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Ohne jede Spur

Die Auffahrt war von abgestorbenem Unkraut überwuchert. Den Kies darunter konnte man kaum noch erkennen. So wenig wie das Haus, das sich tief im verwilderten Garten verbarg.

Jamie schob zögernd den Schlüssel ins Schloss des Tores. Sie fror und das kam nicht allein vom kalten Wind. Vielmehr drang das Gefühl der Kälte direkt aus ihrer Brust, lief ihren Arm hinunter und tropfte zäh von ihren Fingern. Sie wollte nicht hier sein … Wollte nicht daran erinnert werden, wie glücklich sie hier einmal gewesen war.

War das wirklich erst drei Jahre her? Es fühlte sich an wie ein anderes Leben.

Jamie legte beide Hände um den großen Schlüssel, der im Schloss knirschte und sich nur langsam drehen ließ. Damals war es nicht mehr dazu gekommen, dass ein automatisches Öffnungssystem installiert wurde, also musste sie den Torflügel selbst aufschieben. Stück für Stück kämpfte sie gegen Gewicht, Ranken und ihren Widerwillen an, bis ihre Schulter weh tat und der Wagen hindurch passte. Dann fuhr sie mit traumwandlerischer Sicherheit die Auffahrt hinauf, während welkes Laub und Zweige wie Fingernägel an ihrem Auto entlang schrammten.

Am Ende tauchte das Haus zwischen den alten Bäumen auf, als hätte es einen Schritt nach vorn gemacht.

Sie hatte es vom ersten Augenblick an geliebt. Und er hatte es gewusst … Eigentlich schon, bevor er Jamie das erste Mal herbrachte. Die Villa war über hundert Jahre alt, sie hatten zusammen alles dafür getan, ihren verwinkelten Charme wieder hervorzulocken. Jeden Schritt der Renovierung hatten sie überwacht, die antiken Fliesen aufgestöbert und die aufgearbeitete Holztäfelung bewundert. Es sollte ihr gemeinsames Heim werden, der Ort wo sie leben und eine Familie gründen wollten.

Und dann kam alles ganz anders.

Jamie parkte den Wagen vor der Tür und schaute wehmütig die Fassade hinauf. Ein kahles Spinnennetz aus wildem Wein überzog die alten Steine. Die Fenster waren stumpf und spiegelten grauen Himmel, wie blicklose Augen. Das Haus sah tot aus.

Ein Schaudern unterdrückend, nahm Jamie sich zusammen und stieg aus. Sie wollte das hier schnell hinter sich bringen. Je eher sie anfing, desto früher konnte sie wieder gehen. Also ignorierte sie ihre vernachlässigte Umgebung und eilte zur Tür, den richtigen Schlüssel schon zwischen den Fingern.

Jamie wurde, zusammen mit ein paar trockenen Blättern, in die Eingangshalle geweht. Sie segelten auf den Boden und knirschten unter den Füßen der jungen Frau, als sie die ersten Spuren seit Jahren im Staub hinterließ.

Mit schmerzhaft klopfendem Herzen schaute Jamie sich um. Wie sollte sie die Bilder aus ihrer Erinnerung nur mit dem traurigen Anblick, der sich ihr hier bot, in Einklang bringen? Sicher, es war noch die Halle mit dem Mosaikboden. Aber so düster kannte sie sie nicht. Die Lüster des Kronleuchters über ihr, die früher kleine Regenbögen an Decke und Wände geworfen hatten, waren grau geworden und das Buntglasfenster an der Treppe, das einmal wie ein Kästchen voller Edelsteine gefunkelt hatte, war so trüb, dass sich seine Farben kaum noch unterscheiden ließen.

Auch ihre zögernden Schritte auf dem Steinboden kamen Jamie anders vor, hohl klangen sie im Raum wieder. Der Geruch von Staub und Vernachlässigung hing in der Luft, wo es früher nach … Ja, nach was? Auf jeden Fall hatte es anders gerochen. Lebendiger. Es tat Jamie weh, ihr früheres Traumhaus so zu sehen.

Langsam trat sie durch eine Tür, in den nächsten Raum. Hier war vor drei Jahren der Mittelpunkt des Hauses gewesen. Dicke Teppiche, holzvertäfelte Wände und eine Sofalandschaft hatten bereitgestanden, um Familie und Freunde willkommen zu heißen.

Heute waren die teuren Teppiche aufgerollt und beiseite geschoben, die Möbel unkenntlich unter den weißen Tüchern, die sie vor Verschmutzung schützen sollten bis ihre Besitzer wiederkamen.

Nur waren die nicht wiedergekommen.

Jamies Blick glitt über all das. Sie musste schlucken, doch dann straffte sie die Schultern. Es war Vergangenheit, sie hatte damit abgeschlossen. Ein Teil ihres Lebens, der endgültig hinter ihr lag. Sie war nur gekommen, um die Papiere zu suchen die das offiziell machen sollten.

Als sie sich abwenden wollte, entdeckte sie plötzlich den Flügel. Durch die einheitlichen Abdeckungen war er erst untergegangen, doch seine Form war zu vertraut und stach zwischen den anderen Möbeln hervor.

Ehe Jamie merkte was sie tat, ging sie auf ihn zu. Sie zögerte noch kurz als sie das Laken berührte, weil sie wusste welche Geister darunter lauerten. Aber sie konnte nicht anders und schlug es zurück.

Er sah genauso aus wie früher … Bis auf einen kleinen Unterschied. Der Deckel war nie zugeklappt gewesen. Jamie ließ die Finger über seine glatte Oberfläche gleiten, hielt inne und legte schließlich die Tasten frei.

Weiße Unschuld und schwarz wie der Tod. Zaghaft legte Jamie einen Finger auf eine schwarze Taste, um ihre Kälte zu spüren.

Bildete sie sich das ein, oder vibrierte sie tatsächlich? Aber nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich zitterte nur ihre Hand.

Mit einem Mal schien sich die allgegenwärtige Stille der alten Villa zu vertiefen. Es war als würden ihre Mauern auf etwas warten, einer Melodie nachlauschen die längst verklungen war, die sie jedoch hoffte nun wieder zu hören.

Jamie zog die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. So ein Unsinn. Es war nur ein Haus, angefüllt mit zerschlagenen Hoffnungen und Staub. Sie durfte jetzt nicht anfangen durchzudrehen.

Dennoch meinte sie zu spüren, wie die Erwartung der Villa sich immer weiter aufbaute und sich wie ein Metallring um ihre Brust legte, bis sie das Gefühl hatte nicht mehr atmen zu können.

Heftig schlug Jamie das Klavier zu und rannte hinaus in die Halle, wo der Knall und der Missklang der Saiten wie Donner von den Wänden wiederhallten und in alle Winkel drangen.

„Der Krach könnte Tote aufwecken.“

Das sagte er damals und schmunzelte dabei, als er ihr diesen Effekt zum ersten Mal vorführte. Von einem bestimmten Punkt des Labyrinths aus, das das Bodenmosaik bildete, sollte man angeblich sogar jeden Ton hören können der im Haus gesprochen wurde. So besagte es zumindest die Legende.

Jamie erinnerte sich genau an seinen Gesichtsausdruck, als er das erzählte. Das Funkeln seiner Augen. So voller Neugierde und Begeisterung es mit ihr auszuprobieren und diese Stelle zu finden.

Es kostete Jamie viel Kraft, die Tränen zurückzudrängen und ihre zu Fäusten geballten Hände wieder zu entspannen. Na schön, sie hatte sich also etwas vorgemacht als sie meinte, mal eben die Papiere zusammensuchen und wieder gehen zu können, ohne dass es sie zu sehr mitnahm hier zu sein. Wie sollte das auch funktionieren, wenn alles und jedes hier sie an ihn erinnerte? Sie hätte es schon daran erkennen müssen, dass sie die Fahrt so lange wie möglich hinausgezögert hatte, unterwegs auch noch trödelte und hielt um etwas zu essen. Auf die Art war sie zwei Stunden unterwegs gewesen, auf einer Strecke die eine halbe dauerte. Draußen wurde es bereits dunkel. Selbst wenn sie die Papiere sofort fand, wäre sie nicht wie verabredet vor sieben bei Robert.

Vielleicht war es besser, sie rief ihn gleich mal an. Eine menschliche Stimme zu hören würde ihr helfen sich wieder in den Griff zu bekommen.

Wie immer dauerte es eine Weile bevor er ans Telefon ging, obwohl er es wahrscheinlich in Reichweite hatte.

„Jamielein, was gibt es? Hast du alles gefunden, auch die Geburtsurkunde?“, hakte er sogleich nach.

„Ähm … Nein, ich bin später losgefahren als geplant und eben erst angekommen. Deswegen rufe ich an, ich …“

„Aber Jamie …“, unterbrach er und sie hörte ihn vernehmlich seufzen. „Wir brauchen diese Papiere morgen vor Gericht! Ich wäre selber gefahren, aber der Termin kam dazwischen und du hast gesagt du schaffst das!“

„Das tue ich ja auch!“

„Du weißt doch, ich muss mich auf dich verlassen können“, fuhr er fort als hätte er sie gar nicht gehört. „Bei der Doppelbelastung, als Anwalt und Leiter der Firma, geht das nicht anders!“

Jamie fuhr sich über die Stirn und fragte sich, ob es zwischen ihnen immer so sein würde. Klar, er war mehr als zehn Jahre älter als sie, reifer, erfahrener. Aber sie mochte es nicht sich wie ein gemaßregeltes Kind zu fühlen.

„Du hast die Papiere ja auch morgen. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich mich verspäten werde und es nicht bis sieben Uhr zu dir schaffe.“

„Hm“, machte er. Jamie hörte Papier rascheln und wusste, dass er bis zum Hals in Arbeit steckte. Sie konnte es förmlich vor sich sehen, wie er mit abwesendem Blick in einer Akte blätterte.

„Robert“, sagte sie, um ihn an das Telefon an seinem Ohr zu erinnern.

„Ja, ist gut, ich weiß Bescheid. Meinst du, dass du es bis acht schaffst? Musst du noch mal nach Hause?“

„Nein, ich hab die Tasche im Wagen und komme dann direkt zu dir. Bis später.“

„Hmhm“, meinte er und sie wusste, er war schon wieder in die Akte vertieft. Seufzend klappte Jamie ihr Handy zu. Nicht, dass sie ein Hab dich lieb erwartete. Aber ein Wiedersehen ab und an wäre zu schön.

Aber sie sollte froh sein. Robert war immer ein guter Freund gewesen, eine verlässliche Stütze. Er hatte sich um alles gekümmert, nachdem …

Jamie riss sich zusammen, bevor ihre Gedanken erneut zu weit in die Vergangenheit abdriften konnten. Sie brauchte diese Papiere und dann wollte sie so schnell wie möglich hier weg.

Entschlossen stieg sie die geschwungene Treppe hinauf, vorbei an dem bunten Fenster das einen baumumstandenen See mit Schwänen zeigte, auch wenn sie das Motiv nur noch an den Konturen erkannte.

Im Flur des ersten Stocks waren zum Glück alle Türen geschlossen. Das machte es leichter. Jamie ging zu der die ins Arbeitszimmer führte und drückte sie auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde war es ihr, als wäre hier alles wie früher. Die warmen Erdtöne an den Wänden. Die Regale, hinter dem ausladenden Schreibtisch, voller Bücher und Akten. Und in der Luft die unverkennbare Mischung von Sandelholz und einem Hauch Orange, die sie nur von einem Menschen kannte.

Dann zerstob die Illusion und es roch nach dem Staub, der vor ihr über das Parkett wehte, aufgewirbelt durch den Luftzug der sich öffnenden Tür.

Das Herz war ihr schwer, als Jamie ins Zimmer trat. Alles war mit Staubfängern verhängt, sogar die Regale. Die fleißigen Helfer hatten ganze Arbeit geleistet und ein Leichentuch des Schweigens über die glücklichsten Tage ihres Lebens gebreitet.

Wo sollte sie anfangen? Wahrscheinlich war das was sie suchte irgendwo im Schreibtisch.

Vorsichtig zog Jamie eine Ecke des Lakens beiseite, um an die Schubladen dahinter zu kommen. Eine nach der anderen durchsuchte sie, aber sie fand nur Briefpapier und Büro-Utensilien. Und langsam wurde es zu dunkel noch genug zu sehen, obwohl das Fenster nach Westen ging.

Jamie klopfte sich den Staub von der Hose und drückte den Schalter neben der Tür, der das Deckenlicht einschaltete. Dass der Strom abgestellt war, fiel ihr erst wieder ein als dennoch nichts passierte.

„Verdammt! Ich wusste doch, es gab einen Grund warum ich vor Sonnenuntergang wieder weg sein wollte …“, flüsterte sie. In ein paar Minuten würde sie gar nichts mehr erkennen können und in einem großen Haus voller Möbelgespenster umherirren.

Und in ihrer eigenen düsteren Erinnerung …

Sie hatte nur zwei Möglichkeiten, entweder sie versuchte den Generator in Gang zu bringen, mit dem sie schon früher kaum klargekommen war, oder sie holte sich die Taschenlampe aus dem Wagen.

Jamie entschied sich, es zuerst mit dem Generator zu probieren. Der befand sich in einem Nebengebäude, hinter der Küche.

Das Ziel klar vor Augen, lief Jamie entschlossen die Treppe hinunter und in den hinteren Teil des Hauses. Sie schaute sich nicht um dabei, weil sie fürchtete in jeder Ecke Geister aus ihrer Vergangenheit zu entdecken.

Die Tür, die von der Küche ins Freie führte, war abgeschlossen, aber an dem schweren Bund in Jamies Hand fand sich schnell der richtige Schlüssel. Sie zog sie auf und erschauderte. Jetzt, wo die Sonne untergegangen war, wurde es auch merklich kälter. Entweder das oder die verschatteten Büsche des ehemaligen Kräutergartens, die wie hockende Gestalten aussahen, jagten ihr diese Gänsehaut über den Rücken.

Jamie rannte fast an ihnen vorbei zum Generatorenschuppen. In ihrer Hast aufzuschließen ließ sie den Bund fallen, riss ihn fluchend wieder an sich und versuchte erneut die Tür zu öffnen.

Doch das Schloss wollte nicht nachgeben, egal welchen Schlüssel sie daran ausprobierte.

Frustriert verpasste Jamie der Tür einen Tritt, aber der änderte auch nichts. Wahrscheinlich hatte Robert diesen Schlüssel der Securityfirma übergeben. Und er hatte dem Sicherheitsdienst gesagt, dass heute niemand von ihnen vorbeischauen sollte, weil sie herkam. Um auszuschließen, dass sie für einen Einbrecher gehalten wurde.

Das hieß wohl, dass der Generator aus blieb. Kein Licht, keine Heizung …

„Irgendwie ist das heute nicht mein Tag“, seufzte Jamie.

Langsam ging sie um das Haus herum zurück. Es war ja nicht so, dass sie ihren Weg nicht auch im Stockfinstern finden konnte. Daran hatten die Jahre, in denen sie nicht hier gewesen war, nichts ändern können. Das Problem war nur die Dunkelheit, die ihr Sachen vorgaukelte die nicht da waren und Raum für Erinnerungen freimachte, die sie tief und sicher vergraben geglaubt hatte. Jetzt waren sie wieder da, schwammen dicht unter der Oberfläche ihres Bewusstseins und warteten nur auf einen Auslöser um aufzutauchen.

Auslöser wie das trockene Laub, das unter ihren Füßen knisterte und in der kalten Brise raschelte. Sein würziger Geruch in der Luft. Die Andeutung von Sandelholz.

Das letzte Mal, dass sie den Wandel der Jahreszeiten bewusst wahrgenommen hatte, war hier gewesen. An einem sonnigen Nachmittag im Oktober. Die Restaurierung der Villa war damals endlich abgeschlossen. Nach Zeitplan, zum Glück. Wo hätten sie sonst ihre Hochzeit feiern können die zwei Wochen später stattfinden sollte? Es war bereits alles genau geplant. Vom Brautstrauß aus Herbstblumen und bunten Blättern bis hin zur Musik. Ein Freund sollte am Klavier einspringen, denn der Bräutigam hätte genug anderes zu tun an diesem Tag.

Darüber sprachen sie damals. Hier, am Haus. Sie hatten davorgestanden und es bewundert. Ihr neues Zuhause. Das gemeinsame Heim … Er hatte sich hinter sie gestellt und seine langen Arme um sie gelegt. Sie gewärmt obwohl er wusste, dass ihr nicht kalt gewesen war.

Jamie konnte sich genau erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Wenn sie ihre Augen schloss, spürte sie noch die Stärke seiner Umarmung, seine angespannten Muskeln und die Hitze seines Körpers an ihrem.

Dann hatte er seine Wange an ihre Schläfe gelehnt. Zärtlich … Sein Atem streifte ihr Gesicht. Seine sonst so weiche Stimme war rau, als er flüsterte: „Ich kann gar nicht erwarten, dass unser Leben hier endlich richtig anfängt.“

Drei Tage später war er tot …

Jamie schluchzte.

Ihr Therapeut irrte sich. Sie selbst ebenfalls. Sie war nicht soweit und hatte es fast verarbeitet. Etwas mit dem man abgeschlossen hatte, konnte unmöglich immer noch so wehtun.

Sie versuchte sich zusammenzureißen und stolperte weiter den kleinen Pfad entlang, den der Objektschutz hier auf den nächtlichen Rundgängen ausgetreten hatte.

Als sie um die Ecke des Gebäudes kam, drang mit einem Mal ungehindert das entfernte Rauschen des Red River durch die ansonsten stille Nacht.

Jamie blieb wie angewurzelt stehen.

Der Fluss war einer der Gründe, warum die Villa hier überhaupt erbaut worden war. Erhöht gelegen und mit einer wunderschönen Aussicht auf das Wasser, über dem abends in spektakulären Farben die Sonne unterging und es bunt färbte.

Doch zu anderen Zeiten war sein Wasser schwarz wie Stein …

Jamie fuhr sich mit der Hand über die Augen, lief halb blind zu ihrem Wagen und tastete in der Fahrertür nach der Taschenlampe. Aber der kleine Lichtkegel konnte die Flut der Bilder nicht mehr aufhalten, die jetzt begannen sie zu überrollen.

Sie hatten abgesprochen, dass Jamie ein letztes Mal in ihrer kleinen Wohnung übernachtete und morgens dann mit ein oder zwei leichten Kisten und ihren Pflanzen zurückkam, den Rest würde eine Spedition erledigen. Seine Sachen waren alle schon im Haus und er musste noch arbeiten, ehe er zu Bett ging. Es würde spät werden, hatte er gesagt, es sei etwas wichtiges, aber er würde wenigstens anrufen und ihr Gute Nacht sagen.

Und sie hatte Stunden auf seinen Anruf gewartet und war irgendwann darüber eingeschlafen, das Telefon noch in der Hand.

Es war drei Uhr früh, als es schließlich klingelte und eine fremde Stimme fragte, ob ein silberner Toyota iQ auf ihren Namen zugelassen sei. Er wäre von der Straße abgekommen. Ob sie wüsste, wer am Steuer gesessen hätte?

Sie hatten die Wagen getauscht, wegen der Kisten … Mit dem Jeep wäre es vielleicht nicht so weit gekommen, er wäre vielleicht nicht …

Weiter wagte Jamie damals nicht zu denken, als sie mit seinem Fahrzeug zur Unglücksstelle jagte.

Die Suchscheinwerfer von Polizei und Feuerwehr hatten die Stelle, an der das Auto kopfüber mitten im Fluss lag, in helles Licht getaucht damit die Taucher genug sehen konnten. Das Wrack war vollständig untergegangen und kaum zu erkennen. Kleine Wirbel braunen Wassers markierten die Stelle wo es sich befand. Der Red River hatte Hochwasser, er zerrte an den angeleinten Männern, die tauchten und nach Lebenszeichen suchten.

Jamies Herz krampfte sich bei dem Anblick zusammen. Warum nur war er mitten in der Nacht losgefahren? Wo wollte er hin?

Einer der Helfer versuchte ihr fürsorglich eine Decke umzulegen, doch sie wehrte ihn ab und der Stoff rutschte ihr ungehindert von den Schultern.

Der letzte Taucher kam schließlich vom Grund des Flusses hoch und schüttelte stumm den Kopf, in der Hand ein schlammiges dunkles Bündel. Seine Lederjacke.

Der Wagen war leer, die Strömung stark. Schon dass die Jacke sich an den Sitzen verfangen hatte war ein halbes Wunder, sagten die gesichtslosen Menschen um Jamie. Vielleicht war er ja rausgekommen und abgetrieben, vielleicht hatte jemand ihn flussabwärts herausgefischt. Sie würden auf jeden Fall sämtliche Krankenhäuser anrufen, den Fluss absuchen und …

Jamie hörte den Stimmen nicht länger zu, denn sie kannte die Wahrheit. Sie konnte es fühlen. Schon in dem Moment als das Telefon in ihrer Hand zu klingeln anfing hatte sie gespürt, dass ihm etwas zugestoßen war. Seitdem war das Gefühl immer schlimmer geworden, als ob sich eine große Faust um sie schloss und ihren Atem abschnürte. Jeder Herzschlag war wie ein Stich in ihrer Brust. Und hier auf der Brücke fühlte es sich an, als wenn …

Das Letzte was Jamie sah, ehe die Finsternis sie verschluckte, waren die verlöschenden roten und blauen Lichter von Polizei und Feuerwehr.

Jamie fand sich im Hier und Jetzt, auf Knien in der Eingangshalle ihres ehemaligen Traumhauses, wieder, das Gesicht nass von verzweifelten Tränen. Als sie seinerzeit wieder zu sich kam, in der Klinik, war die Schwärze ein Teil von ihr geworden, in sie hineingeschmolzen und hatte sich tief in ihre Seele eingebrannt. Zwei Wochen hatte sie im Krankenhaus verbracht, weil die Ärzte fürchteten sie könnte versuchen sich etwas anzutun. Ein gebrochenes Herz war bis zu dem Moment nichts weiter als eine Redewendung für Jamie gewesen. Aber sein Tod hatte das geändert.

Selbst jetzt konnte sie die Splitter in ihrer Brust aneinander reiben fühlen. Der Schmerz mit dem sie lebte war wie eine Flamme, die sie innerlich auffraß und nur ihre leere Hülle zurückließ. Ein menschlicher Jack O’Lantern … Bloß dass ihr Gesicht kein Lächeln zeigte.

Was war damals passiert … Wohin wollte er, mitten in der Nacht? Und was war geschehen, dass er die Kontrolle verlieren konnte und ihr Wagen das Brückengeländer durchbrach?

Ihr auf diese Fragen eine Antwort zu geben, dazu war bis heute niemand in der Lage. Aber noch weit schlimmer war, dass man ihn nie gefunden hatte … Sein Leichnam blieb verschwunden, obwohl die Polizei über ein Jahr ermittelte und suchte.

Bevor nicht die sterblichen Überreste gefunden waren, war ein Fall offiziell kein Todesfall, sondern nur eine Vermisstensache. Für Jamie machte das alles noch schwerer. Er war tot, da war sie sich sicher. Was hätte ihn sonst davon abhalten können zu ihr kommen?

Aber das diesen Bürokraten zu erklären … Die hatten getan, als wäre er nicht verunglückt sondern untergetaucht. Sie hatten seine Lebensverhältnisse überprüft und waren erst zufrieden als klar wurde, dass er eine aufstrebende Softwarefirma leitete, weder Schulden gemacht noch Verbrechen begangen hatte und scheinbar in einer sehr glücklichen Beziehung lebte.

Jamie war sich bei dieser Untersuchung vorgekommen, wie ein interessantes Insekt unter einer Lupe.

Doch so langsam kam jetzt Bewegung in die Sache, aus diesem Grund morgen der Termin vor Gericht. Deswegen war sie auch hier. Robert brauchte die persönlichen Unterlagen, um ihren Verlobten nach drei Jahren vorzeitig für tot erklären zu lassen, statt die gesetzliche Frist von sieben Jahren abzuwarten. Vielleicht konnte sie ja dann endlich damit abschließen … obwohl der Schmerz wahrscheinlich nie ganz verschwinden würde.

Robert hatte sich in der Zeit nach dem Unfall um alles gekümmert. Um sie, um die Firma … Sogar um eine Beerdigung, auch wenn der Sarg leer blieb. Er hatte gemeint, Jamie brauche einen Ort an den sie gehen konnte, aber sie hatte einen Friedhofsbesuch in den letzten drei Jahren genauso wenig über sich gebracht, wie in dieses Haus zurückzukommen.

Zumindest bis heute …

Taumelnd stand Jamie auf und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über das Gesicht. Sie versuchte tief durchzuatmen. Aber der erste Versuch klang jämmerlich nach einem zittrigen Seufzer.

Plötzlich klingelte ihr Handy, ein fremdartiges Geräusch in der stillen Halle das sie zusammenzucken ließ.

Robert … Verdammt, wie lange hatte sie hier gesessen und sich von Erinnerungen heimsuchen lassen? Sie ging dran und er klang genau so, wie sie es erwartete.

„Jamie, kannst du mir mal sagen wo du bleibst? Ich dachte, du würdest nur Aidans Papiere holen und dann herkommen, um seinen Todestag nicht allein verbringen zu müssen! Jetzt sitze ich hier und warte, es wird acht, es wird neun und wer immer noch nicht da ist bist du!“

„Robert, ich …“, Jamie holte nochmals tief Luft und hoffte, dass er nicht gehört hatte wie ihre Stimme zitterte.

„Nein, vergiss es. Ich bin schon unterwegs, offenbar findest du die Papiere alleine ja nicht. Warte einfach auf mich.“

Damit legte er auf und ließ sie in der ohrenbetäubend stillen Halle stehen.

„Dann weiß ich wirklich nicht warum ich überhaupt hier bin …“, flüsterte Jamie und klappte das Handy wieder zu.

Zugleich flammte mit einem Mal der Kronleuchter auf. Die Wandlampen ebenfalls, wie kleine Sonnen strahlten sie um die Wette, wurden immer heller.

Jamie schrie vor Schreck auf und machte einen Satz.

Da sich sonst nichts weiter tat, versuchte sie es mit Logik – wahrscheinlich hatte jemand den Generator zum Laufen gebracht … -, aber sie wusste sehr gut, dass außer ihr niemand da war. Einen Wagen hätte sie gehört und der Sicherheitsdienst hätte, wenn das Tor schon offen stand, ganz sicher nicht wie sonst den Weg zu Fuß in Angriff genommen.

Was zum Teufel war hier los?!

Warme Heizungsluft schlug ihr entgegen, während sie sich mit weit aufgerissenen Augen umschaute. Es sah mit einem Mal so sauber aus … Die Kristalle am Kronleuchter funkelten im hellen Licht.

Ein Geräusch ließ Jamie wieder zusammenzucken. Es kam von rechts, aus dem Wohnzimmer, und es hörte nicht auf.

Jemand spielte Klavier … Eine leichte, sehr traurige Tonfolge, voller Gefühl und Bedauern, erfüllte die Halle.

Jamie schlug die Hand vor den Mund, aber ihr Stöhnen entwich trotzdem. Sie kannte diese Musik!

Sie gab sich einen Ruck, lief hinüber zum Durchgang ins Wohnzimmer und traute ihren Augen nicht. Es sah genauso aus wie an dem Abend als sie ihren Verlobten verlassen hatte, um die letzte Nacht in ihrer alten Wohnung zu verbringen. Keine Staubfänger mehr, die Teppiche ausgerollt, im Kamin brannte ein heimeliges Feuer. Und das Klavier spielte von ganz allein die Melodie, die er für sie geschrieben hatte.

Das konnte nicht sein. Das musste ein Traum sein … Ein schlechter Scherz, ein böser Spuk …

Jamie wich zurück. Einen Schritt, einen zweiten. Dann fuhr sie herum und lief, aber weit kam sie nicht. Ihre Füße verhedderten sich in etwas Weichem und sie fiel auf die Knie. Fiel sanft, auf eins der großen Staubfängerlaken, das zusammengeknüllt unter ihr lag.

Jamie keuchte wie nach einem Marathonlauf, das Herz schlug ihr wild von innen gegen die Rippen. Dann sah sie sie. Nur ein paar Schritte weiter.

Es war wieder still geworden, aber Jamie merkte das gar nicht mehr. Sie starrte nur auf das silbrige Funkeln. In ihren Ohren begann es zu rauschen.

Das musste sie doch träumen. Es konnte nicht sein. Weil diese Ringe da, vor ihr auf dem Boden, in Wahrheit in einem Grab lagen. Im ansonsten leeren Sarg, in dem der Mann hätte beerdigt werden sollen den sie liebte.

Auf allen Vieren kroch Jamie auf das Paar Eheringe zu, mit dem so viele Hoffnungen und Träume verbunden gewesen waren. Behutsam hob sie sie an, ins Licht. Las die Inschriften.

Ich liebe dich, für immer

Meine Liebe, mein Leben

Ihre Hand begann heftig zu zittern. Sie schloss sie fest um die Überreste ihrer gemeinsamen Zukunft, aus Angst sie fallen zu lassen.

Und plötzlich hörte sie die Stimmen. So deutlich, als stünden die Sprechenden direkt neben ihr …

„Wie kann das sein, dass fast zehntausend Dollar über Nacht vom Geschäftskonto verschwunden sind? Ein Konto, zu dem nur du und ich die Vollmacht haben, Robert.“

Aidan! Das war Aidan! Jamie musste sich mit einer Hand am Boden abstützen, weil ihr schwindelig wurde.

„Das ist alles nur ein Missverständnis! Das Geld wird wieder auftauchen, gib mir nur ein paar Tage, okay?“

Ein Schnauben erklang, das Jamie schmerzlich vertraut war.    

„Es ist nicht das erste Mal. Ich habe mir die Bücher des letzten Jahres angesehen. Wie lange geht das schon, Rob? Mein FREUND und GESCHÄFTSPARTNER. Wie lange betrügst du mich und die Firma schon?“

„Aidan, um Himmels willen … Ich schwöre dir, du kriegst es zurück. Plus Zinsen!“

„Mich interessieren deine Zinsen nicht, Robert. Ich kann dir nicht mehr trauen. Du wirst aus unserem Vertrag aussteigen und ich zahle dich aus. Natürlich nur den Rest. Die vereinbarte Summe abzüglich dessen, was du bereits beiseite geschafft hast. Wir sind geschiedene Leute, ich will dich nicht noch mal in meiner Firma sehen.“ Schritte erklangen über Jamie, im Arbeitszimmer.

„Du machst einen großen Fehler …“, zischte Robert. Ein Klirren war zu hören, darauf ein dumpfer Schlag. Jemand stöhnte, dann fiel etwas schwer zu Boden. Jemand … Jamie presste eine Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken.

„Du wärst besser auf meinen Vorschlag eingegangen“, sagte Robert eiskalt. Dann ächzte er, als würde er ein großes Gewicht heben. Wieder Schritte, diesmal in Richtung Treppe.

Einen Augenblick lang dachte Jamie an Flucht, aber dann wurde ihr bewusst, dass ihr keine Gefahr drohte. Was sie hörte war vor langer Zeit geschehen. Genau heute vor drei Jahren. In der Nacht, in der der Mann den sie liebte spurlos verschwunden war.

Schwerfällig tapste jemand die Treppe hinunter, doch niemand war zu sehen als Jamie sich umwandte. Sie konnte dennoch nicht anders als den Geräuschen mit den Augen zu folgen, die Finger immer noch hart auf ihren Mund gepresst, um jeden Laut zu unterdrücken.

Robert … Der gute Freund, den ihr Verlobter schon länger kannte als Jamie. Investor in die Firma, dafür großzügig belohnt, als sie sich entwickelte und gedieh. Robert, der immer für sie da war … Zwar von oben herab, aber für Jamie, die keine Familie hatte und mit der Liebe ihres Lebens auch allen Lebenssinn verlor, eine wirkliche Stütze. Robert, der sie sogar einstellte, weil sie nach dem ungeklärten Verschwinden so lange krank war und deswegen ihre Arbeit verlor. Fast mittellos wurde, denn ohne Hochzeit und Testament stand ihr nichts von dem Vermögen zu, nicht das Haus und schon gar nicht die Firma, die nun seit drei Jahren Robert als Interimsmanager verwaltete. Er hatte in den Unterlagen kein Testament gefunden. Sagte er …

Der gute Robert. Der sich so dafür einsetzte, dass sein Freund, den er dem Klang nach gerade bewusstlos die Treppe herunter trug, für Tod erklärt wurde. Um es Jamie leichter zu machen, wie er meinte. Dass Robert als Teilhaber dadurch jedoch auch die Firma ganz in seine Hände bekam, wie sie wusste, hatte er ihr gegenüber nie angesprochen!

Füße quietschten auf dem Steinboden, überquerten das Labyrinth und wandten sich zum hinteren Flur.

Jamie riss überrascht die Augen auf. Sie hatte angenommen, sie würden zur Haustür hinaus gehen, immerhin hatte ihr Wagen im Fluss gelegen. Aber wenn das nicht so war, wo …

Ein kaum hörbares Stöhnen erklang.

„Keine Sorge, ich weiß ein schönes Plätzchen für dich“, antwortete Robert, als sei es eine Frage seines Freundes gewesen.

Mit hämmerndem Herzen wurde Jamie klar, warum niemand ihn hatte finden können. Er war nie auch nur in die Nähe des Flusses gekommen. Robert hatte es so aussehen lassen, hatte ihren Wagen versenkt und zuvor die Lederjacke darin deponiert, damit alle dachten es sei ein Unfall gewesen. Das Hochwasser hatte ihm in die Hände gespielt und das Fehlen einer Leiche erklärt.

Dabei hatte er dieses Haus nie verlassen …

Tränen würgten Jamie und rannen heiß ihre eiskalten Wangen hinab. Tropften auf ihre Hand, die die Ringe so hart umklammerte, dass sich ihre Form auf Jamies Handfläche abzeichnete.

Er war hier gewesen, all die Jahre … War hier gestorben und begraben und sie hatte es nicht gewusst. Niemand war Zeuge geworden, keiner hatte es damals gehört. Außer diesem Haus und das vergaß offenbar nicht.

Die Tür zum Keller, irgendwann hätte sie geölt werden sollen, quietschte. Jamie beugte sich vor, sie hatte Angst, dass von dort unten kein Geräusch bis ins Labyrinth getragen würde. Doch sie irrte sich.

Ein dumpfer Aufschlag – Robert hatte ihn fallen lassen. Ein nachhallender Laut, als hätte etwas gegen einen großen, hohlen Gegenstand geschlagen. Das konnte nur der Heizkessel sein, sonst war nichts da unten. Bis auf …

Jamie schloss gequält die Augen und biss sich auf die Lippen. Eine Wand war gezogen worden dort im Keller und Baumaterial war übrig … Alles mögliche, das später weggeräumt werden sollte.

Eine Weile wechselten sich Rascheln, Knirschen und andere Geräusche die Jamie nicht zuordnen konnte ab, dann ertöne ein boshaftes Lachen.

„Ja, werde wach, los! Hier findet dich so schnell keiner. Heute kommt niemand mehr her und die nächsten Nachbarn sind weit weg. Selbst wenn du schreien könntest mit dem Tuch, würde es nicht gehört. Ach, versuchst du dein Glück an den Knoten? Probier es ruhig, die ziehen sich nur fester! Und das Rohr kriegst du auch nicht aus der Wand, aber mach ruhig! Je mehr du dich anstrengst, umso schneller verbrauchst du den Sauerstoff. Du hast ein paar Stunden im besten Fall. Nur noch die letzten Steine …“

Der unartikulierte Hilfeschrei, der erklang, zerriss Jamie das Herz. Wie gern wäre sie aufgesprungen und ihm zu Hilfe gekommen, aber sie war um Jahre zu spät. Sie konnte nichts mehr für ihn tun …

Sie bekam kaum noch mit, wie Robert sein Werk beendete, sie lauschte nur darauf die Stimme noch einmal zu hören, die sie so vermisste. Sie glaubte ihn weinen zu hören und weinte stumm mit ihm. Meinte ihren Namen zu verstehen, verzerrt und halb vom Knebel verschluckt. Dann wurde mit einem schleifenden Ton der letzte Stein eingesetzt und Jamie sank schluchzend in sich zusammen, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihn weiter zu hören und der Angst, so seinen grausamen Tod mitzuerleben. Denn das hatte sie schon, damals auf der Brücke und noch einmal glaubte sie es nicht ertragen zu können.

Wenn es stimmte und sie tatsächlich gespürt hatte als er starb … dann hatte er noch fast sechs Stunden gelitten, ehe er langsam erstickt war …

Sechs Stunden.

Jamie stand auf. Zuerst setzte sie langsam einen Fuß vor den anderen, aber dann immer schneller. Zum Schluss rannte sie, so schnell sie konnte, hinab in den Keller. Zu ihm.

Es war lange her, dass sie hier unten gewesen war, aber sie hatte eine Ahnung wo sie suchen musste. Und tatsächlich, die seltsame kleine Nische hinter dem Heizkessel, hüfthoch und nicht tiefer als eine Armlänge, war zugemauert.

Wie sehr musste er verschnürt worden sein, dass er die Wand nicht hatte eindrücken können?

Die Steine waren zu dünn verfugt, nicht sauber gelegt. Jamie fackelte nicht lange. Sie nahm eins der Rohre, die in der Ecke lagen, und fing an auf die Wand einzudreschen, auf die Kanten der Steine einzuhämmern, um einen zu finden den sie lösen konnte. Der da! Er bewegte sich, ganz wenig.

Jamie kümmerten weder Blasen an ihren Handflächen, noch das Taubheitsgefühl in ihren Armen. Das Rohr sang, während sie das Ende immer wieder gegen den Stein knallte. Stück für Stück rutschte er nach hinten, bis er nach innen kippte und verschwand.

Ein leichter Luftzug, wie ein Aufatmen, erklang aus dem Loch und ließ Jamie kurz stocken.

Nachdem der erste Stein draußen war, ging der Rest viel leichter. Einer nach dem anderen fiel polternd auf ihrer Seite zu Boden.

Leider hörte Jamie bei dem Lärm den sie machte nicht, dass jemand vor dem Haus vorfuhr. Erst als das Rohr gepackt und ihr aus den Händen gerissen wurde, fuhr sie herum. Und wurde von Robert überragt, der sie mit einem mörderischen Funkeln in den Augen taxierte.

„Was denkst du was du hier machst? Meinst du vielleicht, die Papiere sind da dahinter? Ich kann dir versichern, das sind sie mit Sicherheit nicht!“

Was sollte sie ihm antworten? Dass ihre weibliche Neugier sie dazu brachte hinter eine Mauer schauen zu wollen, von deren Existenz sie bisher nichts gewusst hatte? Dass sie ihren verlorengegangenen Bräutigam hier zu finden hoffte? Dass sie vom Haus gehört hatte, dass Robert ein Dieb, Betrüger und Mörder war?

Jamie blieb stumm, aber ihr Schweigen und ihr Gesichtsausdruck mussten Bände sprechen …

Roberts Mund verzog sich zu einem liebenswürdigen Lächeln, doch seine Augen waren so emotional wie Kieselsteine.

„Ich dachte mir fast, dass du es vielleicht irgendwann herausfindest. Du kannst ihn einfach nicht ruhen lassen. Selbst nach drei Jahren lebst du nicht wirklich … Ich hätte dich gleich mit ihm einmauern sollen.“

Jamie wollte weglaufen, aber sie war steif vor Angst und schon hatte er sie. Eine Pranke von Hand schoss vor und schloss sich um ihre Kehle, drückte zu. Sie bekam keine Luft mehr, verzweifelt begann sie auf ihn einzuschlagen und zu treten, aber er schüttelte sie nur und presste ihr fester die Luft ab. Jamie wurde es schwindelig. Schwarze Flecken begannen vor ihren Augen zu tanzen.

„Gut so, Jamielein, gleich klappst du zusammen. Dir brauche ich nicht Arme und Beine zu fesseln und aneinanderzubinden, das geht auch so. Die Wand steht fest, die drückst du mir nicht ein. Und du hast schon ein Loch gemacht, danke schön! Sobald du das Bewusstsein verlierst, werfe ich dich zu ihm rein und ihr könnt zusammen verrotten. Das wolltest du doch immer, endlich wieder bei deinem Aidan sein? Nun, den Wunsch kann ich dir erfüllen!“

Jamie wollte um Gnade bitten. Sie rang nach Luft, doch nur ein Wimmern drang aus ihrer Kehle. Ihre Gegenwehr erlahmte, bleischwer sanken ihr die Arme herab. Roberts Gesicht verschwamm vor ihren Augen, begann sich aufzulösen, als die Finsternis in ihr emporstieg und sie zu verschlingen begann.

Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, erregte ein Flimmern hinter ihm ihre Aufmerksamkeit, das Phantom einer Bewegung. Plötzlich wurde Roberts Körper hart von ihr zurückgerissen, seine Hände verloren ihren Halt und sie fiel keuchend zu Boden.

Hustend krümmte Jamie sich zusammen. Ihre Sicht wurde langsam wieder klarer, aber den Kampf vor ihr weigerte sie sich zu begreifen. Ein weißes Laken – vielleicht das aus der Halle? – wickelte sich immer wieder um Robert, widerstand seinen Versuchen es zu zerreißen. Sobald er es schaffte sich aus dem einen Ende herauszuwinden, hüllte es ihn sogleich an anderer Stelle wieder ein. Nur mir Mühe konnte er verhindern, dass es sich um seinen Hals schmiegte und ihn erdrosselte … Er begann zu schreien, vor Wut und Angst zu brüllen, riss sich für einen Moment los und rannte, rannte um sein Leben.

Jamie rollte sich schwerfällig auf die Seite und schaute ihm nach, sah zu wie er die Treppe hinauflief. Weit kam er nicht … Auf der obersten Stufe erwischte es ihn. Wie von einem stürmischen Wind hochgepeitscht, flatterte das Laken an der Seite der Treppe nach oben und griff nach ihm. Ein Zipfel umschlang seine Beine und ruckte zur Seite, er fiel über das Geländer … und es knackte, denn die andere Seite hatte sich wie eine Peitschenschnur um seinen Hals gewickelt und hielt ihn daran fest. Einen Moment zuckten und zappelten seine Beine noch, dann schwang er nur noch leicht hin und her, durch das Laken am Treppengeländer erhängt.

Schaudernd wandte Jamie sich von ihm ab.

Sie nahm sich Zeit mit dem Aufstehen, noch immer fühlte sie sich schwindelig und wacklig auf den Beinen. Einige der Blasen an ihren Händen waren aufgegangen und bluteten. Ihr Hals tat ihr weh, doch wenigstens konnte sie wieder normal atmen. Und das Loch in der kleinen Mauer zog sie magisch an.

Sie hatte noch ihre Taschenlampe, die knipste sie jetzt an und wollte in die Nische leuchten, als …

Jamie …

Langsam drehte sie sich um. Und da stand er … Der ganze Abend war verrückt gewesen, so verrückt, dass sie nicht mal daran zweifelte wen sie vor sich hatte. Ob es real war.

„Aidan“, flüsterte sie. Sprach zum ersten Mal seit Jahren seinen Namen aus. Er war genauso, wie sie sich an ihn erinnerte. Auch ihr Herz erinnerte sich und reagierte mit rasender Freude. Aber … er war tot und dort drinnen lag sein …

Bitte, schau es dir nicht an. Ich möchte nicht, dass du dich so an mich erinnerst … Es war nur eine Hülle … Er verstummte, als sie langsam auf ihn zuging.

Jamie schaute ihn sich genau an. Sie konnte zwar die Wand hinter ihm durch ihn hindurch schimmern sehen, aber zugleich war er realer als in jeder Erinnerung. Seine Stimme, die sie so vermisst hatte, war noch immer sanft und tief, wenn sie auch klang als dringe sie aus den Tiefen der Zeit zu ihr. In der Luft lag ein Hauch von Sandelholz und Orange.

„Aidan …“ Es klang wie ein Schluchzen. Jamie streckte die Hand nach ihm aus und er erwiderte die Geste, doch statt dass sich ihre Hände berührten, glitt ihre einfach in seine hinein. Er fühlte sich kühl an, wie Nebel.

Verzeih mir. Ich wollte dich nicht allein lassen. Ich wollte immer nur bei dir sein und mit dir alt werden. Wenn ich nur gewusst hätte …

„Shhh“, machte sie, doch ihre Stimme zerbrach daran. „Ist schon gut.“

Doch sie wussten beide, das war es nicht. Das würde es nie wieder sein.

Aidan zog seine Hand zurück, kam dafür einen Schritt näher, so wie früher wenn er sie in seine Arme ziehen wollte. So nah, dass sein Duft ihr in die Nase stieg. Tief atmete sie ein, spürte das Kribbeln dort, wo sie in einander glitten. Spinnwebfein war ihre Berührung. Zum Zerreißen zart und kalt vor Sehnsucht.

Ich kann nicht bleiben, Jamie, hauchte er dicht an ihrem Ohr. Ich wünsche es mir mehr als alles andere, aber es geht nicht. Ich würde zu einer verlorenen Seele werden, die an einem Ort festsitzt und Zeit und Raum vergisst, gefangen in einem vergangenen Moment Leben. Es würde dir alles nur schwerer machen. Das will ich nicht. Ich bin tot, aber du sollst leben. Bitte, tu es für mich. Verzweifle nicht an dem was passiert ist, sondern lebe! Versprich es mir …

„Ich verspreche es“, antwortete sie flüsternd. Alles. Was sollte sie sonst tun? Wie sonst konnte sie diesen Moment, den sie geschenkt bekam, begleichen?

Aidan hob die Hand und fuhr sanft über ihren malträtierten Hals, kühlte die Blutergüsse. Dann glitten seine Finger sehr viel tiefer und schlossen sich behutsam um ihr Herz.

Mit einem überraschten Keuchen schloss Jamie kurz die Augen. Seine Berührung fühlte sich nicht kalt an sondern warm, sehr angenehm. Sie konnte spüren, wie der Schmerz in ihrer Brust nachließ, die qualvolle Flamme zu einem zarten Glimmen abschwoll. Wie sie zu heilen begann. Und wie er zugleich anfing, ihr in die andere Welt zu entgleiten … Seine Gestalt wurde durchsichtiger.

Seine Lippen streiften fast unmerklich ihren Mund. Ich liebe dich. Für immer, schwor er leise. Ich werde auf dich warten, egal wie lange es dauert.

Jamie wollte ihn aufhalten, doch ihre Finger griffen ins Leere. Sie konnte ihn kaum mehr spüren. Ihre Stimme war tränenschwer als sie antwortete: „Ich verspreche dir, ich werde meinen Weg bis zum Ende gehen. Du bist meine Liebe, mein Leben. Und ich werde versuchen glücklich zu sein, für dich.“

Er lächelte traurig und küsste sie ein letztes Mal.

Als sie die Augen wieder öffnete, war er fort.

 

***

 

Vielleicht hatte es mit der beginnenden Heilung ihres Herzens zu tun, dass Jamie recht bald danach die Polizei anrufen konnte, ohne zu schluchzen. Eine tiefe Ruhe lag in ihr und sie nahm sie als das Geschenk an, das sie war.

So konnte sie ziemlich unaufgeregt und so nah an der Wahrheit wie möglich erklären, wie sie durch Zufall die Mauer im Keller, die nicht dort hingehörte, gefunden und Verdacht geschöpft hatte. Und wie Robert, der den Mord daraufhin gestand, sich aus Angst vor der Strafe das Leben nahm.

Der herbeigerufene Notarzt dagegen vermutete, dass Jamie unter Schock stand. Man fand ja nicht oft die sterblichen Überreste seines Verlobten und sah gleich darauf wie sich jemand erhängte.

Was er wohl sagen würde, wenn sie die Wahrheit erzählte? Dass die alte Villa sie willkommen geheißen und ihr Aidans Mörder genannt, Robert sogar gerichtet hatte, als er versuchte auch Jamie zu töten? Dass Aidan all die Jahre hinter dieser Mauer eingesperrt gewesen war und erlöst wurde, weil sie ihn herausließ? Wenn sie das sagte, wäre sie dieses Mal nicht nur ein paar Wochen im Krankenhaus.

Als Aidans Leichnam geborgen werden sollte, zog Jamie sich in ihren Wagen zurück und schaute an der Fassade der Villa hinauf. Viele Fenster waren jetzt erleuchtet, ein sanftes Glühen drang nach draußen und malte Lichtflecken auf das tote Laub. Jamie verspürte eine seltsame Art der Verbundenheit mit dem alten Haus, immerhin hatten sie beide den selben Menschen verloren. Was wurde jetzt wohl aus dem Gemäuer?

Ihr Blick fiel auf etwas Funkelndes, das auf dem Beifahrersitz lag. Es war ein gerolltes Blatt Papier, das von zwei Ringen zusammengehalten wurde die ihr bekannt vorkamen.

Ein Geschenk? Die Ringe hatte sie sich vorhin doch in die Tasche gesteckt …

Jamie rollte das Blatt auseinander und las. Las es wieder und wieder, weil sie nicht glauben konnte was da stand.

 

Ich, Aidan Jerome Masterson, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, vermache hiermit meinen gesamten unten näher aufgeführten Besitz meiner Verlobten, Jamie Lee Jacobs, die ich über alles liebe.

 

Die Ringe fest in ihrer Hand und die auf ihr Herz gepresst, blieb Jamie lange Zeit im Wagen sitzen und dachte an Aidan. Zum ersten Mal seit drei Jahren ohne Schmerzen, wenn auch nicht ohne Bedauern und tiefe Sehnsucht. Und endlich wieder mit einem Lächeln.

Impressum

Texte: Shannon O'Neall
Bildmaterialien: Rigor Mortis
Lektorat: Shannon O'Neall
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2016

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