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Ohne noch einmal bei Kate vorbeizuschauen und mich zu verabschieden oder so, hatte ich nach dem Besuch in Hogwarts das nächste Flugzeug in die Vereinigten Staaten genommen. Mein Vorhaben, Dumbledore noch einen Anstandsbesuch abzustatten, hatte ich dann doch verschoben. Das konnte ich tun, wenn ich aus Amerika zurück war und mehr über mich und meine Vergangenheit und das eventuelle Überleben meiner nächsten Angehörigen wusste. Hier in Louisiana gedachte ich, Spuren von Marissa zu finden, meiner geliebten ältesten Schwester, die ich auf der Flucht vor den Mördern meiner Eltern aus den Augen verloren hatte. In dem an sie adressierten Brief, den ich daheim in Kinsale gefunden hatte, stand zumindest drin, dass sie Erbin einer Farm etwas außerhalb von Kentwood geworden sei. Ob sie das Erbe angetreten hatte? Ich wusste es nicht, aber soviel stand fest, ich würde es herausfinden. Ich konnte immernoch nicht fassen, dass ich auf einem Pferd saß. Aber es stimmte. Unter mir spürte ich den warmen Rücken und das glatte, weiche Fell einer hübschen schokoladenbraunen Stute, die, laut dem ziemlich nach Cowboy aussehenden Typen, der sie mir vermietet hatte, Estelle hieß und sechs Jahre alt war. Es war das erste Mal, das ich auf einem Pferd saß, und die ständige Bewegung, die so ein Ritt mit sich brachte, das Schwanken und Schaukeln, war mir gar nicht geheuer. Aber es musste sein, und nach einer halben Stunde auf Estelle’s Rücken hatte ich mich daran gewöhnt und genoss es sogar irgendwie… Das Wetter war großartig, die Sonne schien bei fast siebenundzwanzig Grad Celsius, und so brauchte ich nicht einmal einen Reiseumhang oder ähnliches. Ich saß einfach in Jeans und ganz stilecht in rot, weiß und blau karierter Bluse auf dem Pferderücken und ließ mich durch die schöne Landschaft tragen. Man merkte richtig, dass dieses Land, der Bundesstaat Louisiana, um einiges näher am Äquator lag als Großbritannien. Es wäre kein Wunder, wenn es Marissa wirklich hierher verschlagen hätte…
Zwei Reitstunden von Kentwood, dem Örtchen, in dem ich Estelle gemietet hatte, entfernt, konnte ich dann schließlich eine Farm in der endlos weiten Landschaft ausmachen. Ob es die Richtige war, war fraglich, aber ich konnte es ja herausfinden. Ich trieb Estelle durch einen leichten Schenkeldruck an ihren Seiten in den Trab und ritt leichthin auf die Farm zu. Ich war plötzlich von einem unglaublichen Hochgefühl erfüllt. War es möglich, dass ich gleich auf meine seit Jahren totgeglaubte ältere Schwester traf? Konnte das möglich sein?
Ich band Estelle’s Zügel an einem Zaun fest und ging langsam auf das Farmhaus zu. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen… Eine leichte Enttäuschung machte sich in mir breit. Wahrscheinlich war die Farm verlassen und ich hatte Marissa schon vor Jahren verloren. Ich sollte mir wohl keine zu großen Hoffnungen machen…
Irgendwoher nahm ich den Mut, auf die morsch wirkende Holztür zuzugehen und einfach mal anzuklopfen. Eine Klingel gab es nicht; wahrscheinlich war sie nicht nötig, weil sich in diese Ödnis wohl sowieso nur eher selten Leute verirrten. Als nach einigen Minuten noch immer niemand reagiert hatte, klopfte ich noch mal an, dann drückte ich behutsam die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen, im Gegenteil, sie schwang so leicht auf, dass man fast das Gefühl haben konnte, sie habe darauf gewartet, geöffnet zu werden… Ich trat ein und sah mich in dem einen ziemlich altmodischen Eindruck machenden Salon um, der der erste Raum hinter der Tür war. Das Ganze erinnerte mich ziemlich an eine der Wohnungen im frühen Amerika, von diesen europäischen Siedlern, die dann ihre niedlichen kleinen Häuserchen im Biedermeierstil einrichteten und ihr kleines niedliches Leben lebten und sich keine Gedanken um den Rest der Welt machten… Noch immer war niemand zu sehen. Die Farm schien wirklich verlassen zu sein, aber ich war entschlossen, mich noch ein wenig weiter umzusehen. Wenn sie verlassen war, würde ich ja niemanden stören. Nachdem ich das untere Stockwerk komplett unter die Lupe genommen hatte, ging ich eine Treppe hinauf in den ersten Stock.

Als ich das Schlafzimmer betrat, welches sich am Ende des Flurs im ersten Stock befand, wurde ich von einem beklemmenden Gefühl erfasst. Dieser Raum… hier war vor Kurzem noch jemand drin gewesen, wenn die Person jetzt auch fort sein mochte. Und,… ich hatte das Gefühl, die Person, die sich hier aufgehalten hatte, irgendwie zu kennen… Als seien wir uns schon mal begegnet, früher… In einem anderen Leben, einer anderen Welt. Marissa! Meine Zweifel, dass sie hiergewesen war, verschwanden. Es musste so sein… Ich konnte ihre Gegenwart praktisch noch spüren, es war noch gar nicht lange her… Auf der hölzernen Tischplatte des Schreibtischs, der direkt unter dem Fenster stand, lag ein Stapel geöffneter Briefe. Ich atmete scharf ein, als ich sah, an wen sie adressiert waren. Marissa Seodra. Das musste ohne Zweifel meine Schwester sein. Seodra war irisch für Kristallschmuck… und der Diamant war schließlich eine Art Kristall. Sie hatte ihre Identität geändert, was nur klug gewesen war. Hätte ich auch tun sollen, schließlich war ja irgendjemand hinter unserer Familie her. Neugierig zog ich einen der Briefe aus seinem Umschlag und begann zu lesen.

Sehr geehrte Miss Seodra,
wir müssen Sie hiermit leider auffordern, Ihren Wohnsitz wieder nach Großbritannien zu verlegen, bis wir völlig ausschließen können, dass Sie an den folgenden Straftaten mitbeteiligt waren: Brandstiftung in der Scheune der Familie Diamond in Kinsale in Tateinheit mit Mord an dem Auror Patrick Diamond; Mord an der Medimagierin Aimee Diamond; Mord an der Schülerin Fayère Diamond; Legen einer Muggelbombe im Cairdeas Institut für Hexerei und Zauberei, was den Tod der Schüler Paul Benson, Summer Prince, Liliana Diamond und Phoebe Knowlidge zur Folge hatte. Bis Ihre Unschuld bewiesen ist, dürfen Sie Großbritannien nicht ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis eines Mitglieds des Londoner Aurorenbüros verlassen.
Mit freundlichen Grüßen,
Anthony Bishop, Leiter des Aurorenbüros

Was ich da las, war wirklich ungeheuerlich. Wie zum Teufel kam das Aurorenbüro dazu, meine große Schwester unter Mordverdacht zu stellen??! Ich dachte kurz darüber nach, las den Brief noch einmal durch… und wurde erst aus meinen Gedanken geschreckt, als die Tür des Schlafzimmers mit einem Knall zugeschlagen wurde und aus der Ecke hinter der Tür eine leise, boshafte Stimme ertönte. „Hat dir niemand gesagt, dass es sich nicht gehört, anderer Leute Briefe zu lesen, Schätzchen?“ Ich fuhr herum und sah nur noch einen auf mich gerichteten Zauberstab, aus dem ein roter Lichtblitz auf mich zuschoss, dann legte sich Schwärze über die Welt.

„Wach auf! Wach auf, du verdammte Göre! Los! Crucio!“ Schmerz durchfuhr mich, der heftigste Schmerz, den ich je gespürt hatte. Es war nicht auszuhalten. Ich wand mich ohnmächtig am Boden, betete, dass es doch aufhören möge… aber ich war fest entschlossen, nicht zu schreien. Niemals würde ich meinem Peiniger, wer immer es auch sein mochte, diese Genugtuung gönnen. Niemals. „Mach die Augen auf! Ich weiß dass du wach bist. Je länger du mir etwas vorspielst, desto schmerzhafter wird es für dich.“ Die leise, arrogante Stimme, die da sprach, war von abgrundtiefem Hass erfüllt, und doch… ich kannte diese Stimme. Vier Jahre lang war sie in nahezu jedem meiner Träume aufgetaucht… ja, in meinen Träumen, den schönen Träumen, nicht den Albträumen… auch wenn diese Situation gerade dabei war, sich zu einem Albtraum zu entwickeln. Noch immer von qualvollen Schmerzen erfüllt zwang ich mich, die Augen zu öffnen. Augenblicklich schwand der Schmerz, mein zuckender Körper kam zur Ruhe, und ich war imstande, Marissa ins Gesicht zu sehen. „Na also, geht doch“, stellte sie höhnisch lächelnd fest. „Ma…rissa“, presste ich mit schwacher Stimme hervor. Das abschätzige Lächeln wurde breiter. „Bist wohl doch noch nicht ganz verblödet, Schwesterchen, hm? Hast du Angst? Angst, vor dem, was ich dir antun werde? Solltest du auch, Schätzchen… Es ist sowieso ein Jammer, dass ich dich nicht früher erwischt habe. Ich dachte wirklich, du hättest damals in dieser Nacht den Tod gefunden… leider ein fataler Irrtum. Der Brief da-“, sie schlenkerte mit dem Zauberstab in die Richtung, in der ich den Schreibtisch vermutete, dort lag wohl auch der Brief, bei dessen Lektüre Marissa mich überrascht hatte, „hat mich wirklich glaubenlassen, ihr wärt alle tot… ich hätte es geschafft. Aber dann spazierst du einfach so hier herein, und mir fällt auf – ich habe es doch noch nicht ganz vollbracht… Macht nichts. Aber keine Sorge, Herzchen. Du wirst zwar sterben, aber du kannst guten Gewissens sterben… sterben mit dem Wissen, dass du unsere lieben Eltern und auch bald die wunderbare Lily wieder sehen wirst… Na ja, bis du mit Lilylein wiedervereint bist, wird wohl noch ein wenig Zeit verstreichen. Eine von euch beiden brauche ich leider noch. Natürlich könnte ich auch dich benutzen, aber… Nein. Wo ich dich schon mal hier hab, wie auf dem Silbertablett, wenn du schon so entgegenkommend bist, mir die Mühe ersparst, dich erst suchen zu müssen – dann solltest du wenigstens die Gnade eines schnellen Todes erwiesen bekommen, nicht wahr?“ Angsterfüllt sah ich zu meiner Schwester auf, als sie geendet hatte. Wie sie sich verändert hatte! Das glatte, nachtschwarze Haar trug sie kinnlang; es war zerzaust und umgab ihr aschfahles Gesicht wie die Haare der Hexen in den Büchern – wie eine dunkle Gewitterwolke. Marissa war extrem dünn und wirkte ungesund. In dem farblosen Gesicht, das hübsch hätte sein können, wäre es nicht so schmal und fahl und wären die Züge nicht so hasserfüllt und arrogant, fielen nur die Augen auf, groß, dunkel und Unheil verkündend wie schwarze Löcher, die mich völlig in ihren Bann schlugen. „A-aber Marissa… Rissie… Warum? Du – du hast… Mum und D-Dad…? U-und Lily… l-lebt noch? Warum?“, stammelte ich, in einem verzweifelten Versuch, an Marissa’s Gewissen zu appellieren. Meine Gedanken überschlugen sich. „Warum? Warum! Ha! Es ist doch ganz einfach.“ Sie musterte mich abfällig. „Ihr seid schuld!“, schrie sie plötzlich los. „Aber… woran denn?“, fragte ich verständnislos. Irgendwie musste ich hier doch rauskommen… „An allem! Merkst du’s denn nicht? Ich hasse dich… Ich hasse euch!“ Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, und schon rann die erste Träne meine Wange herab. Ich verstand gar nichts mehr, und mit einem Mal wollte ich auch nichts mehr verstehen. „Du – du und deine gottverdammte Zwillingsschwester – ihr habt alles! Ihr habt mir meinen Platz gestohlen!“ – „Das ist doch Unsinn“, stammelte ich entsetzt. „Jaah, selbstverständlich, das lässt sich leicht sagen, nicht wahr? Ich bin ja nur eure ältere Schwester, ich habe zurückzustehen und ich habe nicht das Recht, wichtig zu sein, so denkst du doch?“, fuhr Marissa mich an und ihre Augen schienen Funken zu sprühen. „Aber – aber nein, ganz und gar nicht! Ich hab – ich h-hab dich gesucht, all die Jahre, ich hab die Schule abgebrochen, um euch a-alle zu rächen… dich und Lily und Mum und Dad…“ Mittlerweile schluchzte ich. Warum hatte meine Schwester das getan? „Verstehst du’s denn immer noch nicht? Gut, dann werde ich dir eben auf die Sprünge helfen. Gehen wir das Ganze doch noch mal von Anfang an durch, ja. Ich werde geboren, aber irgendetwas fehlt. Meine Mutter weint bei meiner Geburt, anstatt sich zu freuen. Mein Vater liebt mich nicht, weil er sich einen Sohn ersehnt hat… Ich verbringe meine ersten drei Lebensjahre bei Pflegeeltern, weil meine wirklichen Eltern ihre Jobs nicht vernachlässigen wollen… Dann wird meine Mutter wieder schwanger. Sie bringt Zwillinge zur Welt, zwei Mädchen, die sie über alles liebt. Sie lacht und freut sich und gibt eine riesige Party zu Ehren ihrer wunderbaren Neugeborenen… bei der ich den ganzen Abend ignoriert werde! Von da an finde ich niemals mehr Beachtung, bei niemandem. Alle sehen nur die Zwillinge, die hochbegabten Zwillinge, ihre kleinen Sonnenscheinchen. Ich bin nur der Babysitter… für ihre hochwohlgeborenen Lieblingskinder! Natürlich sind die beiden vollkommen genug, um für unsere Eltern zu existieren, ganz im Gegensatz zu mir!“ – „Ich… ich wusste nicht“, wandte ich ein. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, die Welt um mich herum würde zusammenstürzen. Der brennende Schmerz, der sich einzustellen pflegte, wenn ich an meine Vergangenheit dachte, war außer Kontrolle geraten, er übermannte mich… „Also“, fuhr Marissa fort, „beschließe ich, mich mit ihnen gutzustellen, sie zu lieben, ihre große Schwester zu sein, so wie ich es sein soll. Ich will ihnen zeigen, dass auch ich das Recht habe, zu existieren und geschätzt zu werden.“ – „Ich habe bestimmt nichts dagegen gesagt…“ – „Doch meine lieben Geschwister nehmen keine Notiz von mir.“ – „Das stimmt doch gar nicht!“ – „Sie haben sämtliche Vorzüge. Das Leben hält alles für sie bereit, mir dagegen hat es nie etwas schenken wollen. Ich verspüre ihnen gegenüber einen heftigen, aber irgendwie auch wohltuenden Hass. Er erfasst mich, beherrscht mich, bis er mich schließlich ganz und gar erfüllt. Ich muss ihn einfach loswerden. Also konzentriere ich mich, und mit einer Leichtigkeit, die ich noch nie zuvor verspürt habe, gelingt es mir, mich von ihm zu befreien. Er entlädt sich, und nun löscht die Seele einer anderen statt meiner ihren Durst daran.“ – „Marissa!“, rief ich, doch sie wollte nicht aufhören. „Doch der Hass wächst weiter in mir, und um die Qualen aushalten zu können, übertrage ich ihn erst auf dich und danach auf meine andere liebe Schwester, die gute Lily, nicht wahr? Nach und nach stirbst erst du und dann sie.“ – „Aber warum? Wir haben dir doch nichts getan!“, protestierte ich; das Ganze verschlug mir den Atem. „Warum? Ich habe dir doch gerade gesagt, warum. Bist du wirklich so blöde? Crucio!“ Erneut durchzuckte der heftige, ziehende Schmerz meinen Körper, und diesmal konnte ich mich nicht zurückhalten, dazu war ich zu erschüttert. Ich schrie aus Leibeskräften, und dann glaubte ich, Marissa unbarmherzig lachen zu hören. „Schrei nur... lange wirst du es nicht mehr können.“ Es wollte nicht aufhören, ganz im Gegenteil. Die Pein wurde immer unerträglicher. Schließlich gab ich das Schreien auf, ich war einfach zu erschöpft. Ich lag ohnmächtig da, ließ die Tortur über mich ergehen und wartete auf den Tod. Irgendwann ließ die Folter nach, wurde kraftloser, offenbar verlor Marissa den Spaß daran, weil ich nicht so reagierte wie sie es gern hätte. Schließlich hörte es ganz auf, und ich hörte meine Schwester leise über den Dielenboden zu mir kommen. Sie stieß mir kurz die Fußspitze in die Seite. „Mach die Augen auf, los, Fay, sieh mich an. Schau dem Tod ins Gesicht... er erwartet dich schon. Dann bist du wieder bei deinen geliebten Eltern... Sieh mich an, oder es wird dir leidtun!“ Ich atmete langsam aus und öffnete mühevoll die Augen. Marissa’s ausgemergeltes Gesicht mit den verzweifelten, irren, hasserfüllten Augen war erschreckend nah bei meinem. Forschend huschte ihr Blick zwischen meinen Augen hin und her. Schließlich richtete sie sich wieder auf und hob den Zauberstab, doch sie richtete ihn nicht auf mich, sondern auf den Schreibtisch, der irgendwo hinter mir stehen musste. Ein brausendes Geräusch kam auf. Kraftlos hob ich den Kopf und sah zum Schreibtisch hinüber. Ungewöhnlich große Flammen züngelten daran empor. Er zerfiel im Nu zu Ruß, dafür leckten die Flammen nun an der Wand dahinter. Die Tapete wurde schwarz, rollte sich zusammen und fiel zu Boden. Ich zog mit zitternden Fingern, die Augen angstgeweitet wegen dem riesigen Feuer, das sich ausbreitete, meinen Zauberstab hervor und richtete ihn auf die Flammen. „Ag-Aguamenti“, presste ich hervor, aber der dünne Wasserstrahl, der aus meinem Zauberstab spritzte, verdampfte in der plötzlich erhitzten Luft, bevor er das Feuer erreichte. Marissa, die ich völlig vergessen hatte, lachte grausam. „Vergiss es, Schwesterherz. Das ist ein Dämonsfeuer. Du wirst es nicht löschen... Das hier ist dein Ende. Genieß es; genauso muss sich unser lieber Vater vor seinem Tod gefühlt haben... Adieu, Fay.“ Sie drehte sich um und verließ gelassen das Zimmer, ließ mich mit dem Tod in Gestalt eines riesigen Feuers zurück. Ich spielte mit dem Gedanken, einen weiteren Wasserstrahl auf das Feuer zu schießen, aber er würde wohl genauso erfolglos bleiben, wie mein erster Versuch, also ließ ich es bleiben, steckte den Zauberstab in die Jeans zurück und versuchte erschöpft, auf allen Vieren aus dem Zimmer zu kriechen. Schließlich schaffte ich es, die Treppe zu erreichen; das Feuer war mittlerweile auf den Flur vorgedrungen. Allerdings würde ich es in meinem Zustand niemals schaffen, die Treppe hinunterzugehen. Wenn ich hier bliebe, würde ich entweder am Rauch ersticken – die gnädigere Variante – oder lebendigen Leibes verbrennen. Ich riss mich zusammen, kroch noch weiter auf die Treppe zu, kniff die Augen zusammen und ließ mich nach vorn fallen. Ich stürzte die Treppe hinunter und blieb an ihrem Fuß zusammengesackt liegen. „Versuchst du dich zu retten? Vergiss es, Sonnenscheinchen... Ich sagte dir doch bereits, das hier ist dein Ende. Komm schon. Stirb in Ehre... wie Daddy. Es ist ganz leicht. Bleib einfach hier liegen und warte ab. Früher oder später wirst du schon ins Jenseits gehen... entweder auf die schnelle oder auf die harte Tour...“ Marissa war wohl doch noch nicht ganz fort… aber es nutzte nichts. Ich würde sterben. Sie hatte Recht…

Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Meine Schwester kreischte laut auf, dann griff sie, die Finger klauenähnlich gekrümmt, nach meinem Oberarm, schleifte mich über den Boden ins Wohnzimmer. Ich ließ es geschehen. Ich konnte mich ja sowieso nicht gegen sie zur Wehr setzen. Im Wohnzimmer zerrte sie mich auf die Füße und hielt mich von hinten umklammert, die Spitze ihres Zauberstabs an meinem Hals. „W-was hast du vor?“, fragte ich sie mit zitternder Stimme, meine Kehle war wie zugeschnürt von dem beißenden Rauch, der von dem Dämonsfeuer herrührte, „warum g-gehst du nicht einfach und rettest dich?“ Sie stach mir den Zauberstab noch fester in die Kehle. „Dummerweise habe ich einen entscheidenden Fakt vergessen, als ich das verdammte Dämonsfeuer beschworen habe... Meine S-... Ich brauche dich noch ein Weilchen, Fay-Mäuschen, aber mach dir keine Sorgen. Sterben wirst du sowieso, wenn nicht jetzt, dann eben in ein paar Monaten…“ Hass und Bedauern schwangen in ihrer Stimme mit, als sie sprach, sie war offenbar wütend auf sich selbst, weil sie mich noch länger benötigte – aber wozu nur? Warum brauchte sie mich, warum ließ sie mich nicht zurück und verschwand einfach? Gemischte Gefühle stiegen in mir auf, zum einen Erleichterung, weil ich nun scheinbar doch nicht sterben würde, wenn mich Marissa noch brauchte – aber gleichzeitig schreckliche Angst vor dem, was nun auf mich zukam. Sie hatte gesagt, wenn ich nicht jetzt starb, dann würde ich in ein paar Monaten sterben… So bestimmt, wie sie das gesagt hatte, klang es nicht so, als hätte ich eine Wahl. Es hatte sich angehört, als würde das unweigerlich geschehen, und ich konnte nichts dagegen tun… Das Feuer hatte mittlerweile das Wohnzimmer erreicht; auch hier kokelten die Tapeten, der Teppich fing Feuer und zerfiel zu Asche, die hölzerne Zimmertür brannte lichterloh und kippte einfach um, weil die Türangeln bereits geschmolzen waren… Es schien keinen Ausweg zu geben, und ich hatte keine Ahnung, was meine Schwester vorhatte. Warum wartete sie hier in der Flammenhölle? Was hatte das für eine Bewandtnis, was für einen Nutzen, wenn wir beide an Rauchvergiftung starben? Die Flammen kamen auf mich zu und Marissa’s knochiger Arm, der um meine Taille lag und mich so an sie gedrückt hielt, übte noch mehr Druck aus, presste mich noch enger an meine Schwester… Sie roch nach Rauch, was nur zu verständlich war; das ganze Zimmer stand voll davon, er kroch in meine Lunge, bis ich kaum noch Luft bekam, schnürte mir die Kehle zu… Plötzlich ein weiterer, erschreckend lauter Knall. Der Zauberstab, der sich schmerzhaft in meine Kehle gebohrt hatte und mir das Atmen so zusätzlich erschwerte, wanderte zu meiner Schläfe hinauf. Marissa kreischte erneut spitz auf, nah bei meinem Ohr, und schrie eine Beschwörungsformel… Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckte meine Schläfe und zum zweiten Mal in diesem Haus versank ich im Dunkel.

Nach sehr langer Zeit, so kam es mir zumindest vor, kehrte ich zurück aus der bleiernen Schwärze und schlug die Augen auf. Ich lag in Wohnzimmer auf dem Boden, mein Gesicht unter nach Rauch riechenden, völlig zerzausten dunkelbraunen Locken verborgen, und hustete. Meine Lunge musste voll von Rauch sein, es kam mir wie ein Wunder vor, dass ich überhaupt atmen konnte. Mühevoll setzte ich mich aufrecht hin, jeder Knochen und jeder Muskel in meinem Körper schmerzte, und holte Luft. Es war kaum Sauerstoff in dem engen Raum, in dem das Dämonsfeuer heftige Spuren hinterlassen hatte. Wie war es überhaupt verschwunden? Und wo war Marissa abgeblieben? Ich konnte sie weit und breit nirgends ausmachen, dabei hatte sie doch gesagt, sie brauche mich… oder etwa nicht? Immerhin lebte ich, zwar verdreckt, erschöpft und zerschlagen, aber ich lebte. Ich tastete in der Jeans nach meinem Zauberstab. Er steckte immer noch an seinem Platz und schien wie durch ein Wunder unversehrt. Meine Schläfe pochte. Ich berührte sie behutsam mit Zeige- und Mittelfinger und spürte etwas Warmes, Nasses. Blut! Aber wen wunderte das schon. Natürlich hatte der Fluch oder was immer es auch gewesen war, das Marissa mir dorthin gejagt hatte, seine Spuren hinterlassen, er war ja schmerzhaft genug gewesen. Als ich aufzustehen versuchte, gaben meine Beine unter mir nach und ich landete wieder auf dem Hinterteil. Also kroch ich zu einer halbverbrannten Vitrine hinüber, umklammerte fest die Griffe der verglasten Türen, und zog mich daran hoch. Schließlich stand ich aufrecht, zwar schwankte ich leicht benommen, aber ich stand. Ich dachte noch einmal an die gesamten Geschehnisse zurück. Marissa hatte meine Eltern auf dem Gewissen… aber Lily lebte! Ja, sie lebte! Das Mädchen in Hogwarts, fiel es mir siedend heiß ein. Natürlich! Das Mädchen, das meiner Zwillingsschwester wie aus dem Gesicht geschnitten war und das mich ebenfalls zu kennen schien – den Eindruck hatte ihr Gesichtsausdruck zumindest gegeben. Mochte ja sein, dass ich mich irrte, aber einen Versuch war es ja wert. Ich musste nach Großbritannien zurück. Nur, wie kam ich dahin? Ich saß irgendwo in Louisiana auf einer gottverlassenen Farm fest, abgeschnitten von der Welt und mehrere Reitstunden von dem nächsten kleinen Kuhdorf entfernt… Estelle! Ob die Stute noch da stand, wo ich sie angebunden hatte? Ich ging langsam und zögerlich zur Wohnzimmertür – oder, besser gesagt, zu dem Durchgang, in dem vorher noch eine Tür gewesen war, die Tür selbst lag als Aschehäufchen im Wohnzimmer – und durch den Salon nach draußen. Tatsächlich. Es dämmerte zwar mittlerweile bereits, aber Estelle stand nach wie vor an den Zaun gebunden dort, leicht gelangweilt und ungeduldig, sie hatte wohl von dem Dämonsfeuer gar nichts mitbekommen. Benommen wankte ich auf sie zu, als ich bei ihr angekommen war, atmete ich erleichtert aus. Ich würde es schaffen... Nach Kentwood zurückreiten, diesen gottverdammten Bauernstaat Louisiana verlassen, nach England zurückkehren, Lily finden. Marissa schien fort, und wenn ich Glück hatte, blieb das auch so... zumindest für eine Weile. Um mich an Estelle hochzuziehen und in den Sattel zu steigen, brauchte ich mehrere Anläufe; meine Beine wollten nicht so wie ich, und so hing ich eine kurze Zeit seitlich am Sattel, bis es mir gelang, ein Bein über den Pferderücken zu bekommen, aber schließlich schaffte ich es, und unendlich erschöpft lehnte ich mich im Sattel zurück, während sich die dunkelbraune Stute in Bewegung setzte und mit ungeheurer Leichtigkeit in die Richtung zurücktrabte, aus der wir gekommen waren.

Impressum

Texte: Eigentlich ist dieser Text für das Harry Potter RPG gedacht gewesen, aber ich mag ihn und dachte, ich mache ein Buch daraus. Weil es ein RPG-Beitrag ist, ist es vielleicht anfangs etwas schwer zu verstehen; das Meiste ist allerdings aus dem Kontext zu erschließen, vielleicht muss man ein bisschen nachdenken, aber es ist verständlich. Die Zaubersprüche, die ich beschreibe, und natürlich das Dämonsfeuer, gehören Joanne Rowling, natürlich. Alle erwähnten Charaktere gehören mir, genau wie ihre Handlungen.
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der echten Marissa. In ewiger Liebe.

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