Cover

Mit quietschenden Reifen hielt der Jaguar Roadster vor dem quadratischen grauen Betonbau. Regenwasser spritzte auf, als der Wagen zum Stehen kam, und praktisch unmittelbar danach schwang auch schon die Beifahrertür auf und eine zierliche Gestalt stieg aus dem beheizten Innenraum auf den nassen Gehsteig hinaus. Die Gestalt beugte sich noch einmal ins Auto zurück und murmelte dem Fahrer ein paar hastige Worte des Abschieds zu. Dann wurde die Autotür von innen geschlossen, und die Person, die nun allein im Regen stand, sah dem davonbrausenden Jaguar nach.
Sie schüttelte leicht den Kopf und raffte ihren exklusiv wirkenden anthrazitfarbenen Wollmantel enger um sich. Zögerlich trat sie auf das schmucklose Gebäude zu. Die graue Betonfassade war schlicht und fast völ­lig nackt, nur neben der Tür, die aus einem einzigen riesigen Stück Gusseisen geschmiedet zu sein schien, waren ein kleines Messingschild und darunter ein Klingelknopf angebracht; auf dem Messingschild stand in unscheinbaren Druckbuchstaben Hochsicherheits-Justizvollzugsanstalt für Schwerstverbrecher geschrie­ben. Die zierliche Person im dunklen Mantel atmete tief durch, dann legte sie einen schmalen Zeigefinger auf den Klingelknopf.
Einige Augenblicke lang geschah gar nichts. Dann jedoch waren dumpfe Schritte zu hören, die von schwe­ren Stiefeln herrühren mussten und sich der Tür näherten. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür.
„Was wollen Sie?“ Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, stand nun im Eingang, die Arme vor der Brust ver­schränkt, einen abweisenden Ausdruck im Gesicht. Der Besuch hob die Hände zum Kopf; die Kapuze des an­thrazitfarbenen Mantels fiel zurück und langes, glattes nachtschwarzes Haar kam darunter zum Vorschein. Augenblicklich nahm der Mann eine andere Haltung an und deutete mit dem Kinn eine leichte Verneigung an. „Miss Grayson“, grüßte er mit devoter Stimme, „verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Darf ich Sie herein­bitten?“ Die Besucherin, ein Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren, warf die feuchten Haare zurück, straffte die Schultern und nickte kaum wahrnehmbar, aber eindeutig.
Der Mann, ein Aufseher aus der Justizvollzugsanstalt, neigte erneut den Kopf, dann trat er zurück und ließ das Mädchen eintreten.
Sie folgte ihm durch die verwinkelten Gänge der Strafanstalt, bis sie vor einer unscheinbaren Tür aus Stahl stehen blieben, die durch ein Nummernschloss gesichert war. Der Mann tippte eine Zahlenkombination ein, dann zog er einen Kunststoffausweis im Kreditkartenformat hervor und fuhr damit durch den Verifizie­rungsschlitz, der ebenfalls Teil des Nummernschlosses war. Ein leises Piepen ertönte, dann konnte man hö­ren, wie sich die Tür entriegelte. „Bitte, Miss Grayson. Treten Sie ein. Wir bringen Cray- ... Mr Crayler gleich zu Ihnen.“ Das Gesicht des Mädchens ließ keine Gefühlsregung erkennen, als die junge Besucherin die Tür öffnete und den dahinterliegenden Raum betrat, und kurz darauf war wieder das Piepen von der Tür zu hören; sie war wieder verschlossen.
Die kleinen Absätze ihrer Stiefeletten sorgten für ein seltsam hohles, klackendes Geräusch auf dem stei­nernen Boden, als das Mädchen in den Raum kam. Der Raum selbst war genauso schmucklos und zweckmä­ßig wie das gesamte Gebäude. Die Wände waren lediglich weißgetüncht und ansonsten kahl; die einzigen Möbelstücke waren ein schwerer Tisch aus dunklem Metall und zwei rohe Stühle aus unbehandeltem Kie­fernholz, die sich gegenüber am Tisch standen. Der Raum hatte zwei Eingangstüren, die Tür, durch die das Mädchen gekommen war, und eine weitere Stahltür auf der anderen Seite des Raumes, die ebenfalls durch ein Nummernschloss mit Verifizierungsschlitz gesichert war.
Das junge Mädchen trat auf einen der Stühle zu, ohne sich zu setzen, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab. Einige Minuten verstrichen.
Plötzlich gab die Tür auf der anderen Seite des Raumes ein Piepen von sich. Erwartungsvoll blickte das Mädchen auf und sah zu der Tür herüber. Einen Augenblick später wurde die Tür mühevoll aufgeschoben und ein weiterer Gefängniswärter stieß einen großen, dunkelhaarigen jungen Mann in den Raum, der miss­mutig zu Boden starrte. Er trug eine dunkle Cordhose und ein schlichtes dunkelgraues Hemd aus billigem Material; Sträflingskleidung. Seine Hände waren hinter dem Rücken in Handschellen gelegt.
Der Gefängniswärter murmelte etwas Unverständliches, dann ging er rückwärts aus dem Raum und verrie­gelte die Tür.
Ein kleines, rätselhaftes Lächeln spielte um den Mund des Mädchens, als es auf den jungen Mann zuging. Wieder klackten ihre Absätze auf dem Boden, was den Mann dazu veranlasste, überrascht aufzuschauen. Er schien jemand anderen erwartet zu haben. Als sein Blick aus klugen, zynischen grünen Augen über die Ge­stalt des Mädchens glitt, hellten sich seine Züge auf. „K-Kate?“, stieß er ungläubig hervor und machte zwei große Schritte auf sie zu. „Du bist wirklich gekommen ...“ Sie legte ihm die Arme um den Hals und ihre Stirn an seine Schulter. „Ben“, sagte sie leise.
„Ich würd' dich ja umarmen, Katie ...“ Ben Crayler hob die Handschellen hinter seinem Rücken ein Stück an, um das Mädchen darauf aufmerksam zu machen. Sie trat ein Stück zurück und legte ihre Hände auf sei­ne Schultern. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf, während sie ihm unverwandt in die Augen sah. „Also, eines steht fest. Du musst dringend hier raus, Ben.“ Ihre Augen, von demselben Grünton wie seine, huschten über seine Erscheinung. Die billige Sträflingskleidung, die Handschellen, das zerzauste schwarze Haar. Ben Crayler hob eine dunkle Augenbraue. „Gut erkannt, Schwesterchen. Aber – als ob das so einfach wäre.“ Der bittere, sarkastische Unterton in seiner Stimme war kaum zu überhören.
Katerina Grayson warf die Schultern zurück und straffte den Rücken, ihr langes dunkles Haar, glatt wie Schnittlauch, fiel über ihre Schultern und den anthrazitfarbenen Mantel. „Tja“, erwiderte sie gelassen, „ich werde dich hier rausholen ...“ Sie dachte kurz über die Situation nach, man konnte ihr förmlich anse­hen, wie ihr Gehirn arbeitete. Einen Augenblick später lächelte sie überlegen.
„Und ich weiß auch schon, wie.“

Das Klingeln des Telefons riss mich aus dem Schlaf.
Ein flüchtiger Blick auf die silbern schimmernde Armbanduhr, die auf dem Beistelltisch vor dem Sofa lag, verriet mir, dass es bereits halb zwölf Uhr vormittags war. Hastig richtete ich mich auf und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Dann sprang ich von der teuer riechenden cremefarbenen Ledercouch, auf der ich in der Vornacht eingeschlafen war, schlüpfte in die Hausschuhe, die direkt neben mir vor dem Sofa stan­den, und tapste in den schmalen Flur.
„Christie? Christie! Wo stecken Sie?“ Verschlafen rief ich den Namen meiner persönlichen Assistentin durch die Hotelsuite. Ich erhielt allerdings keine Antwort. Also griff ich kurzentschlossen nach meinem Kosmetik­beutel und machte mich auf den Weg ins Badezimmer, um eine Dusche zu nehmen.
Ich trug immernoch die Kleidung von gestern Nacht. Mein Bühnenoutfit. Ein figurnahes Kleid aus schwar­zem Samt, mit langen Ärmeln, das eine Handbreit über dem Knie endete, mit dunkelroten Stickereien. Der Strumpfhose hatte ich mich schon gestern entledigt, bevor ich todmüde auf das Ledersofa gefallen und eingeschlafen war; ich konnte mich nicht einmal erinnern, mich zugedeckt zu haben, wahrscheinlich hatte Christie das getan. Es war ein extrem anstrengendes Konzert gewesen. Klar hatte es Spaß gemacht, aber so erschöpft war ich schon Ewigkeiten nicht gewesen.
Umso besser, wenn ich jetzt ein bisschen Zeit für mich hatte. Duschen gehen, dann den Zimmerservice an­rufen und etwas zu essen kommen lassen, Haare föhnen, was Anständiges anziehen. Danach vielleicht run­ter in die Lobby. Wenn Christie ausgegangen war, hatte sie mir sicher eine Nachricht hinterlegt.

Impressum

Texte: "Alles hier ist meins, meins meins!"
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
can't tell you what it is. can only tell you what it feels like.

Nächste Seite
Seite 1 /