Emina betrachtet wohl zum hundertsten Mal den vergilbten Zeitungsausschnitt in ihrer Hand. Diese Heiratsanzeige hat ihr Schicksal besiegelt. Diesen fremden Grafen Vardarov wird sie in Kürze heiraten, ohne ihm vorher jemals begegnet zu sein.
Zum hundertsten Mal versucht sie, in dem unscharfen Bild mehr über ihren ihr völlig unbekannten Gemahl zu erfahren. Sie sucht eine Regung. Ein Zeichen von Freundlichkeit. Von Güte. Doch da ist nichts. Ernst blickt er in die Kamera, wie es sich gehört. Alt sieht er aus. Sicher ist er schon Ende zwanzig. Und sie gerade erst achtzehn Jahre alt geworden. Beklommen fragt sie sich, was sie erwarten wird. Vor allem in jener ersten Nacht.
Ob es so sein wird wie mit dem jungen Mann von vor zwei Wochen? Er war so freundlich, so sanft … Nachts hatte er leise die Tür zu ihrer Kammer geöffnet, um hineinzuschlüpfen und sich zu ihr ins Bett zu legen. Sie wusste kaum, wie ihr geschah, als er ihr Nachthemd von der Schulter streifte und dann Dinge mit ihr anstellte … Süße Dinge, unbeschreibliche Dinge, die sie selbst jetzt noch rot werden lassen und schließlich hierher geführt haben. In diese Kutsche, auf dem Weg zu einem fremden Grafen und Ehemann.
„Denk daran, vor dem Grafen zu knicksen.“
„Ja, Tante Rosina“, murmelt Emina pflichtschuldig. Die wohl hundertste Ermahnung heute.
„Sprich nur, wenn du gefragt wirst.“
Das hat die Tante bestimmt schon zweihundert Mal gesagt.
„Und vergiss nicht, die Grüße von deinen Eltern zu überbringen. Sie wären gerne gekommen, doch leider ist das wegen dem Krieg momentan nicht möglich ...“
Das Mädchen weiß, dass das eine Lüge ist. Zwar befindet sich das Land im Krieg, aber die Ländereien ihrer Familie sind davon nicht betroffen. Ihre Eltern hatten auch nie die Absicht gehabt, sie zu begleiten. Stattdessen sind sie vermutlich froh, dass sie endlich weg von zu Hause ist – bevor der Skandal, den eine entehrte Tochter verursacht, über sie hereinbricht.
Traurig schiebt sie den Vorhang ein Stück zur Seite und blickt nach draußen. Der helle Mond beleuchtet die Umrisse eines mächtigen Berges direkt vor ihr, auf dem eine gewaltige Burganlage thront - wie ein lauerndes Untier mit rotglühenden Augen. Die Kutsche hält darauf zu und wenig später besteht kein Zweifel mehr, dass dies das Ziel ihrer Reise ist.
Bald darauf fahren sie durch das Burgtor in den düsteren Innenhof, der nur von einigen wenigen Fackeln beleuchtet wird. Sie spenden gerade genug Licht, dass Emina die gewaltigen Ausmaße erahnen kann.
Tante Rosina setzt sich aufrecht hin. "Denk daran, was ich dir gesagt habe", zischt sie.
Die Kutsche hält, der Kutscher klettert hinunter und öffnet die Tür. Langsam steigt das Mädchen aus der Kutsche.
Es ist alles still, als ob die Burg nicht bewohnt wäre ... Vielleicht ist die Pest über die Burg gekommen und hat alles Leben ausgelöscht? Vielleicht wurde der Graf überfallen und verschleppt oder getötet? Vielleicht sind sie gezwungen, nach Hause zurückkehren?
Doch ihre ohnehin vage Hoffnung wird rasch zerstört. In der Mauer öffnet sich eine Pforte. Eine große, schlanke Gestalt betritt den Burghof, dahinter folgen zwei Bedienstete mit Laternen. Der große Schatten bleibt stehen. Die Dienstboten treten näher und beleuchten den Platz, sodass Emina den Mann vor ihr betrachten kann.
Er lächelt freundlich und verneigt sich vor ihr. „Graf Vardarov, zu Euren Diensten.“ Und er zwinkert ihr dabei zu!
Sie merkt, wie ihr die Röte ins Gesicht schießt. So hat sie ihn überhaupt nicht vorgestellt. Mit dem ernsten Mann auf dem Bild in ihrer Jackentasche hat er jedenfalls kaum Ähnlichkeit.
Tante Rosina sticht ihr die spitzen Finger in die Seite. Das Mädchen zuckt zusammen und erinnert sich an ihre Pflicht. Tief verneigt sie sich vor ihm. Sie weiß, dass sie etwas sagen soll. Die Tante hat die warmen Worte des Dankes heute sicherlich hundert mal wiederholt. Doch ihre Kehle ist wie ausgetrocknet, sie ist sicher, dass sie nur ein Krächzen herausbringen wird. Deswegen bleibt sie stumm und starrt angestrengt auf die Steine, die den Hof pflastern.
„Aber ich bitte dich. Steh auf!“ Er tritt zu ihr, ergreift ihre Hand und führt sie sanft an seine kalten Lippen.
Das Mädchen erschauert. Emotionen strömen auf sie ein – Angst und Unbehagen und Scham und noch etwas anderes, das sie nicht benennen kann.
Er nimmt ihren Arm und führt sie nach drinnen - erst in eine gewaltige Eingangshalle und dann eine steile Treppe hinauf. Es geht unzählige Stufen nach oben. Sie kann kaum atmen. Seine Präsenz scheint übermächtig. Im Dämmerlicht übersieht sie eine Stufe. Beinahe wäre sie gefallen. Doch er stützt sie sofort. Sie spürt seine Stärke, seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber und weiß überhaupt nicht, was sie denken soll. Alles ist ganz anders als sie es sich vorgestellt hat.
Schließlich haben sie das Ende der Treppe erreicht. Sie weiß nicht, ob sie erleichtert sein soll oder nicht.
Der Graf führt Emina und die Tante zu einem kleinen Zimmer, in dem sich ein Porzellankrug, ein Steinbecken, parfümierte Seife und Handtücher befinden.
„Sicherlich wollt ihr euch etwas frisch machen.“ Er verneigt sich leicht, dann schließt er die Tür hinter ihnen.
„Halte dich gerade“, zischt Tante Rosina, während sie sich Wasser ins Gesicht spritzt. Sie ist noch außer Atem vor Anstrengung. Aber das hält sie nicht vom Nörgeln ab. „Du läufst neben ihm her wie ein Lämmchen auf dem Weg zur Schlachtbank. Vergiss nicht, du musst unserer Familie Ehre machen!“
Das hat Emina nicht vergessen. Aber es fällt ihr unheimlich schwer. Die Gegenwart des Grafen scheint so übermächtig. Sie taucht ihre Hände in das kühle Nass. Viel zu schnell scheucht die Tante sie wieder nach draußen.
Der Graf wartet schon auf sie. Er lächelt, seine Blicke wandern bewundernd über ihren Körper. Auf seinem Gesicht liegt ein leichtes Lächeln. Sie schämt sich wieder, aber fühlt sich auch etwas geschmeichelt. Diese Aufmerksamkeit der Männer ihr gegenüber … Das kennt sie erst seit kurzer Zeit.
Sanft ergreift er erneut ihren Arm und führt sie in einen großen Saal. Auf dem Tisch in der Mitte sind die unterschiedlichsten Speisen aufgetischt. Doch außer etwas Wein und etwas Hühnchen bringt sie nichts herunter. Tante Rosina beginnt zu reden. Sie überbringt die Grüße der Eltern, klagt über die lange, unbequeme Reise und macht ihm ein Kompliment nach dem anderen – zu seinem jugendlichen Aussehen, seinen Ländereien, seiner Burg. Währenddessen beobachtet das Mädchen verstohlen ihren zukünftigen Gemahl. Er blickt ernst zu Tante Rosina hin. Doch ganz plötzlich wendet er sich in ihre Richtung - und zwinkert ihr erneut zu! Erschrocken blickt Emina zu Boden und schielt dann wieder verschämt zu ihm hinüber.
„Ganz Recht, meine Teure.“ Er nickt wieder ernst Tante Rosina zu. Dann wischt er sich den Mund ab. Wieder kreuzen sich ihre Blicke, und diesmal schenkt er ihr ein Lächeln. Sie muss ebenfalls lächeln.
Das ist Tante Rosina nicht entgangen. Sie blickt von Emina zum Grafen. Entrüstung macht sich auf ihrem Gesicht breit. Sie öffnet den Mund, sicher um gegen diese Unschicklichkeit zu protestieren.
Da erhebt der Graf das Wort. „Du scheinst keinen Hunger zu haben, Emina“.
„Ich ...“ Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Und seine Gegenwart ist so verwirrend ...
„Sie ist müde von der Reise“, wendet die Tante schnell ein und wirft dem Mädchen einen giftigen Blick zu.
„Gewiss“, erwidert er. „Gewiss.“ Er schweigt einen Moment, um dann erneut seine Stimme zu erheben. "Ich weiß, es mag etwas unschicklich sein. Doch ich weiß auch, dass Ihr euch bald wieder auf den Weg machen wollt." Er nickt der Tante zu. "Was haltet Ihr davon, wenn wir die Zeremonie bereits heute Abend abhalten?"
Eminas Magen krampft sich zusammen. Heute Abend schon? So bald?
"Nun, das ist sicherlich nicht sehr schicklich." Tante Rosina wirkt überrascht und etwas ungehalten.
"Aber wenn die Formalitäten abgeschlossen sind, könnt Ihr euch wieder auf den Weg machen.“ Er lächelt gewinnend. „Seit gestern weht ein starker Ostwind. Ich fürchte, in ein bis zwei Tagen wird schwerer Schneefall einsetzen. Es ist gut möglich, dass Ihr dann einige Tage oder auch Wochen länger hierblieben müsst, als Ihr es vielleicht beabsichtigt."
Noch länger mit Tante Rosina? Das Mädchen fühlt sich hin und hergerissen. Die Tante ist die einzige Brücke nach Hause. Doch das ist nicht mehr ihr Zuhause. Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit ...
"Nun, ich weiß Eure Besorgnis zu schätzen“, antwortet die Tante und zieht die Stirn in Falten. Dann beginnt sich ihre Miene aufzuhellen. "Ja, warum nicht?“ Sie lächelt sogar dabei. „Habt ihr einen Priester?"
Emina zuckt zusammen. Ein Priester. Das scheint so endgültig zu sein.
Er gibt einem Dienstboten ein Zeichen. Wenig später erscheint ein großgewachsener Mann in einer schwarzen Robe.
„Ihr habt doch nichts dagegen, die Zeremonie nach hiesigem Ritus abzuhalten?“, wendet sich der Graf wieder an die Tante. Die zuckt nur mit den Schultern.
Emina ist sicher – solange sie bald wieder nach Hause kann, wird sie allem zustimmen.
"Komm, meine Liebe." Er ergreift die Hand des Mädchens, hilft ihr beim Aufstehen und geleitet sie zu einem Fenster, wo er auf mit Samt überzogene Kniebank deutet. "Knie dich darauf."
Sie gehorcht.
Er sinkt neben ihr nieder.
Der Mann in der schwarzen Robe scheint der Priester zu sein. Aber er trägt nicht die Kleidung der Kirche, die Emina von zu Hause kennt. Und er spricht auch nicht die Sprache der Kirche, sondern etwas anderes, einen tiefen, kehligen Dialekt. Das Mädchen versteht kaum, was er sagt - und sie versucht es auch nicht. Sie spürt die Gegenwart des Mannes neben ihr. Er nimmt ihre Hand in die Seine und drückt sie kurz, aber fest. Wie um ihr beizustehen. Sofort fühlt sie sich etwas getröstet. Da ist etwas zwischen ihnen – eine Verbindung, wie sie sich nicht hätte träumen lassen. Er scheint ihr nett und freundlich zu sein. Zum ersten Mal seit Wochen schöpft sie Hoffnung, dass es doch nicht so schlimm werden wird, ihn zu heiraten.
„Amen“, beendet der Priester die Zeremonie.
Sie zuckt zusammen.
Der Graf lächelte sie an. „Nun sind wir Mann und Frau.“ Er küsst sie sanft auf die Stirn. Dann nimmt er ihre Hände und hilft ihr, aufzustehen. "Meine schöne Braut. Ich denke, es ist Zeit, das wir uns zur Ruhe begeben."
Tante Rosina nickt nur und lächelt erleichtert dabei. Zum ersten Mal seit Wochen.
Er führt Emina mit sich fort. Sie schreiten durch dunkle Flure, die nur spärlich mit Fackeln beleuchtet sind. Schließlich bleibt er stehen und öffnet eine Tür. Er blickt ihr tief in die Augen, hebt sie hoch, nimmt sie in seine starken Arme und trägt sie über die Schwelle in den Raum hinein. Auf einem großen Bett mit Baldachin legt er sie nieder. Er schließt die Tür und tritt zurück an das Bett. Sie setzt sich auf. Ihr ist schlecht vor Nervosität. Sie weiß nicht, wohin sie sehen soll, was sie denken soll.
Er kniet neben dem Bett nieder, nimmt ihre Hand und beginnt, diese zu küssen. Dann beugt er sich über das Mädchen, drückt sie fest auf das Bett und beginnt, über ihr Haar zu streichen. Er löst die Verschnürung ihres Mieders, legt ihren Hals und ihre linke Schulter frei und berührt sie mit seinen Lippen.
Emina zuckt unter seinen Berührungen. Sie weiß kaum, wie ihr geschieht. „Nein“, flüstert sie. „Nein. Bitte.“
„Nur keine falsche Scham“, flüstert er, während seine Finger sie betasten. „Ich weiß, dass du schon bei einem Mann gelegen hast. Sonst hätten dich deine Eltern kaum mit mir verheiratet.“
Sie fährt zusammen. Er weiß es also. Natürlich weiß er es. Aber er ist so anders als der junge Mann. Damals war alles süß und zart und so … natürlich. Er hatte sie geküsst und gestreichelt und liebkost, aber es war nie unangenehm gewesen. Ganz im Gegenteil. Vor allem, als er … das Andere tat. Das dieses unbeschreibliche Gefühl in ihr weckte ...
Vielleicht ist es jetzt anders, weil sie mit dem Grafen verheiratet ist? Weil sie das Gefühl hat, dass Tante Rosina nicht weit ist? Weil es so endgültig ist?
Der Graf lacht leise und holt sie damit in die Gegenwart zurück „Ich sehe, dass du dich daran erinnerst. Und ich mache dir keinen Vorwurf. Ganz im Gegenteil. Wann kann schon ein einsamer, armer Provinzgraf wie ich eine Tochter aus so gutem Hause heiraten – und dafür noch eine so hohe Summe Geld erhalten? Du bist das beste, was mir je passiert ist.“ Seine linke Hand gleitet in ihren Ausschnitt, die andere weiter nach unten. Sein Griff ist so fordernd, seine Finger kneifen mehr als das sie liebkosen.
„Nein“, bricht es erneut aus ihr heraus. „Bitte nicht.“ Sie windet sich unter ihm.
Er packt sie, hält sie fest, wälzt sich halb auf sie und keucht: „Hör auf, dich zu zieren. Vergiss nicht – wir sind verheiratet. Das hier ist deine eheliche Pflicht.“
Seine Hände zerren ihr das schwere Hochzeitskleid herunter. Hilflos liegt sie in ihrem Unterkleid auf dem Bett. Wie gerne würde sie aufspringen und davonlaufen. Doch sie ist sicher, das wird er nicht zulassen.
„Entzückend.“ Er grinst, streift seine Hose ab und wälzt sich auf sie. Er ist so schwer. Seine Finger gleiten unter ihren Unterrock, er beginnt, sich an ihr zu reiben. „Eine Sache bleibt noch, bevor ich dich zu meiner Frau mache ...“, flüstert er. Dabei presst er seine Lippen fest auf ihren Hals, so dass sie seine Zähne spüren kann.
Da geschieht es. Der rote Nebel steigt auf, gegen den Emina machtlos ist, der in den letzten Wochen so oft von ihr Besitz ergriffen und sie nach Stunden der Besinnungslosigkeit voller Blut und mit einem schlechten Geschmack im Mund auf ihrem Bett zurückgelassen hat. Der rote Nebel, der wahre Grund, warum ihre Eltern sie so hastig fortgeschickt und mit dem nächstbesten, standesgemäßen Mann verheiratet haben.
Doch diesmal wehrt sie sich nicht dagegen. Sie lässt ihn kommen, denn sie weiß, er wird ihr helfen, die nächsten Augenblicke und Stunden zu überstehen.
„Was ...“ Der Graf blickt sie überrascht an und runzelt die Stirn. Emina handelt instinktiv. Sie packt den Kragen des Grafen und reißt ihn mit einem Ruck herunter. Seine Augen weiten sich vor Entsetzen, er zuckt zurück. Doch sie umschlingt ihn mit ihren Armen, presst seinen Körper an den ihren und schlägt die Zähne in seinen Hals. Das süße Blut rinnt ihre Kehle hinunter wie berauschender Wein.
Augenblicke oder Stunden später lässt sie von ihm ab, befreit sich von seinem Gewicht und steht auf. Reglos und bleich liegt der Graf auf dem Bettlaken, die Augen starren blicklos zur holzgetäfelten Decke.
In dem Moment fasst sie den Entschluss, dass sie niemals, aber wirklich niemals mehr etwas wie gerade erdulden wird. Sie schlüpft zurück in ihr Hochzeitskleid und schnürt das Mieder fest.
Dann tritt sie erhobenen Hauptes aus der Tür, bereit, sich ihrem neuen Schicksal zu stellen.
Wie wäre die Geschichte wohl ausgegangen, wenn Emina kein Vampir gewesen wäre? Besser, es nicht zu wissen.
Es gibt allerdings eine erotische Fortsetzung, enthalten in diesem Sammelband:
Ohne Erotik sind diese Geschichten ebenfalls verfügbar: "Die dunkle Burg"
Maria King - Lust in London
Ein Vampir Erotik Thriller
Leseprobe
Unsere erste Begegnung war wie ein Schock. Wie ein Eimer kaltes Wasser. Wie Schritte im Dunkeln. Zuerst hatte ich so eine Ahnung, bei der sich die Nackenhaare aufstellen und die Haut anfängt zu kribbeln. Ich blickte mich um – und da sah ich ihn.
Wir können die Präsenz der Anderen fühlen. Je älter wir sind, desto stärker ist diese Fähigkeit bei uns ausgeprägt. Da ich mit meinen dreihundertdreißig Jahren jedoch vergleichsweise jung bin, hatte er mich natürlich schon längst vor mir entdeckt.
Er stand auf der anderen Seite des an jenem Freitag Abend mit Menschen vollgestopften Piccadilly Circus und starrte mich an.
„Das ist jetzt mein Revier, Kleine“, dröhnte seine Stimme in meinem Kopf. „Du haust besser ab, sonst wirst du es bereuen.“
Es traf mich wie ein Donnerschlag. Ich taumelte und wäre sicher gefallen, wenn er sich nicht so schnell, wie er in meinen Geist gedrungen war, wieder zurückgezogen hätte. Keuchend lehnte ich mich an das Schaufenster hinter mir und starrte hinüber zur leuchtenden Reklamewand, unter der er gestanden hatte.
Doch er war nicht mehr zu sehen. Spurlos verschwunden. Als ob er sich in Luft aufgelöst hatte.
Langsam kam ich wieder zu mir. Er musste viel älter als ich sein. Auch wenn er natürlich nicht so aussah. Wie einfach er in meinen Kopf eingedrungen war ... Was mochte er alles über mich herausgefunden haben in diesem Moment? Offenbar genug, um mich nicht direkt anzugreifen. Schon einmal ein gutes Zeichen. Vermutlich hielt er mich für zu unwichtig, um mich zu vernichten. Wir Anderen mögen Unseresgleichen nicht sonderlich. Als Einzelgänger teilen wir unser Revier nur, wenn es sein muss – oder wenn wir uns etwas davon versprechen. Treffen zwei von uns zusammen, stirbt in der Regel einer von uns.
Gut. Ich war noch am Leben. Wenn man es so nennen wollte. Doch was jetzt?
Er hatte mir unmissverständlich befohlen, aus seinem Revier zu verschwinden. Doch wo mochte das sein? Gut, ich würde nicht mehr zum Piccadilly Circus zurückkehren. Aber was, wenn er auch Belgravia für sich beanspruchte? Oder ganz London?
Das ist jetzt mein Revier, hatte er gesagt. Offenbar war er noch nicht lange hier, beabsichtigte aber wohl, sich hier niederzulassen. Verdammt.
„Kann ich dir helfen?“
Ich zuckte zusammen. Ein deutliches Zeichen, wie sehr mich die Begegnung mit dem Anderen mitgenommen hatte. Normalerweise bringen mich Menschen nicht aus dem Konzept. Ein junger Mann mit Hut und dicker Hornbrille trat auf mich zu. „Alles in Ordnung?“ Er stank nach Alkohol.
„Mir geht’s gut“, wehrte ich unwirsch ab. Und dann torkelte ich los, die Piccadilly Street entlang Richtung Green Park. Es dauerte ewig. Ich hatte das Gefühl, nicht vom Fleck zu kommen. Doch mit dem Bus oder gar mit der Tube wollte ich nicht fahren. Ich fühlte mich ein bisschen schwach. Wenn wir uns schwach fühlen, haben wir uns nicht mehr unter Kontrolle. Und ein Blutbad in einem öffentlichen Verkehrsmittel war das letzte, was ich brauchen konnte. Da konnte ich mir gleich einen Pflock ins Herz bohren.
Ich schleppte mich am Green Park entlang bis zum Wellington Arch und dann nach Hause. Belgravia war die ideale Wohnstätte für mich. Das teure Botschaftsviertel stand zum größten Teil leer, die teuren weißen Häuser dienten Investoren und reichen Scheichs als Geldanlage – und als kostspieligen Zweit-, Dritt- oder Viertwohnsitz, an dem sie einmal im Jahr ein Wochenende verbrachten. So auch mein Haus nahe dem Belgrave Square.
Als ich endlich die Haustür mich zitternden Händen aufsperrte, begab ich mich sofort in den Keller und legte mich in die alte Holztruhe, die ich aus Nostalgie bezogen hatte. Der Geruch nach dem Jahrhunderte alten Holz beruhigte mich allmählich.
Da ich schon über dreihundert Jahre alt bin, brauche ich eigentlich keine langen Ruhephasen mehr. Doch gerade in dieser Nacht tat es unglaublich gut.
Meine Hände hörten irgendwann auf zu zittern. Aber sein Bild verfolgte mich. Diese großen dunklen Augen, das scharf geschnittene Gesicht mit der spitzen Nase. Ständig sah ich sein Gesicht vor mir.
Auch noch, als ich Stunden später aus der Truhe kroch und durch das Haus wandelte. Meine Hände streiften die verstaubten Plastikhüllen, die die antiken Stühle vor dem Verfall schützen sollten. Der Scheich, dem das Haus eigentlich gehörte, liebte antike Einrichtung. Oder vielleicht war er auch nie dazu gekommen, neue Möbel auszusuchen. In den letzten fünf Jahren war er lediglich dreimal dagewesen. Ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, auszuziehen. Kein einziges Mal hatte sich der Scheich, eines seiner Kinder oder gar ein Dienstbote bei seinen Besuchen in den Keller zu meiner Holztruhe verirrt.
Wie immer, wenn ich aufgewühlt war, setzte ich mich an das Klavier und begann, zu spielen. Ein Cembalo wäre mir noch lieber gewesen, aber man konnte eben nicht alles haben. Die Klänge von Bachs Toccata in d-Moll, von Rameaus Gavotte in A-Dur und natürlich der Ouvertüre zur Feuerwerksmusik von Händel entführten mich in längst vergangene Zeiten. Ich schwelgte in den Erinnerungen an rauschende Bälle und an die unvergesslichen Tanzabende, denen ich als Bedienstete beigewohnt hatte. Und an William ...
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Tag der Veröffentlichung: 10.08.2016
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