss. Bei Feinkost Dürringer in der Wagnerstraße lasse ich in Fällen akutesten Geldmangels gerne »12 Wachteleier in Lachsaspik« diskret mitgehen, weil mein Freund, der Dichter Marxer, sich von deren Verzehr eine Steigerung seiner literarischen Potenz und mehr lyrische Adjektive erhofft. Das bringt einen schnellen Fünfziger, denn der reguläre Preis von 99,99 ist ihm zu hoch, so viel ist ihm der Nobelpreis nun doch nicht wert.
Hermine werkelte in der Küche, Geschirr klapperte, Jonas nölte. Ich inspizierte für zwei Minuten meinen Lieblingsporno »Hengstparade« (ohne Ton), wollte meine Mails abrufen, hatte aber das Passwort vergessen und wollte kein neues, denn wer sollte mir schon schreiben. Schade, dass Hermine schon den Chat mit Geilo1995 geschlossen hatte. Man hätte das Gespräch weiterführen und Geilo1995 an den Rand der Impotenz bringen können.
Die Wohnungstür ging auf und zu, dazwischen lag ein »Dass ihr mir nicht bumst, wenn ich nicht da bin« von Jonas und ein fröhliches »Hol endlich Kuchen, heut läuft nichts« seiner Mutter. Ich fühlte mich gut. Kostenloses Internet, kostenlosen Kaffee, kostenlosen Kuchen, kein Sexzwang. Jonas würde an seinem Laptop zocken und mir den Anblick seiner juvenilen Existenz ersparen, Hermine mir wenigstens ihre Auslagen zeigen, ich selbst konnte einen Job finden und ein wenig über jene merkwürdige Im- und Exportfirma erfahren, bei der die Arbeitsleistung ihres Angestellten Georg Weber nicht vermisst wurde. Erst einmal bei Facebook schauen. Es gab dort zahllose Georg Webers und ich nahm mir vor, nur noch Personen mit dem Namen Al-Kheida Rosenstock zu suchen.
»++++++promissvorschlag zu Stuttgart 21: Schienen oberirdisch, großzügige Toilettenanlagen unterirdisch. Geißlers Kompromissvorschl+++++++«
Ich klickte den Ticker weg und setzte meine Recherchen fort.
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Der Internetauftritt von Gebhardt und Lonig war jämmerlich. Auf der einzigen Seite, die sich drei Minuten lang ächzend lud, prangte die Fotografie des Firmengebäudes, ein langgestreckter Flachbau aus vorgefertigten Blechteilen, darunter Firmenname und –anschrift, sowie die Angabe, Frau Lydia Gebhardt übernehme als Geschäftsführerin alle Verantwortung für diese Seite, nicht aber für fremde Inhalte, von denen indes keine zu sehen waren. Ganz klein in der unteren linken Ecke: »Jobs! Wir haben immer Bedarf an Hilfskräften, nur mit Lohnsteuerkarte.« Das gefiel mir gut. Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte ich und merkte mir die Adresse.
Dann kam auch schon Jonas mit dem Kuchen zurück. Er hatte sich beeilt und keuchte, untersuchte sofort das Schlafzimmer nach verdächtigen Spuren soeben erledigter Sexualarbeit, fand keine und maulte enttäuscht, nichts sei uncooler als fremde Onkels, die keinen hoch kriegen. Es gab Sandkuchen von gestern, den mochte Jonas zum halben Preis erstanden und das ersparte Geld für aufregende Stunden in der Spielhalle zurückbehalten haben. Wir saßen am Tisch und wässerten den Sandkuchen, denn Hermines Kaffee ist wegen seiner sparsamen Verwendung von Kaffeepulver berüchtigt.
Aus irgend einem Grund dachte ich ein knappes Jahr zurück an die historische Begegnung an der Supermarktkasse. Was war wohl aus dem Rentner mit dem Baguette geworden? »Was hast du eigentlich dem Rentner mit dem Baguette gesagt? Du weißt schon.«
»Bei mir stehen viele Rentner mit Baguettes an«, antwortete Hermine, »und ich sage allen das gleiche: Haben Sie es eigentlich nötig, mit einem überdimensionierten Penissymbol durch den Supermarkt zu latschen?«
Jonas grinste, ein halbes Stück Sandkuchen bröselte aus seinem Maul haarscharf am Teller vorbei auf den Fußboden. »Der da« – er wies auf mich – »könnt mit nem sauren Drops durchn Supermarkt latschen und wär für ihn immer nochn überdimensionierter Pimmel.«
Ein leichter mütterlicher Klaps gegen den Hinterkopf war die Ernte, die Jonas einfuhr, seine Fensterglasbrille rutschte ein wenig nach vorne, die beiden Hirnzellen karambolierten wie beim Billard, es machte einmal »klack«. »Du bist ein anständiger Junge«, log seine Mutter, »wo hast du nur die Schweinereien her. Besorg dir endlich eine Freundin und reagier dich ab wie jeder normale 15jährige.«
»Oder schleich dich nach Gorleben und schottere ein wenig«, riet ich, was mir einen Stinkefinger und die Entgegnung einbrachte, von einem Typen, der keinen hoch bekäme, müsse sich ein Jonas überhaupt nix sagen lassen. Die Gesprächspalette des Jungen war ohne Zweifel monothematisch, seine Phantasiewelt ein Friedhof aus wie Pilze aus dem Boden wachsenden Peniden und dazwischen rollenden Ein-Euro-Stücken. Sex und Geld, Sex und Geld, wie es in einem Song der Band Ideal heißt.
»Ich guck jetzt Sportschau«, tat Jonas kund, »Schalke putzt heute Kaiserslautern 5 zu 0 oder so, aber ich mach den Ton aus, damit ich höre, wenn ihrs miteinander treibt.« Wir lachten und sagten, das könne er beruhigt tun, wir seien deutsche Meister im lautlosen Vögeln.
Als sich Jonas getrollt hatte, kam Hermine um den Tisch und setzte sich auf meinen Schoß. »Wenn ich innerhalb der nächsten zwei Minuten nicht mindestens zwanzig Zentimeter höher sitze, angel ich mir den nächstbesten Rentner mit einem Baguette«, kündigte sie an.
»Das kann ich dem armen Mann nicht antun«, sagte ich und dachte vorfreudig an die zwanzig Euromünzen in meinem Portemonnaie.
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Mit solcher Leidenschaft hatte nicht einmal Vladmir Putin jüngst bei der Bundeskanzlerin um die Einrichtung einer Freihandelszone gebuhlt. Pech für ihn, dass seine Partnerin Angela Merkel hieß und nicht Hermine, die denn auch nicht »Karl-Theodor« schrie, sondern ein langgezogenes »Mooooooooritz!!!« durch die Stille ihres häuslichen Reichs und darüber hinaus schickte, was sofort Jonas auf den Plan rief, der vor der abgeschlossenen Schlafzimmertür nach seinen »zwanzig Piepen« verlangte. Ich erklärte ihm den aktuellen Standort meines Portemonnaies und widmete mich fortan den weiteren Maßnahmen zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen zwischen Mann und Frau.
Es hatte zu schneien begonnen, als ich eine glücklich erschöpfte Hermine und einen um seine Barschaft zugunsten der deutschen Glücksspielindustrie erleichterten Jonas verließ. Perfektes Timing. Meine Schleusen waren geschlossen, die des nachtschwarzen Himmels geöffnet, weiß und nass klatschte es ohne Ton auf den Asphalt, ich summte eine mir unbekannte Melodie und schritt der Innenstadt zu.
Mir war philosophisch zumute, was nicht nur am ersten Weihnachtsschmuck lag, der die Stadt langsam zum winterlichen Disneyland machte. Gab es ein höheres Glück hienieden als die Vereinigung an sich? Nicht nur die von Mann und Frau – darüber ist man sich außerhalb der katholischen Kirche seit Jahrtausenden einig -, nein auch die von Kaninchenzüchtern, Briefmarkensammlern, Drogenhändlern und Veranstaltern von Kaffeefahrten, Menschen, die sich zur Beförderung eines hohen Zieles zusammenschließen und so in den Genuss von GEMEINSCHAFT kommen, Wärme austauschen, sich einfach pudelwohl fühlen? Okay, manchmal ging das schief, etwa bei der Vereinigung von Intelligenz und Dummheit, wobei ein seltsames Konstrukt namens »politische Partei« herauskommt, oder Schwarz und Gelb, was in Pöstchengeschacher und hysterischen Koalitionskrächen endet. Dennoch: Wenn der Mensch alleine ist, das kann nicht gut sein, sprach der Eremit und kaufte sich eine Karte fürs Fußballspiel.
Ich kam, unter intensivem Abdenken diverser Themen (Soll ich mir einen Adventskranz anschaffen, endlich wieder mal mein Klo putzen oder den Lottojackpot knacken?) in vertrautere Gegenden und stand, sehr zufällig, vor dem Haus in der Lessingstraße, wo Georg Weber bis zu seinem Verschwinden gewohnt hatte und, wie zu hoffen stand, nach seinem Auftauchen wieder wohnen würde. Bis dahin hatte es sich seine Schwester dort gemütlich gemacht, ich sah aufs Klingelbrett – Weber wohnte im 2. Stock -, dann die Fassade hoch in ein hell erleuchtetes Fensterviereck hinein. Sonja Weber war zu Hause und sah den ZDF-Samstagskrimi oder den ARD-Jodelstadel.
Keine bessere Wohngegend. Die Häuser waren alt, heruntergekommen und billig, dem Weberhaus gegenüber lockte eine »Bauernschenke« mit einem eigenen Parkplatz für Rollatoren, was auf das dort verkehrende Publikum schließen ließ. Ich hatte noch 8 Euro 26 in der Tasche und ein jahreszeitliches Verlangen nach Glühwein, meine Füße dampften vor Kälte. So war die Tür zur »Bauernschenke« rasch geöffnet, ein Schwall Warmluft sowie ein raucherhustender, an der noch jungfräulichen Zigarette nuckelnder Rentner kamen mir entgegen, ersterer nahm mich gastfreundlich in sich auf, letzterer rannte mich beinahe um und maulte ein »Hoppla, junger Mann«, was ihm der junge Mann mit einem zünftigen »Viel Spaß bei der eigenen Beerdigung« vergalt. Wir schieden als Feinde fürs Leben. Die »Bauernschenke« war, von drei älteren Herren und einer Art älteren Dame abgesehen, leer, ich setzte mich ans Fenster und sah, bis die Bedienung kommen würde, zu Webers gelbem Fenster hoch. Das konnte dauern, wahrscheinlich wechselte die Bedienung gerade das Frittenfett oder die Stützstrümpfe.
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Seit in Kneipen nicht mehr geraucht werden darf, verströmen sie das Flair von Wartezimmern in Arztpraxen. In der »Bauernschenke« hockte auch die dazugehörige Kundschaft, ein Trio philosophierender Greise, die sich auf den nächsten moribunten Abend im Altersheim freuten, aber vor allem darauf, ihn überhaupt noch zu erleben. Am Nebentisch starrte eine Frau im Kaninchenpelz in ein Gläschen Eierlikör. Sie war wesentlich jünger als die Männer, höchstens 68.
»Mainz«, sagte der haarloseste der drei Greise, und sein Nebenmann erbrach sein Ziegengelächter ins Bierglas. »Mainz!« wiederholte er, »wisst ihr noch? Mainz wie es stinkt und kracht, was haben wir das gerne geguckt! Und jetzt? Spielen sie dort Beatmusik!« Der Dritte, dem man selbst nach erfolgreicher Vierteilung noch Korpulenz bescheinigt hätte, nickte bitterlich. »Maria Hellwig ist jetzt auch schon tot. Schade um das junge Ding.«
»Mainz also«, fuhr der Glatzkopf fort, »das muss man sich mal vorstellen! Wenn ein Verein wie Mainz 05 Zweiter der Fußballbundesliga werden kann, dann steht es schlecht um Deutschland! Dann könnte auch.... könnte auch....« - er überlegte angestrengt – »Burundi Exportweltmeister werden!« Die Dame am Nebentisch griff zum Eierlikör und kippte ihn auf Ex, eine Hälfte für sich, die andere für den Kaninchenpelz. Und verlangte sodann lautstark nach einer »Monika!«
Mit Monika war wohl die Wirtin gemeint. Aus dem Raum hinter der Theke ertönte jedenfalls ein überraschend jugendliches »Ja gleich!« und mit ihm tatsächlich Monika, ein Heike-Makatsch-Klon, nur ansehnlicher. In nie für möglich gehaltener Synchronizität, so es diesen Ausdruck überhaupt geben sollte, straffte sich das Herrentrio, sechs Hände verschwanden diskret unterm Tisch und brachten die Gemächte in Ordnung. »Noch einen!« verlangte die Dame und auch die Herren hoben ihre Gläser, taten, was sie als Lächeln missdeuteten, der Korpulente legte generös einen Satz dazu: »Schenk uns noch was Schnuckliges ein, du süsse Maus!«
Frauen mit Pferdeschwanzfrisuren haben mich schon immer nervös gemacht. Nun wippte die Haarpracht samt Trägerin zu mir herüber, blieb stehen und es fragte, was ich nicht anders erwartet hatte: »Was darf es sein?« Ich bestellte meinen Glühwein und die Wirtin drehte sich ohne weitere Regung um. Ich sah ihr nach, die Alten sahen ihr nach, sogar die Dame mit dem Kaninchenpelz sah ihr nach, und hätte es noch seine Augen gehabt, auch das Kaninchen hätte der Wirtin nachgesehen.
Die Bestellung hatte mich zu einem existenten Phänomen im Universum der »Bauernschenke« werden lassen, zu einem gerade erst aus dem Säuglingsheim des Kosmos entschlüpften Stern. Die Dame schenkte mir ein Lächeln, die Herren einen Blick, der die jüngere Konkurrenz beim Monikawerben einzuschüchtern trachtete. »Monika!« rief denn auch Glatzkopf sofort, »ist das hier jetzt auch ein Kindergarten?«
Ich entschloss mich, die übrigen Gäste zu ignorieren und sah wieder zum erleuchteten Fenster der Weberschen Wohnung hoch. Was mochte Sonja hinter den Gardinen gerade denken? Mir fiel ein, dass es meine berufliche Pflicht war, die Wohnung genauestens unter die Lupe zu nehmen, um eventuelle Hinweise zum Verbleib ihres Besitzers zu finden. Es war halb Neun und mithin zu spät für einen unangekündigten Besuch. Vielleicht saß Sonja Weber im Negligé vor der Glotze, vielleicht vor einem Tellerchen mit frugaler Mahlzeit, was sie genieren musste. Morgen war Sonntag, da überfiel man die Leute auch nicht in ihren Wohnungen, also am Montag. Mir stand eine arbeitsreiche Woche bevor.
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Der Glühwein wurde mir in einer großen, mit Sternen und Tannenbäumen bedruckten Tasse serviert. »Wohl bekomms«, wünschte die Wirtin und machte kehrt, wieder von allem, was Blicke hatte, bis durch die Tür hinter dem Tresen begleitet. Unglaubliche 1,50 kostete die Tasse Glühwein, so dass die »Bauernschenke« nicht nur in puncto Einrichtung den Muff der Fünfziger rekonstruierte. Die Frau im Kaninchenpelz prostete mir mit ihrem Eierlikör zu, ich prostete zurück. »Du greifst aber auch in jede Wiege, Irmi«, kommentierte der Dreimännertisch, wandte sich jedoch sofort wichtigeren Dingen des Daseins zu: bei SCHLECKER gab es jetzt Kukident auch in der Vorteilspackung mit Sammelbild »Die größten Stars der zwanziger Jahre«.
Mir wurde warm. Beim zweiten Glühwein noch wärmer. Ob ich die Speisekarte wünsche? Wirtin Monika hatte die Dauer ihres Lächelns analog zur Zeche verdoppelt. »Die Monika steht aber nicht auf der Karte!« lachte der Dicke, und wenn das so war, wollte ich auch die Karte nicht sehen. »Es spannen die Lauscher die Spanner die lauschen«, dichtete es von Greisenseite, auf eine »Cornelia« gemünzt, die beim letzten Ball der einsamen Herzen ihre Ohren überall gehabt habe, »widerlich so was, und dann hat sie auch noch Mundgeruch«.
Aus der Tür des Hauses, in dem Georg Weber wohnte, trat ein Mann, mittelalt und hager, eine Wollmütze auf dem Kopf. Er schlug den Kragen seiner Jacke auf, ging die paar Schritte zum Straßenrand und wartete, bis sich eine Lücke im Autoverkehr auftun würde.
Bewegte sich nicht die Gardine da oben, wo Sonja Weber im Birnenlicht eines vermuteten Wohnzimmers den Abend bei was auch immer verbrachte? Die Gardine bewegte sich, ein Schatten tauchte dahinter auf, die Gardine wurde ein wenig beiseite gezogen, Sonja Webers Gesicht, kein Zweifel, sie blickte auf den wartenden Mann, der nun zügig die Straße überquerte, für zwei oder drei Sekunden verschwunden war und dann die Gaststube betrat. Sonja Webers Gesicht zog sich hinter die Gardine zurück, wurde zum Schatten, der Schatten war weg. Sehr merkwürdig.
Der Mann machte nicht den Eindruck, als habe er die Wirtschaft soeben zum erstenmal betreten. Er durchquerte zügig den Raum bis zur Theke, räusperte sich mehrmals und wurde durch einen Ausruf der Wirtin in der Küche als »Mensch, Lothar!« identifiziert. Lothar sagte Halblautes und Unverständliches zurück, sah sich dann um – unsere Blicke trafen und ignorierten sich – und steuerte einem Tisch zur Straße zu. Er setzte sich mit dem Rücken zu mir und sah zum Fenster der Weberschen Wohnung hoch. Das war noch merkwürdiger.
Am merkwürdigsten jedoch, was dann geschah. Monika brachte eine Platte mit Wurstbroten sowie ein Malzbier zu Lothars Tisch, stellte es ab und setzte sich neben den Gast. Sie begannen zu flüstern, es konnte kein angenehmes Gespräch sein, denn beider Gesichter erhitzten sich und grimassierten, das Flüstern wurde lauter, wenn auch nicht verständlicher. Feuchte Vokale und gebrummte Konsonanten, auch das Trio hatte große Ohren bekommen, nur Eierlikör-Irmi umkreiste gedanklich ihr Getränk, bevor sie es abermals in sich und auf den Pelz kippte, mit einem »noch einen, Helga!« die erregte Debatte zwischen Helga und Lothar unterbrach. »Kommt!« brach es aus Helga heraus. Sie stand auf und Lothar machte sich kopfschüttelnd über die Wurstbrote und das Malzbier her. Ich bestellte meinen dritten Glühwein.
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Fünf Glühwein hatte das Wetter gebraucht, um Winter auf die Stadt zu schneien. Der Schnee tat, wozu ihn Weihnachtslieder verpflichteten, er rieselte leise und irgendwo ruhte still und starr ein See, auf dessen Grund ich für einen Augenblick Georg Weber unauffindbar vermutete – aber nein. Du bist besoffen, Moritz, du siehst Gespenster, und ich sah sie ja tatsächlich: eine alte Dame im Kaninchenpelz, die im Sitzen über einem leeren Eierlikörglas eingeschlafen war, sowie drei lästernde Greise mit Gesichtern wie nordafrikanische Faltengebirge.
Lothar rüstete zum Aufbruch. Vier Malzbier hatte er düster gekippt, mit einem Streichholz seine Zähne nach Resten der verzehrten Wurstbrote durchmustert, von der Wirtin Helga wort- und lieblos bedient. Jetzt kramte er nach dem Geldbeutel. Ich tat es ihm nach, schüttete generös den Inhalt meiner Börse auf den Tisch, lustig schepperte das Gemünz und weckte Madame Eierlikör. »Geh heim, Irmi«, riet der Glatzkopf, »hier findest keinen mehr, der dir das Karnickel macht.« Ich grinste ob der naheliegenden Assoziation, der Glatzkopf nickte mit demselben in meine Richtung. Wir waren soeben Freunde fürs Leben geworden.
Ich trat ins Freie, in den Frost, in den lebhaften Wind, die Welt war eine gigantische Waschmaschine für Schneeflocken, Autos und Menschen, bei Sonja Weber brannte noch Licht. Eine Zigarette wurde gedreht, was nicht einfach war, denn nach fünf Glühwein drehte sich auch einiges um mich. Schwankend lief ich auf und ab, inhalierte den Rauch, exhalierte so manch dunklen Gedanken an Georg Weber, der vielleicht wirklich schon tot war, und zwischendurch betrachtete ich die Profile der Autoreifen. Winterreifenpflicht. Statt Wehrpflicht, nahm ich an.
Ein Dackel zog sein widerspenstiges Herrchen übers Trottoir, stoppte an meinem linken Bein und überlegte, das seinige an diesem mobilen Baum zu heben. »Pfui«, machte Herrchen, »Pfui« machte ich, »fuck you«, dachte der Dackel. »Wilfried ist durch den Schnee irritiert«, erklärte der Mann, »und was machen Sie da?« Ich? Ja, genau, was machte ich da? Ich sah mir Reifenprofile an und wartete darauf, Lothar möge die Kneipe verlassen, auf dass ich ihm folgen könne. Keine Ahnung, zu was das gut sein sollte.
»Ich sehe doch, dass Sie die Reifenprofile kontrollieren. Sind Sie von der Stadt? Geben Sie Knöllchen? Gut so!«
Wilfried hatte es sich inzwischen anders überlegt und fand diesen behosten Baum so gar nicht mehr verlockend. »Nein«, sagte ich, »ich kontrolliere die Schuhprofile der Passanten, denn wie Sie sicherlich wissen, werden in Paragraph 17b Absatz 3 des Reifenprofilermächtigungsgesetzes auch Fußgänger dazu verpflichtet, witterungsadäquates Schuhwerk zu tragen.«
Das Wort »witterungsadäquat« war dem Herrchen Ausweis meiner offiziellen Stellung genug. Unaufgefordert hob er die Füße und streckte mir seine Schuhprofile entgegen, sie waren tadellos.
»Und der Dackel?« fragte ich. Herrchen war irritiert. »Ich zahle Hundesteuer!« argumentierte er schwach, »Autofahrer zahlen KFZ-Steuer und müssen trotzdem...« argumentierte ich stark und gnadenlos zurück. »Das ist doch...« Herrchen hob an zur allgemeinen Entrüstung, gleich würde er »Fass!« sagen und Wilfried sich wünschen, niemals als Dackel geboren zu sein. »Ich drück noch mal ein Auge zu«, sagte ich und drehte mich um. Denn die Tür der »Bauernschenke« hatte einen Laut von sich gegeben und tatsächlich trat Lothar heraus, wandte sich nach rechts und schritt stadteinwärts.
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Ich hielt mich sichere 20 Meter hinter Lothar, der den Weg in die Fußgängerzone eingeschlagen hatte und keine Anstalten machte, sich nach möglichen Verfolgern umzuschauen. Zentimeterhoch lag der Schnee auf den Bürgersteigen, meine Halbschuhe versanken in Nässe und eisiger Kälte, wacker kämpften fünf Glas Glühwein, die sich in meinen Füßen abgelagert zu haben schienen, gegen die Unbillen der Witterung, doch mit jedem Schritt verloren sie an Terrain. Der Frost umzingelte auch meinen Kopf und schickte erste Vorauskommandos durch sämtliche Öffnungen, die Avantgarde kämpfte sich körperabwärts und würde sich in wenigen Minuten auf Höhe meiner Hüften mit der Soldateska von der Fußfront vereinen. Diesen Zweifrontenkrieg konnte ich nur verlieren, aber es tröstete mich, dass es Lothar nicht besser ergehen würde.
In der Fußgängerzone herrschte das, was man samstäglichen Spätabendbetrieb nannte, also ziemlich tote Hose. Zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund waren an einer Laterne hochgeklettert und gerade dabei, eine über die Straße gespannte weihnachtliche Lichterkette aus der Verankerung zu lösen, angespornt von vier Personen ihresgleichen, die sich ob dieser gelungenen Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft aus vollen Kehlen freuten. Ich war gerührt. Lothar ging achtlos an diesem gelungenen Beispiel von Teilhabe an christlicher Weihnacht vorbei, selbst aus dieser Entfernung war mir, als hörte ich ihn grübeln. Er hatte das Kinn auf die Brust gesetzt und schlug sich barhäuptig durch die Widrigkeiten der Witterung, überquerte den Marktplatz, wich engumschlungenen Pärchen, streunenden Hunden, wartenden Zuhältern und einer Gruppe älterer Herren aus, die in einer Schneeballschlacht Stalingrad nachspielten. Diesmal sollte der Russe nicht gewinnen. Ich erinnerte mich, dass man in der Bundeswehr jetzt auch eine Gefechtsmedaille bekommen konnte, formschön am Band, machte sich als Sargschmuck immer gut. So dachte ich vor mich hin, während ich Lothar folgte, ohne zu wissen warum. Aber ist das nicht immer so? Wer jemandem folgt, weiß nie warum, jedenfalls später nicht, wenn die Scheiße endgültig dampft. Womit ich wieder bei Stalingrad und Orden war.
Aber vor allem bei der Leitfrage meines Daseins: Was machte ich da gerade? Hatte es einen Sinn und Zweck? Konnte doch sein, dass dieser Lothar im Haus der Webers wohnte und Sonja rein zufällig aus dem Fenster geschaut hatte, um den Flug der Flocken mit melancholischem Blick still zu begleiten. Lothar geht noch einen trinken, hofft auf einen Beischlaf mit Monika, erhält eine Abfuhr und beschließt, die dringend notwendige Entladung in einem bordellähnlichen Betrieb mit professioneller Unterstützung vorzunehmen. Und tatsächlich näherte er sich dem Rotlichtbezirk, der aus zwei gegenüberliegenden Häusern bestand, vor denen aber witterungsbedingt nicht das Fleisch paradierte und darauf wartete, einer der beiden soeben näherkommenden Schneemänner unterbreite ihm ein unmoralisches Angebot.
Lothar wurde langsamer, blieb aber nicht stehen. Ein Fenster öffnete sich, ein blonder Kopf streckte sich heraus, etwas wurde gesprochen, doch Lothar ging weiter, wurde schneller. So passierten wir den Ort der Sünde, ohne uns zusätzliche drei Monate Fegefeuer einzuhandeln.
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Unser kleiner Rundgang durch die Stadt endete in einer Straße mit dem imposanten Namen »Dr-Rüdiger-von-Seckendorff-Allee«, an der sich Häuser der Gründerzeit anachronistisch in den Schneehimmel reckten. Dies jedenfalls entnahm ich der Infotafel am Straßenschild, »einzig erhaltenes Gründerzeitensemble unserer Stadt«, und fragte mich unwillkürlich, was denn hier gegründet worden war. Vielleicht ein Verein zur Förderung elend langer Straßennamen unter Betonung falscher Tatsachen, denn es gab keinen einzigen Baum in dieser Allee und es sah nicht so aus, als hätte es jemals einen gegeben.
Lothar verschwand in einem Hauseingang und gleich darauf wurde das Flurlicht angeknipst. Ich hatte vor, lässig vorbeizuschlendern, mir eine zu drehen und zu warten, bis auch das Licht in einer der Wohnungen aufleuchten würde. Ein Blick auf das Klingelbrett und schon weiß ich, wo Lothar wohnt und wie er mit Nachnamen heißt. All das hätte ich zweifellos getan, wäre nicht mein Blick auf einen am gegenüberliegenden Bürgersteig geparkten Wagen gefallen, hinter dessen schneebedeckten Fensterscheiben für eine Sekunde ein Feuerzeug angeknipst worden war.
Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Nicht was das Aufflackern des Feuerzeugs betraf – in solchen Dingen irre ich mich nie – wohl aber über meine sofort assoziierenden Gedanken, die einen Mann imaginierten, der im von der Standheizung hinreichend erwärmten Inneren des Wagens auf Lothar gewartet hatte. Unsinn. Mochte sein, dass dort ein Berufskollege von mir in einem anderen Fall tätig war, außereheliche Aktivitäten zum Beispiel. Er schlug sich die Nacht um die Ohren, während in einer der Wohnungen jener berühmten Dr-Rüdiger-von-Seckendorff-Allee ein untreuer Ehemann auf einer 24jährigen lag und pausenlos an eine 42jährige dachte, die keinesfalls ein langes blondes Haar auf seiner Jacke finden durfte. Und war das nicht überhaupt des Rätsels Lösung? Lothar und Sonja Weber hatten ein Verhältnis, die Geliebte schaut ihrem Liebhaber beim Verlassen des Hauses traurig nach, dieser wechselt die Straßenseite, um in der »Bauernschenke« bei der Co-Geliebten Helga gut Wetter zu machen, was ihm aber nicht nur in Anbetracht der Witterungsverhältnisse gehörig in die Hose, das heißt genau da hinein eben nicht geht – und ich Idiot vergeudete die Hitze meiner teuer bezahlten Glühweine an eine sinnlose Verfolgung.
Ich wechselte die Straßenseite, sah über die Schulter zu dem Haus hin, in dem Lothar verschwunden war, im 4. Stockwerk war Licht gemacht worden. Das merkte ich mir. Das Auto stand noch immer da, nichts tat sich. Jemand mochte gerade fluchen und rauchen, um dann zu rauchen und zu fluchen, das Nummernschild war nicht zu erkennen, ein dunkelblauer Fiat, so schien es mir, aber ich war schon zu weit entfernt, um etwas Genaues erkennen zu können.
Endlich – es ging auf Mitternacht zu – daheim. Ich zog mich aus, nahm eine heiße Dusche, setzte mich in Pullover und dicker Hose an den Ofen, schaltete den Fernseher an und informierte mich über den »Wintereinbruch in Deutschland«, was ich mir hätte sparen können, denn ich war ja dabei gewesen. Ein Glas Dosenwurst ging den Weg aller Dosenwurst, durch die Kälte meines Körpers nämlich, die auf jenen Fraß pfiff und nicht daran dachte, die Kurve zu kratzen. Ich suchte die ganze Wohnung nach Alkohol ab, fand keinen. Betrachtete ziemlich unbeteiligt einen Boxkampf, der in Runde 2 durch einen Magenschwinger beendet wurde. Geriet in eine Talkshow mit Heiner Geißler, mit wem auch sonst. Erfuhr, die Fußballweltmeisterschaft 2022 finde in Katar statt. Nahm mir vor, die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Staates mit diesem Namen zu überprüfen. Warf mich sodann ächzend in meinen Schlafanzug und unter die Bettdecke, zitterte eine Weile vor mich hin, dachte noch mal an diesen merkwürdigen Tag, träumte dann von ihm, erwachte und ging aufs Klo, denn die fünf genossenen Glühwein hatten genug von Moritz Klein und wollten ihn schleunigst verlassen. Ich verstand das. Ich beneidete sie um diese Möglichkeit.
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Der Sonntag war ein Sonntag. Ich verließ das Bett nur zu Zwecken des Im- und Exports, was mich an den Montag denken machte, ein unwillkommener Umstand, denn an Sonntagen verdrängte ich nicht nur die Niederlagen der vergangenen Woche, ich versuchte auch, die der folgenden gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen. Ich bin sicher, so praktiziert es auch die Bundeskanzlerin. Sie liegt im Bett und überlegt sich, ob sie das Wort Klimawandel schon mal gehört haben könnte oder vielleicht doch in Zukunft besser nicht hören sollte.
Draußen lag Schnee. Ich hasse Schnee. Ich hasse auch Dosenravioli. Jetzt saß ich aufrecht im Bett, gabelte Dosenravioli und sah aus dem Fenster auf nichts als Schnee, Schnee, Schnee. Es hatte Sonntage gegeben, an denen es mir deutlich besser gegangen war, Sonntage mit Dosenravioli und Dauerregen.
Ich las ein Buch, einen recht lustigen Krimi, in dem der Komiker Groucho Marx den mysteriösen Tod eines Starlets aufklärt. Wir waren ja nun quasi Kollegen, Marx der bessere Komiker, aber dafür weilte ich noch unter den Lebenden. Das Buch hatte ich mich direkt vom Verleger mit der Lüge erschwindelt, ich sei ein Krimigroßkritiker. Auch das war ein Teil der Strategie, meine Ernährungssituation zu stabilisieren. Ich ließ mir sogenannte Besprechungsexemplare schicken, besprach selbstverständlich nichts und niemanden, verkaufte die Bücher in modernen Antiquariaten und schleppte den kärglichen Erlös umgehend zum Discounter. Das machen alle Krimikritiker und es wundert mich seit Jahren, dass die Verleger keinen Wind davon bekommen.
So dämmerte ich in meiner Matratzengruft vor mich hin. Groucho war soeben auf ein Kasinoschiff entführt worden, überhaupt war bei ihm immer mächtig was los. Er tändelte mit den schönsten Frauen von Hollywood (die inzwischen auch schon alle tot waren, tröstete ich mich), während ich bestenfalls mit zickigen Wirtinnen ältlicher Gasthäuser verkehrte, aber immerhin würde ich morgen der bundesdeutschen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts einen Besuch abstatten, was mich in den Augen von Hammett und Chandler deutlich heben dürfte. Aber genug von diesem Firlefanz. Ich klappte das Buch zu, seufzte in den einsetzenden Schneefall, lauschte dem Wind, der an meinem undichten Fenster rüttelte, kuschelte mich in die Steppdecke, bis mich der Import der Dosenravioli zum schleunigen Export zwang, womit ich wieder beim Montag war, an den ich nicht denken mochte, aber pausenlos dachte. Aufstehen und auch diese unbezahlte Arbeit erledigen.
Dann wurde es endlich dunkel. Kein Telefonanruf hatte meine Kontemplation gestört, selbst meiner Klientin schien die Sonntagsruhe heilig. In der Küche betrachtete ich den nun leeren Stuhl, auf dem sie gestern gesessen hatte. Was wusste ich von Sonja Weber? Nicht viel, eigentlich gar nichts. Sie hatte möglicherweise einen Geliebten namens Lothar, der beschattet wurde, und zwar nicht nur von mir. Gleich gegenüber wirkte eine gewisse Helga oder Monika in ihrer Kneipe und war Sonjas Nebenbuhlerin. Auch das nur möglicherweise. Und über allem schwebte Georg Weber, das heißt, er schwebte nicht, er war ja verschwunden. Ich nahm das Buch zur Hand und las ein paar Kapitel. Groucho Marx ging mir allmählich auf den Keks. Er überlebte schlichtweg alles, er hatte unverschämtes Glück und noch unverschämtere Eingebungen. Ich würde mir fortan von den Verlegern anspruchsvollere Bücher erschwindeln, das war ich meiner Berufsehre schuldig. Ich klappte das Buch abermals zu. Freute mich auf das Abendessen, den Rest der Dosenravioli. Der Schneefall hatte sich eine Auszeit genommen. Ich stand auf, schlurfte in die Küche, sah wieder den leeren Stuhl, lauschte auf das Telefon, das Telefon blieb stumm. Kurzum: Dieser Sonntag tat gut daran, das zu tun, was ein braver Sonntag immer tun sollte: sich schleunigst verpissen.
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Der erste Wecker rappelte um halb Fünf. Ich tötete ihn. Gegen Viertel von Fünf verwickelte mich der zweite in eine fruchtlose Diskussion über das Aufstehen. Ich tötete auch ihn. Punkt Fünf schlug die nahe Kirchturmuhr. Ich wollte sie töten, aber sie war zu weit weg und zu groß. Ich wartete auf den dritten Wecker. Irgend wann fiel mir ein, dass ich keinen besaß und stand auf.
Zur S-Bahnhaltestelle. Die Kälte war skandalös, Autos krochen auf vereisten Fahrbahnen, Menschen dampften aus Mündern wie altertümliche Loks. Aus einem für immer zu den Mysterien zählenden Grund kam die Linie 26 zum Industriegebiet pünktlich und ich stieg ein. Setzte mich zwei Herren gegenüber, sie pressten ihre Aktentaschen gegen die Unterleiber, Anzüge knitterten, Schlipse erlitten lebensgefährliche Quetschungen.
»Fährst du 2022 auch zur Fußballweltmeisterschaft nach Katar?«
Der Gefragte überlegte eine Weile
»Nee. Da bin ich zum Skifahren in der Karibik.«
»Ach so.«
Der Wagen bremste elegant ab, ein Punkmädchen ohne Schäferhund stieg ein, zog den Rotz hoch und zündete sich eine Zigarette an.
»Ja, Scheiße«, setzte nun der eine der beiden mir gegenüber das Gespräch fort, »und soll ich dir mal was sagen? In Katar leben Moslems.«
»Hm«, machte der andere, »Moslems« wiederholte der eine.
»Wenn du das sagst. Dann ist ja alles klar. Moslems.«
»Eben«, wurde bestätigt.
Das Punkmädchen trat die Kippe aus, kickte sie unter einer Sitz, kollerte ein Bällchen Spucke hinterher. Sie hatte große Löcher in den Jeans, man sah ihre bleiche Haut. Mutig, dachte ich, zu meiner Zeit hockten die Punks in den Lounges, hörten Die Toten Hosen und passten auf, dass keine Löcher reinkamen.
»Die haben halt das Geld«, wurde weitererzählt. »Die Moslems, meine ich.«
»Genau. Öl. Und wir bezahlen das alles. Fußball in der Wüste.«
Sie grinsten in meine Richtung, ich zog mich tiefer in meinen Anorak zurück. War ich nicht vorhin an einem Zeitungskiosk vorbeigelaufen, von dem mir die Schlagzeile »Sozialstudie: Bürgertum verroht immer mehr« entgegengesprungen war? Ich hatte mich mit einem kühnen Sprung zur Seite der Wirklichkeit entzogen, nicht ahnend, dass sie mir nun für vier Haltestellen gegenüber sitzen würde.
»Wahrscheinlich müssen alle Spieler mit Kopftuch antreten«, mutmaßte der Eine. Der andere nickte.
»Und wahrscheinlich findet die WM während des Ramadan statt und unsere Jungs dürfen nur Nachts ihre Spaghetti mampfen.«
Das Punkmädchen kratzte sich im Schritt und ließ es aussehen wie Masturbation. Ein mächtiger Furz untermalte den Akt akustisch.
»Und die WM 2018 findet in Russland statt.«
»Genau. Als ob es dort noch Russen gäbe. Die sind doch alle hier.«
»Fährst du morgen nach Stuttgart zur Demo?«
»Nö, ich hab Beckenbodengymnastik und dann Vollkorngruppe in der VHS.«
»Schade.«
Gleich würden wir das Industriegebiet erreicht haben und ich war bereit, an Gott zu glauben, um ihm dafür danken zu können. Wieder bremste der Wagen ab, ich stand auf, stellte mich hinter das Punkmädchen, das ebenfalls aussteigen wollte.
»Wenn du mir aufn Arsch haust, Alter, reiß ich dir den Sack ab«, murmelte sie, drehte sich aber nicht um. Also verkniff ich mir den morgendlichen Sex und trat einen Schritt zurück.
20
Das Industriegebiet lag innerhalb des Joseph-von-Eichendorff-Rings wie ein besonders fleißiges Kind in den warmen Armen seiner Mutter. Schnurgerade Straßen, die nach weniger bekannten Vertretern der romantischen Literatur benannt waren, gingen davon ab und führten geradewegs in das Herz von Handel und Wandel. Ich stieg aus und stapfte den Clemens-von-Brentano-Weg hoch, bog dann in die Friedrich-de-la-Motte-Fouque-Straße, passierte den bereits emsig bearbeiteten Großmarkt, überquerte die Kreuzung Ludwig-Tieck-Straße / Novalis-Straße und sah nun schon von weitem den trotz der frühen Stunde hell erleuchteten Container der Arbeitsagentur am Nobelpreisträger-für-Literatur-Günter-Grass-Platz.
Wer als Tagelöhner Arbeit suchte, musste hier vorsprechen und sich registrieren lassen. Mein Name befand sich längst in der Kartei, nun brauchte ich nur noch ein wenig Glück, um einen Job bei Gebhardt und Lonig zu ergattern. Aber eigentlich blieb mir keine Wahl: Ich war pleite und musste nehmen, was vorhanden war.
Links vom Containereingang wartete ein vorweihnachtlich geschmückter Tisch auf die Arbeitssuchenden. Dahinter fröstelte ein arktisch verpacktes Fräulein vor sich hin, ihre Wangen glühten rot, ihr Mund lächelte permafrostig. Über dem Ganzen hing ein von Lichterketten umsäumtes, an Stangen provisorisch befestigtes Transparent: »Leben wie die alten Römer! Werde Mitglied bei Hartz IV!«
Wenigstens gab es Kaffee, Tee und Glühwein, »wir haben auch billigen Schnaps da«, verriet das Fräulein – jetzt als Studentin zuverlässig zu identifizieren – »damit Ihnen die Entscheidung, Mitglied im Hartz-IV-Club zu werden, leichter fällt!«
Ich entschied mich für Kaffee und blätterte in den ausliegenden Broschüren. »Keine Mindestvertragsdauer! Keine Mindestabnahme von Staatsknete!« Die Welt war schon verrückt, aber wir lebten im Kapitalismus, jeder konkurrierte mit jedem, die Arbeitsplatzbesitzer mit den Arbeitssuchenden, die Bezieher von Arbeitslosengeld I mit den Beziehern von Arbeitslosengeld II. Wer sich hier frühmorgens einfand, um einen miserabel bezahlten Job als Tagelöhner oder, wie es euphemistisch hieß, Eintagsfliege des Arbeitsmarktes anzunehmen, torpedierte die Anstrengungen der Gesellschaft, wohltätig gegenüber den Armen zu sein. Das wiederum gefährdete Arbeitsplätze bei den sogenannten ARGEN, die so hießen, weil sich deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter allmorgendlich mit dem Wortspiel aufheiterten, ohne die ARGEN läge vieles im Argen. Sie waren hinter neuen Mitgliedern her wie jeder hundsgewöhnliche Sportverein oder Buchclub, sie fischten nach armen Seelen, an denen sich dann die Großpolitiker und die allgegenwärtige Leistungsträgerschaft abarbeiten konnten. Wie sagte doch einmal ein großer Denker? Ohne die armen Schweine kein Saustall, ohne Saustall keiner, der den Saustall ausmisten kann, ohne jemanden, der den Saustall ausmistet, keine politische Partei, ohne politische Partei keine Demokratie. Ich trank meinen Kaffee aus und nahm an, dass der Satz von mir stammte, aber nichtsdestotrotz richtig war.
»Entscheiden Sie in aller Ruhe, ob Sie Mitglied werden wollen«, empfahl das fröstelnde Fräulein und ratterte die ihr eingebläuten Argumente pro Hartz IV herunter. »die Lizenz, Ehefrau und Nachkommenschaft zu verprügeln, freier Zugang zum Alkoholikerstatus, ein Ehrenplatz an Tafeln und in Suppenküchen, ein befriedigendes finanzielles Auskommen bei hinreichendem Talent zum Sozialbetrug...«
»Danke«, unterbrach ich sie, »aber heute habe ich leider noch etwas anderes vor. Ich komme auf ihr Angebot gewiss zurück.«
Sie lächelte mich dankbar an, vollführte einen putzigen Wärmtanz und drückte mir zum Abschied sieben Broschüren in die Hand. Ich nahm sie und verstaute sie in meiner Jacke, nickte noch einmal und stieg die vier Stufen zum Container hoch.
21
Acht robuste Plastikstühle standen an der Wand des Warteraums und wurden von acht sprachlosen Männern besetzt. Sie sahen nicht aus wie Repräsentanten des britischen Oberhauses, aber gleich würde auch nicht die Queen erscheinen, sondern Herr Wilke von der Arbeitsagentur mit den täglichen Jobofferten, ein im Dienste des Tagelöhnertums ergrauter Herr, Beamter des mittleren Dienstes und entsprechend vom Leben enttäuscht. Ich stellte mich an den Eingang, sagte mein »Guten Morgen« auf, erhielt es achtfach nicht zurück und spielte mit dem Gedanken, das freundliche Angebot des ARGE-Fräuleins wenigstens als diskutabel in Betracht zu ziehen. Aber was hatte ich erwartet? Wer hier saß, hielt Knigge bestenfalls für den Erfinder eines ähnlich benannten Brotes.
Ein Mann, der aufrecht wie nur je ein Fürst inmitten seiner Vasallen thronte, fiel mir auf. Ich kannte ihn nämlich. Er ging stramm auf die Sechzig zu, trug das Haar als unentwirrbar ineinander verschlungene Wollknäuel auf dem Kopf, diesen wiederum auf einem Nichts von Hals, der aus einem »Ohmeingott!« von Rumpf wuchs, den man nur als fleischgewordene Vision einer perfekten stählernen Tonne bezeichnen konnte. Dieser Rumpf mochte unter zwei verschlissenen Jacken nicht mehr genau zu definierenden Farbtons, vier baumwollenen Ober- und einem Halbdutzend löchriger Unterhemden verborgen sein, doch seine Muskeln pochten sichtbar, fast hörbar, wie mir schien, wenn ich den Atem anhielt und lauschte. Derweil sein Antlitz – und um ein solches handelte es sich unbezweifelbar – regungslos und stolz blieb, das Antlitz eines Helden der Gelegenheitsarbeit, an dem alle Irrungen und Wirrungen des postmodernen Kapitalismus spurlos vorbeigegangen zu sein schienen.
Ich erinnerte mich: Das war Leopold Regitz, der König unter den Tagelöhnern, Pate der Verlierer des Arbeitsmarktes, von ellenlanger Spitznase beschatteter Lippenwulst beeindruckenden Ausmaßes, durch den von Zeit zu Zeit eine leuchtend rosa Zunge hervorlugte und wie ein Pendel von einem Mundwinkel zum anderen schwang, nein, patrouillierte.
Wir mussten nicht lange auf das Erscheinen von Herrn Wilke, dem für uns zuständigen Sachbearbeiter warten. Er trat, ein Tablett balancierend, aus der zuvor unter Mühen geöffneten Tür seines Büros, beförderte das Tablett, auf dem eine große Tasse Capuccino vor sich hin dampfte, flankiert von einem duftenden Croissant, einem Messer sowie einer Hotelportion Butter, zu Regitzen hin, der es ihm freundlicherweise abnahm.
»Hier, Herr Regitz, das Croissant ist ganz frisch.«
Regitz musterte den Capuccino und verzog ein wenig das Gesicht.
»Ist das wirklich aufgeschäumte Milch oder doch Sahne?«
Seine Stimme hatte ein überraschend ausgewogenes Volumen, er hätte auch die Nachrichten in der Tagesschau verlesen können.
»Aber natürlich, Herr Regitz, ganz leckere Milch«, beeilte sich Wilke zu versichern und verlor keine Zeit, sich in das Schützende seines Büros zurückzuziehen.
»Sonst hätte ich auch gleich draußen bei der ARGE-Schlampe mir ne Tasse Muckefuck einpfeifen können.«
Wilke lachte verkniffen und kratzte sich am Kopf.
»In Ordnung, ich wills mal glauben«, sagte Regitz, stellte das Tablett mit schwindelerregender Elegance auf seinem Schoß ab und begann schmatzend mit dem Frühstück. Diese Hingabe wurde nur gelegentlich durch einen zunächst ungeduldigen, sodann immer ärgerlicher werdenden Blick zum Eingang hin unterbrochen. Regitz wartete auf jemanden.
22
Regitz arbeitete am letzten Bissen seines bebutterten Croissants, als sich die Tür öffnete und ein kleiner, sehr scheckig gekleideter Mann eintrat. Etwas aus dem Leim gegangene 40 Jahre, schätzte ich, einen beigen Wollmantel über schwarzer Cordhose und rotkariertem Hemd, eine blauweiße Zipfelmütze mit dem Emblem von Schalke 04 auf dem Kopf. Er sah sich um, erblickte Regitz und wurde sofort um 20 Zentimeter kleiner, so dass man selbst im Sitzen das Kinn mächtig auf die Brust drücken musste, um ihn überhaupt zu sehen.
»Da bist du ja, Borsig«, raunzte Regitz und: »Wo ist Schaffrath, die alte Sau?«
Borsig lächelte schief und zerstörte die Reputation seines Zahnarztes. »Sorry, aber mir ist gestern Abend noch was dazwischen gekommen.« – Er heischte ob dieser Anspielung auf erotische Abenteuer Respekt bei den Anwesenden, erntete aber nichts weiter als eine ungeduldige Handbewegung Regitzens.
»Und Schaffrath haben sie gestern hops genommen. Schwere Körperverletzung.«
Regitz stöhnte auf. »Ein Arschloch größer als das andere«, befand er, winkte Borsig zu sich, reichte ihm den Teller und sagte: »Bring das dem Wilke rein und stoß ihm Bescheid, er soll mal zu Potte kommen. Oder hab ich meine Zeit hier gestohlen?«
Borsig tat wie geheißen und Wilke erschien stehenden Fußes mit einer Liste.
»Fünf Mann für den Großmarkt, 4 Euro 80 die Stunde sowie angestoßene Äpfel, abgefallene Salatblätter kostenlos zum Mitnehmen, eventuell auch überreife Bananen zum halben Preis.«
Sogleich schnellten fünf Hände in die Höhe, die von Regitz, Borsig und mir waren nicht dabei. Vierachtzig waren eine Stange Geld, die fünf Glücklichen zückten ihre Tagelöhnerausweise und schieden als prospektiv reiche Männer von dannen.
»Zwei Personen für das Ausführen der Möpse von Gräfin Dohrscheid, 5 Euro die Stunde sowie eventuell abgelegte Kleider des verstorbenen Herrn Grafen.«
Wieder meldeten sich zwei der Anwesenden, wieder waren weder Regitz, Borsig noch ich unter den zukünftigen Trägern noch so gut wie neuer Smokings.
»Haha«, lachte Borsig, »du nimmst den linken Mops und du den rechten, das nennt man Büstenhalter!« Regitz strafte diesen Ausbruch eines schlüpfrigen Scherzes mit einem brutalen Augenaufschlag ab, Borsigs Schädeldecke schwebte einen halben Meter über dem Boden.
»Und dann noch... drei Helfer für Entladen und Lagerarbeiten bei Gebhardt und Lonig, Im- und Export, Stundenlohn nach erbrachter Leistung.«
Drei Arme gingen nach oben, es waren die von Regitz, Borsig und mir. Zum erstenmal wandte mir der König der Tagelöhner das Gesicht zu, musterte mich mit all seiner Menschenkenntnis und zog den Rotz durch beide Nasenlöcher in die Mundhöhle, kurz davor, ihn von dort ins Freie zu befördern.
»Geht ja genau auf«, freute sich Wilke.
»Ja«, entgegnete Regitz, »das werden wir noch sehen.«
Zu dritt verließen wir den Container.
»Na, du Schlampe, wenns außer Kaffee auch mal Blasen ohne Gummi gibt, sag Bescheid«, grollte Regitz dem studentischen Fräulein im Vorbeigehen zu. Dessen Rotbäckchen wurden blass, ihre Trägerin wankte bedenklich.
»Aber wahrscheinlich auch noch zu blöd zum Schlucken«, resümierte Regitz, und so schritten wir der Wilhelm-und-Jakob-Grimm-Straße zu, der Heimat von Gebhardt und Lonig. Es hatte funktioniert. Keine Ahnung, was mich erwartete, aber eine leise Ahnung, es würde nichts Gutes sein.
23
Eine kurze Weile gingen wir nebeneinander her, um, wie es die Dichterin mustergültig formuliert, »gemeinsam zu schweigen«. Drei Proletarier auf dem Weg zur Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital, ihren Marx wie Schillers »Glocke« auswendig im Hinterkopf. Drei Männer wie die Orgelpfeifen: rechts schritt stolz Leopold Regitz mit seinen imposanten Einsneunzig, in der Mitte ich, ein wenig kleiner, und links jener auf den Namen Borsig getaufte Zwerg mit der Schalke-Mütze. Windböen warfen sich uns rowdyhaft in den Weg und rissen halbstark an unserer Bekleidung, Regitzens Zimmermannshut deformierte sich jaulend (tatsächlich, ich habs mit eigenen Ohren gehört) und die Kälte umschmeichelte uns wie die amerikanische Diplomatie bundesdeutsche Außenminister. Es war ein Bild für die Götter.
»Bist du schwul?« fragte mich Regitz von der Seite, ohne mich anzuschauen. Ich schüttelte den Kopf, Regitz musste es im Augenwinkel wahrgenommen haben, denn er brummte eine Kadenz der Befriedigung. »Wählst du die FDP?« – Ich erschrak und presste ein »Oh leck! Dann soll ich tot umfallen!« hervor. Wieder brummte es aus Regitzens monströsem Leib. »Trägst du dich mit dem Gedanken, bei ZDF-Shows dämliche Wetten anzubieten?« Auch das konnte ich guten Gewissens verneinen.
Regitz nahm mich fast zärtlich am Arm. »Denn wisse: Ich arbeite nie mit schwulen und profilierungsgeilen Pseudoliberalen zusammen. Vermöbele deine Alte, riech an Damenschlüpfern oder nimm einem armen Kind den letzten Teddy weg. Is okay. Da ist Regitz tolerant. Aber wehe, wehe!«
Ich merkte es mir gut. »Und wenn du genug an den Schlüppern gerochen hast«, quatschte mich nun Borsig von links an, »dann reich sie mir rüber. Bist auch ein guter Kerl.« Ich versprach es hoch und heilig.
Die Lagerhalle von Gebhardt und Lonig, Im- und Export, war nicht zu übersehen. Auch hier brannte schon Licht, zwei LKW brummten vor dem geöffneten Tor, ein Mann im sicher maßgefertigten Businessanzug ging ungeduldig auf und ab.
»Aha«, sagte Regitz, »der Stecher der Chefin. Das ist gut. Der spritzt sein Hirn dreimal die Woche ab.« Und zu mir gewandt: »Pass auf, mein Sohn. Du hältst hier das Maul. Egal, was du siehst. Ok? Sonst zeigt dir Regitz was es heißt, wenn unter dem Christbaum keine Kugeln mehr baumeln.«
Was nun geschah, hätte als Paradigma vollendeter Schauspielkunst in die Geschichte eingehen können, wäre zufällig ein Theaterkritiker vor Ort gewesen. Der doch so stolze Regitz wurde, je näher wir dem Lagertor und dem davor wandelnden – Zitat – Stecher der Chefin kamen, zum körperlich und seelisch gebeugten Arbeitnehmer minderer Güte, er nahm sogar den Zimmermannshut ab und drehte ihn verlegen in den Händen, blieb vor dem Manne in geziemender Entfernung stehen und führte einen formvollendeten Bückling aus.
»Guten Morgen, Herr stellvertretender Geschäftsführer Honig«, schmierte er selbigen um das Maul des Herrn, »Arbeiter Regitz mit Verstärkung pünktlich angetreten!«
Honig nickte die Ehrbezeugung mit der gebührenden Arroganz ab, sah auf seine Uhr, sagte: »Na ja, unter Pünktlichkeit verstehen wir etwas anderes« und wies sogleich zu den Abgase hustenden LKWs: »100 schwere Kisten abladen, ins Lager bringen, auspacken und umpacken. Pro Kiste gibt es 60 Cent alles inklusive, macht 60 Euro Summa, wie ihr euch das teilt, interessiert mich nicht. Und nun ans Werk, ihr habt vier Stunden Zeit, sonst gibt es Abzüge.«
Regitz setzte seinen Hut wieder auf, murmelte »Der liebe Gott vergelte Ihnen Ihre täglichen Wohltaten«, stieß Borsig in die Seite – »Du fährst den Gabelstapler« – und raunte mir, als sich Honig einige Meter zum Knurren der LKWs hin entfernt hatte, zu: »Ein falsches Wort und es war dein letztes.«
Ich entschloss mich, die nächsten vier Stunden zu schweigen.
24
Die Geschäfte von Gebhardt und Lonig, Im- und Export, schienen zu florieren. Während ich noch darüber sinnierte, ob jener stellvertretende Geschäftsführer nun Honig oder doch logischerweise Lonig hieß, führte uns dieser Herr durch ein Labyrinth bis zur Decke wachsender Regale, an Freiflächen mit leeren Kisten und Kartons vorbei, an denen sich kleine dunkelhäutige Männer stumm zu schaffen machten. Borsig hatte sich sogleich eines Gabelstaplers bemächtigt und drehte eine Aufwärmrunde zwischen den LKWs und dem Eingang zur Lagerhalle.
Wir anderen begaben uns in den hinteren Teil des Etablissements, wo wir die Kisten in Empfang nehmen und öffnen, den Inhalt sodann ohne Umstände gemäß der Bestellscheine umpacken sollten. Zwei der kleinen dunklen Männer, Tamilen wohl, standen schon mit Hämmern und Bauchtaschen voller Nägel bereit. »Aha«, flüsterte mir Regitz zu, »das sind die 3-Euro-Jungs aus dem Asylantenheim.«
Honig / Lonig positionierte sich strategisch günstig am Rande des baldigen Schlachtfeldes. Wie nicht anders zu erwarten, oblag ihm die Kontrolle und Oberaufsicht, nur das Pferd fehlte, von dessen Rücken er die Movements seiner Truppen besser hätte lenken können. Als Borsig die erste der Holzkisten vorgefahren und wir diese geöffnet hatten, erfuhr ich endlich, mit welcher Ware wir gerade unseren kargen Lohn verdienten. Plüschosterhasen. Sechzig Stück pro Kiste, 6000 insgesamt. Honig – der Name gefiel mir inzwischen besser als der andere – öffnete einen Karton, entnahm das edel in Altrosa gehaltene Spielzeug, besah es sich kritisch prüfend und drehte den Schlüssel, welcher dem Tiernachbau aus dem Rücken ragte. Sogleich bewegten sich die mächtigen Ohren wie sonst nur Tanzbeine auf Dope und eine Lachgasstimme sagte »Ach du dickes Ei – Ach du dickes Ei«. Bis der Mechanismus erschöpft war und Meister Lampe die Ohren wieder unbeweglich steif hielt. Honig drückte auf einen unter dem Schlüssel angebrachten Knopf und gönnte dem Spielzeug eine weitere Runde lustiges Wackeln mit den Extremitäten. Jetzt hörten wir etwa zwanzig Mal »Ei love you hahaha – Ei love you hahaha«.
»Toll«, schleimte Regitz, »das is was für Intellektuelle. Sehr witzig.«
Die kleinen dunklen Männer zeigten große weiße Zähne und ließen die Hämmer in den Händen wackeln. Auch Honig grinste angetan. »Ja, genau. Wer nämlich das bilinguale Wortspiel nicht kapiert, hat entertainmentmäßig verschissen. Die Kinder werden so etwas lieben.«
Wir zweifelten nicht daran. Schließlich war das Spielzeug in Bangladesh auch von Kindern gefertigt worden, damit sich unsere nach anstrengenden PISA-Arbeiten von ihrem Analphabetismus erholen konnten. Honig steckte den Hasen in seine Verpackung zurück und nickte. »Und jetzt an die Arbeit, meine Herren! Punkt ein Uhr kommen die LKWs und bringen das Zeug zu den Kunden.« Er klatschte wie ein Großmotivator in die Hände, rieb diese und las die Daten auf dem ersten Bestellzettel vor. 432 Exemplare gingen nach Katar, die gerade dabei zu sein schienen, alles zu kaufen. Fußballweltmeisterschaften, deutsche Baufirmen, bangladeshische Osterhasen, blonde schwedische Jungfrauen sowieso. Wir seufzten und machten uns an die Arbeit. Die beiden Jungs von der Sonneninsel wuchteten die erste Kiste vor unsere Füße.
25
Wir schufteten wie die sibirischen Brunnenputzer, ökonomischer Mehrwert entstand im Schweiße unserer Angesichter, wir waren kleine, gut geölte Rädchen im Getriebe der Geschenkkultur, die in unserem Inneren leuchtenden Augen der mit sprechenden und ohrenwackelnden Osterhasen bedachten Kinder trieben uns an – bis Herr Honig, der es zwei Stunden verstanden hatte, jede Kiste zu zählen und uns auf die Finger zu schauen, ein generöses »10 Minuten Pause, aber keine Sekunde mehr« in die Halle donnerte und zu seinem Handy griff. Der devote Regitz wäre beinahe mit einem »Oh dank dir, Massa!« auf die Knie gesunken, die beiden tamilischen Jungs jedenfalls ließen die Hämmer buchstäblich fallen und zogen großzügige Frühstückspakete aus ihren Nageltaschen.
»Ich geh eine rauchen, kommst mit?« fragte Regitz, doch ich entzog mich der dringend benötigten Nikotinzufuhr heldenhaft mit einem »Muss pinkeln.« »Da hinten die Treppe hoch, zweite links«, klärte der Mann mit den zwei Gesichtern auf, »aber nicht zu viel am Männchen rumspielen.« Ich nickte dankbar.
- und hatte Glück. Der Bürotrakt lag noch im Dunkeln, allein im Flur wies eine trübe Birne den Weg an den Zimmern vorbei, sämtlich akkurat mit Namensschildchen versehen. Honig hieß tatsächlich Honig, eine Person namens Lonig schien hier nicht zu arbeiten. Ein Georg Weber auch nicht, was sehr merkwürdig war. Allerdings gab es ein Zimmer, für das kein Schildchen den Besitzer des dort garantiert befindlichen Drehstuhles verriet. Die Tür war unverschlossen, ich öffnete sie vorsichtig und leise. Man hätte als erfahrener Detektiv natürlich eine Taschenlampe mitgenommen. Ich aber war ein noch gewiefterer Bursche und machte einfach das Licht an.
Alle Schubladen waren leer, im Rollschrank an der Wand eine Handvoll Ordner mit Lieferscheinen, akkurat abgehakt und mit dem Kürzel G.W. versehen. Konnte ja sein, dass hier auch ein Gregor Wurst oder eine Georgia Wiener arbeiteten, aber ich glaubte es nicht. Hier hatte bis zu seinem Verschwinden Georg Weber fleißig buchgehalten, doch niemand rechnete mehr mit seiner Rückkehr. Warum wohl?
Ich absolvierte einen hastigen Toilettengang, rauchte heimlich wie früher auf dem Schulklo und stand pünktlich nach zehn Minuten im nunmehrigen Wirrwarr der geplünderten Kisten. Die Nageljungs kauten noch immer an ihren Broten, Honig hatte sein Handy nach wie vor am Ohr, Regitz und Borsig unterhielten sich etwas abseits über das Vermächtnis von Christoph Schlingensief oder das Für und Wider von Geldanlagen in Zeiten der Eurokrise. Oder über ganz etwas anderes. Dann beendete Honig sein Gespräch, klatschte in die Hände und forderte »Und weiter geht’s! Wir wollen hier ja nicht überwintern.«
Nach zwei weiteren Stunden waren alle eingehenden Kisten ausgepackt und alle ausgehenden korrekt bestückt und zugenagelt.
»Verdammt«, sagte Honig, »das waren aber nur 98.«
»Tja«, bestätigte Regitz, »das hab ich auch festgestellt. Zwei Prozent Schwund sind aber normal, oder?«
Honig nickte. »Scheiß Asiaten. Aber das zieh ich denen gnadenlos ab.«
Er begann zu rechnen. 100 Kisten zu 60 Cent, macht 60 Euro, abzüglich 1,20 Euro, weil wir nur 98 Kisten bearbeitet hatten. Er holte sechs Zehneuroscheine aus seiner Brieftasche, zögerte einen Moment.
»Na ja, es ist bald Weihnachten«, sagte er dann mit dünnem Lächeln, »stimmt so.«
»Oh Gott«, jubilierte Regitz und zog Honig die Scheine routiniert aus der hingehaltenen Hand, »du hast mir gerade den Glauben an das Gute im Menschen wiedergegeben.«
Ich schielte nach einer diskreten Ecke zum Abkotzen.
26
(Achtung! Der folgende Text enthält moralisch zweifelhaftes product placement!) Wieder in Orgelpfeifenformation, ein jeder zum zwei Zehneuroscheine reicher, verließen wir die Lagerhalle von Gebhardt und Lonig, Im- und Export. »Und jetzt gehen wir toll bei LIDL mittagessen!« hatte Regitz unter dem Beifall Borsigs ausgerufen, ich hingegen nur widerwillig genickt. Der unterwürfige Regitz, angeblicher Papst der Tagelöhner, gefiel mir gar nicht mehr, und der sensible Mann schien es zu ahnen.
»Pass auf, mein Sohn«, wandte er sich an mich, »du fragst dich jetzt sicher, warum spielt der alte Regitz den Knalldeppen, sobald er einem Ausbeuter begegnet? Nun, höre. Einer wie der Honig hat es einfach nicht verdient, einen Blick auf Regitzens wahres Ich zu werfen! Was ist der schon? Er bumst die Chefin, mehr kann er nicht. Und, fürwahr, auch das könnte ich besser!«
Borsig kicherte lüstern und Regitz fuhr fort: »Schon bei Karl Marx – Das Kapital Kapitel 16 – findet sich der weise Satz: Der einzige Weg zum Herzen des Kapitalisten führt durch seinen Darmausgang. Krieche hinein und werde zum Torpedo einer sich emanzipierenden Arbeiterklasse, das Zäpfchen der Aufmüpfigkeit, welches eines nicht allzu fernen Tages explodieren und die proletarische Weltrevolution ausrufen möge. So steht es wortwörtlich bei Marx, nicht wahr, Borsig?«
»Ja, hab ich auch so gelesen«, bestätigte Borsig, ohne dass das Schalkeemblem auf seiner Mütze rot geworden wäre, »in der 3. Ausgabe mit dem Druckfehler auf Seite 34«.
Inzwischen standen wir vor dem LIDL. Mit beinahe feierlicher Geste überreichte Regitz Borsig einen Fünfeuroschein und wies ihn an, »ein prima Mittagessen für drei« zu erstehen. Der so Beauftragte trollte sich vorfreudig. Regitz sah ihm milde lächelnd nach, packte mich zärtlich an der Schulter und zog seinen Mund sehr intim an mein rechtes Ohr. Regitz war kein Freund übertriebener Dentalhygiene.
»Höre, mein Sohn. Willst du dir einen Fünfziger verdienen? Du scheinst mir ein aufgewecktes Bürschlein und stehst knietief in der Arbeiterklasse. Komm heute Abend Punkt 9 zu Gebhardt und Lonig. Mir ist kurzfristig ein Mitarbeiter ausgefallen. Willst du?«
Ich nickte spontan, denn wer kann schon fünfzig guten Argumenten widerstehen oder gar wissen wollen, wie er sie verdienen soll? »Brav«, lobte Regitz und drückte mich an seine Brust.
Borsig erschien nach endlosen 20 Minuten. »Hast du das Bier selber brauen müssen oder was?« maßregelte ihn Regitz. »Nee, aber war ne riesen Schlange an der Kasse. Heut is doch bei LIDL Erstverkaufstag von Peter J. Kraus, >Joint Adventure<«.
Regitz tat einen überraschten Satz vorwärts und packte Borsigs Kragen. »Der neue Kraus bei LIDL? Und du Unglücksmensch bringst mir keinen mit? Marsch wieder rein mit dir! Peter J. Kraus lese ich immer mit dem allergrößten Vergnügen. Ein unverächtlicher Vertreter des literarischen Proletarismus im Subgenre des laid back hardboiled. Welcher Verlag?«
»Conte, glaub ich«, glaubte es aus Borsigs zugeschnürter Kehle, »12,90 Euro, Broschur«.
»Conte«, wiederholte Regitz ehrfürchtig, »ja, ein verdienstvolles Haus, prima Jungs. Also sofort kaufen!«
27
(Achtung! Auch in dieser Folge findet sich illegales und leserverachtendes product placement!) Nach einem aus Lyoner, Baguette und Bier kennerös komponierten Mahl trennten sich unsere Wege. Ein Mercedes der gediegenen Mittelklasse fuhr vor, am Steuer saß – ich traute meinen Augen kaum – jenes studentische Fräulein, das mich heute morgen für Hartz IV hatte begeistern wollen und von Regitz in harscher Diktion sexuell kompromittiert worden war. Ein »Heut Abend um 9, aber Punkt!« zurücklassend, stieg Regitz ein und machte sich sogleich oral an der Chauffeuse zu schaffen. Ich muss selten dämlich aus der Wäsche geschaut haben.
»Tja«, erklärte Borsig mit Genießerzungenschlag, »die hat der Chef letzte Woche flottgemacht. War nicht schwer. Alle Studentinnen haben einen Vaterkomplex, musste wissen. Und die Anja besonders.«
Jetzt wusste ich es.
Meine sauer verdienten zwanzig Euro mussten sofort in Lebensmittel investiert werden und so begab ich mich nach kurzer S-Bahn-Fahrt zum Sozialdiscounter ARIANE. Hier konnten Waren zum halben Preis erworben werden, ARIANE galt auch als der Discounter mit der schnellsten Kundschaft, denn wer zu langsam war, erreichte die Kasse unter Umständen erst, wenn das Haltbarkeitsdatum der Produkte abgelaufen war.
ARIANE verfügte merkwürdigerweise auch über eine Miederabteilung, in der verführerische Dessous der Marke NORA feilgeboten wurden. Eine Art Musenfalle, konnte doch hier, wie es in der Werbung hieß, die Erstausrüstung für den Ausstieg aus dem Prekariat erworben werden, Edelkokotte, ein Beruf mit Zukunft, gewissermaßen, in dem sich die Leistungsträger an den Reizwäscheträgerinnen abarbeiten konnten.
Mein Guthaben war bis auf einen Fünfer aufgebraucht, das Wetter immer noch indiskutabel. Ich trug meine Einkäufe nach Hause und kam an Jürgens Bioladen vorbei, wo mich ein paar Mandarinen orangen anlachten. Jürgen stand, wie fast immer, hinter der Theke und las in einem Krimi. Mein Erscheinen riss ihn aus der kriminellen Fiktion in die nicht weniger kriminelle Wirklichkeit.
»Mach mal für 3 Euro Mandarinen«, sagte ich sanft, denn laute Töne mochte Jürgen nicht leiden.
»Drei Euro?« Jürgens Gesicht mutierte zum Fragezeichen. »Das sind von jungen Landarbeiterinnen mit Abitur handgepflückte, selbstverständlich ungespritzte und nicht genmanipulierte Mandarinen. Ok, ich pack dir zwei Stück ein, weil du es bist.«
Daheim. Die Arbeit hatte mich ermüdet, ich nahm ein heißes Bad und plante die nächsten Schritte. Ich würde meine Auftraggeberin be- und die Wohnung ihres Bruders durchsuchen müssen. Dann die Identität des mysteriösen Lothar heraus- und mich zu einem nicht weniger mysteriösen Treffen mit Regitz und Borsig im Industriegebiet einfinden. Fünfzig Euro verdienen, was es mir ermöglichte, ein paar Glühwein in der »Bauernschenke« zu trinken. Warum, wusste ich nicht.
Ich kochte mir Kaffee, aß hastig von dem Brot, das ich mir bei ARIANE gekauft hatte und dessen Haltbarkeitsdatum gerade dabei war abzulaufen, ich kaute hastig und verlor das Rennen um Haaresbreite. Griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Sonja Weber. Sie nahm sofort ab, als hätte sie auf meinen Anruf gewartet.
28
Sonja Weber öffnete die Tür. Sie sah aus wie eine Buchhändlerin, also nicht die Tür. Ein, wie Karl Lagerfeld sagen würde, dezentes dunkelbeiges Kostüm, das wie der von ihm leider verdeckte Körper auf bequemen Slippern transportiert wurde, die Frisur mit Spangen und Haargummis auf Teepartyniveau gebändigt, der Gesichtsausdruck - und deshalb wähnte ich mich für Momente in einer Buchhandlung – von jener inneren Ausgeglichenheit, die man empfindet, wenn man gerade einmal NICHT Thilo Sarrazin oder Rosamunde Pilcher verscherbelt hat, sondern einen seit Jahrzehnten im hintersten Regaleck vor sich hin staubenden Gedichtband.
»Schön, dass Sie da sind«, lächelte mich Sonja Weber an, und ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass sich jemand über mein Erscheinen gefreut hat (Hermine und Jonas ausgenommen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), jedenfalls konnte ich nicht anders und lächelte zurück. Von dieser Frau hätte ich auch den neuesten Krimi von Dieter Paul Rudolph gekauft, aber der erscheint ja erst im März.
Das Wohnzimmer, in das mich Sonja Weber nun dirigierte, war ein Bürgertraum in Buche und Fichte, alles furniert. Die Schrankwand »Wallander« dominierte den Raum, man konnte auf der Couch/Sessel-Kombination »Stieg« Platz nehmen, die sich um den Tisch »Wahlöö« gruppierte, der wiederum auf einem Teppich »Sjöwall« stand, desgleichen die Zeitschriftenablage »Marklund«. Auf »Wahlöö« war, mit der Tischdecke »Dahl« unterlegt, das gute Geschirr »Martin Beck« aufgelegt worden, dieses wiederum trug exklusiven Kuchen der hiesigen Kultkonditorei Lahmnagel und Tochter. Tee und Kaffee dampften in formschönem Porzellan. Nicht schlecht für eine Frau, die gestern noch den Fund eines Eurostücks für einen Sechser im Lotto gehalten hätte.
»Tja«, lächelte Sonja ein wenig verlegen und bat mich, in einem der Sessel zu versinken, »ich habe mir etwas gegönnt. Und das hat seinen Grund.«
Sie ging zum Schrank, öffnete eine Schublade und entnahm ihm ein Bündel Fünfzigeuroscheine. »6100 Euro«, sagte sie, jede Silbe betonend, »lagen unter der Matratze.« Sie zählte sechs Scheine ab und legte sie vor mich hin. »Nehmen Sie. Das beruhigt mich, ich arbeite ja auch nicht umsonst.«
Ich nahm das Geld, es beruhigte mich auch. Ihr Bruder werde es verstehen, sagte Sonja weiter, und ich lobte diesen Bruder, der sein Geld auf die gute alte Art sparte und nicht in griechischen Staatspapieren oder gar irgend welchen Eurobonds angelegt hatte.
»Außerdem fange ich nächste Woche wieder an zu arbeiten. Hat tatsächlich geklappt.«
»Ach«, staunte ich, »wo denn? Was sind Sie eigentlich von Beruf?«
»Buchhändlerin.« Sonja Weber errötete, wie nur Buchhändlerinnen erröten können. »Na ja, ist nur eine Teilzeitstelle im Buchkaufhaus Schiller Sells, aber für den Anfang nicht schlecht.«
Sie fragte nach Tee oder Kaffee, schenkte mir von ersterem ein und ich war mir nicht sicher, ob ich nun beim Trinken den kleinen Finger würde abspreizen müssen. Sonja Weber jedenfalls tat es. Wir probierten von den kleinen Küchlein und fanden sie deliziös. Ich begann Sonja Weber auf eine seltsame Art attraktiv zu finden, was sie selbst auf normale Art zweifellos war, aber etwas umgab sie, ein Schleier – nein, nein, Moritz, mach dich nicht zum Narren. Der Besitz von sechs Fünfzigern hat dich euphorisch werden lassen und außerdem wirst du immer verlegen, wenn du einer Buchhändlerin gegenübersitzt. Irgendein frühkindliches Trauma, das man besser ruhen lassen sollte. Ich riss mich also zusammen und begann zu berichten, welche Erkenntnisse ich im Fall des verschwundenen Georg Weber bisher gewonnen hatte. Den ominösen Lothar verschwieg ich.
29
»Oh, das ist seltsam!«
Der abgespreizte kleine Finger an Sonja Webers Teetassenführhand zuckte ein klein wenig, als ich ihr von meinem Besuch bei Gebhardt und Lonig, Im- und Export berichtete.
»Sie haben sein Büro leergeräumt, das Schild an der Tür entfernt – heißt das etwa....« Jetzt begann sie zu zittern und stellte die Tasse ab.
»Nein, nein«, versuchte ich meine Klientin zu beruhigen, obwohl ich den Gedanken, der gerade in Sonja Webers Kopf rumorte, ebenfalls für den plausibelsten hielt. Schon Stalin wusste, wie man säuberte, man bringt jemanden um und dann tut man so, als habe dieser Jemand nie existiert. Gebhardt und Lonig mochten keine Stalinisten sein, aber lernmäßig äußerst flexibel.
»Wir sollten nicht das Schlimmste befürchten«, sagte ich, das Schlimmste befürchtend, »es gibt 1000 andere Erklärungen, die viel harmloser sind.« Ich nickte tapfer aufmunternd und überlegte, welche 1000 Erklärungen das sein könnten, aber mir fiel keine einzige ein. Wir hoben unsere Teetassen zur gleichen Zeit und tranken sehr langsam, um nichts sagen zu müssen.
In solchen Momenten müsste es an der Tür klingeln und die Nachbarin um ein Ei für das Pilzomelette nachfragen oder wenigstens das Telefon, sind Sie Herr Södermann, nein, falsch verbunden. Es geschah weder das eine noch das andere, es war still, das Bild des größten anzunehmenden Unfalls, der ein Mord war, stand im Raum.
»Ich müsste mich mal umsehen«, sagte ich endlich. Sonja Weber nickte. Natürlich, das müsse ich, das verstehe sie. Ich begann im Wohnzimmer, öffnete die Türen und Schubläden des Schrankes, blätterte mich durch unauffällige Kontoauszüge, die Georg Weber als Bezieher eines mittleren Einkommens auswiesen, las flüchtig über Versicherungsschreiben – ein kleiner Wasserschaden, mehr nicht – und entdeckte ein dünnes Bündel intimer, mit einer »Margot« gewechselter Briefe, eine Korrespondenz, die am 12. April 1998 mit dem Weberschen Satz »Ich möchte so gerne das Schnürchen an deinem Tampon sein« (hier hatte er Prinz Charles leicht variiert) begonnen hatte, um am 29. Juni 1998 mit Margots »Fick dich, du Arsch!« desillusioniert zu enden. Dazwischen lagen schwülstige Verbalerotik und diverse Ehestandsbeförderungspläne, das Übliche also.
Auch meine Recherchen in Schlaf- und Arbeitszimmer, in Küche und Bad blieben erfolglos. Georg Weber war tatsächlich ein Langweiler gewesen, der die Buchreihe »999 Krimiklassiker« abonniert hatte, um damit das Regal in seinem Arbeitszimmer zu füllen. Ich zog wahllos einen Band heraus, es war natürlich »Mord im Orientexpress«. Auch Webers Kleidung inspizierte ich sorgfältig, in einer Jackentasche klimperte es nach Schlüsseln, fünf von ihnen hingen an einem eisernen Ring. Ich zeigte den Fund Sonja Weber.
»Oh, das sind Georgs Schlüssel! Die beiden Hausschlüssel, die für Keller und Briefkasten, den fünften kenne ich nicht.« Und das war nun wirklich seltsam. Der Vermisste hatte seine Wohnung verlassen, ohne seine Schlüssel mitzunehmen, was heißen konnte, er habe sie nicht freiwillig verlassen. Wie aber kamen sie in die Jackentasche? Wieder etwas, worüber ich grübeln konnte. Ich steckte die Schlüssel ein, Sonja Webers Blick war so bewölkt wie eben beim Teetrinken.
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Es dämmerte, als ich Sonja Weber verließ. Sie hatte mir, um auf freundlichere Gedanken zu kommen, einige Schwänke aus dem Leben ihres Bruders erzählt, mit dem erwarteten Ergebnis, dass ihr nach zwei Minuten keiner mehr einfiel. Georg Weber hatte als pubertierender Jugendlicher Himbeermarmelade in ein allzu luftig gebackenes Brötchen gespritzt, sein Vater herzhaft hineingebissen und sich übel verkleckert. Das war der Höhepunkt im bisherigen Leben des Verschollenen gewesen, und da an ein zukünftiges Leben aus naheliegenden Gründen nicht gedacht werden konnte, war auch mit weiteren Schandtaten nicht zu rechnen.
Die »Bauernschenke« lag im Dunkeln, doch im Inneren fiel ein Teller zu Boden, eine Frauenstimme schimpfte, eine andere schimpfte zurück. An Montagen öffnete das Etablissement erst um 20 Uhr, wie ich dem Aushang entnahm. Also trollte ich mich heimwärts, um das nächste Abenteuer seelisch vorzubereiten.
Es ging mir nicht schlecht. In meinem Geldbeutel schlummerte der Gegenwert von fünfzehn heißen Vereinigungen mit Hermine beziehungsweise, unter dem Aspekt des Jugendschutzes betrachtet, der endgültigen Überantwortung von Jonas an den Spielteufel. Ich rief Hermine sogleich an, sie meldete sich mit einem erotischen »Ja?«, und im Hintergrund krächzte Jonas »Telefonsex kostet 10 Euro!«. Einige Minuten lang sagten wir uns schmutzige Dinge, so mochten von Zeit zu Zeit auch die Bundeskanzlerin und Jean-Claude Juncker über Eurobonds parlieren, nur ging es bei uns um essentiellere Angelegenheiten als die Zukunft des Euro. Aber freuen wir uns auf die entsprechenden Wikileaks-Veröffentlichungen.
»Hast du Karl May gelesen?« fragte Hermine und fuhr, ohne die Antwort abzuwarten, fort: »Das Buch da, wo die Männer ihre Stangen immer in den tödlichen Sumpf stecken müssen, damit man sich nicht verirrt und in den Vertiefungen verschwindet.«
»Ja«, antwortete ich, »Karl May war schon eine Quadratsau. Nichts wie feuchte Niederungen und Stangen jeder Art, darüber hat mal ein Typ ein dickes Buch geschrieben, über die erotischen Landschaftsbeschreibungen bei Karl May und so.« Das hatte Hermine noch nicht gewusst, ich versprach ihr, das Buch unter den Christbaum zu legen.
Wir unterhielten uns zudem über die Möglichkeit, deutsche Soldaten mitsamt ihren Ehefrauen und Freundinnen an den Hindukusch zu schicken, wo doch der Verteidigungsminister auch nicht ohne seine Angetraute mehr außer Haus schlafen durfte. »Hat es übrigens früher schon mal gegeben«, belehrte ich Hermine, »im Dreißigjährigen Krieg und so, da sind die Familien mit ihren Soldatenmännern aufs Schlachtfeld gezogen und haben nach getaner Arbeit die Leichenteile weggeräumt.« Bei »Leichenteile« assoziierte Hermine sogleich eine größere Sauerei, was ich in Anbetracht der Vorweihnachtszeit unpassend fand, aber nicht sagte.
Als Jonas lauthals auf fünfzehn Euro erhöhte und damit drohte, widrigenfalls das Jugendamt einzuschalten, machten wir Schluss. Es war an der Zeit, ins Industriegebiet zu fahren, um Regitz und Borsig bei einer Arbeit zu helfen, von der ich mir keine Vorstellung machen konnte. Mir war am Morgen nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Wir hatten hart gearbeitet, sauber und schnell, uns gewohnheitsmäßig prostituiert, ohne Widerworte und Zwischenfälle. Ich war gewillt, mich überraschen zu lassen.
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Wieder fuhr ich mit der S-Bahn hinaus ins Industriegebiet. Allerhand Volk, wie es schon in der Bibel heißt, fläzte sich auf den schäbigen Sitzgelegenheiten oder baumelte als Fleischerhaken an den Haltegriffen, ehrlich ermüdete Bewohner der Vororte und Nachtschichtler, denen der wenige Schlaf des helllichten Tages monotone Dramen in die Gesichter geschrieben hatte.
Hinter mir babbelte es zungenflink, zwei Mädchen, die sich als Arzthelferinnen-Azubis outeten und Blutwerte diskutierten, dann nahtlos zu den Abenteuern des verflossenen Wochenendes übergingen, irgend welchen Kevins und Marks, denen die Colts zu locker gesessen hatten. Ich spürte den Tag in sämtlichen Knochen, harte körperliche Arbeit war nicht mein Ding, geistige allerdings noch weniger. Es müsste Berufe geben, die für das durchschnittliche mitteleuropäische Gehirn genauso locker zu verkraften sind wie für den durchschnittlichen mitteleuropäischen Körper. Und es gab sie tatsächlich. Sie hießen »Sachbearbeiter«, und es musste ein Traum sein, den ganzen Tag Sachen zu bearbeiten, die auch funktionierten, wenn man sie nicht bearbeitete. Leider verfügte ich nicht über die notwendigen Beziehungen und so konnte ich nur neidisch nicken, wenn mir jemand erzählte, er sei Sachbearbeiter, irgend welche Sachen halt, so genau lasse sich das nun nicht erklären.
Die Lagerhalle von Gebhardt und Lonig lag einsam und verlassen in beruhigender Dunkelheit. Ich tat so, als ginge ich vorbei, sah mich vorsichtig nach allen Seiten um, sprang dann mit zwei Sätzen(die ich leise vor mich hin murmelte) zu einem Nebeneingang, durch den man die Büros erreichen musste, zog den in Webers Wohnung gefundenen Schlüsselbund hervor und probierte den fünften, bislang noch nicht identifizierten Schlüssel. Er passte wie erwartet. Ich steckte den Bund wieder ein, dies hier konnte warten. Es war kurz vor 21 Uhr, ich lief hin und her und rauchte eine Zigarette.
Das Auto näherte sich langsam mit abgeblendeten Scheinwerfern. Ein kleiner Transporter, so nennt man die Dinger wohl, und hinter der Scheibe grinste mir Borsigs Visage entgegen, während Regitz auf dem Beifahrersitz saß und in einem Buch las, wahrscheinlich dem neu erworbenen Marihuana-Thriller von Peter J. Kraus mit dem wunderbaren Titel »Joint Adventure«. Dann ging alles sehr schnell.
Der Wagen wurde bis vor das Tor der Lagerhalle gefahren, Regitz und Borsig sprangen heraus. »Hallo, mein Sohn, du bist pünktlich, das lobe ich. Wir gehen jetzt da rein« – er wies auf das Tor – »und holen uns den uns zustehenden Tariflohn für unsere Arbeit heute morgen.« »Ach«, lächelte ich unvorsichtigerweise, »und wie kommen wir rein?« Borsig gab ein gurgelndes Geräusch von sich, Regitz indes lächelte mit der arroganten Überlegenheit eines Unfehlbaren, griff in seine Jackentasche und ließ dort viele Schlüssel klimpern.
»Keine Firma hier auf dem Gelände, die ich nicht öffnen könnte. Ich erkenne die Schlüssel schon an der Form, warte mal.« Er spielte ein wenig in seiner Tasche und zog dann einen Schlüssel hervor, den er in das Torschloss steckte. Er ließ sich ohne Mühen drehen, das Tor öffnete sich.
»Und nun fix, Jungchen. Mach schon mal die Autoklappe auf, Borsig, der Kollege und ich bringen gleich die Naturalien.«
Borsig tat wie geheißen, Regitz, der eine große Taschenlampe aus dem Nichts hervorgezaubert hatte, stieß mich an und so betraten wir das Lager. »Da hinten«, sagte der große Führer, »hübsch verborgen die beiden Kisten mit den Osterhasen. Spuck in die Hände und dann los.«
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»Der Proletarier sticht wie eine Biene und saugt dann den süßen Nektar des Mehrwerts aus der offenen Wunde des Kapitalismus.« Regitz flüsterte es augenzwinkernd und zog mich, immer dem Strahl der Taschenlampe nach, tiefer in die Lagerhalle. »Marx?« fragte ich, »nö«, antwortete der Alte, »original Regitz. Für so was war Marx einfach nicht clever genug.«
In einer vergessenen Ecke des Lagers blieben wir stehen. Regitz leuchtete eine Erhebung unter einer grauen Plastikplane an, zog diese mit einem Ruck weg, als enthülle er das Denkmal des diebischen Arbeitnehmers. Zum Vorschein kamen zwei mir wohlbekannte Kisten.
»120 Osterhasen«, schloss ich messerscharf und Regitz nickte die Rechnung zufrieden ab. »Dafür krieg ich 240 Affen von meinem äh.... Geschäftspartner. Zähl die 60 von dem Typen, der seine Chefin poppt, dazu, dann macht das 300. Wir haben heute morgen zusammen zwölf Stunden gearbeitet und jetzt noch mal geschätzte drei. Macht 15. 300 geteilt durch 15 sind 20, was ich einen adäquaten Stundenlohn für saubere und ehrliche Arbeit nenne. Oder bist du anderer Meinung?«
Ich war es natürlich nicht. Die Argumentskette Regitzens überzeugte mich sofort. Wir griffen die erste Kiste und trugen sie nach draußen zum Wagen, hievten sie hinein, wiederholten es mit der zweiten Kiste und sagten nach erfolgreicher Arbeit ein synchrones »Puh«. Regitz schloss die Tür der Lagerhalle ab und tätschelte hernach meine Wange. »Gutes Jungchen. Schön, mit dir zu arbeiten. Hast du eigentlich heute Morgen irgend etwas mitgekriegt?«
»Nein«, sagte ich die Wahrheit und schämte mich. Für einen Detektiv war ich höchst unaufmerksam gewesen, aber Regitz wusste nicht, dass ich Detektiv war und das sollte auch so bleiben. »Nun, Jungchen«, explizierte Regitz und zog die Nase hoch, »der gute alte Borsig hat die beiden Kisten gleich auf seiner Aufwärmrunde verschwinden lassen. Er mag nur eine Hirnzelle besitzen, aber mit der arbeitet er höchst effektiv, wenn es um den Job geht. Sofort erfassen, wo ein verschwiegenes Eckchen ist, die Kisten aufladen, hinfahren, abladen, dann das Ganze zudecken. Planen liegen hier ja überall rum. Derweil der Mann, der seine Chefin moppelt, damit beschäftigt ist, sich darauf zu konzentrieren, uns im Auge zu behalten. Darf er. Wir sind nämlich schon fertig.«
Borsigs hatte inzwischen eine der Kiste zwecks Kontrolle geöffnet, einen Osterhasen entpackt und war gerade dabei, ihn aufzuziehen. Das ekstatische Wackeln der Ohren schien es ihm angetan zu haben »Lass das«, schnauzte Regitz, nahm ihm das Spielzeug aus den Händen und legte es väterlich in die meinigen. »Hier, mein Sohn, schenk den deiner Freundin, dann lässt sie dich an Heiligabend auch noch mal extra ran.« »Danke«, sagte ich und nahm mir vor, den Hasen als ein Präsent der Zuneigung Jonas zu übereignen.
Wir quetschten uns zu dritt auf die Sitzbank und verließen den Ort unserer nächtlichen Arbeit. Ich spürte Regitzens Hand in der Jackentasche, »da hast deinen Fuffi, aber nicht gleich ins Puff gehen.« Er lachte ordinär, Borsig fiel noch ordinärer ein.
So gondelten wir zurück in die Innenstadt, drei gutgelaunte Menschen, Stützen der Gesellschaft, Vorkämpfer für einen gerechten Mindestlohn, voller Verachtung für eine SPD, die sich mit lausigen Achtfünfzig zufriedengeben würde. In der Nähe von Sonja Webers Wohnung und »Bauernschenke« stieg ich aus, verabschiedete mich von meinen neuen Kollegen, nicht ohne Regitzens »Mit dir kann man arbeiten, Junge!« stolz abzunicken.
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Vor der Tür zur »Bauernschenke« standen zwei Männer und rauchten. Jeder hielt eine Leine in der Linken mit einem fetten Mops daran, der gedankenverloren in den wieder einsetzenden Schnee starrte. Ich ging grußlos an den Männern vorbei und bewunderte ihre Kleidung, viel zu weite Luxusanoraks mit der Aufschrift »St. Moritz High Society Club«.
Es war einiges los im Lokal. Meine Alten von vorgestern hockten an ihrem gewohnten Tisch und taten es den Möpsen nach, nur starrten sie nicht in den Schnee, sondern in ihre Biere. Irmi mit dem Kaninchenpelz war nicht anwesend, dafür hockten – ich zählte automatisch – zehn Herrschaften um den Stammtisch, auf dem ein hübsch geschmückter Christbaum stand, an dem bunte Zettelchen hingen. Acht Frauen und zwei Männer, einen erkannte ich sofort, es war Bio-Jürgen aus dem Naturkostladen. Ich winkte ihm zu, steuerte meinen bewährten Platz an, Jürgen schenkte mir die Andeutung eines Blickes und versuchte mich zu ignorieren.
Die Webersche Wohnung lag völlig im Dunkeln, was mich überraschte. Es war noch keine zehn Uhr, mithin nicht Schlafenszeit und dass Sonja Weber unterwegs sein sollte, wollte mir nicht einleuchten.
»Einen Glühwein«, bestellte ich bei Wirtin Helga oder Monika. Sie erkannte mich sogleich und lächelte mir zu, beugte sich etwas vor - ich plädiere für Dekolletepflicht bei weiblichen Servicekräften – und flüsterte: »Beachten Sie die Leute am Stammtisch am besten gar nicht. Das ist der VHS-Kursus ‚Weihnachtsmotive in der zeitgenössischen Kriminalliteratur’.« Ich schluckte schwer und nickte der Wirtin komplizenhaft zu.
Am Stammtisch schwatzte es locker durcheinander und erst als einer der beiden Männer, erkennbar der Dozent, mit dem Löffel gegen sein Teeglas schlug, kehrte Ruhe ein. »Bevor wir zur Bescherung kommen, liebe Krimifreunde – hat jemand von euch ein neues Beispiel für Weihnachtsmotive in der zeitgenössischen Kriminalliteratur gefunden?« Ein Fingerchen schnellte hoch und die daran hängende Frau rief so laut »Ich, Jochen!«, dass dem benachbarten Rentnertrio die Herzschrittmacher aus dem Takt kamen.
»Bei Claudia Pineiro, Die Donnerstagswitwen kann man nachlesen, dass in Argentinien um Mitternacht an Heiligabend ein Feuerwerk veranstaltet wird! Meistens auf dem benachbarten Golfplatz!«
»Wow«, machte Jürgen, »muss ich unbedingt lesen, Leanne.« Die Angesprochene nickte in die Runde. »Wie viele Morde gibt es?« wollte ihre Nebenfrau wissen, »drei, Federchen«, antwortete Leanne, »aber es ist kein normaler Krimi, also mit Ermittlungen pehpeh.« »Ups«, sagte eine andere der Damen, »dann kann das nichts für mich sein.« »Nee, lies ruhig, Ingrid, wird dir gefallen,« sagte die Frau daneben und bekam ein »Na dann, Mistie« zurück.
So verplätscherte eine Stunde, drei Glühwein füllten inzwischen meinen Bauch und wärmten nicht schlecht. Ich beobachtete weiter das Haus gegenüber, doch dort tat sich nichts, die Wohnung der Webers blieb dunkel, keine Sonja kehrte heim, kein Lothar schlich sich hinaus. Die Alten hatten bisher kein Wort gesagt, auch ihre regelmäßigen Nachbestellungen durch das Heben der Gläser veranlasst. Am Stammtisch war man dazu übergegangen, »zu wichteln«. Jeder pflückte sich ein Zettelchen vom Christbaum, auf dem Zettelchen stand ein Buchtitel, den nun jemand anderes aus der Runde schenken musste. Oder so ähnlich. Ich verstand es nicht ganz. Ein vierter Glühwein noch, dann würde ich zu Lothars Wohnung gehen, um endlich den Namen dieses möglicherweise merkwürdigen, möglicherweise auch stinklangweiligen und für meinen weiteren Lebensweg belanglosen Menschen herauszufinden. Helga / Monika hatte gerade eine neue Runde an den Altentisch gebracht, ich hob mein Glas – und eine zweite Helga / Monika trat aus der Küche, ging an der Theke vorbei und flüsterte Helga / Monika I etwas ins Ohr. Entweder eineiige Zwillinge oder ich sah doppelt. Auf den vierten Glühwein verzichtete ich jedenfalls und kramte nach meinem Geldbeutel.
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Tief »Omar« peitschte neuen Schnee über die Stadt. Ich legte mich mutig gegen den Wind, das Gesicht geriet in eine Gefriertruhe, die eine Waschmaschine in der Ahnenreihe haben musste. Vor mir torkelte ein schniekes Paar in Lammfellmänteln und warf Schachtelsätze durch die Luft, die Sätze drehten Salti und zersplitterten in den Ohrmuscheln. Da wir uns nicht am Hindukusch aufhielten, konnten das nicht der Verteidigungsminister plus Ehefrau sein. Ich quälte mich in ihren Windschatten und kam einigermaßen heil durch die Fußgängerzone.
In mir dachte es. An Sonja Weber und was sie bei meinem Besuch heute Mittag getragen hatte. War ich in sie verliebt? Nein. War ich eifersüchtig auf diesen Lothar, der eventuell ein Verhältnis mit ihr hatte? Ja. Wie passte das zusammen? Blödeste aller Fragen. Als würde irgendwo irgendwas zusammenpassen, wenn schon bei IKEA die Schrauben notorischerweise breiter sind als die Löcher für die Schrauben. Das Paar vor mir bog ab und lieferte mich wieder den Schneerabauken aus, die sofort auf meine Visage einzuprügeln begannen, was ich zwar verstehe, aber dennoch nicht schätze.
Aus der Straße, in der Lothar wohnte, brüllte mir der Wind entgegen. Ich ging langsam und schwer an den parkenden Autos vorbei, sie waren nur überzuckerte Schemen in meinen brennenden Augen, das Fahrzeug von gestern, in dem jemand gesessen und vielleicht Lothars Wohnung beobachtet hatte, konnte ich beim besten Willen nicht ausmachen. Ich zückte die kleine Taschenlampe und leuchtete auf das Klingelbrett. Lothar Schyprishyvitzky. Ein Mann, an den man sich nur erinnerte, weil man sich partout nie an seinen Namen erinnern konnte. Einen Schritt zurücktreten, hochschauen, kein Licht. Ich steckte die Taschenlampe ein und ging weiter. Hinter mir wurde eine Autotür geöffnet, zugeschlagen, ich drehte mich nicht um. Lauschte gegen das Heulen des Windes, beschleunigte so gut es eben ging, bog in eine Seitenstraße ein, durch die ich noch nie gegangen war, wollte mich immer noch nicht umdrehen, lauschte weiter, hörte nichts. Und weil ich nichts hörte, glaubte ich etwas zu hören, denn im Leben ist alles Religion. Wenn es schon keinen Gott geben kann, dann erfinden wir uns halt einen.
Noch eine Straße und noch eine. Wo war ich? Im verrufensten Viertel der Stadt, wo man fieserweise das Bruttosozialprodukt drückte, was auch der schlimmste Blizzard nicht verbergen konnte. Gleich links eine schäbige Kneipe mit einem Schild im Fenster, »Alk gegen Bildungsgutscheine«. Zahnloses Gemurmel hinter der geschlossenen Tür, darüber aus den Wohnungen wahlweise Stimmen aus dem Fernseher – »In Bad Zwischenahn wurde der Christbaum mit Weißwürsten geschmückt« – oder das theatralische »Ich schlag dich doot, du Sau« aus Gattenmund. Bloß nicht umdrehen. Da war jemand und kam näher. Keine Glaubensfrage mehr, sondern Gewissheit, denn dieser Jemand hatte gehustet. Schneller. Noch eine Straße, noch ärmlicher als die zuvor. Rechterhand ein Torbogen, der zu einem Hinterhof führen mochte. Ein gehetzter Blick über die Schulter, niemand zu sehen, ich schlüpfte durch den Torbogen, warf mich um eine Hausecke. Und da standen sie.
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Unter einem Plexiglasdach, das vor Jahrhunderten dazu ausersehen gewesen war, abgestellte Fahrräder vor den Unbillen der Witterung zu schützen, flackerte ein nervöses Feuerchen in einer Öltonne. Darum gruppierten sich sieben schwerstvermummte Jugendliche, als solche nur an ihrer hippen Kleidung zu erkennen. Ein Drum von Joint wanderte geduldig von Mund zu Mund. Sie drehten mir langsam ihre Gesichter zu, vier Jungs und drei Mädchen, so weit sich das unter den Kapuzen auseinander halten ließ.
»Schönen Abend auch«, murmelte ich und wollte mich umdrehen. Wo sich die Jugend zum Gedankenaustausch versammelt, da soll das Alter nicht stören, mahnte die sensiblere Seite meines Gemüts, doch ein spitzer Gegenstand, der eiskalt auf meinen Nacken gesetzt worden war und sich dran machte, ein Löchlein in die Haut zu bohren, sagte »bleib wie du bist und wo du bist«. Und der Besitzer des spitzen Gegenstandes krächzte mir nass auf den Hinterkopf: »Aha, Besuch.« War das der Mann, der mir gefolgt war? Eine eher jugendliche Stimme. Sie sagte sodann, an das Septett gerichtet: »Das ist Herr Dingsbums von der Oh Tannenbaum AG. Er möchte uns als Shareholder für seine Gesellschaft gewinnen.«
Hm, dachte ich, kaum gibt man den Hartzern fünf Euro mehr im Monat, schon gründen sie einen Hedgefonds. Der spitze Gegenstand in meinem Nacken drückte penetranter und drohte mit massiver Körperverletzung, ich machte einen Schritt nach vorne und noch einen, genau so wie es wohl beabsichtigt war, bis ich mich als Teil des Septetts, nun ein Oktett, wiederfand.
»Ok, Herr Dingsbums«, sagte meine zufällige Nachbarin, eine blasse kaum 16jährige Vorstadtschönheit, »dann dax mal bis der Bulle kommt, aber wenn der Bär in Richtung leverage steppt, kommst du etagenmäßig unter EZB-Zinsniveau und siehst den Nikkei-Index offshore.«
Ich verstand kein Wort, aber alles war mir klar. Der Joint kreiste schneller und erreichte mich, »zieh«, sagte ein Junge und ich zog. »Und jetzt sing ein Weihnachtslied, Mann von der Oh Tannenbaum AG«, sagte ein anderer, und der Mann von der Oh Tannenbaum AG sang ein Weihnachtslied.
»Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Du blühst nicht nur zur Sommerszeit, nein auch im Winter, wenn es schneit.«
Stille. »Und jetzt die zweite Strophe«, forderte es von links. Ich hatte nicht gewusst, dass das Lied überhaupt eine zweite Strophe sein eigen nennt, doch die Forderung wurde von dem spitzen Gegenstand in meinem Nacken bekräftigt und also sag ich die zweite Strophe.
»Oh Weltabschaum, Oh Weltabschaum, wann kommt denn der Erretter? Du sitzt in deinem Bankenturm, du ekelhafter Börsenwurm, oh Weltabschaum, oh Weltabschaum, wann kommt denn der Erretter!«
Ein Mädchen begann zu flennen und schluchzte »schön«. Der spitze Gegenstand in meinem Nacken zog sich ein wenig zurück. Wieder erreichte mich der Joint, wieder zog ich und merkte so allmählich, dass die Welt gar nicht so schlecht war, wie ich immer gedacht hatte. Der spitze Gegenstand wurde aus meinem Nacken genommen, sein Besitzer stellte sich neben mich, es war ein winziges Bürschchen, das seinen wirklich spitzen Fingernagel massierte und sagte: »Ok, Mann von der Oh Tannenbaum AG. Du bist cool und wir kaufen deine Scheißpapiere. Aber gib mal zuerst Boni.«
Ich zog den Fünfziger, den mir Regitz in die Jackentasche gesteckt hatte aus derselben und sah ihn blitzschnell in der Jackentasche des Kleinen mit dem spitzen Fingernagel verschwinden. Und das tat ich denn auch. Ein wenig gelockert taumelte ich wieder auf die Straße, sah nach links, sah nach rechts, sah niemanden und grinste den Schnee an. Noch einmal: Wo war ich? Scheiß drauf. Ich ging einfach weg.
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Möglicherweise war es windstill geworden und hatte aufgehört zu schneien. Keine Ahnung. In meinem Kopf wirbelten die Flocken weiter, und die Flocken sahen wie Hirnzellen aus, aber es waren so viele, dass es nicht meine sein konnten. Ich irrte noch immer durch die Straßen der nächtlichen Stadt, die nicht aussah als kenne ich sie. Und vielleicht war ich wirklich längst woanders, in Amsterdam oder London, egal. Nein, konnte nicht sein. Denn diese Straße hier kannte ich. Es war die Straße, in der Lothar Habdennamenvergessen wohnte.
Dass zwei Züge an einem Joint imstande gewesen waren, mich in eine Euphorie der Trunkenheit zu kicken, wunderte mich. Und doch auch wieder nicht. Wann hatte ich mein letztes Hascherlebnis gehabt? Muss 1972 gewesen sein, beim Misstrauensvotum der CDU gegen Willy Brandt. Mit einigen Kumpels hatte ich dem Spektakel vor dem Radio gelauscht, fest entschlossen, im Falle einer Entmachtung unseres Idols schwer Krawall zu schlagen und die Republik in Schutt und Asche zu legen. Na ja, wenigstens den Mülleimer von Herrn Döpfer, einem Rentner aus der Nachbarschaft, der ein »Franz-Josef Strauß Addict«-T-Shirt trug und Willy Brandt immer den »Herrn Frahm aus Norwegen« nannte.
Wie alle diplomierten Historiker wissen, kam es anders. Wir feierten den Tag mit einem Joint aus eigenen Beständen, 15 Gramm bester Schwarzer Afghane, die ich kurz zuvor auf einem Rockfestival bei einem GI gegen mein altes Kofferradio eingetauscht hatte. Selige Jugendzeit, wo bist du nur hin.
Ich näherte mich Lothars Wohnung, es brannte Licht, jedenfalls glaubte ich das. Oder spielte mir mein verwirrtes Bewusstsein doch einen Streich? Denn plötzlich öffnete sich die Tür des Hauses, ein Mann – doch, ein Mann, es konnte aber auch eine Frau gewesen sein – stürzte heraus, keine zehn Meter von mir entfernt, er oder sie sah kurz zu mir hin, so schnell, dass ich das Gesicht nicht erkennen konnte, dann rannte er oder sie über in die Straße zu einem Auto, dessen Scheinwerfer aufblendeten. Zugleich begann der Motor zu röhren, der Mann oder die Frau verschwand im Inneren des Wagens.
Das konnte kaum Guido Westerwelle auf der Flucht vor seinen Parteifreunden sein. Der Wagen wurde aus der Parklücke gelenkt, der Motor heulte auf, die Reifen fassten mühsam Tritt, ein Monster mit glühenden Augen, das auf mich zu kam. Stand ich auf der Straße? Auf dem Bürgersteig? Für den Fahrer des Wagens spielte das keine Rolle, er steuerte sein Fahrzeug auf mich zu. Meine Euphorie schwand schlagartig. Das hier war kein Kriminalroman, in dem der Protagonist nicht sterben darf, weil ihn der Autor durch eine ganze Serie schicken will. Ich würde sterben und ich tat, was man tun muss, wenn man zum baldigen Ableben verdammt ist, ich ließ den Film meines Lebens in einer Sekunde an mir vorbeiziehen, was immer noch genug war, um mich dabei gehörig zu langweilen. Dinge, die ich besser nicht getan hätte, Dinge, die ich gerne getan hatte, Dinge, die ich noch tun wollte. Zum Beispiel, fiel mir ein, mich sofort zur Seite werfen, in eine Schneewehe hinein etwa. Ich tat es. Mein Kopf verschwand in Nässe und Kälte, durch diese Watte hörte ich das Geräusch des Wagens angenehm gedämpft, ich hörte ihn sehr nahe, ich hörte ihn dann etwas entfernter, ich hörte ihn dann gar nicht mehr..
Aber ich lebte noch. Kramte mich mühselig aus der Schneewehe, kam auf die Beine und schaute zur Tür des Hauses hin. Sie stand offen. Bei Lothar brannte Licht, immer noch. Alles war ruhig. Ich klopfte mir den Schnee von den Kleidern und stakste auf die Tür zu.
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Treppen mag ich nicht. Das ist etwas für Karrieristen und solche, die es werden wollen, für Menschen, denen das Hochsteigen als quasi orgiastische Tätigkeit gleich nach der Gehaltserhöhung und dem Beischlaf kommt, in dieser Reihenfolge.
Also hätte ich weglaufen sollen, nicht durch die offene Haustür treten, um mich der gefährlichen Welt eines dunklen Treppenhauses zu überantworten. Es war sehr still. Kein Fernseher murmelte, kein Baby schrie sich in den Schlaf, keine Ehekrise wurde verbalisiert, nicht einmal die obligatorische Oma schleppte sich aus Inkontinenzgründen aufs Klo. Meine Füße ertasteten jede Stufe, denn das Licht wagte ich nicht anzuknipsen, so stieg ich höher und höher, bis mich die offene Tür zu Lothars Wohnung zur Feier des Tages mit einem Schwung Birnenlicht empfing und »komm nur rein, hinter der Tür wartet einer mit dem Totschläger auf dich« höhnte.
Super, dachte ich und schob die Tür mit dem Fuß ganz auf, bis die Klinke mit der Wand dahinter handgemein wurde, wie es einmal bei Wieland geheißen hat. Etwas riet mir, nichts mit den Händen anzufassen, wiewohl keine Behörde dieser Welt stolze Besitzerin meiner Fingerabdrücke war, aber die entsprechende Hand hätte ich dafür auch nicht ins Feuer gelegt. Erst einmal stehen bleiben, tief ein- und ausatmen, die Luft anhalten, lauschen. Tickte irgendwo eine Uhr? Nein. Schnaufte jemand in einem Hinterhalt? Nein, hoffentlich nicht. Sollte ich jetzt »Hallo, ist da wer?« rufen? Auch nicht, das vertretbare Quantum an »Hallo, ist da wer?« befindet sich im Monopolbesitz deutscher Krimiserienschreiber und auf einen Copyrightprozess wollte ich es nicht ankommen lassen. So setzte ich still und vorsichtig Schritt für Schritt, kam dem Raum, in dem Licht brannte, immer näher und hoffte, es möge mich nicht das erwarten, was ich befürchtete.
Im Wohnzimmer von Lothars Wohnung – die übrigens genauso bieder war wie die Georg Webers, so dass man, hätte Lothar Meier geheißen und nicht – hab den Namen schon wieder vergessen, getrost von einer Biedermeierwohnung hätte sprechen können, aber der Kalauer war natürlich unter meinem Niveau und jetzt muss ich erst einmal lesen, wie ich den Satz angefangen habe, ach so: Im Wohnzimmer von Lothars Wohnung sah es aus wie in meiner, wenn ich mich nach zwei Jahren dazu aufraffe, endlich aufzuräumen und zu putzen. Mit einem Unterschied: In meiner Wohnung liegt nur selten ein Mensch auf dem Teppich und blutet vor sich hin. Oder korrekter: Hat vor sich hin geblutet und jetzt nicht mehr, weil Tote unter anderem nicht mehr aktiv bluten können. Ok, so gut kenne ich mich da nicht aus, aber es wird wohl so ähnlich sein.
Dieser Mann hier war tot, gar nicht anders möglich. Sein Gesicht war praktisch nicht mehr vorhanden, jedenfalls nicht so wie auf Passbildern. Jemand hatte es mit einem augenscheinlich schweren Gegenstand bearbeitet, wie ein Bildhauer, der aber aus einem Nichts von Gestalt ein Gesicht meißelt, bei dem Mann auf dem Teppich war genau umgekehrt vorgegangen und ein Gesicht zu einem Nichts von Gestalt gemacht worden. Eine Masse aus Blut, Hirn, Fleisch und Knochen.
War das Lothar? Nicht zu erkennen. Ich trat sensationellerweise einen Schritt vor, bückte mich. Lothar oder wer auch immer trug eine Freizeitjacke, die von der eben näher beschriebenen Masse in Mitleidenschaft gezogen war, die Freizeitjacke verfügte über eine Innentasche und aus dieser war etwas halb herausgerutscht, das wie eine Brieftasche aussah. Ich nahm ein Taschentuch aus meiner Hose und fischte die Brieftasche heraus, warum auch immer, ich weiß es wirklich nicht. In der Brieftasche steckte ein Personalausweis, ich betrachtete ihn mir und las die Daten. Er war auf Georg Weber ausgestellt. Ich hatte meinen Auftrag erledigt. Möglicherweise oder auch nicht.
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»Mäzena Klaviere. Qualität, die sie hören können. Große Leistung zum kleinen Preis. Wenn Sie Bildungsgutscheine für den Klavierunterricht Ihrer Kinder erhalten, darf ein Produkt von Mäzena in Ihrem Heim nicht fehlen. Määääääääzeeeeeeeenah!«
Ich starrte auf den Bildschirm. Seit Stunden schon starrte ich auf den Bildschirm, die Fernbedienung in der Hand, meine Gedanken leider nicht mehr. Sie irrlichterten durch Werbespots und Talkshows, gruben sich in Jahresrückblicke und »Die Tierwelt Monacos«, ich war eine Säule, die von jedem dahergelaufenen medialen Hund angepinkelt wurde.
»Sagt das Baby Ei-Ei-Ei, fütter es mit BABA-Brei.«
Brei. Ich sah plötzlich wieder dieses Gesicht aus Brei, ein ALETE-Mord, durchfuhr es mich überflüssigerweise, macht der Mörder Ei-Ei-Ei, schlägt er dein Gesicht...
Natürlich war mir klar, dass ich mich mitten in einem Verdrängungsprozess befand. Ich kannte mal einen Mann, der hatte Helmut Kohl irrtümlich die Hand geschüttelt, weil er ihn für den Hausmeister hielt. Und sich sofort stundenlang unter die Dusche gestellt, aus Reinigungsgründen oder, wie die Griechen sagen, damit die Katharsis genügend Wasser bekommt. Völlig unlogisch. Er hätte sich ja nur einen halben Tag die Hände waschen müssen. Und ich fernsehte. Mein erster Toter, noch dazu einer mit zertrümmertem Gesicht. Irgendwie tat es mir gut, die auf andere Art zertrümmerten Gesichter von Politikern, Fernsehphilosophen, Silikonprinzessinnen und Bestsellerautoren zu betrachten, die sich ein nächtliches TV-Stelldichein gaben, bei denen sogar Vampire schleunigst wieder in ihren Särgen Zuflucht suchten. Garniert mit 230000 Toten eines karibischen Erdbebens, einem Mann, der nur den neuesten Mercedes fahren wollte, frierenden Obdachlosen, denen von netten Hostessen in knappen Christkindlkleidchen Tee gereicht wurde, einer strammen Moderatorengattin, die ihre Daseinsberechtigung in einem verschnürten Dirndl wohlverpackt bei sich trug, vergewaltigten Frauen im Ostkongo und gelangweilten Männern in Westdeutschland, die darauf schimpften, dass die deutsche Bahn fünf Minuten Verspätung hatte, fein verpackt in Wörtern wie »geil« und »in der Tat«, »das allerbesteste« und »ich finde das ja auch richtig, aber«.
»Abgespannt? Depressiv? Zu nichts mehr Lust? Machen Sie es wie Frau Schröder, kaufen Sie MEISTER POPPER, jetzt auch in der extralangen Weihnachtsedition.«
In einen Krimi hinein. Der Detektiv (er sah natürlich wesentlich besser aus als ich und hatte viel telegenere Dämonen durchs Dorf zu treiben) betritt die nächtliche Wohnung, bekommt eins über den Deez, wacht neben einer Leiche auf und schon ist die Polizei da und nimmt ihn hopps. »Es war alles ganz anders!« schreit er in die Kamera, und vielleicht hat er ja recht. Alles war ganz anders. Hatte ich wirklich die Leiche von Georg Weber gefunden oder doch nur seinen Personalausweis?
»ULTRAHYGIENA! Die Monatsbinde, die ihre Tage zum EVENT macht!«
Kein schickes Kombinieren jetzt, keine logischen Kunststückchen. Die medialen Hunde, die sich an mir erleichtert hatten, bekläfften mich nun, ich zähmte sie mit meiner Fernbedienung, ließ Schnipsel aus Telefonsexwerbung über mich ergehen, einen kettenrauchenden Exkanzler sowie einen französischen Historienfilm mit sehr viel Fechterei, ich sah in die Gesichter der herrlichsten Frauen und überlegte, welchen schweren Gegenstand man brauchen würde, aus diesen Gesichtern Brei zu machen. Mit Grauen fiel mir ein, dass es ja keinen Sendeschluss mehr gab. Alles würde so weiterlaufen, bis ans Ende meiner Tage.
39
Ich war vor dem Fernseher eingeschlafen, der, als ich erwachte, sein Frühstücksprogramm munter in die frisch gewaschene Welt hinaus müllte. Die Wirklichkeit kam zurück, ein schüchternes und sehr hässliches Mädchen, das Mitleid heischte. Verschwinde, baffte ich es an, doch wie alle schüchternen und sehr hässlichen Mädchen war es hartnäckig, weil es endlich einen Dummen gefunden hatte.
Gewiss war der Tote in Lothars Wohnung längst entdeckt worden. Ich hatte mich schnellstens entfernt, ohne das Licht auszuknipsen, die Tür zu schließen, Georg Webers Personalausweis steckte wieder in der Jackentasche des Erschlagenen, die Polizei dürfte Sonja aufgesucht, sie zu einer Identifikation geladen haben. Ich stellte mir das vor, es lief mir kalt über den Rücken, ich wusch mich fragmentarisch und wartete auf das Klingeln des Telefons.
Es klingelte auch, aber ich ging nicht ran. War aufgestanden und zum Fenster gegangen, und zum erstenmal wurde mir bewusst, dass ich über Gardinen verfügte, dunkelgraues oder doch nikotindunkelgelbes Gewebe, was mich sogar daran erinnerte, dass ich eine Waschmaschine besaß. Ich beobachtete die Schneewelt, die inzwischen Matschwelt, die parkenden Autos. Saß jemand in einem drin? Wartete? Auf mich? Das schüchterne und sehr hässliche Mädchen Wirklichkeit schmiegte sich an mich und zeigte den Rest seines Zahngebirges, blies mir seinen Mundgeruch entgegen und flüsterte erotisch: »Wenn dich gestern Nacht jemand erkannt hat oder dir gefolgt ist, dann wissen die jetzt wo du wohnst.« Die? Ach so, ach ja: DIE.
Abermals klingelte das Telefon und abermals ließ ich es zehn ungeduldige Male klingeln. Wenn DIE es waren? Nur um zu hören ob ich da sei und sich ein Besuch lohne? Nein, ich sah Gespenster. Wahrscheinlich war es nur der nette Herr Lukaschenko aus Weißrussland, der mich zu einer Tasse Tee einladen wollte, damit wir einmal in aller Ruhe über die Situation der Menschenrechte in seinem Land reden konnten.
Mich fröstelte, was nur zum Teil an der Knausrigkeit meines Vermieters bei der Heizölbeschaffung lag. Sollte das Telefon noch einmal klingeln, ginge ich ran. Ein Feigling bin ich noch nie gewesen. Das Telefon klingelte und ich ging nicht ran. Es war wie das Läuten einer Alarmglocke. Ich beobachtete die Welt durch den Schmutz der Gardine, der Fernseher plärrte immer noch im Hintergrund, kündigte Tauwetter an, als wären wir in Prag 1968, das Telefon klingelte erneut und endlich nahm ich den Hörer ab, sagte »Ja«.
Ein heftiges Schnaufen am anderen Ende der Leitung. Ich sagte noch einmal »Ja«, das angepeilte Fragezeichen wollte mir nicht gelingen. Wieder dieses Stöhnen. War dies das berühmte Stalking, von dem man so oft hörte? Es klang wie das fordernde Atmen einer Frau, jedenfalls kam es mir so vor. Es würde mir nichts ausmachen, von aufregenden Frauen gestalkt zu werden, Mädchen mit Modelmaßen und einem offensichtlich sehr guten Männergeschmack. Ich riss mich zusammen und schnurrte auf Geratewohl ein laszives »Hallo Schätzchen«, das Schnaufen hörte abrupt auf.
»Na endlich hast du mich erkannt«, meldete sich Hermine. »Kommst du heute Abend zum Essen? Es gibt einen Milchshake mit extra dickem Strohhalm als Aperitif, Tiefkühlmuscheln als amuse geule, danach Dosenspargel in Sauce Hollandaise mit Pommes und zum krönenden Abschluss – Eis am Stiel.«
Ich wusste, was mich erwartete. Ein erotisches Abendessen, wie Hermine es liebte. »Okay«, sagte ich ohne große Begeisterung, »ich bringe auch eine Flasche Schaumwein mit.«
»Du Schlimmer«, stöhnte Hermine zurück.
40
Auf einem Anruf Sonja Webers wartete ich an diesem Morgen vergebens. Keine Ahnung, was ich tun sollte. Also schaltete ich endlich den Fernseher aus und grübelte mich in den Nachmittag, an dem tatsächlich Tauwetter einsetzte und die Schneematten grollend von den Dächern rutschten. Endlich, kurz vor Drei, rief Sonja Weber an.
Sie hatte geweint, ihre Stimme war so labil wie der Schnee in der Hitze von 3 Grad plus. »Die Polizei war heute Morgen bei mir«, begann sie, »man hat einen Toten entdeckt, der die Papiere meines Bruders bei sich trug.« Ich machte »aha«, als sei das eine neue Nachricht für mich.
»Ja, stellen Sie sich vor. Sie haben mich befragt und dann mitgenommen ins – » Das Wort »Leichenschauhaus« zierte sich eine Weile, bis es über ihre Lippen kam. Es sei aber gottlob keine Identifizierung notwendig geworden, fuhr Sonja Weber fort, was mich ehrlich erfreute, denn inzwischen habe man bei der Polizei die Fingerabdrücke des Toten einem Lothar Schyprishyvitzky zuordnen können. Sie sprach den Namen mit einer Selbstverständlichkeit aus, als trage sie ihn täglich im Mund, und das machte mich misstrauisch. »Kennen Sie diesen Mann?« fragte ich und wieder zögerte Sonja ein wenig, bis sie ein »Nein« herausbrachte. »Ich kümmere mich darum«, sagte ich, und sie: »Ja. Ich habe auch nichts von Ihnen gesagt. War das in Ordnung? Es ist alles so furchtbar.« Ich nickte, was eine ziemlich dämliche Reaktion ist, wenn man gerade telefoniert.
Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen im Café Böhringer, das hoffentlich nur zufälligerweise wie das bekannte Chemiewerk heißt. Ich beschloss, dem verblichenen Lothar zukünftig Schmidt zu nennen und, sollten diese Aufzeichnungen jemals als Buch erscheinen – womit bei der skandalösen Lage unseres literarischen Krimimarktes stark zu rechnen ist – diesen Hilfsnamen durch Suchen / Ersetzen gegen den richtigen auszutauschen. Lothar selbst sollte es nicht mehr jucken, wenn er endlich einen vernünftigen Namen bekam.
Ich wusste nichts über diesen Lothar Schmidt. Nur, dass er aus dem Haus gekommen war, in dem Sonja Weber wohnte, diese ihn vom Fenster aus beobachtet hatte, wie er die Bauernschenke betrat, um dort mit Monika / Helga ein sehr gereiztes Gespräch zu führen. Dass man seine Wohnung beschattet hatte und irgendein Zusammenhang zu Georg Weber bestehen musste. Das war nicht viel, aber besser als gar nichts.
Und jetzt? Ein »Handbuch für Detektive« besaß ich nicht, auch keinen Kumpel bei der Polizei, der mir hätte erzählen können, wieso man Lothars Fingerabdrücke so fix hatte in den eigenen Beständen finden können. Ich stellte mich wieder ans Fenster und wartete auf das nächste Schneebrett, das vom Dach rutschen würde, ich suchte mir Passanten aus, denen ich das Ding auf dem Kopf gönnte, aber nichts tat sich.
Ein weiser Mann hat einmal gesagt, wenn dir die Wirklichkeit die kalte Schulter zeigt, dann stürze dich in die Arme der Fiktion, denn sie ist meistens eh die bessere Wirklichkeit. Nicht dass ich solchen Unsinn geglaubt hätte. Die meisten weisen Worte sind völliger Unfug und die blödsinnigen sind es sowieso. Vorhin hatte ich noch aufgeschnappt, der Winter sei nicht gut für den Wirtschaftsaufschwung, was mich höchlichst überraschte. Winter? Jetzt? Im Dezember? Die Welt schien aus den Fugen geraten. Und der weise Mann hatte freundlich lächelnd angefügt, man tue gut daran, jetzt auf den Autobahnen etwas schneller zu fahren, schon um wenigstens die Notfallmedizin zu unterstützen.
Kurzentschlossen und todesmutig verließ ich meine Wohnung, um den Dichter Marxer aufzusuchen und um Rat zu fragen. Er ist KEIN weiser Mann, er ist nur ein Schriftsteller. Er ist auch nicht dumm. Und dennoch redet er eine Menge Unfug, von dem er prächtig leben kann.
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Mein Freund, der Dichter Konstantin Marxer, ist das lebende Beispiel dafür, dass man auch ohne die umstrittene Präimplantationsdiagnostik zufriedenstellende Kinder gebären kann. Wir hatten uns in der Schule kennengelernt. Er Liebling der Lehrer und Mädchen, ich der von der Natur vorgesehene Antipode. Während ich meine Ausbildung verfeinerte, um das mir zugewiesene Schicksal eines Versagers zu erfüllen, setzte sich Marxer vier Wochen lang auf den Hosenboden und schrieb einen Roman, »Die Stille des Meeres, wenn es stürmt oder schneit«.
Eine coming-of-age-road-novel, der deutsche »Fänger im Roggen« auf Weißbrotbasis plus die Tiefsinnigkeit Heinrich Bölls in der Schreibe Charles Bukowskis, hätte der Boris Pasternak geheißen und wäre ein Duzfreund von William S. Burroughs gewesen. Vor allem der Untertitel – »Eine Selbstbefriedigungsphantasie« – erregte die Selbstbefriedigungsphantasie der Literaturkritik und ließ das Buch zu einem Achtungserfolg werden. Marxer fand eine Mäzenin – sie war 39 und litt an Juvenilsucht – und ergatterte mehrere Stipendien sowie gut dotierte Literaturpreise, vor allem jedoch orientierte er sich funk- und fernsehwärts, »da wird wenigstens noch Geld in die Hand genommen und das ist mir lieber, als wenn meine Alte da was anderes in die Hand nimmt«. Er heiratete sie dennoch; sie lebten inzwischen getrennt und Marxer wartete geduldig auf den Erbschein.
»Du störst«, empfing mich Marxer an der Tür seiner Wohnung, der Beletage einer malerisch am Fluss gelegenen Jugendstilvilla, »aber ich freue mich, dich zu sehen, komm rein«. Er trug, wie immer wenn er arbeitete, einen seidenen Morgenmantel mit Karomustern, einen dito Schal sowie Lederlatschen an den nackten Füßen. So schlappte er mir voraus in die unter einer Orgie feinziselierten Stucks von höchster Bildung kündende Bibliothek, wies mir einen Platz am gediegenen Eichentisch zu, auf dem der Laptop leise vor sich hin babbelte.
Auf einem Leiterchen an der Bücherwand stand ein bezauberndes dunkelhaariges Geschöpf und wedelte den Staub von den Folianten. »Das ist Oxana«, sagte Marxer, dem mein interessierter Blick auf die knappe, ganz in Schwarz gehaltene Kostümierung der Wedlerin nicht entgangen war. »Russin?«, fragte ich lüstern, »oder gar Ukrainerin?«
Marxer verzog ein wenig das Gesicht, als habe jemand in seiner Anwesenheit Ketchup für die Trüffelpastete verlangt. »Nein, Kasachin«, antwortete er knapp. »Schläfst du mit ihr?« fragte ich, ein wenig zu vorwitzig. Marxer wölbte empört die Stirn. »Immer noch der alte chauvinistisch-rassistische Typ, was? Hältst du alle Kasachinnen für potentielle Nutten? Das sind doch keine Thais! Ich sehe ihr ab und an beim Duschen zu, da waren die Polinnen, die ich früher hatte, freigiebiger. Aber kann man ja heutzutage als deutscher Dichter nicht mehr bezahlen. 1500 kostet mich der ganze Spaß hier, jeden Monat kommt ne Neue und die Mädels sind gut in Hausarbeit.«
Ich drückte mein Bedauern aus und bat Marxer, das Fräulein Oxana zu einer anderen Beschäftigung außerhalb der Bibliothek zu schicken, ich hätte ihm etwas ganz in Vertrauen mitzuteilen und brauche seinen Rat.
»Nee, keine Angst, die Kleine kann kein Wort Deutsch«, winkte Marxer ab und betrachtete versonnen die Hinterfront der immer noch mit dem Entstauben der buchgewordenen Literatur befassten jungen Frau. »Aber das trifft sich gut. Ich habe gerade einen writer’s block, irgend so eine Scheiße für nen Comedyheini, Sketche halt, wird klasse bezahlt, liegt aber beträchtlich unter meinem Niveau. War schon so verzweifelt, dass ich ein paar abstrakte Gedichte für meine neue Sammlung schreiben wollte. Also machs Maul auf und erzähle, alter Kumpan.«
Ich machte das Maul auf und begann zu erzählen. Alles, na ja, fast alles, die ganze Geschichte, und Marxer hörte halbwegs interessiert zu.
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»Interessant« resümierte Marxer und gähnte. »Und wie soll ich dir jetzt helfen?« Inzwischen hatte Oxana das Abstauben der Bücher beendet und die Bibliothek in einer Gangart verlassen, bei der die kasachische Steppe regelmäßig beben dürfte.
»Manche Frauen sind wahre Naturereignisse«, sinnierte ihr Marxer nach, »nur zu vergleichen mit Hochwasser, Vulkanausbrüchen und Heuschreckenplagen.« Um sich dann mit der Frage »Du steckst ziemlich in der Scheiße, was?« in das nüchterne Hier und Jetzt zurück zu denken.
Ich zuckte statt einer Antwort nur mit den Schultern und erinnerte Marxer daran, er verdiene einen beträchtlichen Teil seines Geldes doch mit dem Verfassen von Kriminalromanen, sei also quasi vom Fach. Das aber wies der Autor mit einem feinen ironischen Lippenstrich von sich. »Du vergisst, mein Lieber, dass nicht ich diese Krimis verfasse, sondern mein für die trivialen Bedürfnisse des Lesepublikums zuständiges alter ego Renate Graf-Dünkel.«
Ich hatte es nicht vergessen. »Aber das bist doch trotzdem du, oder? Und wieso eigentlich ein weibliches Pseudonym?«
Marxer lachte auf. »Du hast echt keine Ahnung, gell? In der Schule war das ja schon so. Während du Englischvokabeln gepaukt hast, bin ich mit der Englischlehrerin ins Bett. Jetzt kann ich es dir ja gestehen.« Ich gestand ihm nicht, dass die ganze Schule davon gewusst hatte und sogar entsprechende Kopulationsfotos aus der Schulturnhalle in Umlauf gewesen waren. Marxer fuhr fort: »Als Mann hast du heute kaum noch eine Chance in der Krimiindustrie. Folglich verbergen sich hinter den meisten Autorinnen Männer. Was ja auch logisch ist. Das schöne Geschlecht beherrscht so manches man denke nur an lecker zubereiteten Schweinsbraten -, hat aber kein Händchen für die Abgründe des Daseins. Außerdem sind Frauen zu geschwätzig und verraten die Auflösung viel zu schnell. Lies nur mal diese Patricia Highsmith. Unerträglich, die!«
Marxer schwadronierte noch eine Weile über die Schwächen der Frauen in der Literatur, ein Thema, zu dem ich nichts zu sagen wusste und mich deshalb auf beiläufiges Abnicken der Argumente beschränkte. Dann seufzte er laut und sackte ein wenig in sich zusammen. »Erzähl mir lieber einen guten Gag für diesen Comedyheini. Soll dein Schaden nicht sein.«
Ich dachte nach. Hatte ich nicht heute Morgen noch gehört, die beliebtesten Gäste in deutschen Talkshows seien im ablaufenden Jahr Heiner Geißler und Karl Olaf Henkel gewesen? Und Amnesty International habe nicht gegen diese sehr krachlederne Art von Folter protestiert? »Mach doch«, schlug ich vor, »einen Sketch, in dem Geißler und Henkel sowie Lafontaine, Gysi, Künast und dieser dämliche Philosoph da in einer Talkshow sitzen und, sobald sie auf Sendung sind, pausenlos anfangen zu quasseln. Natürlich alle durcheinander. Die Moderatorin – eine Paraderolle für Maybrit Illner, würde ich sagen – erteilt nun abwechselnd ihren Gästen das Recht für ein paar Sekunden zu schweigen. Talkshow paradox, verstehst du?« »Nein«, sagte Marxer. Ich erklärte es ihm noch einmal. »Na genau umgekehrt! Die quatschen und quatschen, anstatt erst einmal die Klappe zu halten und darauf zu warten, dass ihnen die Illner das Wort erteilt. Stattdessen erteilt sie ihnen das Recht ZU SCHWEIGEN!«
Ich hatte dies etwas laut gesagt, denn ich war frustriert. Marxer nickte. »Ja, jetzt verstehe ich das. Aber viel zu intellektuell. Was glaubst du denn, wer diesen Comedyscheiß anguckt? Die geisteswissenschaftliche Fakultät unserer Uni oder wer?« Wir schwiegen wieder.
»Was soll ich bloß tun?« greinte ich plötzlich und hatte mich gerade noch schnell genug unter Kontrolle, so dass es Oxana, die wieder ins Zimmer getreten war, nicht mitbekam. Sie trug jetzt rote Reizwäsche mit Strapsen sowie ein Tablett mit zwei Gläsern Whiskey.
»Tja«, sagte Marxer, »ich werde die Kasachinnen nie verstehen. Draußen ist es kalt und Oxana hat offenbar ziemlich warm. Und deine Idee ist nicht einmal so übel. Prost, mein Lieber. Und nun zu deinem Problem.«
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Mit einem von vier doppelten Whiskey bereits leicht bleibeschwerten Schritt inspizierte Marxer die Bücherbrigaden seiner Bibliothekswand, blieb dann stehen und zog ein unscheinbares Paperback aus der Reihe. Schwankte zurück und knallte es mit einem eklen »Da!« auf den Tisch. »Als Renate Graf-Dünkel diese Schwarte geschrieben hat, habe ich – äh, hat sie anscheinend dringend Geld gebraucht.«
»Tote zahlen keine Kontoführungsgebühr« las ich auf dem Cover. Marxer nahm das Buch und begann flüchtig darin zu blättern. »Moment mal, habs gleich. Jedenfalls befindet sich Renates Protagonistin, die taffe Detektivin Lolly Wax, in einer ähnlich beschissenen Situation wie du, wenn ich dem Klappentext glauben darf. Sie entdeckt eine männliche Leiche in einer Wohnung und muss Fakten sammeln. Zu diesem Zweck folgt sie einer Nachbarin des Ermordeten bis zu einem Baumarkt, verwickelt sie – rein zufällig natürlich – in ein Gespräch und lässt en passant fallen, sie suche eine Wohnung in der Nähe. Äh...ja hier. Warte ich, ich lese vor.« Er räusperte sich.
»Frau Majakowski packte eine Dose Alleskleber in ihr Einkaufswägelchen und sagte ‚Na so was. Bei uns im Haus ist gerade eine Wohnung frei geworden. Aber –’- ‚Aber?’ fragte ich vorsichtig, um den Fluss der Majakowskischen Rede wieder in Gang zu bringen.«
Marxer schnalzte mit der Zunge. »Fluss der Majakowskischen Rede. Du erkennst die literarische Anspielung?« Ich erkannte die literarische Anspielung nicht und nickte heftig. Marxer fuhr fort.
»Frau Majakowski nahm die Dose Alleskleber wieder aus dem Wägelchen und las das Kleingedruckte, was ihr nicht zu gefallen schien, denn sie stellte die Dose zurück zu ihren Artgenossinnen.«
Marxer schnalzte abermals mit der Zunge. »Diesen Satz zitiert der Krimikritiker Schlunz in seiner Rezension als Beispiel für eine quasi transhumanistische Grundideologie der Autorin und vice versa. Die Dose als Artgenossin, du verstehst?« Ich antwortete nicht und wartete, dass Marxer weiterlesen würde, was er auch endlich tat.
»’Nun ja’, fuhr Frau Majakowski fort, ‚es gibt da ein Problem. Die Wohnung ist nur deshalb frei, weil der Mieter äh plötzlich verstorben ist.’ Ich erklärte ihr, das mache mir im Geringsten nichts aus, der Tod sei ein natürlicher Bestandteil des Lebens –»
»Schööön«, log ich und Marxer nickte bestätigend.
»- und ich hätte gelernt, ihn zu respektieren. Frau Majakowski nahm eine andere Sorte Alleskleber aus dem Regal und legte sie ins Wägelchen. ‚Ja schon, aber der arme Herr Winkelmann ist ermordet worden.’ ‚Oh je’ reagierte ich mit gespieltem Entsetzen, ‚das ist aber blöd.’ Frau Majakowski nahm auch diese Dose wieder aus dem Wägelchen, wog sie skeptisch in der Hand und stellte sie zurück. ‚Ja, der arme, arme Herr Winkelmann. Der hat doch keinem was getan! Er war langzeitarbeitslos, aber nicht so römisch, wie man heute sagt. Der hat zwischen Weihnachten und Neujahr bei den Leuten den Strom- und Wasserverbrauch abgelesen, wissen Sie, für die Jahresabrechnung der Stadtwerke.’«
Das war es! Ich sprang auf, umrundete den Tisch und hieb Marxer euphorisch auf die Schulter. Lothar hatte im Haus, in dem Sonja Weber wohnte, nur den Strom- und Wasserverbrauch abgelesen! Die beiden kannten sich gar nicht und hatten kein Verhältnis miteinander! Vielleicht musste Sonja diesem Lothar lediglich die Kellerräume öffnen, damit dieser seiner Tätigkeit nachgehen konnte!
Marxer lächelte. »Nun ja, es ist kein Meisterwerk der Gegenwartsliteratur, also halte dich mit deiner Begeisterung ein wenig zurück. Obwohl – so schlecht ist es auch wieder nicht. Wo nur Oxana mit dem fünften Whiskey bleibt?«
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Ich hatte keine Ahnung, ob meine durch die Kraft der Fiktion gewonnene Erkenntnis, der verstorbene Lothar Schmidt sei als Strom- und Wasserableser unterwegs gewesen, in der schnöden Wirklichkeit bestehen konnte. Es war mir aber auch herzlich egal. Etwas anderes beschäftigte mich mehr, die unleugbare Tatsache meiner Trunkenheit nämlich, der siebte Whiskey war von Oxana (inzwischen in Emma-Peel-ähnlicher Lederbekleidung, garantiert ohne Unterwäsche) serviert worden, ein in Anbetracht meines bevorstehenden erotischen Abendessens mit Hermine gefährlicher Umstand. Da allerdings ein heftiger Fußmarsch von 30 Minuten auf mich wartete, vertraute ich auf die Ausnüchterungskräfte von sibirischer Kälte und innerstädtischer CO2-Belastung.
Marxer dachte nach. Mein Sketchvorschlag einer Talkshow, bei der nicht das Schweigen durch Reden, sondern das Reden durch Schweigen unterbrochen werden sollte, fand langsam seinen Gefallen. »Wir hängen über allen Teilnehmern mit Wasser gefüllte Eimer auf. Sobald einer zum Schweigen verdonnert wird, kippt der Eimer und nässt den Schweigenden. Ist natürlich Scheiße, aber hallo, wir reden hier über Unterschichtenfernsehen.«
Auch diese Feinheiten bürgerlicher Unterhaltung waren mir ziemlich gleichgültig. Ich verabschiedete mich von Marxer, der sich seinerseits nicht lumpen ließ und mir ein Honorar anbot, das handsignierte Exemplar von »Tote zahlen keine Kontoführungsgebühr« nämlich. Doch damit nicht genug. »Geh in die Küche und lass dir von Oxana ein Doggy-Bag zusammenstellen. Du hast es dir verdient.« Ich gab dem Dichter die schlaffe Hand und begab mich in die Küche.
Oxana war dabei, andächtig das Silber zu polieren. Sie lächelte mich an und packte Gänsebraten, Sahnetorte und einen Rest Kebab in Folie, verstaute alles in einem Plastikbeutel und reichte ihn mir mit der Geste einer Komplizin. »Er ist ein arrogantes, egoistisches, untalentiertes Arschloch. Wir sind uns einig?« Ich lauschte den rollenden Rs nach. »Sie verstehen unsere Sprache?« Oxana lachte ein gutturales Lachen. »Klar, aber sagen Sie es bitte dem impotenten Schmierfinken da drinnen nicht.« Ich versprach es und sie gab mir einen Kuss aufs rechte Ohr.
Ich marschierte los und rechnete. Zuerst nach Hause, dann schnell an der »Bauernschenke« vorbei, von dort aus zu Hermines Wohnung. Das würde geschätzte 35 Minuten dauern, somit musste ich alle fünf Minuten einen Whiskey dazu bringen, seine Macht über meinen Geist und Körper freiwillig aufzugeben. Ein paar Alka Seltzer und Aspirin zur Unterstützung meines Anliegens würden nicht schaden.
Zuhause steckte ich den Krimi in die Tüte mit den Essensresten, sie war groß genug, auch noch den Plüschosterhasen für Jonas zu fassen. Ich schluckte die Alkas und die Aspirins, fuhr mir mit dem Waschlappen übers Gesicht, putzte meine Zähne mehrmals und verließ die Wohnung. Es war dunkel und kalt, ein Dienstagabend im Winter eben, voll mit den üblichen Idioten, die der Beschaffung von Weihnachtsgeschenken einem Stresstest unterzogen und gedankenverloren auf der Suche nach Sonderangeboten waren, die sie zu nichtweihnachtlichen Zeiten nicht einmal mit dem Arsch angeschaut hätten.
Die »Bauernschenke« war geschlossen, obwohl sie das laut Aushang nicht hätte sein dürfen. Dafür hing ein hastig mit Kugelschreiber verfasster Schrieb in an der Türscheibe, »wegen Trauerfall heute zu«. Ich dachte »so, so« und wandte mich zum Gehen. »Tja«, sagte eine Stimme neben mir, »das hat die Mädels schwer getroffen. Der gute, arme Lothar.«
Ich drehte mich um und schaute auf einen zerrupften Kaninchenpelz.
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»Ich sehe alles«, kicherte die Alte – hieß sie nicht Irmi? – und schlenkerte ihr Einkaufsnetz jungmädchenhaft durch die Kälte. Wann hatte ich zuletzt eine ältere Dame, überhaupt einen Menschen mit Einkaufsnetz gesehen? Es musste mehrere Ewigkeiten her sein und berührte mich sehr.
Irmi fischte ein Päckchen Zigaretten aus den Tiefen des ehemaligen Kaninchens und hielt es mir hin. »Sie rauchen doch auch, ja? Sie waren am Samstag im Lokal und haben fünf oder sechs Glühwein getrunken und immer zu dem erleuchteten Fenster da drüben gestarrt.« Ich fühlte mich ertappt. Irmi sah wirklich alles, selbst wenn sie die Augen geschlossen und eine geschätzte halbe Hundertschaft Eierlikör intus hatte.
Wir rauchten. Aus dem Pelz roch eingetrockneter Eierlikör, gar nicht mal so schlecht, wie ich feststellte, besser jedenfalls als Erbrochenes. Irmi paffte wie ein Bierkutscher, hustete zwischendurch und gönnte dem Margarinewürfel und der Großpackung Papiertaschentücher in ihrem Einkaufsnetz eine Runde Kettenkarussell. »Sie müssen nämlich wissen«, ließ sie mich wissen, »dass ich das Beobachten damals im Audimax der Freien Universität Berlin gelernt habe, das muss 67 gewesen sein, noch vor dem Schahbesuch, und es war immer Tumult, wenn Rudi redete. Sie kennen Rudi?«
Ich kannte Rudi. »Tja«, machte Irmi und zog eine melancholische Schnute, »das war noch einer. Aber das Frauenbild von denen, oh je, oh je. Ich war ja mit meinem Studium fast fertig, Anglistik, Germanistik und Soziologie, aber ich wusste: Irmi, da draußen läuft ein Typ rum, du kennst ihn noch nicht, er kennt dich noch nicht, aber ihr werdet euch kennenlernen und dann wird er dir zuerst den Kommunismus erklären und später einen dicken Bauch machen und du wirst bügeln und einkaufen, kochen und waschen, wickeln und erziehen, während ER durch die Institutionen marschiert und Professor wird oder Staatssekretär, irgend so ein bürgerliches Schwein halt, und für dich war das Studium nichts weiter als Privatvergnügen, es sei denn, er lässt dich sitzen oder du ihn und dann gehst eh putzen.«
»Und«, fragte ich, »sind sie einander begegnet?« Irmi lächelte mich an. »Schön, dass sie ‚einander’ gesagt haben, das erinnert mich an mein Hauptseminar Rainer Maria Rilke. Nein! Das heißt: ja! Ich bin Hunderten von denen begegnet, aber keiner hat mich rumgekriegt. Na ja, rumgekriegt vielleicht, Sie wissen schon. Mein Bauch ist flach geblieben. Trotz Landkommune und Baghwan und selbstverwaltetem Buchladen und makrobiotischer Ernährung. Ich bin halt Lehrerin geworden und bereue das nicht. Die Rente kann sich jedenfalls sehen lassen.«
Irmi war meine erste Achtundsechzigern, die Chargen aus den Talkshows nicht gerechnet. Die Welt wimmelte von Altlinken und alle waren sie irgendwie wichtig gewesen, hatten einen gewissen Marcuse gelesen und echauffierten sich, wenn man sich versprach und »Mabuse« sagte, die altlinken Mädels hatten sämtlich mit Jimi Hendrix geschlafen, die altlinken Jungs waren mit den Titten von Uschi Obermaier per Du gewesen, und keiner besaß ein Haus in der Toscana. Die waren alle längst auf die Kinder überschrieben. So gesehen war meine erste Achtundsechzigerin eine angenehme Überraschung. Wir traten von einem Fuß auf den anderen, Irmi spendierte abermals eine Zigarette, das Einkaufsnetz pendelte weiter über dem karstigen Schnee und ich wartete auf den Rest der Lebensgeschichte dieser alten Frau.
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»Warum ich jetzt bei diesem Thema bin – ich meine, dass wir Frauen immer die Angeschissenen sind, weil sich nie etwas ändert und das Sein nicht das Bewusstsein bestimmt, sondern die Sache immer schon andersrum war – also es geht um die Mädels.« Sie wies kurz auf die Tür zur »Bauernschenke«. »Monika und Helga, zwei ganz Aufgeweckte. Und was passiert? Kommt ein Idiot wie dieser Lothar dahergelaufen und alles ist im Eimer, die ganze Aufklärung futsch, der Intellekt schreibt sich fortan mit ‚c’, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine ménage à trois, sagt Ihnen der Begriff etwas?«
Ich kramte die Überreste von gefühlten hundert Jahren nutzlosen Französischunterrichts aus meinem Gedächtnis und verstand. Irmi stellte ihr Einkaufsnetz ab, blies eine Kältewolke um mein harrendes Haupt. »Zuerst lernt Helga diesen Lothar kennen und verliebt sich in ihn. Dann verliebt sich Monika in Lothar und Lothar merkt davon nichts, weil Helga und Monika so eineiig sind, wie es eineiiger gar nicht mehr geht. Und endlich merkt er es doch, wahrscheinlich an irgend welchen Narben am Schambein, was weiß ich denn. Lothar ist das egal, hat er halt zwei identische Mädels, er hat ja auch zwei identische Unterhosen und Geschirrtücher und Frühstückstassen, nur Monika und Helga ist das nicht egal, sie streiten sich, sie sind eifersüchtig, sie bringen sich fast gegenseitig um. Typisch dekadentes Bürgertum.«
»Tja«, nickte ich, »so spielt das Leben. Und dieser Lothar? Ist er zwischen den Jahren hier in der Gegend nicht der Strom- und Wasserableser?« Es war eine beiläufige Frage, allerdings eine von existentieller Bedeutung, entschied doch die Antwort endgültig darüber, ob die literarische Fiktion tatsächlich der Wirklichkeit überlegen sei.
»Strom- und Wasserableser?« Irmi schüttelte den Kopf und desillusionierte mich. »Der Typ war in zwielichtige Geschäfte verwickelt, wenn Sie mich fragen. EVENTMANAGER... « Sie sprach es aus wie unsereiner »motherfucker«. »Was soll das bloß sein? Er hat Partys für Reiche organisiert, dieser Proll, das muss man sich mal vorstellen! Ich tippe auf Mädchenhändler im Zweit-, Drogendealer im Dritt- und Waffenschieber im Viertberuf, und IM bei der Stasi war der sowieso oder bei BND oder der CIA.«
»Man muss heutzutage beruflich flexibel sein«, gab ich aus eigener Erfahrung zu bedenken, doch Irmi zischte den Einwand weg. Sie machte einen Schritt auf mich zu, sah sich um und sprach mit gesenkter Stimme: »Was ich vergessen hab: Im Fünftberuf war dieser Lothar wohl Heiratsschwindler. Ich weiß, dass die Mädels eine Hypothek auf ihr Lokal aufgenommen haben. Und ich hoffe nur, sie sind schlau geworden, als sie hinter den Beschiss gekommen sind.«
»Hm«, machte ich, »Sie meinen doch nicht etwa, dass...« »Reden Sie nicht so mit drei Pünktchen am Schluss, das kann ich nicht ab.« Sie nahm ihr Einkaufsnetz wieder auf und setzte sich Richtung Innenstadt in Bewegung, ich trollte mich an ihrer Seite, wir hatten eh ein Stück Weg gemeinsam. Aus der Entfernung wehte uns der Duft gebrannter Mandeln an, er schwebte auf einer schleimigen Wolke süßlicher Weihnachtsmusik. »Christkindmarkt«, spuckte Irmi aus, »da freuen sich Ehemann, Hausfrau und Kind.« Sie blieb abrupt stehen, griff sich den Kragen meiner Jacke und zog ihn zu sich hinunter, was meinen Kopf sehr nah an ihren Mund brachte.
»Hören Sie, junger Mann. Ich kenne Sie kaum. Aber Sie sind in Ordnung. Eins sag ich Ihnen: Diese Welt wird eines Tages von alten Frauen in die Luft gejagt werden, so wahr ich Irmi heiße. Wir haben die Schnauze einfach voll.« Sie ließ meinen Kragen los, lächelte und hob das Einkaufsnetz hoch. »Sehen Sie mal hier. Ein Würfel Margarine und eine Großpackung Tempotaschentücher. Wirklich? Wer sagt Ihnen, dass das keine Bomben mit Zeitzünder sind? Wer sagt Ihnen weiterhin, dass ich jetzt nicht damit auf diesen scheiß Christkindmarkt gehe und eine Glühweinbude oder einen Pfefferkuchenstand in die Luft jage? Na?« Sie lachte und ließ mich stehen.
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(Achtung! Der folgende Text enthält explizit pornografische Beschreibungen und sollte daher nicht von Personen unter 18 Jahren (besser: 25 Jahren) gelesen werden!) Da ich noch schnell die versprochene Flasche deutschen Schaumweins hatte besorgen müssen, erschien ich ein wenig gehetzt vor Hermines Wohnungstür, die mir wie befürchtet von Jonas geöffnet wurde. Er musterte mich mit seinem 20-Silberlinge-Blick, fragte knapp »Sex oder Internet?« und zog bei meinem »Nee, Abendessen« eine längliche Fresse, die ihn beinahe sympathisch machte. Ich überreichte ihm Marxers Essensreste, was er freudig begrüßte. Sogleich begann er zu mampfen, die Sahnetorte zuerst.
Hermine erwartete mich am sorgfältig gedeckten Tisch. Ihre Augen glänzten paarungsbereit, sie trug ein enges hellgraues Kostüm, in dem ihr Leib zu einer Art Cello oder besser Bratsche geformt ächzte. Auf dem Tisch harrten zwei Milchshakes mit langen und dicken Strohhalmen des Vorspiels.
Hermine streichelte den Strohhalm, führte ihn langsam zum Mund und blies hinein. Ich senkte den meinen noch langsamer in den Milchshake und blies ebenfalls hinein. An der Oberfläche des trüben Gewässers begannen Blasen ekstatisch zu tanzen, ich zutzelte ein wenig von dem Getränk in mich hinein, während Hermine immer erregter an ihrem Strohhalm kaute und, als ich abermals Blasen machte, mir ein halblautes, nur schlecht kontrolliertes »wow« entgegen stöhnte.
Jonas streckte den Kopf ins Zimmer und betrachtete uns so interessiert wie misstrauisch. Irgend etwas Merkwürdiges ging hier vor, ein perfider Akt der Täuschung, schnöder Betrug. Er wischte sich Fleischreste von der Lippe und zog sich, erkennbar in düsteren Gedanken, zurück.
Und das war gut so. Denn als ich mich an das Ausschlürfen der Muscheln machte – lasches und klebriges Zeug, das nicht nach Meer schmeckte, sondern nach holländischen Gewächshäusern, also nach gar nichts - rutschte Hermine unruhig auf ihrem Stuhl herum und artikulierte eindeutige Geräusche. »Oh Moritz, jaaaaaa. Du machst mich ganz...« Ich schloss die Augen und tat meinen Job. Hermines Kostüm knisterte lasziv, das von ihm mit letzter Kraft vor der völligen Hingabe bewahrte Fleisch köchelte vor Wollust, wie es immer in Romanen heißt, und von der Tür rief der abermals alarmierte Jonas ein ängstliches »Is was, Mum?«, wurde indes umgehend mit einem »Hau ab an deine Playstation« mütterlicherseits auf sein angestammtes Terrain zurückbeordert.
Spargel und Pommes. Ich bespritzte letztere mit Mayo, von Hermines »Drück auf die Tube, Liebster!« angefeuert, beugte mich, den Hintern gemächlich in erotischer Zeitverzögerung lupfend, über den Tisch, um die zitternde Geliebte mit dem Gemüse und der Beilage zu füttern. Jeder abgebissene Spargelkopf tat mir weh, jede abgeleckte Fritte steigerte Hermines Lust. Ich ahnte, dass Jonas wieder in der Tür stand und sich vornahm, die seltsamen Sitten und Gebräuche der Erwachsenenwelt alsbald mit jugendlicher Akkuratesse zu ergründen. »Zisch ab, Jonas«, zischte ich und bekam ein altersgemäßes »Fick dich, Opa« zurück. Irgend etwas interpretierte er hier falsch.
Hermine vibrierte. Ich beeilte mich, das Eis am Stiel aus dem Gefrierschrank zu holen, Erdbeergeschmack mit Schokoüberzug. Ich entfernte das Papier, als wäre es die Seidenwäsche am Körper einer betörenden Frau. Leckte die Schokolade sturmreif, bis sie mir wie geschmolzenes Gold in den Rachen floss. Beugte mich wieder über den Tisch und gönnte Hermine den Erdbeergeschmack. Das Stöhnen war inzwischen so laut, dass Jonas den Fernseher auf volle Lautstärke gedreht hatte.
»Und jetzt den Schaumwein!« schrie Hermine und biss herzhaft ins Eis. Ich taumelte abermals in die Küche und ließ kurz darauf den Korken knallen.
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Der Schaumwein schmeckte miserabel, aber die Zigarette danach war wie immer unverächtlich. Wir kühlten uns auf dem Balkon die erhitzten Körperteile und Hermine fragte, ob es mir auch ein bisschen »was gebracht« habe, sie jedenfalls... Für jedes Pünktchen bohrte sie ihren rechten Zeigefinger durch das Hemd in meinen Nabel. »Ja«, sagte ich, »bloß die Muscheln haben mich temporär abgetörnt. Ich bevorzuge Austern.« »Stimmt«, gab Hermine zu, »aber die hat Aldi nicht in der Truhe. Nur die Muscheln. 2,99.«
Drinnen schenkte ich ihr feierlich das signierte Exemplar von »Tote zahlen keine Kontoführungsgebühr«. »Woher kennst du die Tussie und wieso unterschreibt sie mit Konstantin Marxer?« Ich erklärte es ihr und sie erklärte darauf hin Krimiautoren zu neurotischen Spinnern, worauf mir kein Gegenargument einfiel. Jonas, der weiterhin auf vorweihnachtliche zwanzig Euro hoffte, saß mit uns am Tisch, griff sich das Buch und versprach es zu lesen. Die Information, dieses kindgewordene Beispiel für die Dringlichkeit einer Präimplantationsdiagnostik könne lesen, überraschte mich sehr.
»Für dich hab ich was anderes«: sprachs und zog den Plüschosterhasen aus dem Stoffbeutel. »Süüüüüsssss«, entzückte sich Hermine, »ich hasse dich, du Loser«, manifestierte Jonas mit einiger Berechtigung. »Den kannst du hinten aufziehen, dann sagt er dir was Nettes.« Jonas tat es, hörte entrüstet zu und kündigte sodann an: »Wenn ich groß und stark bin, glaubst gar nicht, was für dicke Eier ich dir verpasse.« »Okay«, lachte ich, »drück hinten den Knopf, zieh noch mal auf, dann lernst sogar Englisch.« Aus lauter Trotz tat Jonas auch das.
»Kein Radfahrer wäscht Brot, wenn die Sonne im Kino Liegestütze macht oder der Hirsch nächtens gegen die Brandmauer pinkelt.«
»Cooler Spruch«, fand Jonas und grinste, »aber Englisch ist das nicht, oder?«
Ich seufzte leise und depressiv in mich hinein. Der Ausflug in die Welt der Kleinkriminalität hatte mir fürwahr kein Glück gebracht. Den verdienten Fünfziger verjubelten just einige jugendliche Börsenjunkies und das Bonushäslein entpuppte sich als anarcho-sprachgestörte Ausschussware. Jonas wiederholte den apokryphen Satz. Natürlich war es möglich, dass wir hier den Siegertext des nächstjährigen Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerbs zu Klagenfurt vernahmen, es konnte kaum verwundern. Einen Verdacht, dass man die Dinger an bangladeshischen Fließbändern fabulierte, hatte ich schon immer gehabt.
Jonas las den Aufdruck der Hasenverpackung und fragte in einem Anflug von Talkshow-Rhetorik: »Würde mich mal interessieren, warum einer ein Kreuz mit Kugelschreiber da draufgemacht hat.« Hm, würde mich auch interessieren.
Hermine sah mich an. Ihr Blick, eben noch auf dem Mount Everest des Orgasmus-Himalaya, fiel jäh ins tiefste Tal des Zweifels. »Moooooritz«, sprach sie effektvoll gedehnt, »wo hast du das Plüschdingens da her? Und warum quakt das so ein komisches Zeug?«
Sofort brachen sämtliche Dämme und ich erzählte alles. Vom Schabernack meiner Stammtischbrüder, Sonja und Georg Weber, dem proletarischen Arbeitsbesuch bei Gebhardt und Lonig, den identischen Wirtsschwestern und ihrem Lothar, dessen Auffinden in letalem Zustand, nur von Oxana sagte ich, warum auch immer, kein Wort.
»Ach du heilige Scheiße« kommentierte Hermine, während Jonas mich mit wachsender Begeisterung anstarrte und schließlich diesen dauerhaft notgeilen Typen mit einem »Wow, du bist Gangster und Privatdetektiv in einem!« in den erlauchten Kreis seiner Vorbilder aufnahm, gleich neben Lady Gaga, Eminem und diesen durchgeknallten Vizekanzler.
»Tja«, fasste ich zusammen, »so ist die Lage. Und ich kann selbstverständlich nichts dafür.«
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»Und was heißt Eventmanagement? So Partyservice? Beschreib mir diesen Lothar mal.« Ich entwarf ein verbales Phantombild des Ermordeten, zuerst nickte Hermine nur schwach, dann sehr bestimmt. »Den kenn ich wohl. Die kaufen bei uns im ALDI immer das Zeug für ihre Events.« Ich musste darüber sehr lachen. Hermine sah mich böse an und lachte dann auch. »Bis auf die Austern natürlich, du Dödel. Die besorgt der sich bei LIDL.«
»Nee, der Bursche war nicht meine Kragenweite. Aber ne Kollegin...weiß nicht...ich frag die mal.« Und schelmisch: »Sind wir jetzt Partner?« – »Ich auch!« brüllte Jonas begeistert. « Du? » Ich war skeptisch. »Ich!« bekräftigte das brave Kind. »Weil ich kenn einen aus dem Spielsalon, der is 16 und heißt von. Von Bischof oder so. Also wenn der da, dieser Lothar, die Partys von den Adligen gemacht hat, dann kennt ihn der Andy vielleicht auch.«
Mir war es gleich. Am Anfang jeder beruflichen Karriere stehen willige und möglichst kostenlose Arbeitskräfte, die sich gerne ausbeuten lassen. Ich verabschiedete mich von meiner nunmehrigen Heiligen Familie, nicht ohne Jonas mit reichlich Münzgeld, das er fortan »Spesen für Rechercheaufwand« nannte, auszustatten und meine beiden Helfer zu ermahnen, bei ihren Bemühungen Vorsicht walten zu lassen. Den Plüschosterhasen nahm ich wieder mit, Jonas war jetzt ein Mann und brauchte kein Spielzeug mehr.
Ich überquerte abermals den Christkindmarkt, wo man inzwischen dazu übergegangen war, Glühwein, Punsch, Dampfnudeln mit Vanillesoße (das hatte merkwürdigerweise beim erotischen Abendessen gefehlt) sowie diverse Sorten Rostwürste in die matschigen Schneereste und vor die Füße tapfer intonierender Kinderchöre zu speien. Ähnlich mag es vor Urzeiten auf diesem Planeten zugegangen sein, als Vulkane Lava und pyroplastische Ströme kotzten, um jenes feste Land zu erschaffen, auf dem man Christkindmärkte veranstalten konnte.
Ein alter isländischer Brauch kam mir in den Sinn, das Samstagskotzen. Jeden Samstagabend nämlich gibt sich der Isländer in den Kneipen und Bars seiner Hauptstadt die Kanne, große Mengen Alkohol vermischen sich mit großen Mengen Frust und die explosive Mischung wird, wenn der Morgen schon dämmert, mit Grandezza auf die Trottoirs und Straßen erbrochen. Eine uralte Tradition zur Erhaltung der psychischen Volksgesundheit, die in unseren Breiten eher saisonal, auf Weihnachts-, Christkind- und Nikolausmärkten hochgehalten wird.
Islamistische Sprengstoffkoffer sah man nirgendwo, man hatte sie wohl vor den Zentralen der deutschen Stromanbieter deponiert, wo sie auch am besseren Platz waren. Ich war froh, als mich weniger belebte Straßen aufnahmen, meine Gedanken sich auf das Wesentliche konzentrierten, jenen dämlichen Satz des Osterhasen nämlich, den ich auswendig kannte und mir immer wieder vorsagte: »Kein Radfahrer wäscht Brot, wenn die Sonne im Kino Liegestütze macht oder der Hirsch nächtens gegen die Brandmauer pinkelt.« Die Geschichte wurde immer verworrener. Schon die abendländische Philosophie hat – so weit ich sie überblicke – erkannt, dass der Grad der Verworrenheit proportional mit dem Grad der Erkenntnis wächst. Das nennt man paradox. Alles zu wissen, würde demnach bedeuten, gar nichts zu wissen, nichts zu wissen aber im Umkehrschluss nicht, alles zu wissen. Was ich persönlich sehr bedauerlich fand.
Endlich daheim. Ich hatte mich auf meinem Weg nicht um mögliche Verfolger geschert. Irgendwie war ich gerade fatalistisch, die Dinge sollten auf mich zu kommen, ich machte auch kein Licht im Treppenhaus, quälte mich treppauf und tastete nach meinen Schlüsseln. Bevor ich den passenden ins Schloss stecken konnte, legte sich eine Hand auf meine Schulter und eine dunkle Stimme flüsterte ein wenig außer Atem: »Na endlich. Ich habe schon auf dich gewartet.«
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Regitz sah nicht so aus, als habe er einen entspannten Abend im Kreise seiner Lieben verbracht. Sein linkes Auge war irgendwie nicht mehr vorhanden, man brauchte einen scharfen zweiten Blick, um es inmitten blutverkrusteten, geschwollenen und enthäuteten Fleisches am SOS eines flackernden Pupillenrests zu identifizieren. Dem rechten Auge war es besser ergangen. Es steckte in einem blauschwarzen Ring, wie ihn jeder betrunkene Ehemann seiner Holden ohne weiteres zu schlagen versteht.
»Meine Nase ist wenigstens nur angebrochen«, flüsterte Regitz schwer und fügte resigniert hinzu: »Hab ich wenigstens bis vor zehn Minuten geglaubt.«
Es war mir endlich gelungen, die Wohnungstür zu öffnen, Regitz stolperte an meiner Wenigkeit vorbei, geschätzte drei Zentner zerprügelten Egos, so dass ich aus lauter Menschenfreundlichkeit »Wie viele waren es?« fragte und Regitz drei Finger hob ausstreckte, etwas zögerte und schließlich einen wieder wegknickte. »Aber solche Krawenzmänner, die siehst auf keinem Jahrmarkt.«
Ich verzichtete auf Licht in der Küche, Regitzens Augen würden es mir danken. Wir saßen uns eine Weile gegenüber, bis der geschundene König der Gelegenheitsarbeiter nach »Bier!« verlangte, ich im Kühlschrank tatsächlich noch ein Fläschlein fand und wortlos kredenzte. Sein Inhalt verschwand mit einem einzigen schmatzenden Sauggeräusch in der Aufgewühltheit eines Magens.
»Was ist passiert?« fragte ich, weil es die Frage war, auf die Regitz gewartet zu haben schien. Er berichtete mit schwerer Zunge, aber flüssig, zwei Männer wie gesagt, Dirk Nowitzki muss ein Zwerg dagegen gewesen sein und die beiden Klitschkos hätten locker in die Hose des weniger Korpulenten der Angreifer gepasst. »Du machst friedlich die Tür auf, weil du auf deine Schnalle wartest, den besten Freizeitanzug an« – er trug ihn noch immer, es war inzwischen seiner schlechtester – »und zack, gleich schiebt dir der eine seine Schlaghand in die Fresse und der andere frägt ‚Wo sind die Osterhasen?’«
Die Osterhasen also. Keine fünf Schläge hatten die beiden Halunken gebraucht, um den Verbleib von 119 der Plüschmonster mit dem Wortschatz eines durchschnittlichen deutschen Schülers zu klären, »sie waren ja noch im Keller, weil ich meinen Geschäftsfreund nicht erreichen konnte«, wenigstens hatte Regitz in seinem lädierten Zustand nicht mehr selbst mit Hand anlegen müssen, die Kiste in den Wagen der beiden Typen zu verfrachten.
»Tja«, schloss Regitz und schickte ein rotes Rinnsal aus den Nasenlöchern, »frag mich nicht, was das soll und wie man uns draufgekommen ist, keinen Schimmer hab ich, aber es war nun einmal so und das solltest du wissen.«
Nun wusste ich’s. »Borsig?« Das hätte ich nicht fragen sollen. Regitz begann zu schluchzen. »Meldet sich nicht. Hab angerufen, bin hingegangen, seine Tür war aufgebrochen und alles durchwühlt. Keine Spur von ihm.« »Hm«, machte ich, mir fiel nichts anderes ein. Das Gespräch verflachte abrupt, um aus Mitleidsgründen nicht »schlagartig« zu schreiben. Ich bot Regitz vorübergehendes Asyl an, wie es gute deutsche Art ist. Der Mann mochte halbtot sein, blöd aber war er nicht. Die Tatsache, dass jene beiden Finstermänner noch nicht bei mir aufgetaucht waren, legte die Vermutung nahe, sie würden es in nächstbester Zeit tun. Und der Alte war nicht gewillt, weitere Teile seines Körpers für eine Verformung zur Verfügung zu stellen. »Ich hab so’n kleines Ferienhaus in der Bretagne, St. Malo die Korsarenstadt, wenn dir das was sagt. Dorthin ziehe ich mich fürn paar Wochen zurück, meine Schnalle war beim Roten Kreuz, freiwilliges soziales Jahr.«
Ich nickte und sagte »ach so«, Regitz nickte und sagte »genau«.
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2011
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