P
rolog
„Los, Los!“ flüsterte er. Zärtlich nahm er meine Hand und zog mich in den Wald. Sein Tempo war sehr schnell, aber ich konnte mit Leichtigkeit mithalten. Schnell zu sein ist ein Kinderspiel für mich. Ich fühlte die pulsierende Aufregung in meinem Körper: Der dunkle Wald, die kalte Luft, der mit Sternen überfüllte Himmel und vor allem das Gefühl, etwas Verbotenes zu machen. Das Gefühl von Freiheit. Immer und immer Blickte er zu mir zurück, um sicher zu gehen, dass ich noch da war. „Du bist dumm.“, sagte ich. „Wie bitte?!“ „Wo soll ich hin ohne dich? Hast du tatsächlich in Gedanken, das ich mich losreisse und abhaue?“ „Nein. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Was, wenn die uns Kriegen?“ „Bestimmt nicht. Ich verwische den Geruch. Kein Hund der Welt kann uns finden!“ Ich lachte belustigt. Dort war bestimmt bald die Hölle los. Er drosselte sein Tempo und lief langsamer, aber immer noch voraus, damit wir uns nicht verirrten. So bannten wir uns den Weg durch die Nacht. Einige Zeit später, war es Zeit zu rasten. Als er Feuer machen wollte hielt ich ihn zurück: „Sie werden uns so leichter finden, und ausser dem lockt das Licht Tiere an.“ Verdutzt schaute er mich an: „Wirst du nicht kalt haben?“ „Nein.“ „Sicher?“ „Vollkommen.“ Ich bettete meinen Kopf ins Laub, zog meinen Gefährten zu mir herunter, kuschelte mich an ihn und schlief ein.
Ich wachte erst auf, als die Sonne schon hoch im Himmel stand. Vorsichtig weckte ich ihn und zog ihn auf die Beine: „Wach auf, wir müssen weiter!“ Wir liefen nach Norden in die Berge. Die Landschaft wurde langsam grob und steinig, den Wald liessen wir hinter uns. An einem Bach wuschen wir uns, füllten unsere Flaschen auf und liefen weiter. Ich entdeckte wilde Erd- und Brombeeren und wir assen Frühstück. Der süsse, klebrige Saft rann über unsere Gesichter und es sah aus, als ob jemand ermordet worden war. Egal. Wir liefen weiter in die Höhe, der Weg wurde schmaler und die Abgründe tiefer. Es gab viele Hängebrücken und wir mussten auf unsere Lautstärke aufpassen, denn das das Echo konnte die Geräusche sehr weit wegtragen. Wir liefen lange und ohne ein Wort zu wechseln. Wie schade. In meiner Brust gab es ein kleines Loch, das tiefer und grösser wurde. Aua. Als die Sonne im Zenit stand, rasteten wir. Stumm assen wir Brot mit Wasser. „Wie weit noch?“ fragte ich, als ich mit dem Essen fertig war und meinen schwarzen Haare mit den Fingern kämmte. Ich mochte diese Stille zwischen uns nicht. „Nicht sehr weit. Wir sind bald da.“ Und tatsächlich: Wir kamen beim Bergpass an wo ein Mann in der Hausuniform meines Heimes wartete. Mein Herz setzte aus. Er hat uns gesehen; Es war zu spät.
Wir waren in eine Falle getappt.
D
er Anfang vom Ende
Schrillend zerrte mich der Wecker aus meinem Albtraum. Schon wieder. Abermals fahre ich mir durch die Haare, wieder und wieder. Dann stehe ich auf und öffne die Storen. Winterferien sind vorbei. Draussen tobte ein Schneesturm und die kühle Luft biss sich ins Glas. Heute ist wieder Schule. Ehrlich gesagt, freue ich mich ein wenig. Ich sehe meine Freunde und wir geben mit unseren Geschenken an, nerven die Lehrer und machen alles Mögliche in den hintersten Reihen. Zwar werden wir werden jemand neues bekommen, aber es war uns eh gleich. Chime- wer heisst denn so? Ungewöhnlich. Ich schlüpfte in meine Jeans, T-Shirt, eine coole Jacke zum zuknöpfen und ging runter in die Küche, um Anna aus der Küche zu zerren und sie zum Weiterschlafen bringen. Die alte Hausfrau war überarbeitet. Also gut: Hunger=Frühstücken.
Im Bus und hörte mit meinem iPod Musik, als ich kumpelhaft angerempelt wurde: „Hey Eisprinz! Was geht ab?!“ fragte Miguel. „Ich werde von einem Idioten angequatscht…“, meinte ich kühl; „…und ich mache ihn Sauer.“ fügte ich hinzu. Beleidigt schnaubte er: „Fies wie immer…“ ich ignorierte ihn und schaute hinaus ins Schneetreiben. Alles wie sonst. Der dunkle Morgen, kalter Wind, weisser Schnee. „…und da ist das neue Geschöpf.“ meinte Miguel und ich blickte kurz auf. Eine Kapuzenjacke, dunkle Haare, blitzende Augen, helle Haut und ein zutiefst gelangweilter Blick. Ihr Haar viel ihr gemächlich den Rücken hinunter, und ihre Augen waren so dunkel, das sie Schwarz wirkten. Man hätte sie für eine Puppe gehalten, wenn sie nicht Blinzeln würde. Kurz trafen sich unsere Blicke: Ich sah sie neugierig mit schräg gelegten Kopf an. Sie war unbeeindruckt, lächelte böse und drehte sich weg. Dummes Ding. Miguel hielt was anderes von ihr: „Wow, sie ist eine Göttin!“ schwärmte er; „Und zwar so was von! –Also, ran an das Frischfleisch!“, klopfte mir auf die Schulter und bannte sich den Weg zu der Neuen. Miguel liess seinen Scharm spielen, flirtete und machte eins auf freundlich-nervös. Jedes Mädchen ist bisher bei ihm durchgedreht; Sie liess ihn kalt und verdrehte genervt die Augen, bis sie ihn mit einem Lächeln (…mit dem man mit Vollpfosten spricht; kurz, gemein…) abservierte und ihn zurücktrotten liess. Als er neben mir sass seufzte er: „Die ist eine harte Nuss.“ „Wie hart?“ „Diamanten-hart.“ „Uh.“
Der Tag verging für mich unglaublich Langweilig. Miguel bangte um die Aufmerksamkeit von Chime, die ihn immer und immer wieder wie ein Metzger durcharbeitete. Aua! Sport und Kunst wurden dagegen interessant. Die Jungen- und Mädchenklassen wurden zusammengemischt und ich amüsierte mich still tief in meinem inneren. Miguel hatte sich Dates besorgt und hatte Chime bereits vergessen. Ich spielte den stillen Gentleman und half Mädchen, die, mit einem „ach-du-meine-Güte-bin-ich-ungeschickt-verlegen-lächeln“ in mich hineinrannten. Viele sagten das auch sogar, worauf ich ihnen Nüchtern klarstellte, dass sie aufpassen sollen und ich nichts von Unfällen dieser Art halte. Es war ungeheuer, wie viele Weiber meine Aufmerksamkeit wollten. Miguel machte mir einen Vortrag über seine Dates auf dem Weg nach Draussen in die Freiheit…der versperrt wurde. Es war zu viel Schnee gefallen und kein Bus würde fahren. Scheisse.
„Das Problem ist die Eisschicht unter dem Schnee, das ist zu Gefährlich!!!“ erklärte der Vertreter des Direktors zum hundertsten Mal. Es waren schon zwei Stunden vergangen, in drei würde die Dämmerung beginnen. Und ich hatte Hunger. Die ganze Turnhalle, die in drei Teile geteilt werden kann, war mit Schüler-innen voll und niemand durfte gehen. Miguel hatte Glück und war gleich am Anfang abgehauen, denn er wohnte in der Nähe und niemand hatte was daran auszusetzen. Er bot mir an mitzukommen, aber ich schlug in der stillen Hoffnung für einen Bus aus. Ich idiot. Jetzt war ich an der Reihe mit verschwinden, es wurde mir allmählich zu bunt. Die Mädchen dachten wohl, ich leide unter Einsamkeit (was leider Stimmt, aber ich weiss, dass sie nur an mich ran wollen…) und wollten dass ich mich an ihrer schulter ausheule. Mitleidstour- wie ich das hasse. Ich schlich mich in den Geräteraum, um zwei absolut neue Tennisschläger von Head zu…zu borgen. Ja, „borgen“. Dann schlich ich zu meinem graugrünen Spind, der so alt war, das es mehr altes Metall zu sehen war als dieser hässlicher Lack. Ich holte meinen schwarzen Wollmantel und meine wasserfeste Tasche und lief hinaus in den Sturm.
Eigentlich war das Wetter richtig Weihnachtlich: Ganz im Sinne von „Leise rieselt der Schnee“ fielen Schneeflocken zu Boden, und es war beinahe Windstill. Beinahe. Die Sturmböen kamen stark in unregelmässigen Abständen und rissen mich fast um. Der körnige Schnee verwandelte sich in spitze Kristalle, die sich in mein Gesicht bohrten und ich selbst durch meine Jeans spürte. Am Boden türmte er sich Meterhoch bis zu der Treppe und ich war froh die Tennisschläger an meinen Füssen gebunden zu haben. Die Stadt war klein, aber Wohlhabend und die meisten Anwesen stammen aus dem 19. Jahrhundert, genau wie meins. Nur war es 8,6 Kilometer weit von dem Stadtrand entfernt, beinahe im Wald. Aber es war doppelt so gross wie die Restlichen Anwesen der Stadt. Und 8,6 Kilometer, grob aufgerundet 10 Kilometer waren ein Klacks für mich. Mein Vater war auf der Militärschule und Sport war ihm Heilig. Mit acht-ein-halb Jahren war ich so Sportlich wie ein 15-jähriger. Als ich zehn wurde rückte Sport in den Hintergrund und meine Besessenheit für reibungslose Abläufe meiner Zukunft war Hauptthema, nach dem ich vorher ein Jahr lang unter Depressionen litt. Aber Miguel zog mich aus der Scheisse raus. Glaubte er. Meine Mutter steckte auch dort fest und ertrank sich mit Alkohol. Ich zog mich aus der Vergangenheit und lief nach Hause durch den beissenden Sturm.
…
Ich hatte das Gefühl, schon mehrere Tage unterwegs zu sein. Meine Tasche hatte ich schon längst irgendwo liegen lassen und der blöde Wind kam genau aus der Richtung, in die ich wollte. Scheisse. Der Mantel war schwer und kalt, aber wenn ich ihn loswerden müsste, hätte ich auch gleich nackt rumrennen können. Der sechs Kilometer lange Weg führte geradeaus zu meinem Haus. Er lag genau neben dem Wald und Besucher wurden auf das Freiwild hingewiesen, damit es nicht überfahren wurde. Bei gutem Wetter sah man das Haus hinter dem Eisentor mit den schwarzen Metallrosen schon von hier aus. Es wäre Überflüssig zu erläutern, dass der Sturm mir die Sicht nahm. Da der Wind hier richtig Anlauf nehmen konnte, beschloss ich durch den Wald zu gehen. Tatsächlich hielten die Tannen dem Sturmwind stand und ich war froh, bald in trockener Kleidung vor dem Kamin zu sitzen. Besser als von Mädels in dieser dummen Turnhalle belagert zu werden. Und so kämpfte ich mich weiter. Mit den Tennisschlägern schlug ich jeden Schritt in den Schnee damit ich nicht umgerissen wurde. Ich war schon Müde und setzte auf Kraftreserven, Adrenalin und Überlebensinstinkte. Ich achtete nicht allzu stark auf die Umgebung und hatte das Gefühl, die Tannen würden mich im Kreis führen. Ich hielt nach dem Weg Ausschau, den ich blödsinniger weise verlassen hatte. Idiot hoch zwei. Also lief ich weiter in die Richtung in der ich mein Heim vermutete. Laufen. Verlaufen. Saufen? Das zweite war besser. Verlaufen, verschwinden. Ich müsste mir keine Angst um meine Alkoholverliebte Mutter machen. Weg sein. Kein perfektes Leben spielen. Nicht existieren. Nie mehr in die Schule gehen. Einfach nur leben. Oder sterben. Oder seine Tennisschläger von den Füssen nehmen und im Schnee einsinken. Ich war zu erschöpft um weiter zu machen und inzwischen war es schon dunkel. Stöhnend liess ich mich auf den Rücken fallen, schoss meine Tennisschläger weg und starrte in den Himmel. Alles wirkte wie nach einem kräftigen Zug am Joint, aber die Müdigkeit war mir noch nicht bekannt. Die Schneeflocken verwandelten sich in einen Sternehimmel, der sich in Lichtgeschwindigkeit drehte. Hinter den Sternen zog ein Schweif hinterher, der mit der zunehmenden Geschwindigkeit plötzlich zu einem Ring wurde. Wieso hatten Sterne Ringe? Ich richtete mich auf und kroch auf allen vieren, um nicht allzu tief im Schnee einzusinken. Die Tannen flüsterten und redeten mit mir. Ich lachte heiser: Ich bin Homer Simpson. Ich muss Bart und Lisa retten. Ich richtete mich Heldenhaft auf- und sank sofort ein. Irgendetwas machte klick. Ich schrie. Ich Tobte. Ich will meinen Fuss zurückhaben! Aber das Ding wollte ihn behalten und biss sich schmerzhaft in mein linkes Bein. Es war kalt genug, um zu brennen und meinen Fuss auszureissen. Ich wollte hier Weg. Auf einmal sah ich ein Haus. Meins? Egal; Ich schrie nach Hilfe, ich brauche Hilfe! Ein verräterisches, langsames Knacksen hinter mir liess mich erstarren. Es traf mich am Kopf. Ich war weg.
D
as Haus
Mmmh. Es war zu Hell. Ich wollte noch Schlafen. „Anna mach doch die Schoren suu…“, nuschelte ich. „Bitte, Anna, suu machen!“ ich bekam keine Antwort. „Anna?“ fragte ich verschlafen und rieb mir die Augen. „Anna!?“, rief ich lauter. Ich richtete mich in meinem Bett auf und sah umher. Wo bin ich hier? Das Bett stand gegenüber drei Deckenhohen Bogenfenster und der Schnee reflektierte das Licht ins Zimmer hinein. Aber es war nicht mein Bett. An der rechten Seite war ein grosser Kamin, über ihm war ein Flachbild-fernseher, vor ihm eine weisse Ledercouch mit Schaffellen und hellgrauen Kissen. An der Decke hing ein Stoll mit einer Kristallleuchte, die das Licht brach und in tausende Richtungen warf. An der linken Seite waren zwei aufschiebbare Türen aus Milchglas, die wahrscheinlich in einen Wandschrank führten und rechts daneben war eine weitere Tür: das Bad. An der linken Seite in meinen Rücken war die Tür zum Rausgehen, nebendran eine weisse, edle Kommode, auf der sich tausende Bücher mit dunklen Einbänden stapelten, ein silberner Kerzenständer stand und dazu ein kleiner Spiegel der mit einem schwarzem Metallrahmen aus Gusseisen. Das Bett war ein Himmelbett mit weissen, durchsichtigen Vorhängen und die Balken waren mit Lichterketten geschmückt. Die Bettwäsche war auch weiss, roch eher Muffig nach irgendetwas Süssem und wirkte unglaublich warm… aber ich hatte kalt. Da entdeckte ich sie- ihr schwarzbraunes Haar hob sich von der Bettwäsche ab und ihre blasse Haut harmonierte eben gerade mit dem Weiss. Sie hatte ein kurzes, bis zum Bauchnabel gehendes T-Shirt an, dazu rosa Männerboxershorts aus...Seide vielleicht? Es wirkte jedenfalls teuer. Träge hob sie den Kopf und drehte ihn zu mir.
Wow.
Ihre dunklen Augen leuchteten warm wie…wie Zimt. Beinahe Orange. Sie waren mit einem schönen, dicken Kajalstrich umrandet und ihre Lippen verschmolzen mit der Haut. „Wach?“ fragte sie mit einer schönen, mädchenhaften Stimme, die etwas rau war. Ich Idiot starrte sie bloss an und nickte. Sie Lächelte mich freundlich an und lief zu mir:“Rutsch ein bisschen, ich will etwas schlafen, aber es ist zu kalt.“ Automatisch rutschte ich ein Stück nach links, sie hob die Bettdecke und liess ihre langen, schönen Beine unter ihr verschwinden. Dann zog sie die Bettdecke bis ans Kinn und drückte sich an mich. Sofort wurde es mir warm, obwohl ihre eisigen Füsse mich erschauern liessen. „Entschuldigung.“ Murmelte sie schuldbewusst, bewegte ihre Füsse aber kein Stück. Ich hätte ewig weiterliegen können mit der schönen Unbekannten, mit ihren schwarzen Haaren spielen können, die an den spitzen weissblond waren, aber… mein Magen knurrte lautstark. Blödes Organ. Sie schaute auf und fragte mich mit grossen Augen: „Hunger?“ Ich schluckte und nickte eifrig mit dem Kopf. „Na dann“ murmelte sie und schwang sich aus dem Bett, ging zum brennendem Kamin und schoss achtlos ein paar Holzscheite hinein. Dann streckte sie mir die Hand entgegen, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ich nahm sie nicht entgegen, sondern kroch auf eigener Faust aus dem Bett. Enttäuscht liess sie den Arm hängen. Ouh. Und dann verstand ich, weshalb sie mir helfen wollte: mein linkes Bein liess unter meinem Gewicht nach und knickte ein- ich fiel zu Boden und biss mir wegen den scharfen Schmerzen beinahe die Zunge durch. Sie ging in die Knie und legte sich meinen linken Arm um ihren Nacken. Woah. Wir standen gemeinsam auf und gingen aus dem Zimmer hinunter in die Küche, um uns ein Frühstück zuzubereiten. Eine Imposante Treppe in der Mitte des Balkons führte hinunter in einen grossen Saal, wo ein Tisch aus edlem Holz mit fünf Stühlen stand. Über ihm hing an der Decke ein Kristallleuchter, in der Gegend des ersten Stockes. Es gab noch einen zweiten. Am Fuss der Treppe waren links und rechts Türen, und alles war weiss, mit Ausnahme des Tisches. Gegenüber der Treppe war eine Doppelflügige Tür aus Milchglas, die nach Draussen führte. Links war eine Tür, und Rechts war eine Zusätzliche Wendeltreppe, die nach Oben führte. Wir gingen nach links in die Küche. Sie war gross und Modern. Der Boden war aus hellen Parkett, die Wand links von der Tür war eine einzige Küchenabteilung die sich fünf Meter lang dahinzog. Gegenüber war eine Kücheninsel die zwei Meter Kürzer war und genau in der Mitte der Küchenabteilung lag. Dort war ein Herd und eine zusätzliche, höher gebaute Theke, die als Bar diente. An ihr standen drei weisse Lederhocker mit dunkelbraunen Holzbeinen. Alles war aus hellen und dunkelbraunen Holz gemacht.
Da merkte ich es. Es war eigenartig, aber alles war Fremd und…und gleichzeitig vertraut. ZU vertraut. In der Küche fiel ich auf den ersten Hocker und betrachtete mein schmerzendes Bein- Sie sass neben mir und wartete auf meine Reaktion. Quer über dem Fussknöchel und der Wade verliefen tiefe bissspuren. Ein Teil war genäht worden und lag unter Druckverbänden, die mein Bein unförmig aussehen liessen. „Was ist passiert?“ fragte ich leise. Überrascht hob sie den Kopf: „Du erinnerst dich nicht?“ Ich schwenkte meinen Kopf langsam nach links und rechts. „Möchtest du es wissen?“ fragte sie vorsichtig. Ich nickte. „Vor…vor kurzer Zeit war da doch dieser Schneesturm, oder?“ „Ja.“ „Ich war mit den Dienstmädchen und dem Koch zuhause, aber es waren auch ein paar Andere da. Wir sassen unten in der grossen Eingangshalle am Tisch und spielten Scrabble. Da hörten wir dich schreien. Wir dachten zuerst, du wärst ein Tier, aber den hörten wir ,Hilfe!‘ und liefen sofort nach draussen, um dir zu Helfen.“ Sie machte eine Pause und ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich. „Du warst unter einer Tanne eingeklemmt und warst an dem Hinterkopf verletzt. Wir brauchten beinahe eine Stunde, um den Baum von dir Wegzuräumen. Als wir dich aus dem Schnee ziehen wollten, war dein Bein in der Bärenfalle geschnappt und wir mussten eine halbe Stunde lang Schnee schaufeln, um überhaupt an deinen Fuss ranzukommen. Schlussendlich haben wir dich dann befreien und ins Haus bringen können. Du warst Ohnmächtig, aber dann warst du Aufgewacht und wieder Eingeschlafen. Und das noch ein paar Mal.“ „Heisst das also, dass ich bis jetzt immer Geschlafen habe?“ „Nur fast. Du bist zwischendurch aufgewacht.“ „Heisst das also, dass ich bis jetzt immer Geschlafen habe?“ „Nur fast. Du bist zwischendurch aufgewacht. Hab ich das vorhin nicht gesagt?“ „ Doch aber ich…ich kann mich an das nicht erinnern.“ Sie schaute zur Decke und überlegte: „Als du klein warst, und irgendwo Eingeschlafen bist, dann haben deine Eltern dich doch kurz geweckt und ins Zimmer gebracht, oder? Aber am nächsten Tag wusstest du nichts davon, weil du es vergessen hast. Vielleicht ist es das.“ Klingt einleuchtend. Und logisch. Mein Magen knurrte ein weiteres Mal und ich blickte sie verzweifelt an. Wart Mal… wie hiess sie eigentlich? „Wie heisst du?“ „Ich bin Suami. Und du bist Rain. Du hast mir deinen Namen schon gesagt.“ Was?! Wann denn das? War das in einem von diesen kurzen Momenten gewesen, in denen ich Wach war und dann vergessen habe? Oder hat Suami mich im Internet oder so gesucht? Ich blickte eine unbestimmte Zeit lang auf den Fussboden, bis ich mich traute, meine dümmste Frage seit eh und je zu stellen: „Wa- Wann habe ich mich vorgestellt?“ Suami war gerade dabei, ein weiteres Ei für irgendein Frühstück aufzuschlagen und hielt in der Bewegung inne. Sie warf das Ei auf die Arbeitsfläche und ging in die Hocke, hielt sich den Bauch. Sie lachte. Und ich hätte mich beinahe mit dem Stuhl erstochen. Ich behindertes Arschgesicht. Ihr Lachen füllte die Küche und hallte in den langen Gängen des Hauses nieder. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Theke und wischte sich eine Träne aus den Augen: „Tut mir leid, aber das letzte Mal als du dich Vorgestellt hast, warst du Homer Simpson.“
Ich bin die grösste Missgeburt des Jahrhunderts. Gratuliert mir.
E
rinnerungen
Jeden Tag kamen mehr Informationen über mein Leben dazu. Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich vergessen hatte. Ich wusste überhaupt nicht, dass ich irgendetwas vergessen haben könnte. Es war so, als ob ein Gelangweilter Briefträger wahllos alle Briefe in irgendein Postfach schiebt. Swusch swusch swusch
. Am dritten Tag, in der Nacht, erinnerte ich mich an den Tod meines Vaters. Jedes einzelne Detail sah ich ein weiteres Mal. Ein weiteres Mal wurden meine Wunden gewaltsam aufgerissen und die Erinnerung kontrollierte mich. In meiner Brust öffnete sich ein grausam schmerzendes Loch,ich hatte körperliche Schmerzen. Grausame Schmerzen. Ich war neun, als es passierte: Wir waren in die grössere Nachbarsstadt gefahren. Um mir ein Skateboard zu kaufen. Den ganzen Tag irrten Mom, Dad und ich durch die Strassen herum, für ein Skateboard, das mir cool genug erschien. Mom war nach fünf Minuten in einer Chanel-Boutique verschwunden, während mein Vater und ich alle Skatershops in der Stadt besuchten. Ich wollte unbedingt eins mit Totenköpfen und Flammen, aber es gab nur komische Hip-Hop Typen oder grimmig guckende Kids. Alle anderen Motive waren auf Skateboards, die zu gross für mich waren. Am Abend, als alle Läden geschlossen hatten, ging ich enttäuscht nach Hause. Meine Mutter hatte zig Taschen in den Händen und redete ohne Punkt und Komma. Sie lachte. Um zu unserem Auto zu kommen, mussten wir zum Zentralen Bahnhof. Es gab da eine Brücke, von der man die eintreffenden oder abfahrenden Züge anschauen konnte. Das Geländer war eigentlich ganz hoch, aber mein Vater war ein Mann, der über zwei Meter gross war. Das Geländer reichte ihm bis an die Hüfte. Uns kamen ein paar Jugendliche entgegen, die sich besoffen hatten. Sie lachten, lallten und schwankten über die Brücke. Einer Rempelte meinen Vater an und gab ihm die Schuld dafür, beleidigte ihn: Er sagte meinem Vater, er sei eine spiessige Scheissfotze, und was glaube er mit wem er es zu tun habe. Mein Vater erwiderte mit fester und ruhiger Stimme, dass es ihm leid tut und ihn nicht belästigen wollte. Der Typ pöbelte ihn aber weiter an, bis mein Dad ihn wegstiess. Nun war der Typ so richtig aggressiv und stiess meinen Vater mit aller Wucht übers Geländer. Dad kippte. Wie eine Schaukel. Ich schrie und versuchte ihn noch am Fuss zurück auf die andere Seite zu ziehen, aber der Stoff entglitt meiner Hand. Und so fiel er in Zeitlupe auf die Hochspannungsleitungen der Züge. Sein Körper wurde aufgefangen und Funken sprühten wild herum. Ein erstickender Schrei blieb ihm in der Kehle stecken und sein Körper zuckte und zappelte. Hilflos wie ein Fisch auf dem Schneidebrett… dachte ich und tränen schossen in meine Augen. Ich schluchzte nicht, ich heulte nicht- ich stand da und schaute auf meinen toten Dad, meinen grössten Helden, durch den 50 000 Volt schossen, und liess mir einfach die Tränen übers Gesicht laufen. Meine Mutter hatte sich vor mich gestellt, in der Hoffnung, dass ich das alles nicht gesehen habe. Sie wollte mir den Anblick ersparen- aber sie schaffte es nicht.
Ich drehte durch. Ich hatte nun mein eigenes Zimmer, dunkler und männlicher als das von Suami, aber ähnlich eingerichtet. Die Erinnerung war so intensiv, dass ich verdammt laut schrie und wahrscheinlich jeden in dem Haus aufweckte. Ich schnappte mir einen Stuhl und fegte damit alles nieder, was mir in den Weg kam: Dekoration, Bilder, Tische, Stühle, Türen, Sofa, Bett, Kommode, Vorhänge und noch mehr. Suami hat ihr Zimmer neben meinem und hatte den Krach gehört. Sie öffnete die Tür und sah mich in meiner schlimmsten Situation: Ich, mit einem Stuhl in der Hand zerstöre ein ganzes Zimmer wie ein wildes Tier. Wütende Tränen laufen mir übers Gesicht und ich schreie immer und immer wieder auf. Bei jedem Schrei zuckt sie zusammen. Ich schmettere den Stuhl auf den Boden und zerstöre ihn. Dann laufe ich zu der Wand und schlage auf sie ein, bis meine Knöchel bluten. Die Haut brennt, die Knochen schmerzen. Nach und nach werden meine Schläge träge und Wut weicht meiner Verzweiflung. Ich sinke in mir zusammen und heule wie ein Schlosshund. „Sie haben ihn einfach umgebracht… sie haben meinen Dad ermordet und dann einfach verschwunden!“ schrie ich. Suami kam zu mir und legte mir trösten einen Arm um die Schulter, und drückte sich an mich. Ich weinte immer noch, aber mein Schmerz wurde gelindert. Mir war egal, ob ich gerade wie eine Schwuchtel vor einem Mädchen heulte. Mir war egal, dass das ganze Haus darüber Bescheid wusste. Mir war alles Egal. Die Scheissaffen haben meine Dad ermordet. Nur das zählte in diesem Moment.
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2010
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