Liebe fängt man mit Geduld
Gay Romance
Jessica Martin
© Jessica Martin, September 2016
39108 Magdeburg
Cover: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de
unter Verwendung eines Stockfotos von
Romolo Tavani / www.shutterstock.com
Lektorat & Korrektur: Sabrina Wende
Die Personen und Begebenheiten in dieser Geschichte sind ausschließlich meiner Fantasie entsprungen. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Ereignissen oder Orten wären daher reiner Zufall.
E-Books sind nicht übertragbar und dürfen weder kopiert noch weiterverkauft werden.
Bitte respektieren Sie dies, denn in jedem Buch stecken viel Liebe, Zeit und Arbeit.
Über Feedback jeglicher Art freue ich mich.
Gerne können Sie mich per E-Mail oder über meine Facebook-Seite anschreiben.
JessicaMartin_Autorin@t-online.de
https://www.facebook.com/Jessica-Martin-1247811801899442
Kapitel 1
Jannis
Autsch. Mein Kopf dröhnt. Das spüre ich als Erstes, als ich zu mir komme und von zu viel Sonnenlicht geblendet werde. Ich kriege nicht mal die Augen auf. Gott, wie kann es so hell sein? Das ist es doch sonst nicht. Kein Wunder, dass ich Kopfschmerzen habe.
Das Nächste was ich spüre, ist ein warmer, weicher Körper neben mir. Vorsichtig taste ich über etwas, das ich für einen Oberschenkel halte, einen ziemlich weichen, stämmigen Oberschenkel. Ich lasse meine Hand höher rutschen und kann raue Haare fühle. Daher bin ich mir sicher, dass ich einen Oberschenkel betaste. Anschließend fühle ich Stoff, bevor ich auf weiche, schwabblige Haut treffe. Offenbar ein Bauch. Du großer Gott! Wer liegt denn hier neben mir?
Schlank ist er Typ ja nicht gerade. Gut, fett nun auch nicht, aber ... definitiv nicht der Typ Mann, neben dem ich gewöhnlich aufwache. Normalerweise sind sie drahtig und haben glatte Haut über straffen Muskeln, nicht solche weichen Kurven. Himmel, es wird doch wohl keine stark beharrte Frau sein? So besoffen kann ich nicht gewesen sein!
»Lässt du das mal?«, knurrt eine tiefe, verschlafene Stimme.
Definitiv keine Frau. Puh, Glück gehabt. Na ja, irgendwie. Ich ziehe meine Hand weg und versuche die Augen zu öffnen, aber es ist verdammt noch mal zu hell dafür. »Wer bist’n du?«, frage ich ratlos, weil ich absolut keine Ahnung habe, wer da neben mir liegen könnte. Offenbar bin ich gestern doch heftiger abgestürzt, als ich beabsichtigt hatte.
»Arschloch«, wird mir entgegen gebrummt.
»Morgen, Arschloch. Ich bin Jannis«, gebe ich genervt zurück.
Das Bett bewegt sich. Anscheinend steht der Typ auf. Wunderbar. Je eher er weg ist, desto eher kann ich die Tatsache vergessen, dass ich es offenbar mit einem Moppelchen getrieben habe. Oder besser gesagt, er mit mir, wie mein Arsch mir verrät. Fuck.
Noch ehe ich es in eine senkrechte Position geschafft habe, klappt die Zimmertür. Mit fest aufeinandergepressten Augenlidern robbe ich aus dem Bett und mache mich ebenfalls auf den Weg Richtung Wohnzimmer, stoße mir dabei jedoch ein paarmal die Zehen. Ist mein Zimmer geschrumpft, oder was? Wie viel habe ich denn gestern Nacht gesoffen?
Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich allein nach Hause gegangen bin, denn die alte Steffen aus dem ersten Stock hat mich noch zusammengeschissen, weil ich angeblich zu laut gewesen wäre, als ich die Treppen hochgestiegen bin. Aber was danach passiert ist ... Keine Ahnung. Wo habe ich denn überhaupt den Typen her?
Auf jeden Fall muss es noch heftig gewesen sein, denn der Weg durchs Wohnzimmer in die Küche kommt mir ebenfalls seltsam vor und ich stoße mir zweimal das rechte Knie an. Vielleicht sollte ich die Augen doch mal aufmachen. Auch, um zu sehen, ob der Typ noch da ist. Hoffentlich hat Marius, mein Mitbewohner und bester Freund, nichts davon mitbekommen. Der zieht mich sonst wochenlang damit auf.
»Kaffee?«, frage ich hoffnungsvoll, denn offenbar hantiert jemand in der Küche herum. Marius, wie ich vermute. Wenn nur meine Augenlider nicht so schwer wären.
»Ja, ist in Arbeit. Du stehst übrigens vorm Fernseher«, werde ich von der fremden Stimme von eben informiert. »Pass auf, da steht noch ein volles Glas Bier.«
»Hm?« Das kann doch gar nicht sein, ich wollte doch erst mal zur Couch. Mühsam öffne ich die Augen einen Spalt. Tatsächlich. Hat jemand unsere Wohnung umgeräumt? Blinzelnd schaue ich mich um.
»Alter!« Marius kommt aus dem Bad und geht kopfschüttelnd an mir vorbei. »Zieh dir mal ‘ne Hose über!«
Aus Richtung Küche ist ein Lachen zu hören. Als ich an mir heruntersehe, wird mir augenblicklich schwindelig. Ich muss mich sogar am Schrank festhalten, damit ich nicht umkippe.
»Becks? Geht’s dir gut?«, will Marius wissen.
Ich schüttele den Kopf, doch das ist keine gute Idee gewesen. »Muss gleich kotzen.« Jemand schnappt mich am Arm und zerrt mich ins Bad. Gerade noch rechtzeitig platziert man mich vorm Klo, bevor ich mir den Abend noch mal durch den Kopf gehen lasse.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, geht es mir ein wenig besser. Mein Magen fühlt sich zwar immer noch komisch an und in meinem Kopf hämmern unerbittlich kleine Männchen, aber ich habe es zwischenzeitig zumindest geschafft, meine Augen zu öffnen und mir die Zähne zu putzen.
Ehe ich mich dem Problem mit dem Moppelchen stelle, das es sich offenbar an der Theke zwischen Kochbereich und dem restlichen Wohnzimmer gemütlich gemacht hat, ziehe ich mir erst mal etwas an. Im Adamskostüm lassen sich solche Unterhaltungen ja eher schlecht führen.
»Sieht zumindest menschlicher aus«, höre ich Marius sagen.
Der fremde Typ lacht leise. »So besoffen wie er war, überrascht mich das.«
Mit einer Unterhose über dem Hintern und einem halbwegs sauberen T-Shirt an, gehe ich in die Küche und gieße mir eine Tasse Kaffee ein, während ich überlege, wie ich ihn höflich, aber bestimmt aus der Wohnung komplimentiere.
»Anstrengende Nacht gehabt?«, will Marius glucksend wissen, wobei die Frage ganz sicher an mich gerichtet ist.
Ich gieße Milch in meinen Kaffee und drehe mich dann zu ihm um. »Kann mich nicht wirklich erinnern«, gebe ich zu und sehe anschließend den fremden Typen an. »Hatten wir?«
Hässlich ist der Kerl nicht. Seine schwarzen Haare sind zwar miserabel geschnitten und stehen momentan an einer Seite leicht ab. Aber er hat stechend grüne Augen und ein hübsches Lächeln in seinem runden Gesicht. Ein Doppelkinn hat er nicht gerade, aber schlank ist er eben auch nicht. Ich schätze mal, er schleppt gleichmäßig verteilt etwa zehn Kilo zu viel mit sich herum. Moppelig halt.
Der Kerl zieht amüsiert die Augenbrauen hoch. »Du wolltest zwar, aber nein, hatten wir nicht.«
»Mein Arsch sagt mir da was ganz anderes«, informiere ich ihn grimmig.
Marius sieht reichlich belustigt zwischen uns hin und her. »Habt ihr nun gevögelt, oder nicht? Zu hören war jedenfalls nichts.«
Abwartend starren Moppelchen und ich uns an. Dann seufzt er und lässt die Scheibe Toast sinken, die er großzügig mit Nutella bestrichen hat und in die er gerade beißen wollte. »Nein, wir haben nicht. Du wolltest und warst auch nicht davon abzuhalten dich vorzubereiten, aber als ich aus dem Bad kam, hast du bereits gepennt«, antwortet er schulterzuckend.
Ich kann mich an überhaupt nichts davon erinnern. Ich habe daher keine Ahnung, ob es stimmt, aber wenn, dann ist es verdammt peinlich.
»Ich bin übrigens Tobias.« Er grinst, dann beißt er in seine Toastscheibe. »Danke für die nette Begrüßung heute Nacht. Und falls du dir darüber immer noch den Kopf zerbrichst, ja, ich fühle mich wohl bei euch.«
Was zum Teufel ...?
Marius gluckst, sodass ich meine Aufmerksamkeit auf ihn richte. »Tobi ist unser neuer Mitbewohner.«
»Ja klar«, murmele ich sarkastisch und rolle demonstrativ mit den Augen, was die Männchen in meinem Kopf dazu veranlasst, noch ein bisschen energischer zu hämmern. Moment. Welcher ist heute? Ich werfe einen Blick auf den Kalender über der Theke und starre dann Tobias an, der sich offenbar köstlich amüsiert. »Echt jetzt?«
Ich lasse meinen Blick durchs Wohnzimmer gleiten. Leere und halbvolle Biergläser, aufgerissene Chipstüten und zwei leere Wodkaflaschen zieren den Couchtisch und auch in der Spüle neben mir, türmen sich die Gläser.
»Echt jetzt!«, bestätigt Tobias nickend. »Bin gestern eingezogen und wir haben ein bisschen gefeiert.«
Gestern? Samstag. Da war ich den ganzen Vormittag beim Sport in der Uni und nachmittags habe ich Haare geschnitten und anschließend bin ich entgegen meiner Gewohnheit mit ein paar Kommilitonen ausgegangen. Kein Wunder, dass ich nichts von seinem Einzug mitbekommen habe. Daran hätte Marius mich beim Frühstück ruhig noch mal erinnern können. Und auch daran, dass eine Party geplant war. Dann wäre ich doch nicht mit den anderen in den Club gegangen, sondern hergekommen. Obwohl ich anscheinend irgendwie auf der Party gelandet sein muss. »Hab ich mitgefeiert?«, frage ich verwirrt.
Meine Mitbewohner grinsen sich an.
»Jap«, offenbart Marius schließlich.
»Du hattest aber schon ordentlich vorgefeiert«, fügt Tobias glucksend hinzu. »Und nachdem die Gäste weg waren, wolltest du mich noch mal anständig in der WG willkommen heißen, wie du mehrfach betont hast.«
Fuck, wie peinlich! Ich könnte im Erdboden versinken. »Und so sind wir in meinem Bett gelandet?« Ich muss echt richtig voll gewesen sein.
»In meinem«, korrigiert er mich lachend. Dann stutzt er. »Moment. Du hast selbst heute früh nicht mal gemerkt, in welchem Zimmer du warst?«
»Ich hatte die Augen noch zu«, verteidige ich mich. »Tut mir echt leid. Normalerweise mache ich so was nicht.«
Tobias grinst. »Was denn genau? Neue Mitbewohner ins Bett zerren oder mit den Fingern im Arsch einschlafen?«
Großer Gott! »Beides«, antworte ich resigniert. »Sorry, wenn ich dich belästigt habe. Ich kann mich an nichts erinnern und weiß nicht, was ich alles gemacht habe, aber du bist eigentlich gar nicht mein Typ, also keine Sorge, das passiert nicht wieder.«
»Becks! Alter! Nun sei mal nicht so’n Idiot«, fährt Marius mich an.
Verwundert sehe ich ihn an. »Was denn?« Ich blicke zu Tobias hinüber, der auf seinen Teller starrt und die Lippen fest aufeinandergepresst hat. »Ich meinte doch nur ...«
»Ja, schon klar«, unterbricht er mich, bevor er aufsteht und mich zur Seite schiebt, damit er sein Messer in die Spüle legen kann. »Warst sowieso zu besoffen zum Ficken.«
»Hab ich was Falsches gesagt?«, frage ich perplex, als er mit seiner Kaffeetasse in der einen und dem Teller in der anderen Hand in sein Zimmer marschiert.
Marius verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. »Sehr taktvoll warst du nun nicht gerade. Tobi ist echt in Ordnung.«
»Ich wollte doch nur damit sagen, dass er keine Angst vor mir zu haben braucht«, verteidige ich mich schon wieder. Ich hab es nur nett gemeint. Wieso fühlen sich heute alle von mir auf den Schlips getreten? Ich bin noch nicht mal dreißig Minuten wach.
Marius rollt erneut mit den Augen. »Lass mal die Luft aus deinem Ego. Nicht jeder fühlt sich gleich von dir bedroht. So furchteinflößende Muckis hast du nun auch wieder nicht.«
»Fuck you!« Ich geh wieder ins Bett! In meins!
Als ich am späten Nachmittag aufstehe, haben die Kopfschmerzen deutlich nachgelassen und mein Magen ist nicht mehr so flau. Müde bin ich aber immer noch. Am besten esse ich schnell einen Happen und gehe dann wieder ins Bett zurück, denn mein Wecker klingelt morgen um drei Uhr in der Nacht.
Nachdem ich mir eine Jeans übergezogen habe, gehe ich ins Wohnzimmer. Offenbar haben meine Mitbewohner die Spuren der Party bereits beseitigt. Marius sitzt vor der Glotze, schaut aber nicht mal auf, als ich an ihm vorbei in die Küche schlurfe, um mir ein Glas Orangensaft, meinen Salat und das Hähnchenfleisch aus dem Kühlschrank zu holen.
Als das Filet gut durchgebraten ist, schnappe ich mein Essen und setze mich zu Marius. Er zieht sich irgendeinen Schwachsinnscartoon rein, aber für etwas Anspruchsvolleres bin ich sowieso nicht wach genug.
»Musst du heut noch schnippeln?«, will Marius wissen, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
Ich schüttele den Kopf. »Nee, hab ich gestern sechs Stunden lang. Miete gebe ich dir nach dem Essen.«
»Kein Stress«, meint er abwinkend.
»Wo is’n der Neue?«, frage ich zwischen zwei Bissen Salat.
»Hat sich nicht bei mir abgemeldet«, bekomme ich zur Antwort. »Warum?«
Ich schlucke eine Cherrytomate runter. »Nur so.« Keine Ahnung, warum ich nach Tobias gefragt habe. Ich wollte lediglich Konversation machen und es ist doch wohl legitim sich nach seinem Mitbewohner zu erkundigen, oder?
»Warst ‘n Arsch zu ihm.«
Da ich mir gerade ein grünes Salatblatt in den Mund gestopft habe, verdrehe ich nur die Augen. Meine Güte, was hab ich schon Schlimmes gesagt? Ich habe nur klarzumachen versucht, dass ich ihn versehentlich angegraben habe und mir das nicht wieder passiert. Er braucht sich also keinen Kopf machen oder gar nachts seine Zimmertür abschließen.
Schweigend verputze ich mein Abendessen, während Marius mir erzählt, dass Tobias gestern mit Hilfe seiner Brüder eingezogen ist und Marius und ein paar seiner Kumpels ihn zu einer kleinen Begrüßungsfeier überreden konnten. Zu der bin ich wohl gegen halb zwei gestoßen. Marius’ Aussage nach habe ich bereits gelallt und geschwankt, aber angeblich darauf bestanden, mit unserem neuen Mitbewohner anzustoßen. Mehrmals.
Ich hatte völlig vergessen, dass Tobias’ Einzug für gestern geplant gewesen war. Marius hatte sich darum gekümmert Ersatz für Robert zu finden, der vor einer Woche mit seiner Freundin zusammengezogen ist. Wir waren froh, so schnell jemanden gefunden zu haben, sonst hätten wir nächsten Monat beide mehr Miete zahlen müssen.
»Hab ich mich sonst noch irgendwie blamiert?«, frage ich sicherheitshalber.
Marius schüttelt den Kopf. »Nee. Hast dir offenbar das Beste aufgehoben, bis du mit Tobi allein warst.« Mein bester Freund sich wendet grinsend zu mir um. »Bist du wirklich mit den Fingern im Arsch eingeschlafen?«
»Ich hab keine Ahnung«, sage ich seufzend. »Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Marius schnaubt belustigt. »Wo hast du denn so vorgeglüht?«
Um die Geschehnisse des Abends zusammenzubekommen, muss ich ein bisschen nachdenken. »Um acht hab ich Franzi die Haare geschnitten. Sie war die Letzte. Dann sind wir zu einer Freundin von ihr, da war es aber nicht so dolle, also sind wir zu Ferdinand«, erzähle ich nachdenklich. »Bei ihm haben wir ein paar Bier getrunken und dann sind wir ins Rocket. Da war die Hölle los.«
»Seit wann gehst du wieder ins Rocket?«, unterbricht mein Freund mich.
Ich zucke mit den Schultern. »Die anderen wollten da hin und ich wollte kein Spielverderber sein. Jedenfalls war es brechend voll. Man konnte nicht mal vernünftig tanzen, also haben wir uns einen Platz an der Bar gesichert. Aber irgendwann hatte ich die Nase voll und bin hergekommen.«
»Hattest die Nase voll, hm?«, murmelt Marius, bevor er mir einen kurzen Seitenblick zuwirft. »Wie sah er aus?«
Seufzend schiebe ich meinen Teller auf den Tisch. »Gut. Nur der Twink in seinem Arm stand ihm nicht.«
Mitfühlend tätschelt mein Kumpel meinen Oberschenkel. »Du musst langsam mal über ihn hinwegkommen.«
»Bin ich längst!«, versichere ich gereizt.
Marius nickt mit hochgezogenen Augenbrauen. »Klar. Deswegen kamst du auch hackedicht hier reingestolpert und bist heute früh in Tobis Bett aufgewacht.«
»Ich war schon breit, bevor Josh aufgetaucht ist.«
Marius seufzt, dann schaltet er den Ton des Fernsehers aus. »Warum bist du überhaupt mit ins Rocket gegangen, Jannis? Du weißt, dass er da jeden Samstag auftaucht.«
»Keine Ahnung. Ich dachte, ich käme klar und ... fuck ... kein Plan.« Hilflos zucke ich mit den Schultern. »Er sah echt gut aus.«
»So viel dazu, dass du über ihn hinweg bist.« Marius seufzt wieder, dann wuschelt er mir durch die Haare. »Du hast was Besseres als den verdient.«
Das weiß ich. Zumindest weiß mein Kopf das. Wirklich. Nur mein Herz hat es wohl noch nicht kapiert. Fast zwei Jahre waren Josh und ich zusammen. Wir haben uns gleich am Anfang des ersten Semesters bei einer Gay-Party kennengelernt. Es ging alles ziemlich schnell zwischen uns. Nach dem ersten Date haben wir uns geküsst, nach dem zweiten waren wir zusammen im Bett und nach dem dritten ein Paar. Josh war meine große Liebe. Wir waren ein Team. Dachte ich jedenfalls.
Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass ich nur ein hübsches Accessoire war, das er ausgeführt hat, wenn eines seiner anderen Betthäschen keine Zeit hatte. Ich war so dumm und blind vor Liebe. Als ich ihn mit der Vermutung konfrontiert habe, dass er fremdgeht, weil er immer öfter nach fremdem Männerparfüm gerochen hatte, hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gefragt, ob das ein Problem sei.
Nun sollte man meinen, dass ich es dadurch kapiert hätte, aber nein. Ganze acht Monate habe ich es hingenommen, dass er fremd fickt, bis ich endlich meine Eier gefunden und ihn vor die Wahl gestellt habe: ich oder die anderen Typen. Wofür er sich entschieden hat, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.
»Es sind mittlerweile sechs Monate, Jannis«, erinnert Marius mich freundlicherweise. »Vergiss den Arsch endlich. Er war deine erste Liebe, ja. Aber, Herrgott, erstens hat er es nicht verdient, dass du ihm nachtrauerst und zweitens wird er nicht der Letzte sein. Irgendwann kommt schon noch der Richtige.«
»Und wann?« Mal ehrlich, ich vögele mich seit Monaten durch die Gay-Community unserer Uni, aber bisher hab ich den angeblich Richtigen noch nicht gefunden. Wo zum Teufel steckt der Typ und warum offenbart er sich nicht endlich?
»Wenn du soweit bist und aufhörst krampfhaft zu suchen«, bekomme ich zur Antwort. Marius dreht sich ganz zu mir um und sieht mich auffordernd an. »Vielleicht solltest du aber auch mal anfangen, einen von ihnen kennenzulernen, statt immer gleich deinen Arsch hinzuhalten.«
»Wichser.«
Mein bester Freund grinst bloß und schaltet den Ton wieder ein. »Ja, das wäre auch eine Möglichkeit. Aber mal im Ernst, vielleicht hast du ihn ja schon direkt vor der Nase und siehst es nur nicht.«
Ja, klar. Das bezweifle ich allerdings stark. Ein paar Minuten schaue ich den Cartoon mit ihm, aber wenn ich noch länger hier sitze, penne ich ein und das wäre echt keine gute Idee. »Ich geh duschen und dann ins Bett. Muss früh raus.«
Marius wirft mir einen verständnisvollen Blick zu, dann nickt er. »Ist gut. Und, Becks?«
»Ja?«, frage ich mit der Hand auf der Klinke der Badezimmertür.
»Sei ein bisschen netter zu Tobi. Er ist echt schwer in Ordnung«, erklärt er, wobei er mit der Fernbedienung auf mich zeigt und mir auffordernd ins Gesicht sieht, bevor er grinst. »Und er kann ja nichts dafür, dass du dich so hartnäckig an ihn rangeschmissen hast, obwohl er nicht dein Typ ist.«
Seufzend verdrehe ich die Augen. »Ich war heute früh noch halb besoffen, Mann. Ich wollte nur klarstellen, dass ich mich nicht noch mal an ihn ranmache oder nachts zu ihm ins Zimmer komme oder so was.«
»Du hättest trotzdem etwas taktvoller sein können«, stellt Marius fest.
»Mein Gott, ich wollte ihn doch nicht beleidigen«, entgegne ich nun echt angepisst. »Er ist halt nicht mein Typ, was macht das schon? Irgendjemand anders steht sicher auf Moppelchen.«
»Jannis.«
Ich ignoriere seinen Protest, denn ich finde es langsam zum Kotzen, mich ständig verteidigen zu müssen, nur weil ich einen anderen Typ Mann bevorzuge. »Nein, echt jetzt. Du machst da ein Drama draus, nur weil ich gleich Klartext geredet habe, damit er sich gar nicht erst Hoffnungen macht oder Schiss vor mir kriegt. Ich war besoffen und notgeil. Punkt.«
»Vergiss nicht zu erwähnen, dass du obendrein ziemlich aufdringlich warst und beinahe zu betteln angefangen hast, als ich dich mehrfach habe abblitzen lassen, was dich aber nicht daran gehindert hat, dich nackt auszuziehen und es dir in meinem Bett bequem zu machen.«
Erschrocken fahre ich herum. Tobias steht in der offenen Wohnzimmertür und funkelt mich herausfordernd an. Sein Gesicht ist rot und er hat die Hände zu Fäusten geballt.
Scheiße! »Oh Mann. Es tut mir leid. Das von heute Nacht und was ich eben gesagt habe. Ich bin eigentlich nicht so ein Arsch«, versuche ich mich verzweifelt zu entschuldigen. Das ist jetzt ziemlich blöd gelaufen. Er muss mich für einen arroganten Vollidioten halten. »Es war echt nicht böse gemeint. Du scheinst wirklich nett zu sein.«
»Ach, fick dich!« Mit diesen Worten geht Tobias in die Küche und stellt eine Tüte auf die Theke, aus der es zweifellos nach Döner riecht. »In deinem Bett. Du magst hübsch anzusehen sein, aber beim nächsten Mal wäre es mir doch lieber, wenn du dich nicht gerade auf meinem frischen Laken fingerst.«
Marius hält sich zwar die Hand vor den Mund, kann sein Glucksen aber offenbar nicht ganz unterdrücken. »Jannis? Geh duschen.«
Ja, ist wohl besser so. Tobias’ wütendem Blick nach zu urteilen, kann ich gerade eh nicht mehr viel retten. Dabei tut mir das echt leid. Auch wenn es für ihn den Anschein haben muss, bin ich eigentlich nicht so ein Arsch. Aber vielleicht sollte ich mit einer weiteren Entschuldigung bis morgen warten. Wenn wir uns alle wieder beruhigt haben.
Kapitel 2
Tobias
Diese Woche fängt beschissen an. Ach, was sage ich, die letzten vier Monate liefen schon beschissen. Erst wechselte Ende letzten Semesters mein Doktorvater, der Professor meines Lehrstuhls für E-Business der BWL-Fakultät, aus heiterem Himmel von der Wissenschaft in die Wirtschaft. Dann steckte man mich, damit ich mitten in der Promotion nicht in der Luft hänge, in den Lehrstuhl für Online-Management der Fakultät für Sport und Ernährungswissenschaften.
Ich passe hier in etwa so gut hin, wie ein Mops in ein Rudel Wölfe. Und das ist nicht übertrieben. Seit ich mich in diesen Fluren bewege, starren mich alle an. Die Sekretärin meines neuen Lehrstuhls, Frau Peters, hat mir erst letzten Freitag – ganz diskret – zwischen die Blätter eines Stapels Kopien eine Broschüre über ausgewogene Ernährung geschoben. Selbst wenn es nett gemeint war, fand ich es daneben. Ich bin neunundzwanzig Jahre alt und durchaus in der Lage mich nur noch von Grünfutter und Wasser zu ernähren, wenn ich es denn wollen würde.
Will ich aber nun mal nicht!
Zu allem Überfluss soll ich ab heute für die Bachelor-Vorlesung Grundlagen des Online-Marketing die Übungen halten. Mir ist klar, dass die Lehrtätigkeit zu meiner Doktorandenstelle gehört, aber ich kann es echt kaum erwarten, gleich vor einem Haufen Sportler zu stehen und mich abschätzig begaffen zu lassen. Es gibt nichts Tolleres auf einen Montagnachmittag. Ändern kann ich es aber nicht, also: Augen zu und durch. Wenigstens habe ich früh Feierabend.
»Hallo. Ich bin Tobias von Bergheim und leite ab heute diese Übung«, stelle ich mich vor, nachdem der Haufen vor mir bemerkt hat, dass jetzt keine Spielzeit mehr ist. Vielleicht sollte ich mir demnächst eine Pfeife mitbringen, denn auf mein Räuspern hat ja kaum einer reagiert.
»Wo ist ‘n die Janina?«, will ein schwarzhaariger Muskelprotz aus der hinteren Reihe wissen.
»Die Janina ...«, wiederhole ich seine Worte, woraufhin ich ein paar Lacher aus der ersten Reihe ernte, »... widmet sich demnächst höheren Aufgaben. Deswegen werden Sie bis zum Ende des Semesters mit mir vorliebnehmen müssen.«
Besagte Janina ist eine Freundin von mir, ebenfalls Doktorandin und seit zwei Monaten schwanger. Nach Rücksprache mit der Uni, konzentriert sie sich jetzt nur noch darauf, ihre Promotion noch vor der Geburt des Babys abzuschließen, und wurde von den Lehrtätigkeiten entlastet. Was wiederum mich in die überaus glückliche Position bringt, hier nun zu stehen.
»Sie sind aber kein Sportler, gell?«, will ein anderer Typ wissen, der aussieht, als würde er noch vor dem Frühstück Gewichte stemmen.
Ich unterdrücke ein Augenrollen, schüttele aber den Kopf, denn alles andere, würde mir hier sowieso keiner abnehmen. »Nein. Aber da wir hier eher selten über die Tische hopsen und es auch keine Noten für eine elegante Haltung beim Beantworten der Prüfungsfragen gibt, sondern wir uns mit den ...«, ich deute auf die Beamer-Präsentation, die ich vorbereitet habe und die an die Wand hinter mir geworfen wird, »... Grundlagen des Online-Marketings beschäftigen, sollte das irrelevant sein.«
»War ja nur ‘ne Frage«, murmelt der Muskelprotz.
»Gut. Also ich weiß nicht, wie Sie es mit Frau Wiedemann gehalten haben. Von mir aus können Sie mich gern mit dem Vornamen ansprechen, aber wir bleiben bitte beim Sie«, erkläre ich in die Runde, woraufhin mir die etwa dreißig Gesichter entgegen nicken. »Wunderbar. Gibt es denn erst mal Fragen zur –«
Die Tür wird aufgerissen und mein neuer Lieblingsmitbewohner stürmt herein. Mit gesenktem Kopf und einer hastig gemurmelten Entschuldigung rutscht er auf den erstbesten Platz in der vierten Reihe. Dort kippt er sich etwas von seinem Kaffee übers Shirt und flucht, während er von seiner Sitznachbarin ein Taschentuch gereicht bekommt.
»Wird’s denn bald oder sollen wir noch ein bisschen länger warten?«, biete ich an, als er geräuschvoll seinen Rucksack aufreißt und darin herumwühlt, wobei ich mir das Grinsen nun echt verkneifen muss. Einige Leute im Raum lachen, aber die meisten scheinen eher genervt zu sein.
Wie in Zeitlupe hebt Jannis den Kopf. Als er zu registrieren scheint, wer da drei Meter entfernt vor ihm steht, werden seine Augen immer größer und seine Kinnlade klappt nach unten. »Was machst du denn hier?«
Ich bin eigentlich kein schadenfroher Mensch. Wirklich nicht! Aber das tut gerade echt richtig gut. »Im Moment stehe ich hier nur rum und sehe zu, wie du meine Übung störst, würde jetzt aber gerne beginnen.«
»Du?«
»Hast du irgendein Problem damit?«, frage ich gereizt. Nackt war Jannis ja noch ganz amüsant, aber langsam beginnt er mich zu nerven.
»Was? Nein«, sagt er sofort und hebt abwehrend die Hände, woraufhin der Kaffeebecher umkippt und sich der Inhalt über den Tisch ergießt. »Fuck.«
Kopfschüttelnd wende ich mich an den Rest der Runde, der uns offenbar interessiert beobachtet hat. »Solange warten wir jetzt nicht. Gibt es erst mal noch Fragen zur gestrigen Vorlesung von Professor Rabe?«
»Ich habe eine Frage«, kommt die leise Antwort aus der zweiten Reihe. Eine kleine Blondine meldet sich zaghaft und als ich sie ansehe, läuft sie feuerrot an. »Professor Rabe hat über SEO und Suchmaschinenoptimierung gesprochen. Wo liegt denn der Unterschied?«
Etwas irritiert starre ich sie an, doch sie scheint das ernst zu meinen. »Wie heißen Sie?«
»Lisa Florin«, antwortet sie kaum hörbar.
»Danke für Ihre Frage, Lisa«, sage ich lächelnd und wende mich dann an die anderen im Raum. »Wer hat gestern mitbekommen, was SEO bedeutet?«
Etwa zehn Finger schießen in die Höhe. Der Rest starrt ratlos umher, abgesehen von einer Person, die noch Kaffee vom Tisch wischt. Bisher bestätigt sich mein Bild über Menschen dieser Studienrichtung und die Ansicht, dass man nicht nur einen Sporttest, sondern auch einen Test hinsichtlich der allgemeinen Bildung durchführen sollte, bevor man sie zum Studium zulässt.
Ich nicke einem Mädel in der ersten Reihe zu, die aussieht, als würde sie gleich platzen, wenn sie die Antwort nicht verraten darf. »Bitte.«
»Ich heiße Marleen und SEO ist die Abkürzung für Search Engine Optimization«, erklärt sie strahlend.
Ich sehe Lisa an, die sich dies aufschreibt und an deren Gesicht ich ablese, dass sie zumindest Englisch spricht und nun auch erkannt hat, dass SEO lediglich die englische Abkürzung für Suchmaschinenoptimierung ist. »Und wer weiß noch, was es mit Search Engine Optimization auf sich hat?«, will ich nun wissen.
Marleen weiß es offenbar, aber da stellt sich mir wiederum die Frage, warum sie es nicht gleich gesagt hat. Gut, ich hatte schließlich nur gefragt, wofür die Abkürzung steht. Es scheint allerdings ein weitverbreitetes Phänomen zu sein, dass die Bachelor-Studenten kaum über den Tellerrand hinaus denken oder Fragen ausführlicher, als mit ein paar Wörtern oder auswendig gelernten Definitionen, beantworten, was vermutlich an den Multiple-Choice-Tests liegt, die an dieser Fakultät sehr verbreitet sind. Da braucht man nun mal nur Stimmt oder Stimmt nicht anzukreuzen. Mit viel Glück kann da jeder bestehen.
Jedenfalls meldet sich außer Marleen niemand. Wunderbar. Wozu gehen die in die Vorlesungen?
»Jannis, vielleicht?«, versuche ich mal mein Glück, schließlich ist sein Tisch mittlerweile sauber und er hat einen Block und einen Stift hervorgeholt.
Ruckartig sieht er zu mir auf. »Was?«
»SEO. Kannst du uns erklären, was es damit auf sich hat?«, wiederhole ich geduldig. Ja, ich weiß, ich bin gemein und sollte meinen Groll nicht so an ihm auslassen, aber nun ist es zu spät. Außerdem hat er meinen Unterricht gestört.
»Ähm.« Er scheint sehr intensiv zu überlegen, aber mehr als eine feine Röte am Hals kommt dabei nicht heraus. »Search Engine Orientation?«, antwortet er schließlich noch, was er aber lieber hätte lassen sollen. Leises Gelächter ist zu hören, woraufhin er den Blick senkt und mit dem Stift in der Hand spielt. »’Tschuldigung, ich weiß es nicht.«
Ich beschließe, ihn zu erlösen. »Marleen?«
»Search Engine Optimization umfasst alle Maßnahmen, die dazu dienen, die Sichtbarkeit von Webseiten in den Suchmaschinen zu erhöhen«, trägt sie wunderbar auswendig gelernt und absolut nichtssagend vor.
»Das ist eine sehr weite Definition von SEO«, stimme ich nur zögerlich nickend zu, denn falsch ist es ja nicht. »Aber was genau bedeutet das? Wozu sollte ein Unternehmen SEO-Maßnahmen durchführen? Warum sollte man Geld investieren um seine Sichtbarkeit in Suchmaschinen wie Google, Bing oder Yahoo zu erhöhen?«
Meine aufgeworfenen Fragen sorgen für einiges Gemurmel, noch mehr ratlose Gesichter und eine ausgestreckte, wedelnde Hand in der ersten Reihe. Ich mag die Frau nicht.
»Kommen Sie schon«, fordere ich die Studenten zum Nachdenken auf. »Professor Rabe hat gestern eine Stunde lang darüber gesprochen. Selbst wenn Sie ihm nicht zugehört haben sollten, lassen sich doch mit einigen Überlegungen plausible Antworten finden. Warum sollte ein Unternehmen bei einer Suchmaschinenanfrage ganz oben in der Liste auftauchen wollen?«
Während Marleen beinahe auf und ab hüpft, heben sich noch einige andere Arme. Darunter Jannis’.
»Bitte«, fordere ich ihn auf.
Er lächelt kurz. »Weil so die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass der Suchende auf das Unternehmen aufmerksam wird und die Homepage anklickt.«
Ich nicke. »Soweit so gut. Und weiter?«
»Na ja, wenn er die Homepage angeklickt hat, schaut er sie sich bestimmt an und liest die Artikel und findet eventuell schneller die Informationen, die er gesucht hat«, überlegt er laut. »Oder bessere.«
Die Idee ist zumindest nicht ganz schlecht, er scheint immerhin darüber nachzudenken. »Für wen führt das Unternehmen die SEO-Maßnahmen denn durch?«, hake ich nach, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen.
»Für sich selbst?«, kommt es von ganz hinten.
Ich gehe einen Schritt zur Seite und erkenne, dass es der Typ war, der wissen wollte, wo Janina ist. »Das ist richtig. Darf ich Ihren Namen noch erfahren?«
»Conrad.«
»Danke, Conrad. Wenn wir jetzt Ihre Antwort und die von Jannis miteinander vergleichen, was stellen wir fest?« Endlich fangen sie an nachzudenken. Okay, nicht alle, einige blättern nur hektisch in ihren Aufzeichnungen, aber bei einigen rotiert es tatsächlich im Oberstübchen. »Jannis, willst du es selbst korrigieren?«
»Ja«, antwortet er nickend, schließlich hatte er sich gemeldet. »Wenn die Homepage des Unternehmens bei einer Suchanfrage weit oben in den Ergebnissen auftaucht, dann wird sie besser gesehen und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand draufklickt erhöht sich. Der Suchende wird so auf das Unternehmen, seine Produkte oder Dienstleistungen aufmerksam. Das hat für das Unternehmen den Vorteil, dass es bekannter wird und eventuell dort etwas gekauft oder in Auftrag gegeben wird.«
»Völlig richtig«, bestätige ich durchaus zufrieden und suche in meiner Präsentation die passende Folie heraus. »Nun nehmen wir das Beispiel eines deutschen Basketballvereins. Warum sollte dieser SEO-Maßnahmen betreiben? Welche Vorteile ergeben sich für den Verein?«
Einige Hände gehen runter. Marleens ebenfalls, schließlich hilft auswendig gelerntes Wissen ihr bei dieser Frage nicht. Dafür schnellen drei andere in die Höhe. Vielleicht sind die Sportstudenten nicht alle Hohlbirnen oder ich habe zumindest einen Kurs mit ein paar Leuten erwischt, die mehr als nur im Kreis rennen oder hinter einem Ball herjagen wollen. Mal schauen, wie sich das im Laufe des Semesters entwickelt. Erfahrungsgemäß sitzt dann nur noch das wirklich interessierte Drittel hier.
Aber ich bin ja schon froh, dass sie mir überhaupt antworten und nicht nur über geflüsterte Dickenwitze kichern, die ich alle schon gehört habe.
»Conrad?«, fordere ich ihn auf, als er sich meldet.
»Er bekommt mehr neue Nachwuchsspieler?«
Schulterzuckend sehe ich ihn an. »Ist das eine Frage oder Ihre Antwort?«
»Meine Antwort?«
»Klingt aber immer noch wie ‘ne Frage«, mischt sich glucksend jemand neben ihm ein.
»Und Sie sind?«, wende ich mich an den hochgewachsenen Rothaarigen, der durchaus Basketballspieler sein könnte.
»Tom.«
»Also Tom, ist Conrads gefragte Antwort Ihrer Meinung nach richtig, wenn man sie im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit des Vereins betrachtet?«, will ich wissen. »Die Frage gilt auch für alle anderen.«
Wieder setzt allgemeines Gemurmel ein. Ich gebe ihnen etwas Zeit, indem ich die Handouts, die ich vorbereitet habe, an die ersten der jeweiligen Reihe aushändige, damit diese die Stapel weitergeben können.
Als ich neben Jannis stehenbleibe, sieht er kurz zu mir auf und lächelt zaghaft, bevor er das Papier nimmt und einen Blick darauf wirft. Mir fällt auf, dass er ziemlich müde aussieht und das, obwohl er den halben Sonntag gepennt hat. Marius meinte zwar, dass Jannis selten zu Hause ist, weil er viel um die Ohren hat, aber Genaueres hat er nicht gesagt. Ein netter Kerl soll er sein, schwul, aber nicht tuntig, immer freundlich und umgänglich. Und immerhin kein Totalausfall was die Sauberkeit betrifft.
Bei schwul und nicht tuntig gehe ich mit, vom Rest muss er mich erst noch überzeugen. Bisher hat er schließlich nicht gerade mit Freundlichkeit geglänzt. Er war zwar nicht direkt beleidigend, da hab ich schon bei weiterem Schlimmeres an mir abprallen lassen müssen, aber nett waren seine Worte auch nicht. Obwohl er das ja anders gesehen hat, wie er Marius energisch verklickern wollte, bevor ich ihn gestern Abend unterbrochen habe.
Na ja, wir müssen schließlich keine besten Freunde werden. Solange er aufhört mich als Moppelchen zu bezeichnen und weiterhin in seinem eigenen Bett schläft, werde ich es schon schaffen, mir mit ihm ein Bad zu teilen. Wir müssen uns ja nicht zur selben Zeit darin aufhalten.
Kapitel 3
Jannis
Endlich Schluss. Was für ein Tag! Erst kommen die in der Großbäckerei ewig nicht in die Puschen, sodass ich bei den Lieferungen zu spät dran war und mir bei jedem Backshop Gemecker anhören musste und obendrein zu spät zur PR-Vorlesung gekommen bin. Dann war das Mensa-Mittagessen heute echt mies und das, wo ich zum Frühstück nur einen Apfel und ein trockenes Brötchen hatte. Anschließend hat mir der beschissene Kaffeeautomat auch noch mein letztes Kleingeld abgeknöpft, ehe er mir im dritten Versuch endlich einen Becher flüssiges Koffein ausgespuckt hat, den ich zu allem Überfluss, statt zu trinken, über den Tisch gekippt habe, weil mein neuer Lieblingsmitbewohner offenbar der Übungsleiter der Online-Marketing-Veranstaltung ist. Ganz klasse! Noch beschissener kann der Tag nicht werden.
Wenn mir jetzt noch einer dumm kommt, dann flippe ich völlig aus. Hoffentlich sind Marius und Moppelchen ausgeflogen und ich kann in Ruhe ein paar Minuten vor der Glotze hängen, ehe ich mich an die Übungsaufgaben für morgen mache. In die Sporthalle fahre ich heute jedenfalls nicht mehr. Wenigstens habe ich es nach Hause geschafft, bevor der leichte Nieselregen in einen Wolkenbruch der übelsten Sorte übergegangen ist. Der April zeigt sich in diesem Jahr wirklich von seiner besten Seite.
Durchatmend schließe ich die Wohnungstür auf und bringe mein Fahrrad in den Abstellraum, hänge meine feuchte Jacke an den einzigen freien Garderobenhaken, ziehe achtlos die Schuhe aus und gehe ins Wohnzimmer. Kaum habe ich die Tür hinter mir zugemacht, bleibe ich wie angewurzelt stehen.
Auf dem Sofa sitzt ein kleines, blondes Mädchen und starrt mich mit riesigen Augen an.
»Ähm. Hallo«, sage ich völlig verdutzt.
Sie sagt nichts, drückt sich nur eine Gummibärchentüte an die Brust.
Ich gehe einen Schritt auf sie zu und versuche, so was wie ein freundliches Lächeln aufzusetzen. »Wer bist du denn?«
»Ich darf nicht mit Fremden reden«, antwortet sie patzig.
»Okay«, sage ich gedehnt. »Das verstehe ich. Aber wie bist du denn hier reingekommen?«
Sie zieht die Augenbrauen zusammen und zeigt auf etwas hinter mir. Ich drehe mich um und erkenne, dass sie wohl die Tür meint. Klar, wie sonst sollte sie hier reingekommen sein?
»Durch die Tür, okay. Stand die Tür offen, als du reingekommen bist?«, hake ich nach, woraufhin sie nickt.
Vielleicht ist Marius auf dem Dachboden und hängt Wäsche auf. Dabei vergisst er manchmal die Wohnungstür zuzumachen und es kann ja sein, dass das Mädel sich verlaufen hat und zu einem der Nachbarn gehört.
»Suchst du deine Mama?«, frage ich, denn sie kann höchstens drei oder vier sein und was anderes als eine Tüte Gummibärchen scheint sie nicht dabei zu haben. Nicht mal Schuhe hat sie an.
Sie runzelt wieder nur die Stirn und schüttelt den Kopf. Ich verstehe ja, dass sie nicht mit fremden Menschen reden darf, aber dieses Ratespiel kann noch ewig dauern, wenn sie nur auf Ja/Nein-Fragen antwortet.
»Weißt du denn, wo deine Mama ist?«, bohre ich daher weiter.
Sie nickt zumindest, scheint aber keine Anstalten zu machen, mehr zu verraten.
Reichlich hilflos atme ich tief durch und gehe noch einen Schritt auf sie zu. »Du hast dich doch bestimmt verlaufen. Wenn du mir sagst, wo deine Mama ist, bringe ich dich zu ihr.«
Die Kleine kneift die Augen zusammen und schüttelt energisch den Kopf. Entweder will sie nicht, dass ich ihr helfe oder sie hat Angst vor mir. Beides hilft uns im Moment nicht weiter.
Ehe ich jedoch eine weitere Frage stellen kann, öffnet sich die Zimmertür meines neuen Mitbewohners. »Okay, Maya, deinen Bruder hätten wir sauber, Schuhe an und dann ab in den Park.« Mit einem Baby auf dem Arm und einer Mülltüte in der Hand kommt Tobias aus seinem Zimmer und bleibt abrupt stehen. Das kleine Mädchen springt sofort vom Sofa und flüchtet sich an sein rechtes Bein, das sie mit ihren kleinen Ärmchen umschlingt. »Oh. Ähm. Hi.«
»Hi.« Perplex starre ich ihn an. »Gehört sie zu dir?«
Tobias sieht meinem Finger nach, runter auf sein Bein, dann nickt er. »Ja.«
»Er hat mit mir gesprecht, aber ich habe nicht geantwortet«, flüstert das kleine Mädchen.
Tobias geht in die Knie und streicht ihr lächelnd eine blonde Strähne aus dem Gesicht, wobei er das Baby sicher auf dem anderen Arm balanciert. »Das war sehr vorbildlich.« Er sieht auf und wirft mir einen warnenden Blick zu, dann widmet er sich wieder seiner ... tja ... Tochter, vermute ich mal. Ich dachte, er sei schwul. Aber ein bisschen ähnlich sieht sie ihm ja schon. »Maya, das ist Jannis. Er wohnt auch hier und hat sich sicher nur gewundert, wer du bist. Du darfst ruhig mit ihm sprechen.«
»Will ich aber nicht«, stellt sie klar, kaum dass er ausgesprochen hat. »Er will mich zu Mami bringen.«
»Ich dachte nur, sie hätte sich verlaufen«, erkläre ich, als Tobias mich fragend ansieht. »Ich wusste doch nicht, wo sie hingehört und sie hat gesagt, dass sie durch die offene Wohnungstür rein ist.«
»Ich denke, du hast nicht mit ihm gesprochen«, wendet sich Tobias jetzt wieder an die Kleine, während er das Baby auf den anderen Arm nimmt.
Maya schiebt die Unterlippe vor und drückt sich die Gummibärchen an die Brust. »Hab ich auch nicht!«
»Das stimmt«, pflichte ich ihr bei. »Ich habe ihr Fragen gestellt und als ich wissen wollte, ob sie zur offenen Tür rein ist, hat sie genickt.«
»Die Tür muss ja auf sein, sonst kann einer nicht reingehen«, informiert sie mich.
Schmunzelnd nicke ich, denn da hat sie wohl Recht. »Sorry, wenn ich ihr Angst gemacht habe. Das war nicht meine Absicht«, entschuldige ich mich noch. Mich würde ja brennend interessieren, wie er sich das mit den zwei kleinen Kindern und seinem WG-Zimmer vorgestellt hat. Marius wusste davon garantiert nichts, sonst hätte er ihn nicht einziehen lassen oder es mir zumindest erzählt. Und das hätte ich sicher nicht vergessen.
Tobias richtet sich wieder auf, dann fällt sein Blick auf das Wohnzimmerfenster. »Fuck, regnet es jetzt etwa?«, will er sichtlich schockiert wissen, wobei die dicken Tropfen auf der Scheibe Antwort genug sind.
»Mami sagt, fuck darf man nicht sagen!«
Tobias zuckt zusammen und nickt reumütig. »Das stimmt. Tut mir leid.«
»Wer schlimme Wörter sagt, darf keine Gummibärchen essen«, erklärt die Kleine. Sie scheint echt auf zack zu sein. »Ich hab Hunger.«
Tobias nickt sofort. »Gleich, Kleines. Ich muss erst mal eine Decke für deinen Bruder holen. Er wird mir langsam zu schwer. Setzt du dich noch mal einen Moment aufs Sofa und wartest, ja?«
»Kann ich solange Barbie gucken?«
Tobias schüttelt mit entschuldigendem Blick den Kopf. »Tut mir leid, den Film hab ich nicht hier. Wir schauen gleich mal, was wir machen. Aber erst hole ich die Decke und dann bekommst du was zu essen.«
Noch immer völlig von der Situation überrascht, stehe ich vor dem Couchtisch und beobachte, wie das kleine Mädchen mit grimmigem Gesichtsausdruck aufs Sofa klettert und offenbar bockig die Arme vor der Brust verschränkt. Die Süßigkeiten hat sie neben sich ablegt und die Füße baumeln über den Rand der Sitzfläche.
Einen Moment später kommt mein Mitbewohner wieder ins Zimmer, wobei er seine Bettdecke hinter sich her zerrt und sie auf den Boden fallen lässt. Anschließend legt er das Baby mit dem Rücken darauf ab.
»Sind das deine Kinder?«, wage ich mich vor.
Tobias seufzt und schüttelt den Kopf, doch ehe er etwas sagen kann, reckt die kleine Miss Grimmig ihr Kinn in die Höhe. »Onkel Tobi ist Mamas Bruder. Und Onkel Timo, Onkel Robert und Onkel Micha auch. So wie Benny bei mir.«
Drei Brüder und eine Schwester? Wow. »Alles klar. Und ihr seid euren Onkel heute mal besuchen gekommen?«, frage ich Maya, schließlich scheint sie jetzt ja doch mit mir sprechen zu wollen.
»Mama muss arbeiten und Papa ist bei den Vögeln«, antwortet sie auch prompt.
Onkel Tobi stöhnt leise und schüttelt den Kopf, während er dem Baby die Strickjacke auszieht.
»Bei den Vögeln? Arbeitet er in einem Tiergeschäft?«, frage ich neugierig.
»Hör auf, Fragen zu stellen, Jannis«, knurrt Tobias.
»Ich glaub nicht, aber Mami hat gesagt, dass Papa nicht auf uns aufpassen kann, weil er bei den Vögeln ist«, erzählt die Kleine im nächsten Moment. »Oma holt uns ab.«
Tobias räuspert sich und wirft mir kopfschüttelnd einen warnenden Blick zu. Oh shit, Papa ist doch nicht etwa vögeln? Du meine Güte, das sind ja ganz fantastische Familienverhältnisse. Obwohl ich mich da wohl lieber zurückhalten sollte. Meine eigenen Eltern sind nun auch nicht gerade berauschend. Nicht, dass ich sie in den letzten fünfeinhalb Jahren gesehen oder gesprochen hätte.
»Was möchtest du denn essen, Maya?«, will Tobias wissen, während er versucht, das Baby einzufangen, das offenbar doch gar nicht mehr so klein ist, denn es kullert sich munter über die Decke.
Maya scheint einen Moment zu überlegen, dann lächelt sie. »Joghurt mit Nanane.«
»Banane«, korrigiert Tobias. »Und ich fürchte, ich habe keinen Joghurt. Bananen auch nicht.«
Das Mädchen zuckt mit den Schultern. »Dann nur Joghurt.«
Onkel Tobias seufzt. »Joghurt habe ich doch aber nicht. Wie wäre es mit einer Tomate?«
»Tomate esse ich nur mit Nudeln«, stellt seine Nichte fest.
Etwas amüsant ist die Unterhaltung ja schon. Allerdings wäre es sicher ziemlich fies, wenn ich mich jetzt auf die Couch setze und grinsend lausche. »Du kannst was von meinem Joghurt haben«, biete ich an.
Maya und Tobias sehen mich an. »Danke, das wäre echt nett«, sagt er erleichtert seufzend und sieht dann das Mädchen wieder an. »Möchtest du einen Joghurt von Jannis?«
»Wie schmeckt der?«
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen und gehe zum Kühlschrank, um den noch fast vollen Becher rauszuholen. »Na, wie Joghurt eben.«
»Machst du Nanane rein?«, will Maya wissen, während sie hinter mir auftaucht.
»Nein, tut mir leid, eine Banane habe ich auch nicht«, muss ich zugeben, stelle jedoch den Joghurtbecher auf dem Tresen ab und hole eine Schüssel aus dem Schrank. »Ein paar Weintrauben kann ich dir anbieten.«
»Ich guck mal im Rucksack«, erklärt sie und flitzt zur Couch zurück, an der tatsächlich ein kleiner pinkfarbener Rucksack lehnt. »Mami hat Nanane eingepackt.«
»Es heißt Banane, Maya«, korrigiert Tobias, während er ihr beim Aufziehen des Reißverschlusses hilft. »Und du hättest doch gleich sagen können, dass du eine dabei hast.«
»Es sind zwei. Eine für Benny und eine für mich.« Freudestrahlend hebt sie zwei Bananen in die Höhe und kommt dann zu mir gelaufen. »Für Benny musst du die zu Matsch machen, weil er sie sonst ausspuckt. Er abscheulicht Klumpen.«
»Ähm. Okay.« Ich sehe Tobias an, der ein wenig verzweifelt zu sein scheint. »Isst der Kleine auch schon Joghurt?«
Tobias hat ihn gerade eingefangen und hält ihn mit einer Hand am Bein fest, damit er sich nicht sofort wieder Richtung Couchtisch rollt. »Mach dir keine Umstände. Ich kümmere mich gleich ums Essen.«
»Ist doch kein Problem«, versichere ich und wende mich dann an das kleine Mädel, das mir noch immer die Bananen hinhält. »Möchtest du sie eintunken oder kleingeschnitten haben?«
»Reintunken!«, erklärt sie begeistert.
Tobias gibt es offenbar auf und nimmt den kleinen Jungen wieder auf den Arm, bevor er zu uns kommt.
»Also, Joghurt für drei oder vier?«, will ich wissen, während ich noch mehr Schüsseln und Löffel sowie eine Gabel zum Zerdrücken der Banane raushole.
»Keine Ahnung, ob Benny den schon isst« antwortet Tobias schulterzuckend. »Aber es reicht echt, wenn du ein bisschen was für Maya abzwacken kannst.«
Da ich jetzt ebenfalls Appetit bekommen habe, ignoriere ich seinen Protest und fülle Joghurt in drei Schüsseln, gebe Maya eine Banane in die Hand und zerdrücke die andere in der vierten Schüssel. Da Tobias offenbar alle Hände voll zu tun hat, hebe ich das kleine Mädchen auf einen der Barhocker und öffne die Banane nur ein wenig, weil sie die schon selbst schälen kann, wie sie mir erklärt.
»Sei vorsichtig. Der Stuhl ist hoch und hat keine Lehne«, warnt Tobias, sodass ich sicherheitshalber eine Hand in ihren Rücken lege und sie stütze.
»Bist du Onkel Tobis Freund?«, will Maya wissen, nachdem sie es geschafft hat, die Banane von der Schale zu befreien.
Lächelnd schüttele ich den Kopf. »Nein. Ich wohne hier nur auch mit.«
Sie tippt vorsichtig mit der Banane in den Joghurt und leckt ihn dann wieder ab. Anschließend nickt sie grinsend, bevor sie mich wieder ansieht. »Warum hast du keine selbstige Bude?«
Ihr Wortschatz erscheint mir recht ungewöhnlich, aber ich kenne mich mit kleinen Kindern ja nicht aus. »Ich wohne halt nicht gerne allein«, antworte ich schulterzuckend. »Das ist mir zu langweilig.«
Maya nickt, dann sieht sie sich um. »Hast du Vögel?«
»Nein, man darf in diesem Haus keine Tiere halten«, erkläre ich.
»Mama hat gesagt, Papa braucht eine eigene Bude, für die Vögel«, nuschelt das Mädchen um die Banane, von der sie erneut Joghurt lutscht. »Aber ich darf sie nie sehen.«
Tobias entgleiten sämtliche Gesichtszüge, während er mit dem Löffel voll Bananenbrei in der Hand innehält.
»Vielleicht sind es besondere Vögel, die viel Ruhe brauchen«, werfe ich ein, woraufhin sie bedächtig nickt. Mitfühlend deute ich auf das hungrige Baby, das erwartungsvoll den Mund aufgesperrt hat, aber gerade vergeblich auf die nächste Fuhre wartet. »Nun quäl ihn doch nicht so lange.«
Tobias starrt erst mich und anschließend den kleinen Benny an, bevor er ihm den Löffel in den Mund schiebt. Seine Wangen werden rot und es scheint ihm, verständlicherweise, ziemlich unangenehm zu sein, was seine Nichte da so völlig ahnungslos ausplaudert. »Du nimmst wohl doch besser einen Löffel«, schlägt er ihr vor, nachdem wieder eine Portion Joghurt von der Banane getropft ist. »Du kleckerst ja dein schönes Kleid voll.«
Maya schaut an sich runter, dann versucht sie mit der Banane die Joghurttropfen auf dem hellblauen Kleid einzufangen, wodurch die Sauerei nur noch größer wird. Vielleicht war das mit dem Eintunken doch keine so gute Idee von mir.
»Soll ich dir mal helfen?«, biete ich an.
Sie schüttelt sofort den Kopf. »Nein, ich schaff das alleine!«
»Ihr Lieblingssatz«, seufzt Tobias, steht auf und holt einen Löffel, mit dem er ihr den Joghurt vom Kleid schabt und ihr diesen kurzerhand in den Mund steckt. »Joghurt wird mit dem Löffel gegessen.«
»Aber Jannis hat gesagt, ich darf die Nanane reintunken«, protestiert sie, nachdem sie den Löffel in die Schüssel gesteckt hat.
»Darfst du auch, aber dann musst du auch abbeißen und sie nicht nur ablecken«, entgegnet ihr Onkel bestimmt. »Sonst tropft doch alles runter. Siehst du ja.«
Schmollend nimmt Maya den mit Joghurt beschmierten Löffel und donnert ihn auf die Theke. »Ich will aber nicht.«
»Dann gibt’s auch keinen Joghurt mehr«, erklärt Tobias erstaunlich ruhig.
Die Kleine macht Anstalten, vom Hocker zu springen, doch ich halte sie fest und stelle sie sicher auf dem Boden ab. »Das sage ich Papa, dann schimpft er mit dir!«, motzt sie ihren Onkel voll.
»Ja, mach das ruhig. Ich würd mich sowieso gern mal mit ihm unterhalten«, murmelt Tobias vor sich hin, wendet sich dann jedoch an seine Nichte. »Bist du denn schon satt? Denn dann müssen wir erst mal Hände waschen, nicht, dass du die Banane hier überall verteilst.«
»Bin satt«, antwortet sie trotzig und wischt sich die Finger am Kleid ab.
»Na ganz klasse. Jetzt müssen wir dich umziehen«, erklärt Tobias stöhnend und steht vom Hocker auf. »Hiergeblieben!« Im letzten Moment kann er sie am Kleid schnappen, bevor sie Richtung Couch davonrennen kann. »Mit dem beschmierten Kleid gehst du nicht auf die Polster.«
»Bei Papa darf ich das aber!«, protestiert sie.
Tobias seufzt und hockt sich zu ihr. »Mag sein, dass das in der Wohnung deines Papas erlaubt ist, aber die Couch gehört mir nicht und es wollen außerdem noch andere Leute darauf sitzen. Meinst du, es würde denen gefallen, wenn sie hinterher Bananenreste an der Hose kleben haben?«
Seine Geduld ist bewundernswert. Und sie scheint sich auszuzahlen, denn die Kleine sieht zwischen mir und der Couch hin und her, dann schüttelt sie den Kopf und zieht den rechten Arm aus dem Ärmel.
Da der kleine Bruder jedoch offenbar immer noch Hunger hat, wird die Wohnung im nächsten Moment von Geschrei erfüllt. Du meine Güte, kann der laut brüllen. Tobias lässt sich davon jedoch nicht stören, sondern hilft seiner Nichte aus dem Kleid und geht anschließend mit dem zeternden Kind auf dem Arm in sein Zimmer. Kurz darauf kommt er mit einem neuen Oberteil wieder. Anschließend geht er mit beiden Kindern noch ins Bad.
Als er wieder rauskommt, ist der Kleine nicht nur ungehalten, sondern offenbar stinksauer, doch statt sich wieder mit ihm an den Tisch zu setzen, geht Tobias erneut in sein Zimmer und kommt mit einer Babyflasche, in der sich offenbar Wasser befindet, wieder in die Küche zurück.
Maya hat es sich derweil mit ein paar kleinen rosa- und lilafarbenen Figuren auf der Decke gemütlich gemacht.
»Tut mir leid, ich hab’s gleich«, entschuldigt Tobias sich, während er mit einer Hand den Deckel der Flasche abfummelt. Als er es geschafft hat, steckt er den zum Vorschein kommenden Aufsatz dem Baby in den Mund, das sofort verstummt und gierig zu saugen beginnt. Im nächsten Moment brüllt der Kleine wieder los. Tobias blickt etwas ratlos die Flasche an, dreht sie auf den Kopf und schüttelt sie ein paarmal, dann seufzt er und sieht mich an. »Kannst du bitte mal den Schraubverschluss abdrehen und das kleine Plättchen rausnehmen?« An Benny gewandt murmelt er: »Sorry, Kumpel. Gleich geht’s los.«
Ich nicke und nehme ihm die Flasche ab. Nachdem ich das Plastikteil, das die Flasche wohl vor dem Auslaufen schützen sollte, entfernt und den Trinkaufsatz wieder festgeschraubt habe, beobachte ich lächelnd, wie der kleine Mann selig sein Wasser trinkt. »Scheint ja gutes Zeug zu sein.«
Tobias’ Mundwinkel zucken. »Ja, sieht ganz so aus. Hätte ich vorher lieber probieren sollen?« Er lächelt kurz, dann deutet er auf die Sauerei auf der Theke. »Tut mir leid, wegen des Joghurts. Ich mach das gleich weg und bringe dir beim nächsten Einkauf einen neuen Becher mit.«
»Ach, kein Ding«, entgegne ich abwinkend. Ein viertel Liter Joghurt macht mich schon nicht arm. Glaube ich. »Ich hoffe, dass das jetzt nicht falsch rüberkommt, aber passt du öfter auf die zwei auf?«
Tobias’ freundliches Lächeln stirbt sofort und kurz zieht er die Augenbrauen zusammen. »Hin und wieder, ja. Keine Sorge, nächstes Mal gehen wir raus oder bleiben in meinem Zimmer.«
»Hey, so war das gar nicht gemeint!«, versichere ich. »Von mir aus könnt ihr ruhig im Wohnzimmer spielen. Ich war nur neugierig.«
»Guck mal, Jannis. Das ist Silberhaar und Sonnenschein«, erklärt Maya und zupft dabei an meinem Bein. Als ich zu ihr runtersehe, hält sie zwei kleine Pferde in die Höhe. Oder nein, halt. Es sind Einhörner. Eines ist pink, das andere lila.
»Toll«, sage ich mit gespielter Begeisterung. »Was machen Silberhaar und Sonnenschein denn gerade Schönes?« Es interessiert mich jetzt nicht wirklich, aber das kann ich ihr ja nicht sagen und außerdem mag ich dieses freche Mädchen irgendwie. Ich selbst habe keine Geschwister, obwohl ich mir als Kind immer einen Spielgefährten gewünscht habe. Meine Eltern meinten jedoch, dass die anderen aus dem Sportverein mir reichen müssen.
»Sie wollen Verstecken spielen. Du sollst sie suchen.« Maya hat erwartungsvoll die Augen aufgerissen und als ich nicke und sage, dass ich nur noch aufesse, sie sich aber schon mal verstecken sollen, grinst sie. »Aber nicht gucken.«
»Würde ich nie tun«, versichere ich und zwinkere Tobias zu, der offensichtlich überrascht zwischen uns hin und her guckt. »Soll ich bis zehn zählen?«, rufe ich Maya hinterher, die bereits losgelaufen ist und ein gutes Versteck sucht.
»Nein. Ich sag dir, wenn du suchen kannst«, informiert sie mich.
»Aber nur hier im Wohnzimmer!«, bremst ihr Onkel sie, als sie bereits die Hand auf der Klinke seiner Zimmertür hat.
»Was kriege ich eigentlich, wenn ich sie gefunden habe?«, erkundige ich mich, während Maya auf das Sofa klettert und eines der Einhörner zwischen die Polster drückt.
»Gummibärchen!«, flötet sie, hopst von der Couch und sieht sich offenbar suchend um. Dann läuft sie freudestrahlend auf das DVD-Regal zu. »Du kannst!«
»Na, dann mal auf ins Abenteuer«, flüstere ich Tobias zu, der wohl nicht so recht weiß, was er davon halten soll, dass ich mit seiner Nichte und ihren Einhörnern Verstecken spiele. Gespielt ratlos streife ich eine Weile durchs Wohnzimmer, was Maya kichern lässt. »Haben sie sich unter dem Tisch versteckt?«, überlege ich laut und sehe nach.
Maya lacht begeistert. »Nein, da sind sie nicht.«
»Hm. Dann vielleicht unter dem Sofa?«
»Nein, auch nicht. Jede hat doch ein selbstiges Versteck.«
Lächelnd sehe ich sie an. »Jedes Einhorn hat ein eigenes Versteck gefunden? Hier im Wohnzimmer?«
Maya nickt, dann zucken ihre Augen zum DVD-Regal und sie kichert.
»Na sowas. Wo würde ich mich verstecken, wenn ich ein Einhorn wäre?«, murmele ich vor mich hin. »Ich weiß! Hinter dem Kissen!«
»Nein, noch mal falsch«, befindet Maya fröhlich. »Guck mal ganz richtig.«
Ich sehe kurz zu Tobias hinüber, der mich grinsend beobachtet, den Kopf jedoch schnell abwendet und sich seinem Neffen widmet.
»Ich guck doch richtig!«, entgegne ich protestierend. »Aber sie haben sich wohl zu gut versteckt. Können sie nicht mal piepsen oder so?«
Maya überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf. »Einhörner können nicht piepsen. Die vibrieren.«
»Tatsächlich?«, frage ich überrascht.
»Du meinst wiehern, Kleines«, wirft Tobias hilfsbereit ein.
»Ja, genau«, bestätigt nun auch Maya.
Ich nicke verstehend. »Na gut. Können sie dann mal wiehern? Damit ich wenigstens weiß, in welcher Richtung ich suchen muss?«
Bei dem Versuch eines Wieherns gibt sich das kleine Mädel reichlich Mühe, scheitert aber kläglich. Ich tue trotzdem so, als hätte ich eine Spur und lausche ein wenig an der Couch, dann hole ich die erste Spielfigur hervor. Maya klatscht begeistert in die Hände und fordert mich auf, auch Sonnenschein noch zu finden, wobei sie mir verspricht, dass Silberhaar und sie mir helfen. Zu dritt finden wir das versteckte Einhorn schließlich. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Türklingel unser Spiel unterbrechen kann.
»Oma!«, jubelt Maya und stürzt Richtung Flur.
Tobias springt auf und rennt ihr mit dem kleinen Jungen auf dem Arm nach. »Du sollst doch nicht allein an die Tür gehen!«, höre ich ihn schimpfen.
»OMA! Wir sind hier ganz oben in Onkel Tobis’ neuer Bude. Jannis ist auch da. Er hat mit uns verstecken gespielt. Und er hat Joghurt, aber mit ohne was drin«, berichtet Maya, durch den Hausflur brüllend.
»Lass Oma doch erst mal raufkommen«, ermahnt Tobias sie.
Ich überlege kurz, ob ich in mein Zimmer verschwinden soll, aber eigentlich würde ich die Oma der Kinder gern mal sehen, da ich davon ausgehe, dass sie Tobias’ Mutter ist. Außerdem wäre es wohl unhöflich, nicht wenigstens mal Hallo zu sagen, da Maya ja schon verraten hat, dass ich da bin.
»Herrje, musste es denn eine Wohnung ganz oben sein?«, höre ich eine Frauenstimme keuchen.
»Hallo, Mama«, grüßt Tobias. »Danke, dass du so schnell kommen konntest.«
»Dein Vater war sowieso gerade dabei, mir auf den Wecker zu fallen«, erklärt sie fröhlich, aber etwas atemlos. »Na, ihr drei. Hattet ihr einen schönen Nachmittag?«
»Wir haben mit Jannis Joghurt gegesst«, wiederholt Maya und zerrt ihre Oma hinter sich her ins Wohnzimmer, wo ich mit den beiden Einhörnern in der Hand stehe, die ich ihr auch gleich wieder zurückgebe. »Jannis wohnt auch hier. Aber er hat keine Vögel.«
»Was hast du nur immer mit den Vögeln?« Eine sehr runde Frau um die fünfzig schiebt sich durch die Tür und guckt sich neugierig um, bevor ihr Blick auf mich fällt. »Guten Tag.«
»Mama, das ist Jannis Becker, einer meiner Mitbewohner«, stellt Tobias mich vor. »Jannis, das ist meine Mutter.«
»Freut mich Sie kennenzulernen«, sage ich höflich und strecke die Hand aus, wobei mir auffällt, dass ich gar nicht weiß, wie Tobias oder seine Mutter mit Nachnamen heißen.
Die Frau zieht irgendwie belustigt die Augenbrauen hoch und lässt den Blick einmal über meinen Körper gleiten. »Es freut mich ebenfalls.« Sie nimmt meine Hand und sieht grinsend zu Tobias rüber, der jedoch damit beschäftigt ist, Maya mit ihrem Rucksack zu helfen, in dem sie die Einhörner verstaut. »Sind Sie denn auch Doktorand?«, wendet sie sich dann wieder an mich.
»Nein, ich studiere noch«, antworte ich kopfschüttelnd.
»Dann wünsche ich viel Erfolg«, erklärt sie lächelnd und sieht sich noch ein wenig um. »Die Wohnung ist aber sehr ungewöhnlich geschnitten. Welches ist dein Zimmer, Bärchen?«
Tobias’ Wangen färben sich pink, während er auf die Tür rechts neben der Couch deutet. »Ist aber noch chaotisch, wegen der Kisten.«
»Die könntest du aber langsam mal auspacken«, informiert sie ihn, während sie bereits ins Zimmer geht.
Von meinem Platz aus kann ich ebenfalls in den Raum sehen und bemerke, dass Tobias seine Möbel beim Einzug wohl anders platziert hat, denn sein Bett steht unter dem Fenster und der Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Kein Wunder, dass es gestern früh so hell war. Wie kann man denn so schlafen?
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, weil ich erst vor zwei Tagen eingezogen bin, Mama!«, verteidigt Tobias sich knurrend.
»Na ja, immerhin hat das Zimmer ein großes Fenster und der Teppich scheint ja ordentlich zu sein«, befindet sie. »Wo ist denn das Bad?«
»Gleich hier«, steuere ich hilfsbereit bei und deute auf die Tür auf der anderen Seite der Couch.
Tobias’ Mutter runzelt die Stirn. »Das habe ich ja auch noch nicht gesehen, dass alle Räume vom Wohnzimmer aus abgehen. Sehr gewöhnungsbedürftig.«
»Das kann dir doch egal sein, du wohnst ja schließlich nicht hier«, knurrt ihr Sohn, während er das Baby wieder in die Jacke steckt. »Außerdem gehen Marius’ Zimmer und der Abstellraum vom Flur aus ab.«
»Und das ist dann wohl Ihr Zimmer?«, will Tobias’ Mutter wissen und deutet auf meine Zimmertür. »Keine Sorge, ich will nicht reingucken.«
»Oh gut«, sage ich grinsend. »Aber ja, das ist mein Zimmer. Eigentlich finde ich es ganz praktisch, dass man keinen ellenlangen Flur hat, den man mitbezahlen muss, aber kaum nutzen kann.«
Tobias’ Mutter sieht mich einen Moment nachdenklich an, dann nickt sie. »Da ist durchaus was dran.«
»Können wir auf dem Nachhauseweg einen Vogel kaufen?«, will Maya wissen. »Ich will auch einen haben.«
»Was erzählt sie denn immerzu von Vögeln?«, fragt ihre Oma. »Maya-Schatz, niemand von uns hat Vögel im Haus. Die sind sehr laut und machen überall hin.«
»Aber Papa wohl!«
Offenbar ratlos zuckt Mayas Oma mit den Schultern. »Einen Wellensittich oder was für ein Tier?«
»Gott, Mama«, stöhnt Tobias.
»Was? Ich weiß gar nicht, was sie meint. Seit wann hat ihr Vater Vögel in der Wohnung?«, will sie entrüstet wissen.
»Nicht Vögel, verdammt«, bringt ihr Sohn zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Vögeln. Sie muss Larissa belauscht und das Gott sei Dank, missverstanden haben«, fügt er flüsternd hinzu.
Als sie es kapiert, reißt Tobias’ Mutter die Augen auf. »Ach du meine Güte!«
»Ja, aber kauf ihr jetzt bloß kein solches Vieh!«
Ich stehe ein bisschen verunsichert herum. Eigentlich sollte ich besser gehen, aber irgendwie will ich das hier nicht verpassen.
»Okay, die Kinder sind fertig.« Mein sichtlich genervter Mitbewohner richtet sich auf und überreicht das Baby an dessen Oma, bevor er Maya den Rucksack aufsetzt. »Ihr könnt los.«
»Kommt mir ganz so vor, als würdest du uns loswerden wollen«, erkennt seine Mutter grinsend. »Aber gut, es ist sowieso bald Zeit fürs Abendessen. Wo hast du denn den Kinderwagen abgestellt?«
Tobias guckt ganz verdutzt. »Kinderwagen? Larissa hat sie mit dem Auto gebracht.«
»Ach so? Na, das ist schlecht, ich bin mit der S-Bahn hier.«
Für einen Moment starren Mutter und Sohn sich abwartend an. Schließlich seufzt Tobias hörbar. »Dann muss ich euch halt fahren. Ich hol den Autoschlüssel.« Im nächsten Moment ist er mit der Decke unter dem Arm in seinem Zimmer verschwunden.
»Das passt doch gut«, ruft seine Mutter ihm nach. »Dann kannst du gleich noch ein bisschen was von deinem alten Kram und das Fahrrad mitnehmen.«
»Wo soll ich denn mit dem Zeug hin?«, höre ich ihn grummeln. Er kommt, mit seinem Schlüssel und einem Babyautositz ins Wohnzimmer zurück, wobei ihm wohl auffällt, dass die Theke immer noch vollgeschmiert ist. »Und das Fahrrad ist kaputt.« Er läuft in die Küche und beginnt das Geschirr in die Spüle zu stellen.
»Na, dann lässt du es eben reparieren«, entgegnet seine Mutter, während sie mit Adleraugen beobachtet, wie ihr Sohn die Theke abwischt. »Du solltest sowieso mal wieder etwas mehr Sport machen, statt immer mit dem Auto herumzukutschieren.«
Tobias’ Kopf wird knallrot. »Ich mache Sport, wann ich will.«
»Also nie«, offenbart seine Mutter fröhlich. »Ich gehe jetzt ja auch einmal die Woche zur Gymnastik.«
»Schön für dich.« Er wäscht den Spüllappen aus, dann atmet er sichtbar durch, bevor er sich langsam umdreht. Sein Blick zuckt kurz zu mir, dann sieht er seine Mutter an. »Ich hab keine Ahnung, wo ich hier mit einem Fahrrad hin soll und für den anderen Kram habe ich auch keinen Platz. Ich schau das Zeug am Wochenende mal durch und sortiere was aus, okay?«
»Dein Fahrrad kannst du gern in die Abstellkammer stellen, da ist noch Platz«, biete ich an, bereue es jedoch gleich wieder, da mir dieser Satz einen Mörderblick einbringt.
Seine Mutter nickt jedoch zufrieden. »Na, siehst du. Dann hat sich das Problem doch schon gelöst.«
»Oder ich lasse es vor der Tür stehen, vielleicht habe ich Glück und es klaut einer«, grummelt er vor sich hin, während er an mir vorbei Richtung Wohnzimmertür stapft. »Los jetzt.«
»Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Herr Becker«, verabschiedet sich seine Mutter von mir.
»Es hat mich auch gefreut«, sage ich höflich lächelnd und schüttele noch mal ihre Hand.
Maya kommt zu uns und zupft an meinem Bein. »Hier, deine Gummibärchen.« Sie hält eine Faust in die Höhe, aus der sie ein paar der klebrigen bunten Bärchen in meine Handfläche fallen lässt. »Aber nicht vor dem Essen naschen und du musst hinterher gut die Zähne putzen, sonst kommen die Zahnmännchen!«
Ich hocke mich neben sie und nicke bedächtig. »In Ordnung. Darf ich denn wenigstens eins vor dem Abendessen kosten?«, frage ich flüsternd
Sie überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein, dann vergeht dir der Hunger.«
»Na gut«, sage ich seufzend. »Dann hebe ich sie mir für später auf. Vielen Dank, dass du mit mir geteilt hast.«
»Bitte!« Winkend folgt sie ihrer Oma und ihrem Bruder in den Flur. »Tschüss, Jannis!«
»Bis bald mal wieder!«, rufe ich nach.
»Hat deine Schwester gesagt, wann sie Feierabend hat?«, höre ich Tobias’ Mutter fragen, während er Maya die Schuhe anzieht.
»Nein, aber kannst du ihr sagen, dass sie beim nächsten Mal vorher anrufen soll, wenn sie einen Babysitter braucht und nicht einfach hier auftauchen kann?«, fragt er leise zurück. »Ich würde gern mal ein Semester lang in ein- und derselben Wohnung leben können, ohne dumm angemacht zu werden.«
»Jannis schien doch nett zu sein«, wirft sie deutlich hörbar ein.
»Hier ist aber nun mal kein Kinderspielplatz«, zischt Tobias. »Außerdem haben die beiden noch mehr Onkel, die mal einspringen könnten. Ich passe ja gern auf sie auf, aber nur, wenn wir es vorher absprechen und nicht, weil der Wich- wunderbare Vater lieber bei seinen Vögeln ist.«
»Ach, du weißt doch wie deine Brüder sind«, wirft seine Mutter seufzend ein. »Die würden sie nur mit Eis und Süßkram vollstopfen und vor den Fernseher setzen. Genau wie ihr Vater, damit er ... du weißt schon. Da sehe ich sie lieber bei dir.«
»Ich bin aber nun mal nur der Onkel, verdammt.« Tobias’ Stimme erhebt sich, während er nach seiner Jacke greift. »Ich kann nicht jedes Mal alles stehen und liegen lassen.«
»Ich weiß«, erklärt seine Mutter offenbar bedrückt. »Ich weiß doch auch nicht, was wir bei deinen Geschwistern falsch gemacht haben.«
»Oh, komm mir bloß nicht mit der Leier«, knurrt er. »Maya, setz den Rucksack wieder auf, wir wollen jetzt los.«
»Ich will aber Gummibärchen!«
»Hast du Jannis nicht eben erklärt, dass er vor dem Essen keine mehr naschen darf? Das findet er sicher unfair, wenn du jetzt welche isst«, wirft Tobias mit Engelsgeduld ein.
»Na gut«, höre ich die Kleine murmeln.
Da scheint ja wirklich einiges im Argen zu liegen. Ich fühle mich jedoch etwas unwohl, weil ich sie so unverschämt belausche, daher beschließe ich mich abzulenken, lasse mich aufs Sofa fallen und greife nach der Fernbedienung, die auf dem Tisch liegt und neben der noch die leere Babyflasche steht. Ich schnappe sie mir und springe auf. »Tobias, warte mal!«, rufe ich, ehe er die Wohnungstür hinter sich zuzieht. »Die Flasche!«
»Oh. Danke«, sagt er überrascht, dann lächelt er. »Sorry, wegen dem Stress und so.«
»Ach, mach dir keinen Kopf. Ist doch nett gewesen«, versichere ich, woraufhin er ungläubig die Stirn kraus zieht. Dann dreht er sich um und eilt polternd die Treppen runter, hinter seiner Familie her.
Texte: Jessica Martin
Bildmaterialien: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung eines Stockfotos von Romolo Tavani / www.shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2017
Alle Rechte vorbehalten