William
Eilig zwängte sich William, sein 17-jähriger Lehrling, durch den engen Gang von der Lokomotive zu dem ersten Waggon. ,,Mein Lieber, wo sind deine Manieren?“ rief der alte Mann dem Jungen hinterher und rückte seine dunkelblaue Schaffnersmütze zurecht. Überrascht hielt sich Herr Charleston an der Wand fest, sah dem übermütigen Lehrling mit bösem Blick hinterher.
,,Verzeihen Sie, Chef! Aber das Leben ruft!“ schrie der Junge mit seinen strahlend blauen Augen. Sein Gesicht spiegelte eine explosive Aufregung wieder.
Kopfschüttelnd lächelte der alte Schaffner der Jugend hinterher und wagte sich behutsam zu der Tür der Lokomotive.
Die kalte Luft warf ihm den Geruch der Großstadt in die Nase. Angewidert verzog er das Gesicht, denn diesen Gestank hatte er in all den Jahren, die er bereits als Schaffner arbeitete, verabscheut.
London roch für ihn nach Erbrochenem, Alkohol und dem Dreck der Menschen.
Diese Stadt, die er so oft bereiste, war für ihn das Laster seiner geliebten Arbeit. Vielleicht war er auch nur zu alt für diesen Beruf.
Früher hatte er das Reisen geliebt, da er jeden Tag aus seinem kleinen, langweiligen Heimatdorf fliehen konnte und England im Schnelldurchlauf unter seinen Füßen fortglitt. Doch heute, seit seine Frau nicht mehr bei ihm war, machte er es sich gerne in seinem kleinen Vorstadthäuschen gemütlich und betrachtete das Treiben der Vögel in seinem gepflegten Garten. Dann saß er in seinem Schaukelstuhl, trank eine Tasse Kaffee mit einem Stück Zucker und genoss die Melodie der Natur. Selbst in einem düsteren Winter wie in diesem Jahr hörte er die Musik des Sommers noch in seinen Ohren erklingen.
Manchmal wachte er nachts in seiner idyllischen Heimat auf und spürte ein altbekanntes Kribbeln in der Magengegend. In manchen Nächten war es so intensiv, dass er kichernd aus seinem Bett sprang und freudig durch sein Schlafzimmer tanzte. Dieses Gefühl des Fernwehs sah er auch in den eiligen Schritten von William, seinem Schaffnerslehrling. Als wäre der Junge sein Sohn, der nun endgültig in die Fußstapfen seines Vaters trat. Er war stolz auf ihn und für einen Moment, kurz bevor er aus dem Schatten der alten Lokomotive trat, wehte eine frische Brise des noch weit entfernten Frühlings zu ihm herüber. Um ihn herum liefen die Passanten hektisch über den Bahnhofsplatz und einmal mehr fiel ihm auf, dass jeder Passagier in seinem Zug eine Geschichte zu erzählen hatte. Bewundernd sah er den Menschen nach und dachte an all die Lebensgeschichten, die in seinem Kopf herumschwirrten.
Plötzlich blieb sein Blick bei der liebreizenden Frau hängen. Sie konnte nur ein paar Jahre jünger sein als er selbst, aber in ihrem Herzen war sie jung geblieben. Das leuchtendblaue Kopftuch sollte ihren nackten Kopf verdecken, für den sie sich vermutlich schämte. Herr Charleston kannte diese Frau zwar erst sein einer Stunde, doch ihm missfiel ihre Eitelkeit. Sie brauchte sich nicht für ihre Krankheit zu schämen, denn die Lebensfreude in ihren Augen machte sie zu der schönsten Frau auf diesem Bahnhof Londons.
Während sie einem Obdachlosen fürsorglich etwas zu essen anbot, wartete er vor seinem Zug auf sie und wollte endlich sein Versprechen einlösen, dass er ihr zuvor auf der Fahrt gegeben hatte.
Noch einmal atmete er die schwere Großstadtluft ein und dieses Mal brachte ihn der Geruch zum Lächeln.
Herr Charleston
Es war der 21. Dezember 2002.
Stillschweigend rieselte der Schnee auf die Gleise des Bahnhofs Peterborough, eine harmonische Stadt nördlich von der aufwachsenden Metropole London, und dämpfte das Geflüster auf dem Bahnsteig.
An diesen Tagen reisten viele Menschen zu ihren Verwandten, um ein Mal im Jahr dem täglichen Stress zu entkommen.
Soldaten liefen voller Vorfreude auf ihre Frauen und Kinder zu, die bereits sehnsüchtig auf die Heldengeschichten ihrer Väter warteten. Nach Aufmerksamkeit ringend sprangen die Kleinen an den Beinen ihrer Eltern hinauf, während sich das Ehepaar in die Arme nahm und liebevoll küsste.
Die alten Damen humpelten an ihren Gehstöcken mit wachsamem Blick zum nächsten Schalter, um sich über ihre Zugverbindung zu informieren. Dabei ließen sie ihr Gepäck nie außer Acht.
An ihnen vorbei zogen die Karawanen von übermüdeten Müttern, die willenlos zu dem aufgeregten Geschrei ihrer Kinder nickten und sich die aufwändig gestalteten Weihnachtsplakate in den Glasvitrinen anschauten.
Leeren Blickes stolzierten die Geschäftsmänner mit unruhigen Schritten zwischen den Gleisen umher, dachten über die Geschäfte des nächsten Jahres nach, während sie wahllos nach einem Geschenk für ihre Liebsten griffen.
Auf dem Bahnhof herrschte reges Treiben, wie jedes Jahr um diese Jahreszeit. Das verliebte, junge Pärchen unter dem Mistelzweig wirkte dabei wie eine Schneeflocke im Wind.
Unter all dem Treiben befand sich ein alter Mann mit einer verblichenen Schaffnersmütze. Er trug eine dunkle Wolljacke zu einer braunen Cordhose. Seine Mütze zog er grimmig tiefer in sein Gesicht hinein. Zwischen seinen Zähnen hing ein glühender Zigarettenstummel, als seine Augen behutsam über die Gleise wanderten.
Er schnippte die Zigarette weg und atmete die kristallklare Luft der Winternacht ein. Ein kurzer Blick auf die Uhr und mit einem Schrecken lief er eilig zu dem Gleis 1, an den frierenden Passanten vorbei, die darauf warteten, dass sich endlich die Türen des Zuges öffneten.
In seiner Hast drehte er sich noch einmal zu der großen Bahnhofsuhr um und bemerkte, wie ihre großen Zeiger auf die acht Uhr dreißig wanderten. Er musste sich beeilen, denn der Lokomotivführer wartete sicherlich schon.
Stolpernd fiel er die Stufen zum Lokführerhaus hinauf und blieb schnaufend vor den Füßen eines Mannes mittleren Alters sitzen.
Seine Uniform war genauso dunkel wie die von Herrn Charleston, dennoch war die des Lokführers nicht verblichen. Kopfschüttelnd beugte sich der Mann mit dem starren Blick zu dem Schaffner herunter und streckte dem alten Mann helfend eine Hand entgegen.
,,Herr Charleston. Sie wissen doch, dass Sie vorsichtig sein sollen. Es friert diesen Winter unaufhörlich. Und wir sind alle nicht mehr die Jüngsten. Ich will nicht, dass Sie sich etwas brechen.“ lächelte der Lokführer mit beruhigender Stimme.
Herr Charleston nahm die Hand dankend an und zog sich mühsam auf die Beine.
,,Vielen Dank, Herr Richardson. Ich wollte nur nicht zu spät zu meiner Arbeit kommen.“ murmelte der ältere Herr verlegen, während er seine Hose abklopfte.
,,Unser Herr Charleston! Immer sehr arbeitstüchtig. Aber was sollen wir denn mit Ihnen machen, wenn Sie mit gebrochenen Beinen im Krankenhaus liegen?“ lachte Herr Richardson amüsiert und wandte sich wieder nach vorne. Er betätigte einen Knopf und von draußen war das schwere Quietschen der Waggontüren zu hören. Das Gemurmel der Passagiere drang allmählich in den Zug, erfüllt von den rollenden Koffern und ihrem angestrengten Atmen.
Herr Richardson betätigte weiter ein paar Schalter mit einem prüfenden Blick zu seiner Armbanduhr bis der Zug langsam zu ruckeln anfing.
,,Der Junge kommt zu spät.“ bemerkte er tonlos. Herr Charleston seufzte.
,,Tut er das nicht immer?“ dachte er betrübt. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die oberste Stufe, während ihm der Lokführer hinterherrief: ,,Seien Sie bloß vorsichtig!“
Mit festem Griff hielt er sich an einer Seitenhalterung am Lokhaus fest und lugte über die Gleise, verzweifelt auf der Suche nach dem Lehrling. Noch immer stiegen viele Passagiere zu, begierig auf einen freien Sitzplatz.
Drei der vier Waggons waren nur für die zweite Klasse bestimmt, diese wurden von William, dem Schaffnerslehrling, kontrolliert. Herr Charleston war mittlerweile zu alt für die Hektik in den hinteren Bereichen und kümmerte sich nur noch um die erste Klasse. Vermutlich würden sie ihn bald pensionieren und da machte er es sich die letzten Jahre schon mal gemütlich, um sich auf die ruhige Zeit in seinem ländlichen Häuschen einzustellen.
Wo steckte der Junge eigentlich?
Er war zwar willig zu lernen und der alte Schaffner brachte ihm alles bei, was er selbst wusste, aber seine chronische Verspätung konnte auch von der ansteckenden Begeisterung für das Reisen nicht überdeckt werden.
,,Herr Charleston, ist der Junge schon aufgetaucht? Es ist 20.31 Uhr und ich komme ungern zu spät!“ rief der Lokomotivführer gereizt und zappelte aufgeregt herum.
,,Der Junge fehlt noch.“ meinte Herr Charleston gelassen.
,,Dieser Bursche! Wann lernt er endlich, dass ein Zug nicht auf ihn wartet?“
Der Schaffner zuckte mit den Schultern ohne zu bemerken, dass sein Kollege das gar nicht sehen konnte.
,,Chef! Chef! Ich bin unterwegs!“ schrie eine aufgebrachte Jungenstimme über den Bahnhof und brachte den alten Mann zum Schmunzeln. Wieder schielte er auf den Bahnhof und sah den 17-jährigen mit aschblonden Haaren, kühlen blauen Augen und Sommersprossen im Gesicht auf den Zug zu sprinten. Einige Passanten sprangen erschrocken zur Seite, andere sahen dem Jungen kopfschüttelnd nach.
Entnervt zog Herr Charleston die alte Pfeife aus der Tasche seiner Weste und wartete.
Als William ebenfalls die Stufen zu dem Lokführerhaus hinauf stolperte, spürte er einen leichten tritt von seinem Auszubildenden, reagierte jedoch nicht darauf. Mit durchdringendem Blick warnte Herr Charleston den Jungen und schaute ein letztes Mal auf den Bahnhof.
Die Lokomotive heulte kurz auf, damit die Passanten am Rand einen Schritt zurücktraten und nach einem Schrillen Pfiff aus Herr Charlestons Pfeife setzte sich der Zug in Bewegung. Ächzend drückte sich der Schaffner in die Lokomotive und lächelte über Herrn Richardsons Standpauke, die der Junge geduldig über sich ergehen ließ. Danach wandte er sich wieder der Lok zu und beachtete William nicht weiter. Missmutig drehte er sich zu dem Schaffner, doch der hatte kein Mitleid.
,,Du übernimmst wie immer die letzten drei Waggons und ich den ersten. Wenn du früher fertig sein solltest, was ich heute Abend bezweifle, wartest du vor dem Abteil, in dem du mich findest.“ wies Herr Charleston ihn an und klopfte seinem Schützling väterlich auf die Schulter. Lustlos wandte er sich dem ersten Waggon zu. William trottete ihm hinterher.
,,Chef, darf ich Sie was fragen?“ kam es kleinlaut. Brummend antwortete der Schaffner, was der Junge als Zustimmung deutete.
,,Warum sind Sie Schaffner geworden?“
,,Weil ich einen Beruf zum Geldverdienen brauchte.“
,,Das ist der einzige Grund?“
,,Was soll es für einen anderen Grund geben?“
Ratlos zuckte der Junge mit den Schultern und schaute enttäuscht zu Boden.
,,Vielleicht sind Sie gerne unter Menschen?“
Der alte Mann kicherte verächtlich vor sich hin und baute sich kläglich vor dem ersten Abteil auf.
,,Wenn du ein ruhiges Leben haben willst, dann mach dir keine Gedanken über solche belanglosen Dinge. Sei froh, dass du die Chance zu dieser Ausbildung hast und nutze diese.“ murrte der Schaffner und starrte konzentriert auf die Passagierin, die vor ihm saßen. Mit gesenktem Kopf schlurfte William zu dem nächsten Waggon und machte sich an die Arbeit.
Elisabeth
Sie blickte von ihrem Buch auf, als der Schaffner die Tür ihres Abteils öffnete. Sie war jung, doch zu diesen Zeiten reisten sogar junge Mädchen alleine weite Strecken.
Ihr war anzusehen, dass sie eine Tänzerin war. Herr Charleston hatte ein Gespür dafür. Die sanfte Silhouette und die entspannte Haltung verrieten es ihm. Die Augen blitzten auf vor Unschuld, Angst und Trauer.
Er empfand es als lieblich, als sie bei der Suche nach ihrem Fahrschein verlegen errötete. Zu wissen, dass auch dieses Mädchen in geraumer Zeit das wahre Gesicht der kalten Welt zu sehen bekam, machte ihn traurig. Dadurch würde ihr ihre Unschuld entfliehen.
Nervös und zaghaft hielt sie ihm das zerknitterte Ticket hin und sah beschämt zu Boden. Vermutlich kam sie aus gutem Haus und dort durfte man nicht für unangenehme Verzögerungen sorgen.
Alles was sie bei sich hatte, war eine kleine Reisetasche.
Mit Sicherheit suchte sie den Weg in die Freiheit, wie so viele in diesem Zug nach London. Denn von dort aus konnte man sie schmecken.
London galt als Mittelpunkt der Erde. Dort sprudelte das Leben, Kampf und Sieg, Liebe und Hass, dicht gefolgt vom Tod, wenn der Neuling nicht schnell genug durch die unbekannten Straßen rannte.
Doch Elisabeth konnte schnell rennen, wenn auch meist geduckt, um den Seitenhieben und Gewissensbissen auszuweichen.
Ein Mädchen aus reichem Elternhaus musste die Familie stolz machen, noch bevor sie einen erfolgreichen Mann heiratete und die Stammhalter aufzog.
Anfangs hatte sie dieses Spiel mitgespielt, schließlich will jedes Kind seine Eltern glücklich sehen. Deswegen entschied sie sich für das Ballett. Für Schweiß, Blut und Tränen.
Ihre Lehrerin war streng, gefürchtet und diszipliniert. Sie war die beste Ballettlehrerin Englands. Mit viel Mühe machte sie aus Elisabeth ein diszipliniertes Mädchen, sowie eine ausdrucksstarke Tänzerin.
Trotzdem führte das Mädchen stets einen inneren Kampf, denn seit ihrer ersten Übungsstunde wusste sie, dass das Tanzen nicht das war, was sie wollte. Ihr Ziel war Liebe, Anerkennung und ein glückliches Leben.
Dies bekam sie jedoch nur durch das Ballett und somit strengte sie sich mehr an, als die anderen Mädchen in ihrem Alter. Sie tanzte und weinte, tanzte und weinte. Am Ende ihres Ehrgeizes stand ein einsilbiges ,,erfreulich“, das ihre Eltern in den Raum warfen.
Daraufhin war sie weinend in ihrem Zimmer zusammen gebrochen und schon den Tag darauf hatte sie ehrgeizig durch ihr Zimmer getanzt, um es noch besser zu machen.
Ein Zimmer in weiß und pastellrosa gehalten, mit einem weißen Himmelbett und einer großen Spieluhr auf der Schminkkommode, in der eine Ballerina zu einer einfachen Melodie tanzte.
Jede Nacht sah sie die Ballerina tanzen und ihr wurde bewusst, dass sie ihre Eltern womöglich nie glücklich machen konnte.
Elisabeth war entstanden, weil sich ihre Eltern an die ungeschriebenen Gesetze der gehobenen Klasse hielten. Nachdem ihr großer Bruder geboren war, sollte er einen kleinen, niedlichen Spielgefährten bekommen. Eine Tochter nach dem Stammhalter zu bekommen stellte die Familie als perfekt da. Sie waren eine Bilderbuchfamilie und wahrten den schönen Schein.
Dann wurde Elisabeth volljährig und es wurde auch von ihr eine Bilderbuchfamilie verlangt. An Weihnachten sollte die gesamte Familie in ihrem Elternhaus von ihrer Verlobung erfahren.
Der Mann war nett, erfolgreich und von vielen Frauen umgarnt. Er war perfekt und Elisabeth hasste ihn. Er war der Prinz, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte, doch an dem Abend des 21. Dezembers hatte sie erkannt, dass auch ihm die Seele fehlte.
Kennengelernt hatten sie sich im Frühjahr des letzten Jahres bei einer Geschäftsfeier ihres Vaters in seiner Firma. Sein Vater war ein Arbeitskollege und in den Augen ihrer Eltern leuchtete von Anfang an der Wunsch nach einer Hochzeit. Trotz der Gier ließen sie Elisabeth ein wenig Spielraum und vorsichtig tasteten sich die beiden jungen Menschen aneinander heran.
Er fragte sie nach ihrer Leidenschaft für Bücher, schnell kamen sie ins Gespräch und diskutierten über die Zwänge in ihrem Leben. Tage darauf trafen sie sich ein zweites Mal und der intellektuelle Gentleman beeindruckte Elisabeth immer mehr. Im Hinterkopf hatte sie ihre Eltern, die sehnsüchtig auf die Vermählung ihrer Tochter warteten. Und mit jedem weiteren Rendezvous war sie sich sicher, dass dieser Mann ihr Traumprinz war.
Umso öfter sie mit verliebtem Blick nach Hause kam, desto freudiger erschienen ihre Eltern. Selbst mit ihrer Mutter verstand sie sich besser. Oft unterhielten sie sich nächtelang über Hochzeitspläne. Auch bald erlaubten sie ihr das Lesen an allen Stunden des Tages und das Vernachlässigen des Balletts. Vertieft in ihre Liebesromane und mit den Gedanken bei den Wünschen nach einer Hochzeit, vergingen die Monate. Doch im ersten Moment bemerkte Elisabeth die Veränderungen ihres zukünftigen Mannes nicht. Im nasskalten November hielt er freudestrahlend um ihre Hand an, bei einem Abendessen mit ihren Eltern. Noch bevor sie antworten konnte, gratulierten ihre Eltern in Lobgesängen und fesselten ihren baldigen Schwiegersohn mit Erinnerungen über Elisabeths Kindheit. Auch wenn sich das Mädchen freute, den ganzen Abend redete sie kein Wort mehr.
Nach der Verlobung meldete sich ihr Verlobter über eine Woche nicht. Doch an einem verregneten Nachmittag stand er ernsten Blickes vor ihrer Zimmertür und erzählte von den zwei Fabriken, die er durch tatkräftiges Arbeiten von seinem Vater vermacht bekam. Zwar würde er jetzt oft in den Fabriken sein, aber er wollte sich sooft wie möglich Zeit für seine Verlobte nehmen.
Elisabeth glaubte seinen Worten, wartete Tag für Tag auf eine Nachricht von ihm. Ihre Eltern sagten ihr, dass ihr Zukünftiger sich nur Mühe gab, damit er Geld für die Familienplanung verdienen konnte. Elisabeth spürte dabei erneut den Käfig um sich.
Verzweifelt redete sie immer wieder auf ihren Verlobten ein, aber dieser Mann hatte sich geändert. Immer mehr diskutierten sie über ihre Zukunft. Bald wurde ihr vorgeworfen, dass sie sich nicht ihrer Rolle als zukünftige Mutter und reiche Dame anpasste. Es traf sie wie ein Schlag, denn dieser Mann, der mit ihr stets den Traum der Freiheit geträumt hatte, war ihr auf einmal fremd.
,,Du wirst wie mein Vater! Hatten wir nicht immer davon geträumt, anders zu sein?“ schrie Elisabeth.
Es war der Abend des 21. Dezembers. Ihre Eltern waren im Theater und Elisabeth wurde von ihrem Freund mit einer weißen, teuren Perlenkette überrascht.
,,Anders sein! Anders sein! Jetzt hör endlich auf, ständig nur von deinen naiven Kindheitsträumen zu reden! Du musst endlich einsehen, dass es nur einen vernünftigen Weg gibt! Wenn ich arbeiten gehe, können wir unseren Kindern ein sorgloses Leben bieten. Genauso wie es deine Eltern taten. Du und dein Bruder hatten doch auch alles!“ brüllte ihr Verlobter. An diesem Abend war er ganz in schwarz gekleidet, was Elisabeth verwundete. In den letzten Wochen hatte sie sich immer anhören müssen, dass nur die verwöhnten Schauspieler aus den Mittelklassetheatern sich ganz in Schwarz kleideten.
,,Was hatten mein Bruder und ich denn schon? Ein eigenes Zimmer, Geld und einen goldenen Käfig. Glaubst du, das hat mich glücklich gemacht? Glaubst du, ich wollte je Ballett tanzen und von meinen Eltern ständig kritisiert werden? So ein Leben will ich für meine Kinder nicht! Sie verdienen etwas besseres, als diese Gefühlskälte und einen Haufen heuchlerischer Menschen!“ antwortete Elisabeth lautstark.
,,Elisabeth, so kannst du nicht über deine Eltern reden! Du siehst gar nicht, was sie dir alles bieten konnten!“ presste ihr Verlobter erschrocken hervor. Kopfschüttelnd drehte sie sich um und stapfte wütend in ihr Zimmer. Während sie sich auf ihr großes Bett fallen ließ, eilte er ihr hinterher und stand wutschnaubend in ihrer Zimmertür.
,,Was fällt dir ein, mich da unten einfach stehen zu lassen? Ich bin immerhin dein Verlobter!“ schrie er, doch das beeindruckte Elisabeth nicht.
,,Du warst mal ganz anders. Hast du mir nicht erzählt, dass du den Fängen deiner Eltern entfliehen und Schriftsteller werden willst?“ fragte sie leise. Ihr war die Kraft zu streiten ausgegangen.
,,Das war ein dummer Kindheitstraum. Wir beide haben jetzt eine Verantwortung zu tragen. Wir werden bald heiraten und Kinder bekommen. Da kann man nicht ohne Geld und Perspektive den intellektuellen Künstler spielen.“ rechtfertigte sich ihr Verlobter.
Elisabeth stand auf, stellte sich vor ihn und hauchte ihm in sein linkes Ohr: ,,Ich weiß nicht, ob ich dich in dem Zustand heiraten will. Du bist nicht der Mann, in den ich mich verliebt habe.“
Erschrocken sah er sie an und ohrfeigte sie reflexartig. Das Mädchen fühlte ihre rechte Wange vor Schmerz taub werden. Mit Tränen in den Augen wies sie ihn an, sofort ihr Zimmer zu verlassen und brach weinend zusammen, nachdem er ohne ein Wort gegangen war. Verzweifelt wand sie sich auf dem Boden. Als sie sich beruhigt hatte, wollte sie endlich einen Schlussstrich unter dieses Leben ziehen. Eilig packte sie eine kleine Reisetasche, schrieb auf einen Notizzettel: ,,Ich bin weg und komme nicht wieder.“ Und lief aus dem Haus. Sie drehte sich nicht um, als sie die Straße entlanglief und das Theater, indem sich ihre Eltern in dem Moment befanden, hinter sich ließ. Mit dem Geld, das sie aus ihrer Schminkkommode genommen hatte, kaufte sie sich am Bahnhofsschalter einen Fahrschein nach London und setzte sich erleichtert in die erste Klasse.
Ein letztes Mal schaute sie sich Peterborough in der Nacht an. Sie konnte nicht mehr zurück, das war Elisabeth bewusst. Selbst wenn sie es wollte, ihre Eltern waren zu stolz. Von dem Moment an, in dem sie ihren Abschiedszettel lasen, würden sie keine Tochter mehr haben. Denn ihre Eltern konnten mit so einer Situation nicht umgehen.
Über ihre Eltern lächelnd kramte sie in ihrer Tasche nach dem Buch, das sie in der letzten Minute von ihrem Nachttisch geschnappt hatte. Es war ein Ratgeber von einer Feministin für moderne Frauen. Damit sollten sich alle Frauen von ihren Männern freisprechen und ein eigenes Leben in Freiheit führen.
Kurz bevor der Schaffner in der Abteiltür stand, träumte Elisabeth vor sich hin. Sie fragte sich, ob sie auch zu den unabhängigen Frauen gehörte und es geschafft hatte, frei zu sein.
In ihrem Unterbewusstsein stellte sich die quälende Frage, wo sie in London hin sollte. Vielleicht könnte sie als Tanzlehrerin arbeiten und Kindern eine Leidenschaft für das Ballett abgewinnen. Sie wollte es anders machen, als es ihre Ballettlehrerin getan hatte. Auch wenn Elisabeth das Tanzen immer gehasst hatte, war es das Einzige, was ihr noch geblieben war. Und sie hatte Talent, das wusste sie.
Der betrogene Ehemann
Wie ein Schatten seiner selbst saß er am Zugfenster und betrachtete den fallenden Schnee. Es war kurz vor Weihnachten und schmerzhaft stellte er fest, dass er allein war. Diese Stadt hatte ihm nur Unglück gebracht. Er wollte weg, zurück in seine Heimatstadt London. In diesem Moment verstand er nicht, wie er es die letzten vier Jahre ohne seine Heimatstadt ausgehalten hatte.
Gedankenverloren reichte er dem Schaffner seinen Fahrschein, ohne den Blick von dem Schnee abzuwenden.
,,Dieses Jahr fallen zu Weihnachten besonders dicke Schneeflocken, nicht wahr Sir?“ lächelte der Schaffner dem Fremden entgegen.
,,Ich hasse diese Jahreszeit! Jeder läuft in dunkler Kleidung und in geduckter Haltung von einem warmen Platz zum Nächsten. Sie sehen alle so aus, als ob sie um sich selbst trauern würden.“ zischte der Mann. Herr Charleston schrak einen Moment zurück und betrachtete skeptisch die graue Hose und den schwarzen Mantel des Mannes. Seufzend setzte sich der alte Mann.
,,Hören Sie, junger Mann.“, fing er mit ruhiger Stimme an. Auf das genervte Augenrollen des Fremden reagierte er nicht.
,,Ich weiß nicht, was Ihnen widerfahren ist und wohin Sie ihre Reise letztlich führt. Aber es ist Weihnachten und Sie sollten mit sich selbst im Reinen sein. Wir alle haben Weihnachten im Herzen und hoffen jedes Jahr auf Frieden und Vergebung. Diese Hoffnung hält uns am Leben und sollte uns in diesen Tagen zum Feiern mit der Familie anregen. Dadurch werden unsere geheimsten Wünsche wiederbelebt. Was auch immer Ihnen widerfahren ist, es warten da draußen mit Sicherheit Menschen auf Sie, von denen Sie geliebt und geschätzt werden. Liege ich damit richtig?“
Der junge Mann nickte nachdenklich, während der Schaffner beruhigt lächelte.
,,Na sehen Sie! Seien Sie in Gedanken bei diesen lieben Menschen und nicht bei irgendwelchen lästigen Angelegenheiten, die sich womöglich früher oder später von selbst erledigen!“ empfahl Herr Charleston. Beide sahen sich an. Der alte Mann, gezeichnet von seinem Alter und den Erfahrungen in seinem Leben und der junge Mann, gezeichnet von einer Scham, die er noch nicht laut aussprechen wollte. Sie lächelten.
,,Sie haben Recht, Herr Schaffner. Aber es gibt Momente im Leben, in denen man an nichts anderes denken kann.“ flüsterte der Passagier verlegen. Doch das Lächeln auf den Lippen des alten Mannes verschwand nicht.
,,Das werden Sie schon bald wieder tun. Glauben Sie mir. Es gibt immer genug Dinge, an die man denken muss. Vor allem an die schönen.“ verabschiedete sich der Schaffner, legte das Ticket neben den Fahrgast und verließ das Abteil.
Wieder war er allein und auf sich gestellt.
Immer wieder hatte er seine Frau vor sich, wie sie halbnackt in ihrem Ehebett mit seinem besten Freund lag.
In diesem Moment hatte er nichts gefühlt. Seine Augen waren sein einziger Sinn, der funktioniert hatte. Panisch war seine Frau aufgesprungen und hatte eine Decke um ihren leicht bekleideten Körper geschlungen. Warum sie das getan hatte, verstand er allerdings nicht. Schließlich hatten alle Personen in dem Raum sie schon nackt gesehen. Während sie ihn nur mit aufgerissenen Augen angestarrt hatte, wollte sein bester Freund ihm erklären, dass die ganze Situation nicht schlimm wäre. Hämisch lächelnd hatte er gemeint, dass sie ihn bereits seit einem halben Jahr betrügen würden und bis zu diesem Zeitpunkt hatte er es nicht mal gemerkt.
Nach diesem Satz war er auf seinen ehemaligen besten Freund gesprungen und hatte ihn gewürgt. Er hatte ihn geschlagen mit der Faust und mit der Hand, doch nichts stillte seinen Zorn. Nach einigen Sekunden ließ er von dem besagten Freund ab, sah seine Exfrau an, beschimpfte sie wüst und ging aus dem Raum.
Keiner folgte ihm und so streifte er einsam durch Peterborough. Seine Gedanken kreisten um die Enttäuschung und den Hass in sich, den er nicht abstellen konnte. Am Bahnhof blieb er zum ersten Mal stehen und als er das alte, erhabene Bahnhofsgebäude sah, fasste er einen Entschluss.
Durch seine Adern strömte das Adrenalin. Ihm kam es vor, als wäre er noch nie so schnell zu sich nach Hause gelaufen.
Ihm war egal, ob sie noch in dem Bett lagen. Er stürmte das Schlafzimmer, schnappte sich einen Koffer, warf so viele Sachen wie nur möglich hinein und genoss das Geräusch des sich schließenden Reißverschlusses. Sein Plan brachte ihn aus dieser Hölle raus.
,,Christopher, was hast du vor?“
Langsam drehte er sich um und starrte seine Frau an. Sie war ihm völlig fremd, genau wie dieses Haus und diese Stadt. Er wollte hier weg. Wortlos stieß er sie zur Seite und verließ das große Haus lautlos.
Am Bahnhof angekommen, erwischte er gerade rechtzeitig den nächsten Zug nach London.
Eigentlich wollte er Peterborough und alles, was er dort erlebte hinter sich lassen, aber es gelang ihm nicht. Die Bilder verfolgten ihn mit in sein Abteil, ebenso wie die Stimme seiner Frau. Sie klang verzweifelt, doch er fühlte kein Mitleid. Sie hatte geweint, doch ihm tat dieser Anblick nur gut. Wahrscheinlich würde dieser andere Mann sie verlassen und dann stand auch sie allein da. Er bereute es, diesen Mann seinen Freund genannt zu haben. Nie wieder wollte er einer Person sein Vertrauen schenken.
Für sie hatte er das schöne Leben in London verlassen. All seine Freunde, die Pubs, die Kinos, die Tanzsäle und sogar seine Familie hatte er für sie zurück gelassen, weil sie die Großstadt für zu aufregend empfand. Abgöttisch hatte er diese Frau geliebt und wäre mit ihr nach Afrika gegangen, wenn sie es verlangt hätte.
Ihm kam seine erste Begegnung mit ihr in den Sinn. In einem kurzen, roten Kleid tanzte sie allein auf der Tanzfläche. Ihr braunes Haar wirbelte um ihre Schultern und sein Blick verfing sich in ihren grün-goldenen Augen. Immer wieder lächelte sie ihn an, dennoch hatte er sich nicht getraut zu ihr zu gehen. Nach einigen Liedern hielt sie inne und kam zu ihm herüber. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Sie sprach ihn an und fragte, ob er nicht die Nacht bei ihr verbringen wollte. Er blieb vier Jahre bei ihr. Jedes Mal, wenn sie ihn bat, mit ihr zu kommen, war er mit gegangen. Ohne zu wissen, ob es die richtige Entscheidung war.
Aber der Bann war gebrochen, denn er hatte genug über sich ergehen lassen. Sollte sie doch einen andern Mann zum Narren halten!
Er würde zu seinem alten Leben zurückkehren. Endlich konnte er seine Familie wiedersehen, mit seinen Freunden feiern gehen und eine vernünftige Arbeit ließe sich mit Sicherheit finden. Von ihren Fängen hatte er sich endgültig befreit.
Langsam atmete er ein und aus, während der Schnee weiter an dem Zug vorbeiflog.
Die flüchtende Ehefrau
Der Zug raste seit Minuten durch die britische Landschaft und hatte Peterborough seit kurzem verlassen, aber ihr schnürte die Angst noch immer die Kehle zu. Ihre beiden Kinder saßen ihr gegenüber und betrachteten aufgeregt die Schneeflocken, die am Fenster vorbei huschten. Der Junge im Alter von acht Jahren hielt seine vierjährige Schwester schützend im Arm. Mit einem schlechten Gewissen schaute sie immer wieder zu ihnen herüber.
Nach einer Weile waren die beiden vor Erschöpfung eingeschlafen, deswegen legte sie fürsorglich ihren Wintermantel über die ruhenden Kinder.
Verkrampft lehnte sie sich in ihren Sitz zurück. Ihr linker Arm war gebrochen und unter ihren dunklen Sachen versteckte sie viele blaue Flecken. Jedes Mal, wenn sie an die letzten zehn Jahre dachte, kamen ihr die Tränen. So viel hatte sie ertragen müssen, ihr ganzes Leben hatte sie verpasst. Ihr einziges Glück waren ihre Kinder, die sie über alles liebte und endlich vor ihrem Vater beschützen wollte.
Zu ihrem 18. Geburtstag hatten ihre Freundinnen die ganze Stadt eingeladen. Es wurde viel getrunken und noch nie hatte Sophie so ausgelassen gefeiert. Sie lernte viele neue Leute kennen, doch als er durch die Tür kam, blieb die Welt für einen kurzen Moment stehen. Er war groß, hatte breite Schultern, einen muskulösen Körper und fuhr sich ständig verlegen durch das schwarze Haar. Ein paar Jahre älter als sie musste er gewesen sein. Die Blicke der Mädchen brachten ihn zum Lächeln und Sophie verliebte sich in diesem Augenblick in den jungen Mann. Schüchtern wie sie war, verfolgte sie ihn aus weiter Entfernung mit ihrem schüchternen Blick und wechselte nicht ein Wort mit ihm. Ihre Freundinnen redeten den ganzen Abend auf sie ein, doch auch wenn sie der Ansicht waren, dass der unbekannte Mann nur Augen für Sophie hatte, wollte sie nicht mit ihm reden.
So versank ihr Geburtstag in verliebte Träumereien, aus denen sie erst den darauffolgenden Tag aufschreckte. Ihre Mutter klopfte an ihre Zimmertür und meinte, dass ein junger Mann am Telefon sei. Verwundert ging sie heran und erschrak, als sie die Stimme des Unbekannten von ihrer Feier hörte.
Höflich fragte er sie nach einem Treffen und einige Tage später verabredeten sie sich in einem Restaurant. Sophies Herz schlug so schnell, dass sie befürchtete jeden Moment ihr Bewusstsein zu verlieren. Vorher hatte kein anderer Junge ihr so viel Aufmerksamkeit geschenkt, umso aufgeregter war sie vor dieser Verabredung.
Als sie ihn vor dem Restaurant stehen sah, wollte sie wieder umdrehen und nach Hause laufen. Aber er erblickte sie und als er lächelte, konnte sie sich nicht mehr von ihm abwenden. Den ganzen Abend stellte er Fragen, um mehr über sie herauszufinden und Sophie redete so viel wie noch nie zuvor. Der Abend war viel zu schnell vorbei und von dem Kuss, den er ihr zum Abschied schenkte, träumte sie wochenlang. Zuerst befürchtete sie, dass er sich nicht noch einmal melden würde, doch bereits zwei Tage später bat er um ein erneutes Treffen.
Er führte sie in das Theater, in das Kino und in die schicksten Restaurants. Ihre Freundinnen mochten ihn und sie lebte im siebten Himmel.
Nach einem Jahr heirateten sie. Ihr Märchen hatte sich erfüllt. Das weiße Kleid war genauso prunkvoll wie die Hochzeitskleider aus den großen Liebesfilmen und ihre Freundinnen weinten in ihren pastellfarbenen Jungfernkleidern.
Es war vereinbart, dass sie sich um den Haushalt kümmerte und er jeden Tag in sein Büro ging und das Geld verdiente.
Als er nach einigen Wochen mitten in der Nacht betrunken nach Hause kam und sie weckte, sah sie zum ersten Mal sein wahres Gesicht. Er lachte, schrie herum und fasste sie an. Erschrocken flüchtete sie in das Badezimmer und wartete fast eine Stunde. Immer wieder hämmerte er an die Tür, redete auf sie ein, warf Vasen um und schleppte sich müde durch die Wohnung. Als sie sich wieder hinaus traute, überraschte er Sophie im Flur, packte sie an ihrem schmalen Hals und raunte ihr zu, dass sie sich nicht vor ihm zu verstecken hatte. Ruhig ließ er sie los und ging zu Bett. Zitternd lag sie auf dem Flurboden und beruhigte sich erst nach ein paar Stunden.
Das gleiche geschah in den Nächten darauf und als er eines Abends ihr den Weg zu einer Fluchtmöglichkeit versperrte, schlug er ihr gefühlskalt in ihr Gesicht. Er schnappte sie an den Beinen, zog die schreiende junge Frau hinter sich her und wieder schlug er auf sie ein, bevor er sie in das Schlafzimmer zog und sich an ihr verging.
Nach dieser Nacht schämte sie sich für ihre Schwäche und glaubte, eine schlechte Ehefrau zu sein. Nachdem er sich entschuldigt hatte und vor Sophie auf die Knie gefallen war, vergab sie ihm und gemeinsam gingen sie noch in dem folgenden Tag aus. Doch als sie ein nettes Gespräch mit dem Kellner in ihrem Lieblingsrestaurant anfing, brüllte ihr Ehemann sie bei der Heimkehr wieder an und drohte, sie umzubringen, wenn sie noch einmal mit einem anderen Mann reden sollte. Er warf ihr wütend vor, dass sie sich nicht wie eine gute Ehefrau benahm und dass er sie jedes Mal bestrafen würde, wenn sie sich nicht den Umständen entsprechend verhalten würde. Verzweifelt redete sie mit ihrer Mutter, aber die riet ihr nur, sich ihrem Mann unterzuordnen. Sophie versuchte alles, um ihrem Mann gerecht zu werden. Jedoch war er unberechenbar, wenn er nachts nach Hause kam und sie fürchtete sich immer wieder, wenn sie seine Schritte hörte. Eines Tages erfuhr sie, dass sie schwanger war und hoffte inständig, dass er sie endlich in Ruhe lassen würde.
Die Schwangerschaft verlief idyllisch und wieder träumte sie von einer kleinen, harmonischen Familie. Schon bald glaubte sie, dass der Alptraum vorbei war.
Ihr erster Sohn wurde geboren und Sophie war die glücklichste Mutter der Welt. Die ersten Wochen war die Wohnung erfüllt von dem Lachen der Eltern, dem Geschrei des hungrigen Jungen und Sophies stolzem Gesang.
Doch als die ersten Zähne wuchsen, schrie der Junge immer öfter und immer lauter. Dadurch wurden die Nerven der Eltern stark strapaziert und Sophies Mann begann erneut das Trinken. Immer wieder wachte sie am Bett ihres Sohnes und reagierte sofort, wenn er nachts zu schreien begann. So wollte sie verhindern, dass ihr Mann etwas von dem Kreischen mitbekam.
Trotz allem bekam sie erneut die Wut ab, doch für ihr Kind wollte sie die Schmerzen ertragen. Jeden Abend betete sie, dass der Ärger irgendwann aufhören würde. Sie betete für ihren Sohn und wünschte sich, dass ihr Ehemann seinen Druck nicht mehr im Alkohol ertrank. Doch sie vermutete, dass nie jemand im Himmel war, der sie erhören konnte. Denn ihre Wünsche erfüllten sich nicht.
Auch wenn sie sich über die Geburt ihrer Tochter freute, ihr Leben wurde damit noch gefährlicher. Ihre Kinder vor ihrem Mann zu beschützen, zehrte an ihrer Kraft und in mancher einsamen Minute brach sie weinend zusammen.
So lebte Sophie durch die Jahre, zog ihre Kinder auf, hielt sie von ihrem Vater fern und durch litt seine Wutausbrüche.
Doch als ihr Sohn eingeschult und von seinen Mitschülern gehänselt wurde, fing er an, sich gegen jeden zu wehren, der ihm wehtat. Nach einem nächtlichen Exzess seines Vaters brüllte er den Jungen lachend an, doch der Junge ließ das nicht auf sich sitzen. Man sah in seinen Augen die Wut über all die Narben, die über den Rücken seiner Mutter verteilt waren. Mitten in der Nacht schlich er sich in das Schlafzimmer seiner Eltern und kippte heißes Wasser aus einem Kochtopf über das Gesicht seines Vaters. Es wurde geschrien, sein Vater stolperte blind aus dem Bett und seine Mutter drückte sich erschrocken in eine Ecke. Als sie sich gesammelt hatte, rief sie einen Arzt, der seinen Vater schleunigst in ein Krankenhaus brachte. Am ersten Tag gaben die Ärzte zu verstehen, dass ihr Mann mehrere Wochen von Zuhause wegbleiben würde und ihr Mann redete in der ersten Zeit nicht mit seinem Sohn.
Doch an einem Tag, als sie ihn im Krankenhaus besuchten und Sophie gerade auf den Flur gegangen war, um ihren Kindern etwas zu trinken zu holen, schnappte er sich seinen Sohn und haucht ihm in das linke Ohr, dass er sein blaues Wunder erleben würde, wenn sie alle Zuhause waren. Sophie bekam dies im letzten Moment mit und wusste, dass sie etwas tun musste. Sie konnte so nicht weiterleben. Ihre Kinder verdienten ein besseres Leben. So schnell wie möglich rannte sie an diesem Tag zu einer Bank, räumte die Konten leer, packte einen Koffer und ein paar Taschen und lief noch am selben Abend zum Bahnhof. Sie kaufte drei Fahrscheine nach London, während sie sich dauernd nach allen Seiten umdrehte. Auch wenn ihr Ehemann noch im Krankenhaus lag, fühlte sie sich beobachtet und verfolgt. Doch als sie ihren Kindern in die Augen sah und all die Aufregung, stieg Hoffnung in ihr auf. Sie atmete ein und aus, als würde sie es in ihrem Leben zum ersten Mal tun. Mit zitternden Händen nahm sie die Fahrscheine und Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sich den Weg zu ihrem Gleis bahnten. Es waren Tränen des Glücks. Sophie fragte sich, ob sie sich jemals in ihrem Leben so frei gefühlt hat.
Ein Räuspern neben sich, ließ sie zusammenschrecken. Erschüttert starrte sie den alten Schaffner mit weit aufgerissenen Augen an, aber er lächelte nur friedlich.
,,Dürfte ich, bitte, Ihre Fahrscheine sehen?“ fragte er höflich. Nickend beugte sie sich zu ihren Kindern und zog die Tickets aus ihrer Manteltasche.
Nach einem kurzen Blick darauf, verabschiedete sich der Schaffner wieder. Sophie lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. Von nun an konnte sie ruhig schlafen und von dem langersehnten Frieden träumen. Sie würde noch einmal von vorne beginnen und ihren Kindern ein besseres Leben bieten. Und wenn sie dafür bis an das Ende der Welt flüchten müsste.
Der Schriftsteller
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er Angst.
Diesen Traum, den er in diesem Moment versuchte zu leben, hatte er sich anders vorgestellt. Er hätte nicht gedacht, dass sich ein unbekanntes Gefühl in seiner Brust ausbreiten würde. Noch war ihm nicht bewusst, ob er das Gefühl zulassen wollte.
Sie war in dem selben Zug wie er. Er hatte sie gesehen und nicht getraut, sie anzusprechen. Dafür schämte er sich viel zu sehr, denn er konnte die Ohrfeige nicht mehr gutmachen.
Er erinnerte sich noch an das erste Buch, das er gelesen hatte. Es ging um einen Jungen, der sich in einer Fledermaushöhle wiederfand. Er selbst war zu einer Fledermaus geworden und musste den Stamm vor den Vampirfledermäusen retten. Er liebte außergewöhnliche Heldengeschichten und hatte als kleiner Junge gehofft, selbst einmal der Held für seine Freunde sein zu können. Doch ein Junge aus gutem Haus, der mehr Zeit in einem Jungeninternat verbrachte als bei seiner Familie, galt als ein unverbesserlicher Träumer, der im Leben nicht viel erreichte. Seine Freund reagierten wie die Lehrer: erst mit irritierten Blicken, dann mit abfälligem Schmunzeln.
Dennoch war für ihn sein Weg zum Helden klar vor Augen. Er wollte Schriftsteller werden und der Welt draußen seine Welt in sich zeigen. Fleißig schrieb er Tag und Nacht, aber als er das fertige Exemplar seinen Eltern vorlegte, belächelten sie ihn nur, wie zuvor seine Freunde und Lehrer. Daraufhin entwickelte sich in seiner Brust eine Angst vor dem Versagen und die Befürchtung, den falschen Traum in sich zu tragen. Somit wandte er sich wieder seinen schulischen Leistungen zu und wurde Klassenbester in den naturwissenschaftlichen Fächern, die er damals so verabscheute.
An diesen Tagen belächelte er seine Torheit aus den vergangenen Jahren, denn während er im Stillen seine Geschichten weiterspann wurden die Naturwissenschaften ein wichtiger Bestandteil seiner Fantasie. Er musste sich eingestehen, dass er alles über die Welt wissen musste, um eine neue erschaffen zu können.
Das Leben spielte jedoch ein anderes Spiel. Die Arbeit in der Fabrik seines Vaters beanspruchte seinen Körper tagsüber so sehr, dass auch sein Geist jeden Abend zu müde war.
Einige Jahre arbeitete er als gewöhnlicher Arbeiter in der Fabrik, weil sein Vater der Überzeugung war, dass ihm das einen stärkeren Charakter geben würde. Nach einiger Zeit verbrachten sie gemeinsam bis spät in die Nacht in dem Büro seines Vaters, er sah alle Dokumente der Fabrik durch und lernte sie zu führen.
Zu dieser Zeit ergab es sich ebenfalls, dass er Bekanntschaft mit einem jungen Mädchen machte, das ihn sofort in ihren Bann zog.
Sie hatte das ebenmäßige Gesicht einer Porzellanpuppe und bei jeder Bewegung tanzten die roten Locken fröhlich auf ihrer Schulter auf und ab. Die grünen Augen leuchteten vor Lebenslust und verbargen einen fernen Wunsch, den er nicht erraten konnte. Das weckte seine Neugier und immer wieder versuchte er sie an diesem milden Frühlingstag in ein Gespräch zu verwickeln, das ihr ein Gefühl von Vertrauen gab. Doch er erfuhr viel mehr, als er geahnt hatte.
Dieses sanfte Wesen, das tänzerisch wie eine Elfe durch den Garten ihres Vaters hüpfte, in dem an diesem Tag eine Geschäftsfeier stattfand. Je öfter sie ihm ein Lächeln zuwarf, desto mehr wünschte er sich, in ihrer Nähe zu sein. Mehr noch, sie verehrte Bücher genauso wie er und war von seinem Wunsch, ein Schriftsteller zu werden, begeistert. Ohne darüber nachzudenken, hatte er ihr bereits nach einigen Minuten von seinem geheimen Wunsch erzählt und war dabei verlegen gewesen. Doch ihre bewundernde Begeisterung hatte ihn angesteckt und er verliebte sich in das Mädchen.
Er führte sie zum Essen aus, zu seiner Überraschung verstanden sie sich sehr gut. In der Fabrik seines Vaters arbeitete er immer härter, weil er nun eine Zukunft vor sich hatte. Das Mädchen sollte seine Frau werden und eine traumhafte Hochzeit bekommen. Jeden Abend sollte sie ihn fröhlich mit ihren zwei Söhnen und der kleinen Tochter an der Haustür empfangen und ein sorgenfreies Leben führen. Seine Söhne würden ihm ähnlich sehen und sich für die schönen Künste interessieren, sowie sein kleines Mädchen mit den roten Locken eine Leidenschaft für das Tanzen entwickeln würde, genau wie ihre Mutter.
Ihr Haus sollte in der Vorstadt stehen und sowohl geräumig als auch gemütlich sein. Jedes Weihnachten würden sie ihre Eltern einladen, die große Geschenke für ihre Enkel mitbrachten. Ihr Heim wäre erfüllt von Liebe und befreitem Lachen. Nebenbei könnte er einige Gedichtbände verfassen und veröffentlichen lassen, die genügend einbringen würden, um sich einen dezenten Luxus nebenher zu verdienen.
Von dieser Idee besessen, arbeitete er immer länger in die Nächte hinein und war sich sicher, dass seine Verlobte ihn entschuldigen würde. Schließlich erarbeitete er ihre gemeinsame Zukunft. Außerdem verdiente er sich ein paar kleine Geschenke für sie, die sie sicherlich erfreuten.
Am diesem Abend, den 21. Dezember, wollte er seine Angebetete mit einer teuren Perlenkette überraschen, bevor er sie nach Weihnachten nach Paris entführte, um mit ihr endlich allein sein zu können. Für ihn war es eine Ewigkeit her, dass sie sich über die neuesten Bücher und die Motivation der Schriftsteller unterhalten hatten. Da ihre Eltern an diesem Abend bei einer Theaterpremiere waren, konnte er auch den lästigen Fragen über die Vorbereitungen der Hochzeit entgehen. Der Abend konnte nur perfekt werden.
Doch scheinbar hatte er in den letzten Wochen etwas übersehen, denn seine Verlobte war an diesem Abend kühl und zurückhaltend. Sein vorweihnachtliches Geschenk warf sie gleichgültig auf den Küchentisch und kurz darauf warf sie ihm vor, sich in eine unangenehme Richtung entwickelt zu haben. Wenn sie ihn zu Gesicht bekam, redeten sie kaum noch miteinander oder diskutierten ihre grundverschiedenen Meinungen aus.
Tränenüberströmt lief sie in dem glamourösen Wohnzimmer auf und ab. Verzweifelt wehrte er jedes ihrer Argumente ab und hörte sich an, wie unzufrieden sie bereits ihr ganzes Leben war und mit ihm endlich aus all dem ausbrechen wollte. Aber mittlerweile musste sie erkennen, dass er genüsslich in den goldenen Käfig gegangen war und es sich dort gemütlich gemacht hatte. Als er dem Weinen in ihr Zimmer folgte, hörte er sein Herz in sich zerbrechen.
Er verstand nicht, was schief gelaufen war und wollte seinen Traum nicht zerplatzen lassen.
Immer mehr entwickelte sich eine verkrampfte Diskussion, bis sie ihm etwas lieblich in sein Ohr flüsterte: ,, Ich weiß nicht, ob ich dich in dem Zustand heiraten will. Du bist nicht der Mann, in den ich mich verliebt habe.“ In der Stille ertönte in dem großen, einsamen Haus ein lautes Knacken und schon fielen die kleinen Splitter seines Herzens zu Boden. Aus einer neugeborenen Wut nahm seine rechte Hand die Kraft, sich für diesen Triumphzug zu rächen und ohne darüber nachzudenken, holte er aus.
Erschüttert über sich selbst flüchtete er aus dem Haus. Wimmernd hielt er an der nächsten Straßenecke und starrte gebannt auf das Haus, in der die junge Frau weinend auf dem Boden lag, die er abgöttisch liebte.
Ohne die Stunden gezählt zu haben, bemerkte er plötzlich Bewegung in der Villa und schleunigst rannte die wunderschöne Gestalt aus dem Haus mit einer vollgepackten Tasche. Ihm war bewusst, dass er sie nicht wiedersehen würde. Verzweifelt sank er zu Boden und sein Traum von einer friedlichen Zukunft löste sich in Luft auf und flog in den Nachthimmel.
Er musste einsehen, dass er alles zerstört hatte und ihm der Boden unter den Füßen weg sank. Keuchend saß er in der Winterkälte und eine Träne lief ihm über das Gesicht, denn die Schuld schlug ihm ins Gesicht.
Eine Ehefrau mit verständnisvollem Blick, Kinder mit lachenden Herzen, Geschichten mit erfüllendem Inhalt und ein Haus in der Vorstadt – das gab es ab diesem Moment nicht mehr für ihn.
Somit musste er einen anderen Weg für sich finden.
Ängstlich stand er auf und rannte zu dem Bahnhof von Peterborough. Vermutlich würde seine große Liebe ebenfalls hierher geflüchtet sein, doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Da er noch ein wenig Geld bei sich hatte, kaufte er sich eine Fahrkarte. Mit geschlossenen Augen tippte er auf ein Fahrziel auf der Karte und stellte zu seiner Freude fest, dass er London ausgewählt hatte. Da er nur noch einige Minuten Zeit hatte, rannte er aufgeregt auf das Bahngleis zu, zuckte jedoch bei dem Anblick des Mädchens zusammen. Ihn überraschte es nicht, dass seine ehemalige Verlobte ebenfalls in die Großstadt Großbritanniens wollte. Aber ihm war unwohl mit dem Gefühl der Schuld im Magen. Sie waren sich in den nächsten Stunden noch immer nah, obwohl die mitreißenden anderthalb Jahre mit ihr bereits so weit entfernt schienen.
Unruhig ließ er sich in einem Abteil der ersten Klasse nieder und dachte über den Abend nach, seine Eltern, seine Zukunft. Auf einmal realisierte er, dass niemand mehr in seiner Nähe war, der ihm vorschrieb, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Es machte sich ein ihm völlig unbekanntes Gefühl in seiner Brust breit und schnürte für einen kurzen Moment seine Kehle zu.
Bevor er in Panik geraten konnte, fiel ihm ein, was das für ein Gefühl sein musste. Er war frei. Es war Zeit für ihn, sich in London nach Verlegern umzusehen und nach 22 Jahren in einem goldenen Käfig, die Welt als Schriftsteller zu entdecken.
Kurz nach diesem Entschluss riss jemand die Abteiltür auf und er strahlte den alten Mann mit dem einladenden Lächeln an.
,,Guten Abend der Herr. Dürfte ich bitte Ihre Fahrkarte sehen?“ fragte der Schaffner höflich. Übermütig nickend überreichte der junge Mann das winzige Stück Papier und wünschte dem netten Alten ein fröhliches Weihnachtsfest. Denn von nun an wollte er die Welt umarmen.
Das verletzte Ehepaar
,,Ich weiß nicht, warum ich dir immer so wichtige Sachen wie Zugfahrscheine anvertraue! Ständig verlierst du etwas und dann blamierst du mich vor allen Leuten! Es ist doch immer dasselbe mit dir!“ keifte die ältere Dame hysterisch und rückte die Jacke ihres lachsfarbenen Kostüms zurecht. Ihre blondierten Locken ähnelten der Frisur des kleinen, weißen Pudels, der aus ihrer Krokodillederhandtasche lugte. Durch den dunkelblauen Lidschatten und die knallroten Lippen wirkte ihr Gesicht wie die verzerrte Grimasse eines Clowns.
Während sie ihre große, dunkle Sonnenbrille zurechtrückte, kramte ihr Ehemann in seinem braunen Jackett nach den Fahrscheinen. Nervös zupfte er immer wieder an der farblich passenden Stoffhose und räusperte sich in regelmäßigen Abständen.
Seufzend verdrehte die Frau die Augen und lächelte dem Schaffner entschuldigend zu.
Als er gegangen war, herrschte erneut die eisige Distanz zwischen den Eheleuten, die sich seit vielen Jahren immer mehr in ihrem Leben ausweitete. Sie konnte sich nicht mal daran erinnern, wann sie ihrem Mann das letzte Mal einen ,,Guten Morgen!“ gewünscht hatte.
40 Jahre Ehe gingen an ihnen nicht spurlos vorbei.
Damals hatten sie sich in der Tanzschule kennen gelernt, als er sie schüchtern um ihren ersten Tanz bat und schon bald darauf wurden sie ein Paar.
,,Elise! Elise! Du tanzt wie eine Waldfee!“ hatte ihr zukünftiger Ehemann, Heinrich, immer geschwärmt. An jedem Sonnabend hatten sie sich mit ihren Freunden in Tanzlokalen verabredet. Als sie 18 Jahre alt wurden, heirateten sie und führten ein typisches Großstadtleben in London. Heinrich arbeitete nach seiner Ausbildung als Maurer und verdiente genügend Geld, um über die Runden zu kommen. Als ihre Zwillingssöhne geboren wurden, schien ihr Leben perfekt. Elise zog die Kinder auf und kümmerte sich um den Haushalt, während Heinrich jeden Tag zu seiner Arbeit verschwand. Am 20. Geburtstag ihrer Kinder, feierten sie mit Freunden außerhalb von London. Heinrich weigerte sich, ein überteuertes Lokal in der Innenstadt zu mieten. Aus diesem Grund fuhren seine Söhne bei einem Freund mit und feierten die ganze Nacht.
Ihre Eltern hielten sich absichtlich von dem Spektakel fern, da ihre Kinder erwachsen waren und ihre Eltern auf den Feiern nur stören würden.
Spät in der Nacht, von der Feier berauscht, stiegen die beiden Jungs wieder in das Auto ihres besten Freundes ein, um sich nach Hause fahren zu lassen. Ein paar hübsche Mädchen baten, sie mitfahren zu lassen und so war das Auto überfüllt mit singenden, jungen Leuten. Noch in dem Auto wurde gefeiert und gelacht, dabei jedoch eine scharfe Kurve übersehen. Das Auto mit den Insassen, die nur teilweise angeschnallt waren, überschlug sich drei Mal und landete auf dem Acker. Es dauerte Stunden, bis jemand das verunglückte Auto entdeckte. Der Fahrer und zwei der Mädchen überlebten mit schweren Verletzungen, doch für die anderen kam jede Hilfe zu spät.
Als den Eltern die traurige Nachricht mitgeteilt wurde, brach Elise zusammen und gab ihrem Mann jede Schuld. Tagelang redeten sie nicht miteinander und wochenlang konnte Elise nicht über den Tod ihrer Söhne sprechen. Sie entschied, ihrem Mann das nie zu verzeihen und es herrschte von da an eine beunruhigende Kälte zwischen ihnen. Heinrich rechtfertigte sich nie, denn er wusste, dass er es nicht konnte.
Elise dachte jeden Tag an ihrer geliebten Söhne. In der Zeit um Weihnachten tat es ihr besonders weh, sie zu vermissen.
Die erdrückende Stille in ihrem Zuhause ließ sie jeden Winter für eine Woche nach Peterborough flüchten. Dort waren Elises Eltern aufgewachsen und hatten sich dort kennen gelernt, bevor sie mit ihr als Neugeborenes nach London gegangen waren, um einen besserbezahlten Beruf zu finden.
Eigentlich wollte sie jedes Jahr auch Weihnachten in dieser Stadt verbringen, jedoch war ihr Ehemann dagegen und nachdem es aufgrund dieser Diskussion einen großen Streit gab, war Elise immer wütender auf Heinrich geworden. Jedes Jahr um diese Zeit stritten sie oft, doch ihr Mann wehrte sich kaum noch gegen die Anschuldigungen. Doch auch wenn sie ihren Zorn mit dem Tod ihrer Söhne rechtfertigte, bekam ein schlechtes Gewissen. Reden wollte sie darüber dennoch nicht und schwieg durch ihren Alltag hindurch.
Heinrich war bewusst, dass Elise ihn hasste. Und auch er selbst schämte sich für seine geizige Haltung, die seine Kinder in den Tod getrieben hatte. Seine Ehefrau stachelte jeden Tag einen Streit an und manchmal konnte er nicht anders, als darauf einzugehen. Aber meist ließ er die Wut über sich ergehen, weil er sie für richtig empfand. Die Wochen nach dem Autounfall waren schwer gewesen. Es hatte lange gedauert, bis er verstand, dass seine Söhne Tod waren. Heimlich hatte er geweint und getrauert, doch in Elises Nähe wollte er eiskalt sein und die Scham nicht eingestehen. Aus diesem Grund ertrug er den verbissenen Alltag in seinem trostlosen Leben.
In jedem Jahr freute er sich trotz der langen Zugfahrt auf das Städtchen Peterborough, da seine Frau an diesen Tagen aufblühte. Sie freute sich über den fallenden Schnee, redete mit ihren Eltern an deren Familiengrab und lächelte.
Heinrich ging dabei stets das Herz auf, aber Weihnachten feierte er am liebsten in seiner Wohnung. Aus unerklärlichen Gründen spürte er an jedem Weihnachtsabend die friedliche Anwesenheit seiner Zwillingssöhne in den Räumen und spielte mit dem Gedanken, sie würden jeden Moment durch die Haustür stürmen und sich über die mickrige Weihnachtsgans hermachen.
Ihm gab dieser Gedanke Kraft, auch wenn es nur eine Wunschvorstellung war.
Entspannt lehnte er sich zurück und sah aus dem Fenster. Er erinnerte sich an seine tanzende Frau und das Lachen der Kinder. Plötzlich fiel ihm auf, dass die Jungs das Lächeln ihrer Mutter hatten und nachdem seine Frau ihre Augen geschlossen hatte, wollte auch er die Ruhe im Zug genießen, bevor sie im hektisch en London ankamen.
Die letzte Reise
Nervös zupfte sie das hellblaue Kopftuch zurecht. Nach Weihnachten sollte sie eine weitere Chemotherapie beginnen, deswegen saß sie in diesem Zug nach London. Es war ihre letzte Flucht, bevor sie diese elende Tortur erneut über sich ergehen ließ.
Die Ärzte prophezeiten, dass es für sie noch nicht zu spät war. Doch Mara glaubte nicht daran, denn ihr Körper sendete ihre mittlerweile alarmierenden Signale. An manchen Tagen fühlte sie sich schwach und dem Tod so nahe, dass sich ihre Lebenszeit nicht allzu sehr verlängern ließ. Ein letztes Mal wollte sie in ihrer Lieblingsstadt London und durch den Hyde Park schlendern, wie ein kleines Kind. Danach würde sie zurück zu ihrem Mann und ihren drei Kindern zurückfahren und mit ihnen ihr vielleicht letztes Weihnachten feiern. Das nahm Mara jedenfalls an.
Hatte sie eigentlich viel erlebt?
Die ganze Welt hatte sie natürlich nicht gesehen.
Aber war sie wirklich glücklich?
Die guten Zeiten hatten immer überwogen.
Wurde ihr jeder Wunsch erfüllt?
Nein, aber das wollte Mara auch nicht.
Was wollte sie überhaupt?
In diesem Moment?
Einfach ihre kurze Reise genießen und die vielen Lichter Londons bei Nacht bewundern.
Seufzend kuschelte sich Mara in den komfortablen Sitz der ersten Klasse und hörte das schwere Atmen der Lokomotive. Draußen war es mittlerweile so dunkel, dass kaum etwas von der menschenleeren Landschaft zu erkennen war. Aber genau das genoss sie. Für sie bedeutete die Natur Freiheit und Frieden. In ihrer Kindheit war sie stets draußen gewesen und gerade der Winter hatte es ihr angetan. Vereinzelt klebten Schneeflocken an ihrem Fenster, was ihr ein Lächeln abgewann.
In ihrem Leben hatte sich so viel geändert und immer wieder dachte sie an all die wunderschönen Erinnerungen.
Ihre Hochzeit in Weiß an einem Strand in der Südsee, bei der ihre gesamte Familie dabei war. Die Geburt ihrer zwei Töchter und ihres Sohnes. Sie wusste noch, wie schwer es ihr gefallen war, ihre Kinder jeden Tag in die Schule gehen zu sehen. Es war ihr komisch vorgekommen, als wenn sie nur eine passive Figur im Leben wäre.
Auf einmal ging ihre Abteilstür auf und ein freudestrahlender, älterer Herr in Uniform kam herein. Lächelnd zückte sie ihren Fahrschein und begrüßte den Mann.
,,Madame, Sie strahlen ja so! Haben Sie eine aufregende Reise vor sich?“ fragte der Schaffner neugierig.
,,Sie haben keine Ahnung. Es fühlt sich an wie die Reise meines Lebens. Die Welt kann so schön sein, wenn man durch Zufall die richtige Perspektive in seinem Alltag findet.“ nickte sie überschwänglich und bekam davon Kopfschmerzen, die sie gekonnt ignorierte.
Fasziniert setzte sich Herr Charleston neben die Frau, die nur einige Jahre jünger war als er und sah sie mit leuchtenden Augen an.
,,Diese Perspektive suchen wir wohl alle sehr verzweifelt...“ murmelte er halbherzig lächelnd und Mara nickte zustimmend.
,,Wissen Sie, Herr Schaffner- „
,,Bitte, nennen Sie mich Michael!“ unterbrach Herr Charleston die sympathische Frau.
Mara lächelte geschmeichelt.
,,Wissen Sie, Michael, oft muss ein Mensch erst direkt in den Abgrund schauen und erkennt dann, dass es weitaus wichtigeres gibt. Dass das alltägliche Wohlergehen geschätzt werden sollte.“ Fuhr sie fort und strich behutsam über ihr Kopftuch, unter dem sich keine Haare mehr verbargen.
,,Ich verstehe.“ Flüsterte Herr Charleston verständnisvoll und lächelte die Frau aufmunternd an. Vorsichtig gab er ihr das Fahrtticket zurück und erhob sich langsam. Mara sah ihm nach, bis ihr plötzlich etwas einfiel:
,,Michael! Haben Sie nicht Lust mit mir noch heute Abend einen Spaziergang durch den Hyde Park zu machen?“
Der alte Mann drehte sich verwundert um und sah die fremde Frau überrascht an.
,,Entschuldigen Sie, Ma´am. Aber ist es nicht schon recht spät für einen Spaziergang?“ fragte er vorsichtig und sah in die Dunkelheit der Nacht.
,,Michael, haben Sie schon einmal London bei Nacht gesehen? Mit all seinen Lichtern?“ Noch immer lächelte Mara aufmunternd und der Schaffner konnte dieser Lebensfreude kaum widerstehen.
Leicht verlegen schüttelte er den Kopf.
,,Nun, dann können Sie mein Angebot nicht ausschlagen. Ich kann mich kaum von Ihnen trennen ohne Sie London mit all seinen wundervollen Lichtern gesehen zu haben! Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie mit mir in den Hyde Park gleich nach unserer Ankunft!“ bat Mara mit durchdringendem Blick.
Herr Charleston lächelte ergeben.
,,Nun ja, ich kann ja wohl kaum eine junge Lady alleine durch die Nächte Londons ziehen lassen.“
Mit schallendem Gelächter verabschiedete sich Mara von dem Mann und lehnte sich wieder amüsiert zurück.
Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, da sich ihre Familie mit Sicherheit Sorgen machte. Diese Reise hatte sie spontan angetreten, als sie am Nachmittag bei ihrem Arzt war und er ihr eine weitere Therapie empfohlen hatte. Mara konnte diese Empfehlung im ersten Moment nicht ertragen, aber nachdem sie sich für einen letzten Besuch in London entschieden hatte, war ihre nahe Zukunft erträglich.
Mara ahnte, dass sie nicht mehr lange leben würde. Dennoch blieb sie stark, auch wenn die Tränen in ihren Augen etwas anderes verrieten. Sie wollte stark bleiben, denn ihre Kinder und ihr Ehemann mussten noch genug leiden.
Was würde noch kommen?
Der Obdachlose
In weiter Ferne hörte er die Bremsen eines Zuges, lautes Gelächter und verstimmtes Gerede. Die verachtenden Blicke der Passanten nahm er dank seines Tunnelblickes nicht wahr. Sein Atmen war ein schmerzendes Rasseln in seiner Lunge und an Tagen wie diesen wünschte er sich nur, endlich zu sterben.
Rücksichtslose Füße traten nach ihm und leere Gesichter verspotteten ihn.
Seine Vergangenheit tanzte schemenhaft in seinen Gedanken umher und ließ einige Moment vor seinen Augen aufblitzen, die er nicht vergessen konnte. In seiner Kindheit wollte er stets dem Erfolg seines Vaters nachstreben. Er selbst wollte ein erfolgreicher Geschäftsmann mit Anerkennung sein und aus diesem Grund schaute er sich viel von seinem Vater ab, arbeitete hart. Nach vielen Jahren der Anstrengung übernahm er die Firma seines Vaters und versuchte ein harter, aber gerechter Chef zu sein.
Im Nachhinein war er sich sicher, dass er zu gutmütig war.
Im Frühling des vorherigen Jahres betrat ein junger Mann sein Unternehmen und bewehrte sich als ehrgeiziger, kreativer Stellvertreter. Er wollte hoch hinaus und ging dafür über Leichen, vor allem aber über die Existenz seines Chefs.
Seit anderthalb Jahren lebte er auf der Straße, denn er hatte alles verloren. Mit seinem Stellvertreter hatte er in einer Pokernacht mit viel Alkohol seine Rechte an der Firma verspielt und wurde eiskalt vor die Tür gesetzt.
Niemand interessierte sich für ihn und Geld hatte er nicht mehr, um sich zurück in die Firma zu kaufen. Seine Eltern waren bereits verstorben und da er selbst sein Erbe verspielt hatte, blieb ihm nur noch der kühle Nachthimmel.
Die ersten Monate streifte er unruhig in London umher und suchte nach Aushilfsjobs, doch niemand brauchte ihn. Somit fing er an Essen und Geld zu stehlen, von dem er sich ein wenig Alkohol leisten konnte. Schon bald wurde es zu flüssigem Gold, eine Droge nach der sein gesamter Körper verlangte. Der Alkohol wärmte seinen Körper, verdrängte seine Probleme und ließ die Welt, die ihn mit Füßen trat, für einige Momente vergessen sein. Er wurde sein bester Freund und so lebten sie bereits seit über einem Jahr zusammen auf der Straße.
,,Entschuldigen Sie, junger Herr.“, flüsterte ihm eine raue Frauenstimme zu. Verwirrt blickte er auf und kniff schmerzverzerrt die Augen zusammen, da er geradewegs in eine grelle Bahnhofslaterne schaute. Vor ihn trat ein Schatten, doch erst als sich sein Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte er die Gestalt näher betrachten. Vor ihm stand eine ältere Frau mit einem blauen Kopftuch, darunter konnte er keinen Haaransatz erkennen.
Freundlich lächelte sie auf ihn hinunter. Ihre Lachfältchen waren ihm auf Anhieb sympathisch und er musste zurücklächeln, wodurch sich sein Gesicht wie eine steife Grimasse anfühlte. An sein letztes Lachen erinnerte er sich in diesem Moment nicht mal, denn es musste eine lange Zeit zurückliegen.
,,Ich habe hier ein Brötchen mit Schinken und Käse, weil ich nach der langen Fahrt Hunger hatte. Aber ich mag diesen Käse überhaupt nicht. Anstatt es weg zu schmeißen, wollte ich fragen, ob Sie es nicht für mich essen wollen?“
Behutsam hielt sie ihm ein großes, belegtes Brötchen entgegen und lächelte ihn wieder an. Skeptisch blickte er zu ihr auf, doch diese strahlenden Augen konnten nicht lügen. Dankbar griff er nach dem Essen und noch bevor er es in seinen Mund stecken konnte, knurrte sein Magen. Verlegen schielte er zu der alten Frau, die jedoch noch immer freundlich lächelte und ihn amüsiert ansah.
,,Es hat mich sehr gefreut.“ Verabschiedete sie sich und wandte sich zu einem alten Mann in dunkler Uniform. Es musste ein Schaffner sein, was er an der Schaffnersmütze erkannte.
Mit ihrer kleinen Reisetasche ging sie zu dem Mann herüber, hakte sich bei ihm ein und spazierte mit einem Lächeln auf den Lippen aus dem Bahnhof.
Überrascht sah sich der Obdachlose um. Plötzlich fielen ihm all die Menschen auf dem Bahnhof auf, während er sich noch einmal zu der Frau mit dem Kopftuch umdrehte, doch sie war bereits verschwunden. Er wandte sich wieder seinem Brötchen zu und schluckte jedes Stück ohne Kauen herunter.
Währenddessen tanzte ein junges Mädchen mit rötlichen Locken und einer zarten Porzellanhaut an ihm vorbei. Ihre schwungvollen Bewegungen stimmten mit ihrer graziösen Haltung überein. Für einen kurzen Moment musste er innehalten und ihr beim Vorbeilaufen zusehen, weil es so lieblich aussah. Als er den Blick für einen kurzen Moment von ihr abwand, bemerkte er, dass er nicht ihr einziger Beobachter war.
Ein junger Mann mit aschblondem Haar und vielen Sommersprossen im Gesicht schlich ihr schüchtern hinterher und hoffte darauf, dass sie ihn bemerkte. Bei jeder Drehung des Mädchens zuckte der junge Mann voller Vorfreude zusammen. Einige Meter von dem Obdachlosen blieb die junge Dame stehen und sah sich um. Scheinbar kam sie aus reichem Haus, denn ihr rosafarbener Rock und der beige Wintermantel waren aus feinen Stoffen genäht. Auch ihre zierliche Reisetasche war aus robustem, teuerem Leder. Vermutlich war sie noch nie alleine mit dem Zug gereist, da sie in diesem Augenblick etwas verstört ihren Blick über die Menschenmenge schweifen ließ.
Jedoch stand ihr Held direkt hinter ihr und tippte zaghaft auf ihre Schulter. Er trug eine ähnliche Uniform wie der Mann, der die Frau mit dem blauen Kopftuch begleitet hatte. Womöglich waren sie beide Zugbegleiter. Erschrocken wirbelte sie herum und sah in die hellblauen Augen des Fremden. Der Obdachlose erahnte, dass sie nur wenige Jahre auseinander waren. Dennoch war sichtbar, dass der Junge nicht so alt war wie die junge Dame. Zwar konnte er aus dieser Entfernung das Gespräch nicht mit verfolgen, trotzdem musste er über die Schüchternheit der Jugend lächeln. Beide Parteien waren sowohl fasziniert von dem Unbekannten, als auch verängstigt vor der Verantwortung sich selbst schützen zu müssen.
Willkommen in der Wirklichkeit!, dachte der Obdachlose stirnrunzelnd.
Sie strich sich eine einzelne Locke hinter das linke Ohr und er rieb sich ständig die Hände. Dabei lachten beide verlegen und redeten über belanglose Dinge, bis sie sich entschieden, ihren Weg gemeinsam fortzusetzen.
Verliebt warfen sie sich verstohlene Blicke zu, über die der Obdachlose nur lachen konnte.
An diese Zeiten erinnerte er sich nicht mehr, doch das Gefühl wurde erneut in ihm wach. Das Gefühl, das die Wärme in seine Seele brachte und ein Kribbeln in seinem gesamten Körper hinterließ. Mal wurde ihm kalt, denn ein fremder Schauer überfiel ihn. Mal wurde ihm warm, denn der Gedanken an eine wunderschöne Frau ließ die Sonne auf seiner Haut brennen.
Nachdem er sein Essen genüsslich verschlungen hatte, lehnte er sich erschöpft an die Wand in seinem dunklen Versteck und schaute sich ein letztes Mal um. Wie jede Nacht trieben sich vereinzelt düstere Gestalten auf dem Bahnhof herum, jedoch beachtete er sie nicht weiter. Solange man sie in Ruhe ließen, interessierten sie sich nicht für einen schmutzigen Obdachlosen, der ermüdet in einer Ecke hockte, um sich vor der Winterkälte zu schützen.
Ja. Ich bin nichts weiter als ein einfacher Obdachloser, für den es im Moment keine Verwendung gibt. Vor langer Zeit war ich ein erfolgreicher Geschäftsmann, nach dem viele Menschen in meiner Branche geschmachtet haben. Aber jetzt sitze ich in einem verlassenen Bahnhof Londons und lasse mir aus Mitleid Essen von alten Frauen kaufen. Alte Frauen, die selbst genügend Probleme haben und denen ich früher nicht mal über die Straße geholfen hätte. Und heute bin ich selbst so eine bemitleidenswerte Person, die ich früher verachtet habe. Interessant, wohin uns das Leben manchmal führt…
Innerlich lachte er über sich selbst, zog ein paar alte Zeitungen an sich heran, mit denen er sich zudecken konnte und schloss seine Augen. Gekonnt verdrängte er die eisige Kälte in dieser Dezembernacht und rückte immer weiter in die dunkle Nische hinein, die ihm Schutz gewähren sollte.
In seinem unruhigen Traum tauchten immer wieder die strahlenden Augen mit dem ehrlichen Blick der alten Frau auf. Von ihrem herzlichen Lachen musste er selbst lächeln und die gierigen Augen des jungen Pärchens brachten ihn zum Schmunzeln.
Auch in seinem Schlaf hielt er den jugendlichen Leichtsinn für berechenbar und ahnte ein jähes Ende. Doch erneut tauchte das Gesicht der alten Dame mit dem auffälligen Kopftuch auf, die zu ihm sprach:
,,Ist es nicht wunderbar, was die Liebe in uns für Gefühle und selige Gedanken weckt? Das Leben hält für uns immer wieder Überraschungen bereit. Wir dürfen nur die Hoffnung nicht aufgeben.“
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2010
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