Bianca's Sicht
Wir waren aus Illinois hergezogen, aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Chicago, einem süßen Städtchen namens Marseilles – wie die Stadt in Frankreich. Und jetzt – Los Angeles. Kalifornien! Es war immer Melanies Traum gewesen, nach Kalifornien zu ziehen, überhaupt in den Sunbelt zu ziehen – meine Schwester liebte die Sonne, sie verehrte
sie, und die Sonne oben in Illinois hatte ihr nicht einmal ansatzweise gereicht. Sie hatte es immer geliebt, bei unserer Tante Rose in Miami Urlaub zu machen. Das hatten wir – Dad, Melanie und ich – oft gemacht. Dads ältere Schwester hatte ein riesiges Grundstück direkt am Strand, eine luxuriöse Strandvilla mit vielen Schlafzimmern und sogar einem eigenen Pool – als ob das nötig wäre, wenn keine vierzig Meter von der Haustür entfernt der atlantische Ozean lag.
Und jetzt würden wir selbst Besitzer eines Bungalows am Santa Monica Beach werden. Melanie war zufrieden, weil der Bungalow über einen Garten, eine Dachterrasse und zwei Balkone mit Meerblick verfügte und nur zwei Minuten in normalem Gehtempo – im Sprint nicht mal eine halbe – vom Strand entfernt lag. Dad war zufrieden, weil er mit dem Auto nur zehn Minuten zum Büro brauchte. Und ich war vor allem zufrieden, weil es eine High School mit Kurswahl und für jeden von uns einen eigenen Bereich im Bungalow gab, mit Schlafzimmer, Badezimmer inklusive Dusche, Wohnbereich und Minibar. Es war keinem von uns schwer gefallen, sich von der Kleinstadt Marseilles zu trennen. Ich meine, es war schön da, in der niedlichen Wohnstraße, wenig Verkehr, nette Nachbarn und die typische „Jeder-kennt-jeden
“ – Kleinstadtatmosphäre, aber es war auch nicht grade besonders aufregend. Ich zumindest zog die Großstadt der Provinz vor.
Und jetzt saßen wir schon seit fast zehn Stunden in Dads schwarzem BMW, mit dem wir nach Los Angeles fuhren. Wir hatten nur das Nötigste an Handgepäck und reichlich Bargeld dabei, mit dem wir, wenn wir Hunger bekamen (und wir bekamen oft Hunger) zum nächsten McDonald’s
fuhren und uns mit Junkfood eindeckten. Dad war ziemlich gelassen. Er hatte den Sonnenschutz über seinem Sitz heruntergeklappt, seine Lieblings-Rayban
-Sonnenbrille aufgesetzt und eine große Cola von McDonald’s
im Getränkehalter neben sich und unterhielt sich mit mir und Melanie, während ich aus dem Fenster sah und mich wunderte, wie es, je weiter wir nach Süden kamen, wärmer und sonniger (und trockener) wurde. Melanie saß im Schneidersitz auf der bequemen schwarzen Ledercouch, ihren Laptop auf dem Schoß, und chattete schon seit Stunden mit irgendwelchen Leuten aus aller Welt, die sie zufällig kannte. Ich warf ab und zu einen Blick auf den Bildschirm, sah aber immer nur dasselbe – seitenlange Abhandlungen über unser zurückliegendes und unser bevorstehendes Leben, die meine Schwester in Kooperation mit diversen Unbekannten verfasst hatte. Auch sie trug eine dunkle Rayban
-Brille, die welligen honigfarbenen Haare hingen ihr auf die Schultern. Die Fensterscheibe auf ihrer Seite – links – war heruntergelassen, der Fahrtwind wehte durch unsere Haare, als wir über den fast leeren Highway brausten. Wir waren mittlerweile in Kalifornien, nordöstlich von San Francisco, und um uns herum war Wüste. Weit, weit hinten hing eine wunderschöne, tieforangefarbene Sonne kurz über dem Horizont und tauchte die weite ockerfarbene Landschaft um uns herum in warmes, goldenes Licht.
Zwischen mir und meiner Schwester, in der Mitte der glatten, teuer riechenden Ledercouch, stand ein voll beladenes Tablett mit McDonald’s
-Futter – übereinander gestapelte Cheeseburger, eine Jumbotüte Pommes frites und zwei große Colas in überdimensionierten Pappbechern mit Plastikdeckeln und –strohhalmen.
Dad wies auf eines der grünen Schilder – Los Angeles, einhundert Meilen nach Südwesten. Einhundert Meilen! Nur noch eine knappe Dreiviertelstunde, dann waren wir da. Ich machte mich an den Stapel Cheeseburger und tippte auch meiner Schwester auf die Schulter. „Mel, wir sind bald da. Vielleicht sollten wir mal diesen Burgerberg vernichten!“ Ich wies auf die sechs aufeinander gestapelten Burger, die zwischen uns auf dem roten Tablett lagen, dann schnappte ich mir den obersten und begann, das Papier abzuwickeln. Ich nahm einen Schluck von meiner Cola. Melanie griff ebenfalls mit der rechten Hand nach einem Cheeseburger, den sie auf ihrem Schoß deponierte, und eine Hand voll Pommes aus der Jumbotüte. Ihre linke Hand tippte unablässig weiter auf der Tastatur des Laptops.
Melanie und ich wurden am selben Tag vor bald fünfzehn Jahren in Darmstadt, Deutschland, geboren. Unsere Mutter, Beatrice Farawell, stammte aus Deutschland. Sie heiratete unseren Vater ein knappes Jahr nach unserer Geburt auf Tante Rose’ riesigem Anwesen in Florida. Sieben Jahre später starb sie an den Folgen einer Lungenkrebserkrankung in Seattle, wo wir damals wohnten. Unmittelbar danach zogen wir aus Seattle weg und nach Illinois.
Melanie und ich sind für Zwillinge ziemlich verschieden. Sie ist extrovertiert und liebt den Luxus und die Natur. Ich bin zurückhaltender und häuslicher. Wenn sie mich nicht ab und an dazu zwingen würde, mit ihr in den Park oder auf den Spielplatz zu gehen und zum Beispiel um die Wette zu laufen (was ohnehin witzlos ist, weil sie immer gewinnt), wäre ich vermutlich längst zur unheilbaren Couchpotato mutiert. Auch in der Schule sind wir gegensätzlich. Wir sind zwar beide gut in der Schule, aber ich muss mich ewig mit Lernen abplagen, während meine Schwester mit ihrem audiographischen Gedächtnis echt das große Los gezogen hat. Sie braucht für nichts zu lernen, alles fällt ihr in den Schoß, weil sie sich alles einprägt, was sie hört (das heißt es nämlich, ein audiographisches Gedächtnis zu haben).
Meine Schwester hat, wie schon erwähnt, welliges honigfarbenes Haar, das etwa bis auf ihre Schultern reicht. Sie trägt immer unterschiedliche Frisuren; besonders gern mag sie kleine geflochtene Details. Ihre Augen haben dieselbe Form wie meine, groß und mandelförmig, aber ihre sind hellgrau mit ein paar bernsteinfarbenen Tupfern, während meine blaugrün sind. Meine Haare sind glatt wie Schnittlauch und ein paar Nuancen heller als ihre, aber ihre bekommen hellere Strähnchen, wenn sie lange in der Sonne ist. Meine Haare werden von der Sonne etwas dunkler als sonst, was merkwürdig ist – von so was hab ich überhaupt noch nie gehört. Aber na ja, ich falle ohnehin aus der Reihe.
Melanie ist das ganze Jahr hindurch sonnengebräunt; ihre Haut und ihr Haar haben denselben goldbronzenen Unterton. Ich bin meistens überdurchschnittlich blass, ein echtes Mondgesicht. Melanie und ich haben beide runde Gesichter und lange dunkle Wimpern. Und wir haben Dads charakteristischen Haaransatz, diese sogenannten „Geheimratsecken“, von ihm geerbt.
So saßen wir nun nebeneinander auf der bequemen ledernen Rückbank, ich hatte die Füße vor mich auf den Fuß gestellt und hatte den Blick unverwandt aus dem Fenster gerichtet. Außerdem stopfte ich unablässig Cheeseburger und Pommes frites in mich hinein. Na ja, das konnte nicht schaden; Dad fand mich ohnehin zu dünn. Melanie sah abwechselnd auf den Laptop und aus dem Fenster auf die endlose gelborange Landschaft, die unter einem makellos tiefblauen Himmel lag und in romantisches goldenes Licht getaucht war. Das Licht der untergehenden Sonne fiel auf Melanies Gesicht und ihr Haar. Ich sah sie an. Das goldene Sonnenlicht ließ Melanies ohnehin schon sonnigen Teint noch wärmer strahlen. Warum hatte ich nur nicht so eine Wirkung? Warum sah ich derart bleich und milchig aus, während meine Zwillings(!)-Schwester aussah wie die fleischgewordene Sonne? Wie Miss World on herself
? Ich zog das Haargummi von meinem Haar und fuhr mit den Fingern hindurch. Es war vom Flechten gewellt und reichte mir bis zur Taille. Jetzt fiel es offen über meinen Rücken und meine Schultern und wurde von dem durch Melanies Fenster hereinströmenden warmen Wind zerzaust. Meine dünne weiße Bluse flatterte um meine Schultern. Ich zog meine Digitalkamera aus der Tasche mit meinem Handgepäck unten im Fußraum, ließ mein Fenster herunter und fotografierte die weite Landschaft. Sie vermittelte mir ein Gefühl von Freiheit.
„Wie lange fahren wir noch, Daddy?“, fragte ich meinen Vater. Er reichte mir ein dickes Heft nach hinten, einen Plan von Kalifornien, in dem alle gängigen Highways, Autobahnen und Verkehrsstraßen verzeichnet waren. „Schau nach, Schätzchen, wenn es dich interessierst. Weißt du, wie man die Karte liest?“ – „Klar. Danke, Dad.“
Ich schlug das Heft auf und suchte den Highway, über den wir nach Los Angeles fuhren. Schnell berechnete ich, wie viele Meilen wir noch zurückzulegen hatten, wenn man davon ausging, dass wir uns südöstlich von San Francisco befanden. „Ähm… eine halbe Stunde, oder?“ – „Richtig, Engelchen. Was treibst du eigentlich die ganze Zeit?“, wandte sich Dad an Melanie. „Chatten, E-Mails schreiben… Langeweile vertreiben eben.“ – „Gehst du nicht normalerweise raus, wenn dir langweilig ist?“ – „Ha ha, Dad.“ Meine Schwester streckte Dad lachend die Zunge heraus, dann senkte sie den Blick wieder auf den Monitor. Ich fotografierte sie von der Seite, um den wunderschönen Widerschein des orangegoldenen Sonnenlichts auf ihrer Haut und ihrem Haar festzuhalten. Sie unterbrach ihren Chat, schnappte mir die Kamera weg und fotografierte mich; ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich auf dem Foto auch nur halb so beeindruckend wirkte wie sie. Ich nahm mein Tagebuch aus der Tasche mit meinem Handgepäck und begann zu schreiben. Ich schrieb, Seite um Seite um Seite über den heutigen Tag, denn darüber gab es einiges zu schreiben. Dann nahm ich mir einen weiteren Cheeseburger von dem nun beträchtlich geschrumpften Stapel. Melanie nahm ihre Sonnenbrille ab und klappte den Computer zu. Dann schob sie ihn in die hübsche weinrote Tasche mit ihrem Handgepäck, die neben ihr auf dem Sitz stand. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Cola. „Willst du noch Pommes? Sonst ess ich die nämlich jetzt!“ – „Ja, iss sie meinetwegen. Wir sind eh gleich da!“ Meine Schwester schnappte sich die Jumbotüte mit den Pommes frites und schob sich gleich eine ganze Hand voll auf einmal in den Mund. Sie hockte sich genauso hin wie ich und kratzte sich mit den Zehen des linken Fußes am rechten Knöchel. „Schau dir mal die Sonne an! Wunderschön!“ – „Mir brauchst du das nicht zu sagen. Mir ist das schon aufgefallen, als du noch mit deinen Freunden aus Was-weiß-ich-woher beschäftigt warst!“
Meine Schwester wandte ihren Blick wieder von der lichtüberfluteten Ödnis um uns herum ab und holte ihren iPod touch, ein Abschiedsgeschenk von ihren Freunden aus Marseilles, heraus. Sie steckte sich die kleinen pinkfarbenen Kopfhörer in die Ohren und bedröhnte sich mit ihrem derzeitigen Lieblingslied. Teenage Dream
von Katy Perry. Katy Perry. Melanies großes Vorbild. Und ihre Heldin in jeder Lebenslage. Als Mel’s Freund Dave sie verlassen hat, hat sie sich mit Katy’s Hot’n’Cold
getröstet. Als sie sich in Graham verliebt hat, hat sie sich Katy’s Wakin’ Up in Vegas
gegeben.
Und sehr lange Zeit war Katy’s I Kissed A Girl
ihr Lieblingslied, als sie sich nach der Trennung von Graham ins Marseiller Partyleben gestürzt hat und ihr Singledasein genossen hat. Außerdem war Mel aktiv in der Friedensorganisation Marseilles PEACE
. Melanie hat sowieso so einen Hippie-Tick. Und einen Peace-Tick. Sie begrüßt alle ihre Freunde (und auch alle anderen) mit Peace und dabei formt sie stilecht das Peace-Symbol mit ihrer Hand. Sie trägt auch gerne Hippieklamotten, und besonders gern engagiert sie sich für die Umwelt und den Weltfrieden. Sie hat immer einen Eddingstift in Schwarz oder Rot dabei, mit dem sie auf allem rumkritzelt, mit Vorliebe das Peace-Symbol oder ihren Namen. Eine Zeit lang hat sie auch ein A in einem Kreis gemalt, bis ihr jemand gesteckt hat, dass das das Zeichen für Anarchie
ist. Ich hoffe mal für meine Schwester, dass es in Los Angeles auch eine Umweltgruppe gibt. Keine Ahnung, Los Angeles PEAC
E oder was weiß ich.
Na ja, zumindest kann ich den Refrain von Melanies Lieblingslied bis zu mir rüber laut und deutlich hören. Let you put your hands on me in my skin-tight jeans, be a teenage dream tonight…
Ich entscheide mich, mir auch eine Musikdröhnung zu verpassen, also krame ich meinen MP3-Player heraus und stelle eine harte Rocknummer an. Freak on a Leash
von Korn. Mein momentanes Lieblingslied. Meine Zwillingsschwester Melanie träumt von einer Hollywoodkarriere. Sie meint, sie als gute Sängerin und Schauspielerin habe gute Chancen. Zugegeben, sie hat eine tolle Stimme und Schauspielern liegt ihr scheinbar in den Genen, aber für Hollywood…? Reichen würde ihr Talent sicherlich, aber sie ist meiner Meinung nach viel zu gutgläubig. Und zu luxusversessen; sie liebt den neuesten technischen Schnickschnack und kriegt den Hals nie voll. Bestes Beispiel ist der Laptop, an dem sie die ganze Zeit „gearbeitet“ hatte. Sie hatte ihn sich von Tante Rose zum Geburtstag schenken lassen. Rose’ Geld reichte locker für Anschaffungen wie diese aus. Unsere reiche Tante mit ihrem Vermögen und ihrem riesigen Grundstück; mit dem Strand und dem Pool und den zig Angestellten, die in der Villa herumwuselten und einem jeden Wunsch von den Augen ablasen…
Ich richtete meinen Blick auf die Straße, den staubigen Highway, auf dem außer uns niemand unterwegs war. Nach einer Weile machte ich ein dunkelgrünes Verkehrsschild mit weißer Schrift aus. Los Angeles, 30 Meilen. Dreißig!!! Dreißig läppische Meilen und dann würden wir in unserem neuen Leben angekommen sein!
Ich trank hastig meine Cola aus und stopfte den letzten verbliebenen Cheeseburger in mich hinein. Melanie ließ sich weiterhin Zeit; sie kannte grundsätzlich keine Eile und aß gemächlich weiter Pommes frites. „Melanie! Nur noch dreißig Meilen, dann sind wir da!“ – „W-O-W. Super. Ganz tolle Sache das…“ Meine Schwester schien nur mäßig beeindruckt und schaute seufzend aus dem Fenster, wo die Sonne schon die Erde zu berühren schien. Melanie freute sich innerlich, das wusste ich ganz genau. Sie hatte schon die ganze Zeit freudig ausgesehen; außerdem wusste ich, wie sehr sie die Sonne liebte, und hier in Kalifornien schien praktisch immer die Sonne.
Ich hätte vor Vorfreude in die Luft springen können, wäre ich nicht an meinen lederbezogenen Sitz geschnallt gewesen, als ich plötzlich die Konturen einer riesigen Stadt am Horizont ausmachen konnte. Los Angeles! Die Stadt der Engel! Mit dem Pazifischen Ozean vor der Haustür, Hollywoodfeeling in der Luft, Sonnenschein das ganze Jahr hindurch und den schönsten und luxuriösesten Boutiquen überhaupt. Der Rodeo Drive, der Walk of Fame… Ich konnte es kaum erwarten, endlich anzukommen. Ich erinnerte mich an meine Mutter Beatrice, deren Lebenstraum es gewesen war, in Los Angeles zu wohnen. Sie war wie meine Schwester gewesen; auch so eine seltsame Sonnenanbeterin. Aber na ja. Los Angeles, 20 Meilen. Nicht mal mehr zehn Minuten, dann würden wir in unserer neuen Heimat ankommen, in dem eleganten Bungalow, den wir unser eigen nennen konnten, mit den eigenen Suiten für jeden von uns, der Dachterrasse und den zwei Fußminuten zum Santa Monica Beach… Ich ließ nun auch mein Fenster herunter. Der Wind brauste durch Melanies Fenster ins Auto und durch meines wieder heraus. Das Freiheitsgefühl, das ich in dieser neuen Welt hatte, verstärkte sich noch, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die ganze Welt in dunkelrotes Licht zu tauchen schien. Der kalifornische Sonnenuntergang war wirklich atemberaubend.
Dad fuhr schnell. Schon kam das nächste Verkehrsschild in Sicht. Los Angeles, 12 Meilen. Ich stellte meinen MP3-Player aus und verstaute ihn wieder in meinem Handgepäck. Dann zog ich meiner Schwester einen ihrer Kopfhörer aus dem Ohr. „Melanie? Wir sind gleich da. Noch zwölf Meilen.“ – „Zwölf? Waren es nicht eben noch dreißig?“ – „Du kennst doch Dads Fahrstil.“ – „Oh. Ja. Ich sollte mich mal mit den Pommes beeilen, was?“ Sie kippte sich die letzten paar Pommes frites aus der Tüte in die Hand und schob sie sich alle auf einmal in den Mund. „Dasch ging schnell, wasch?“, nuschelte sie grinsend mit vollem Mund. Ich grinste ebenfalls und nickte. Melanie schaltete auch ihren iPod ab und steckte ihn in ihre Tasche zurück.
Los Angeles, 7 Meilen. Dad fuhr wirklich rasant. Sieben Meilen!!!
Ich hob die Tasche mit meinem Handgepäck aus dem Fußraum auf und stellte sie auf den Sitz in der Mitte. „Wir sind bald da, Girls“, sagte Dad und klappte seinen Sonnenschutz weg. „Ich weiß, nur noch sieben“, mein Herz hüpfte bei dem Wort sieben, „Meilen, dann sind wir zu Hause!“ Es war merkwürdig, das auszusprechen, Los Angeles offiziell mein Zuhause zu nennen. Melanie indes hatte wieder ihre dunkle Pilotenbrille auf der Nase und sah nach draußen in den märchenhaften Sonnenuntergang, der die gelbbraune Landschaft in warmes rotes Licht tauchte.
Los Angeles, 2 Meilen. Ich hielt meine Hand aus dem Fenster, als könnte ich die unfassbare glamouröse Atmosphäre berühren.
Dad fuhr in seinem rasenden Tempo in die Stadt hinein. Er schaltete das Autoradio an und drehte voll auf – mein Vater erregte gern Aufsehen, auch wenn das in einer Metropole wie Los Angeles quasi unmöglich ist. Keeps gettin’ better von Christina Aguilera. Dad drückte auf den Kontrollschalter, mit dem er alle Fenster gleichzeitig herunterlassen konnte, dann ließ er das wegklappbare Dach des Autos einfahren und Sekunden später rollten wir in einem ziemlich high society-mäßigen Cabriolet mit wahnsinnig lautem Xtina-Sound – ‚Keeps Gettin Better’, yeah - durch Los Angeles. Mein Vater kutschierte das Cabriolet elegant und zielgerichtet durch die vielen Straßen, bis wir in das Viertel einfuhren, in dem unser edler Bungalow lag, nah am Strand und mit direkter Verbindung zu den coolsten Einkaufsmöglichkeiten (Shopping ist ein großes Hobby von mir und meiner Schwester; ein weiterer Grund, warum wir Los Angeles lieben).
Melanie und ich genossen die ungläubigen Blicke der Passanten; sie mussten uns für VIPs oder so ähnlich halten, mit der aufgedrehten Musik, dem schicken schwarzen Cabrio und den dunklen Brillen. Ich holte meine heraus und setzte sie auf, um das Hollywoodtrio komplett zu machen. An einem ziemlich angesagt aussehenden Café namens The Celeb, vor dem sich eine Hand voll Jugendliche in unserem Alter tummelten, bogen wir nach rechts ab. Die Jugendlichen wandten sich zu uns um, als wir vorbeifuhren und ich konnte sehen, wie sie sich, anscheinend über uns, unterhielten; eines der Mädchen wies mit dem Finger verhalten auf uns. Der Pulk der Jugendlichen setzte sich in Bewegung und folgte uns langsam. Die Straße, in die wir abgebogen waren, war ein schönes Wohngebiet mit reichlich Bungalows, die in einigem Abstand zueinander aufgestellt waren. Im hinteren Drittel der Straße, vor einem hübschen, elegant wirkenden terrakottafarbenen Bungalow, kamen wir zum Stehen. Vor dem Bungalow stand ein riesiger weißer Möbelwagen, der den Schriftzug Papper Brothers Umzüge trug, in großen, grellgrünen Lettern auf dem weißen Grund. Einige Möbelpacker in weißen Latzhosen mit dem gleichen Schriftzug wie auf dem Wagen waren schon dabei, unsere Möbel und Umzugskisten aus dem Wagen und in den Bungalow zu räumen. Ich holte die große, mit Hawaiiblüten bedruckte Tasche mit meinem Handgepäck aus dem Auto, während meine Schwester mit ihrer dunkelroten am Heck lehnte. Sie trug, genau wie ich und Dad, noch immer ihre riesige dunkle Sonnenbrille. Ich konnte in einiger Entfernung, am Ende der Straße, die Gruppe Jugendliche ausmachen, die sich scheinbar neugierig auf uns zu bewegten.
Die Möbelpacker hatten den Wagen fast leer geräumt; sie trugen jetzt die letzte Kiste und Melanies Sofa in den Bungalow. Dad gab ihnen letzte Anweisungen, dann sprangen sie in ihren Möbelwagen und fuhren ab.
Melanie und ich rannten mit unseren Taschen in unser neues Zuhause, während Dad das Auto ordnungsgemäß in die Garage fuhr. Ich suchte meinen Bereich in dem ziemlich fertig eingeräumten Bungalow. Er war komplett eingerichtet, nur dass eben noch Kleinigkeiten wie Bücher etc. in den Umzugskisten überall herumstanden. Bald hatte ich meine Räumlichkeiten gefunden. Ich traute meinen Augen kaum. Ein schöner, weiß gestrichener Wohnraum mit Einrichtung aus Mahagoniholz und meinem großen, tiefroten Sofa. Die Minibar, ein kleiner Kühlschrank, bestand ebenfalls aus Mahagoniholz und stand neben dem glänzenden Mahagoni-Fernsehtisch. Dann das Badezimmer. Luxuriöse, glänzend schwarze Fliesen und Kacheln und versilberte Armaturen. Eine Dusche mit gläsernen Türen.
Und zuletzt mein Schlafzimmer. Es war genauso gestaltet wie der Wohnraum, weiß, mit Einrichtung aus Mahagoniholz und einem großen weißen Himmelbett. Ich lief in den Wohnraum zurück, ließ meine hawaiigeblümte Tasche auf das riesige dunkelrote Sofa fallen und rannte barfuß los, um nach Melanie zu suchen und mir ihren Bereich anzusehen. Ich fand sie im Südwestflügel (ich selbst hatte meine Räume im Ostflügel; Dads waren im Norden), wo sie auf ihrem riesigen Balkon mit Meerblick stand und auf den tiefblauen Pazifik hinaussah (sie hatte als Einzige Balkone, gleich zwei, einen im Wohn- und einen im Schlafraum; einen mit Meerblick und einen mit Blick auf die Hollywood Hills). Der Schlafraum, denn dieser verfügte über den Balkon mit Meerblick, war fliederfarben tapeziert, und die Kombination der blasslila Tapeten und des vor dem mit vollkommen gläsernen Türen ausgestatteten Balkon liegenden Pazifischen Ozean sah absolut märchenhaft aus. Die Pastelltöne passten perfekt zu Melanie; der Wohnraum war hellblau tapeziert und mit rosafarbener und weißer Einrichtung ausgestattet. Das Badezimmer hatte terrakottafarbene Fliesen und Kacheln. Die Armaturen waren ebenfalls versilbert, allerdings waren Dusche, Toilette und Waschbecken weiß. In der Wand neben der Tür war ein besonderes Muster eingekachelt: mit Kacheln in einem dunkleren Terrakotta war Melanies Name geschrieben.
Ich trat auf den Balkon des Wohnraums, der auf die Hollywood Hills hinausging. Unten sah ich die Gruppe Jugendliche, die sich scheinbar nicht sicher waren, was sie von uns halten sollten.
Es wurde langsam dunkel, nachdem die Sonne so spektakulär versunken war. Ich wartete auf Melanies Balkon, bis sich die Jugendlichen verdrückt hatten, dann sagte ich meiner Zwillingsschwester und meinem Vater Gute Nacht und legte mich schließlich endlich schlafen. Der Tag war einfach zu lang gewesen.
Der nächste Tag war unser erster Schultag. Wir standen alle äußerst früh auf. Die Schule begann erst um halb neun, aber wir standen schon um halb sieben auf, um in Ruhe frühstücken zu können. Melanie brauchte ungewöhnlich lange im Bad. Als sie herauskam, sah sie genauso aus wie immer und ich fragte mich, was sie so lange getrieben hatte. Sie trug extrem kurz abgeschnittene Jeans; sie waren so lang wie Hotpants, aber sie standen ihr gut. Ich fand, sie passten zu ihr. Dazu trug sie eine kurzärmlige karierte Bluse in Lilatönen. Sie hatte sich ihre Rayban-Brille vorn an ihre Bluse geklemmt. Ich trug einen knielangen roten Rock und ein weißes Tanktop. Meine Rayban-Brille ließ ich zu Hause; ich wollte nicht auffallen. Meine Haare ließ ich offen.
Dad wollte uns zur Schule fahren, jeden Tag, weil unsere neue Schule auf dem Weg zu seinem Büro lag – das war gut, so brauchten wir nicht Schulbus zu fahren und mussten uns nicht beeilen. Die Schule war nicht weit entfernt und Dad fuhr schneller als die meisten anderen Leute. Dad selber sah auffallend gut aus. Er trug Jeans und ein weißes Hemd. Keine Krawatte. Schließlich war unser Vater sein eigener Boss und brauchte keinen Dresscode einzuhalten. Dad war erst vierunddreißig und sah noch jünger aus; wie vierundzwanzig vielleicht. Und er fand es klasse; es amüsierte ihn, dass er manchmal für unseren älteren Bruder gehalten wurde. Dad hatte kurzes schwarzes Haar und hellgraue Augen und er war groß, vielleicht eins neunundachtzig. Jetzt saß er in der Küche und futterte mit mir Marmeladentoast, während Melanie sich, auf der Küchenanrichte sitzend, ein Butterbrot schmierte. Unsere Schultaschen lagen am Türrahmen, der zur Küche führte. „Dad, du bist dir wirklich sicher, dass du jeden Morgen früher aufstehen willst, nur um uns zur Schule zu bringen?“, fragte meine Schwester gerade. „Klar doch, Engelchen. Ich meine, ich werde euch sowieso nur hinbringen, nach Hause werdet ihr laufen müssen.“ Da war ich ganz Dads Meinung. Kam ja gar nicht in Frage, dass er uns auch noch heimfuhr, als wären wir fünf und gerade in die Vorschule gekommen. In der Realität waren wir schließlich vierzehn und in der zehnten Klasse.
„Kommt ihr?“, fragte Dad. Melanie und ich schnappten uns unsere Schultaschen, dann gingen wir zum Auto. Dad trug wie üblich seine Rayban-Brille. Er genoss es, wie ein Promi zu leben und auszusehen. Melanie und ich nahmen auf dem Rücksitz Platz. Unsere offenen Haare wehten nach hinten, als wir zur Schule fuhren.
Die Caltym Seaview High war ein großes, offenes Gebäude, sechs Straßen von unserem Zuhause entfernt. Klar, wir hätten laufen können, das hätte weder mir noch meiner Schwester etwas ausgemacht, aber Dad bestand darauf, uns zur Schule zu fahren. Was allerdings auch nicht so übel war.
Es war Melanie tierisch unangenehm, zu den wohlhabenderen Kids der Schule zu gehören. Mir war es ziemlich egal; daran war eben nichts zu ändern. Außerdem war es mir lieber, als zur Unterschicht zu zählen. Schließlich war Shopping mein Lieblingshobby, und wenn wir arm gewesen wären, hätte ich nicht halb so oft shoppen gehen können wie jetzt.
Als wir in dem schwarzen BMW bei der Schule vorfuhren, richteten sich automatisch alle Blicke auf uns. Beim Eingang sah ich das Mädchen, das gestern mit dem Finger auf uns gedeutet hatte, als wir am Celeb vorbeigefahren waren. Sie war etwa in unserem Alter, allerdings kleiner als Melanie und ich. Ihr blasses, schmales Gesicht wurde von glattem, kurz geschnittenem dunkelbraunem Haar umrahmt, das in der Mitte gescheitelt war. Das Mädchen war zierlich und unauffällig gekleidet, fiel aber trotzdem auf wie ein Kristall unter Kieseln. Ihr Gesicht, blass und im Sonnenlicht leuchtend, wurde von großen bernsteinfarbenen Augen beherrscht.
Um das kleine Mädchen herum stand eine Gruppe von anderen Jugendlichen. Ein paar davon erkannte ich vom Vortag wieder, andere waren völlig neue Gesichter. Melanie und ich stiegen aus Dads Auto, griffen uns unsere Schultaschen und gaben unserem Vater einen Kuss. Dann gingen wir nebeneinander auf das Schultor zu. Immer noch wurden wir von Blicken verfolgt; ich spürte sie in meinem Rücken wie Laserstrahlen, und auch Melanie schien es zu merken. Sie griff nach meiner Hand.
Wir stellten uns ebenfalls in die Nähe des Tors, neben eine kleine Gruppe von Mädchen in grün-weiß-gestreiften Cheerleaderkostümen, die sich angeregt unterhielten, und unterhielten uns ebenfalls.
„Ist dir die Kleine mit den kurzen braunen Haaren aufgefallen? Die direkt beim Schultor stand?“ – „Jaah… hast du gesehen, wie die uns angeschaut hat?“ – „Alle haben uns angeschaut!“ – „Ja, schon, aber nicht so! Sie hat uns förmlich mit Blicken aufgespießt!“ – „War die nicht auch gestern bei den Kids bei diesem Café da dabei? Dieses… wie heißt es noch mal? The Club oder so…“ Melanie hatte es also auch gemerkt. „The Celeb!“, korrigierte ich. „Ja, genau… da hat uns dieses Mädchen auch so angeschaut!“ – „Da haben uns auch alle angeschaut. Kein Wunder, so wie Dad sich aufgespielt hat. Von wegen Cabrio und laute Musik und so!“ – „Ja… du kennst doch Dad. Aber dieses Mädchen… sie schaut immer, als hätte sie was gegen uns oder so. Dabei kennen wir sie doch gar nicht!“ Plötzlich wurden wir von einem der Cheerleader unterbrochen, ein hübsches Mädchen mit langem dunkelrotem Haar, das hoch oben auf ihrem Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden war, der von einem grünen Satinband zusammengehalten wurde, und haselnussbraunen Augen, in die ständig ihr schnurgerade geschnittener Pony hinein hing; sie strich ihn andauernd mit einer Hand zurück. „Hey! Ihr seid neu, oder? Ich bin Tiffany Melgrin, Schülersprecherin und Kapitän der Cheerleader! Ich bin hier für die Vorstellung der Neuen zuständig“, sagte das Mädchen mit einem strahlenden Lächeln, bei dem sie zwei Reihen perfekter, weißer Zähne zeigte, „kommt mal mit!“ Sie ergriff mein rechtes und Melanies linkes Handgelenk und zog uns mit sich. Ihre Cheerleaderclique folgte uns auf dem Fuß. Ich hatte Cheerleader nie ausstehen können; dusselige, albern kichernde Mädchen, die sich für etwas Besseres hielten und auf alle anderen herabsahen. Der Cheerleader, an den wir geraten waren, schien genauso beschränkt wie naiv zu sein. Sie hatte immer noch ihr dümmliches Lächeln im Gesicht, als sie uns eine Treppe hochzog und wir plötzlich auf einer Art Empore über dem Schultor standen.
Einer ihrer Cheerleader reichte der Rothaarigen ein Megafon. Oh nein. Das durfte nicht wahr sein. Der dämliche Cheerleader wollte uns scheinbar auf einem für sie bequemen, für uns äußerst unangenehmen Weg der ganzen Schule vorstellen.
Sie wollte uns mit dem Megafon proklamieren.
Bitte nicht.
Aber es schien wirklich ihr Ernst zu sein. Sie sah, wie sie das Megafon mit einem perfekt gefeilten dunkelgrün lackierten Fingernagel einschaltete. Es an die Lippen hob.
Und zu sprechen begann.
„Hey Leute, hallo Seaview High! Hier spricht Tiffy Melgrin, euer Cheerleaderkapitän! Und ich habe euch heute gleich drei Neue vorzustellen!“ Hä? Drei? Hatte sich der hirntote Cheerleader verzählt oder gab es wirklich noch einen Unglücklichen, der gleich vor der ganzen Schule bloßgestellt wurde?
Ja. Gab es. Es war ein Junge in unserem Alter, mit kurzem braunem Haar und dunkelbraunen Augen, der mit verschränkten Armen links von Melanie stand (ich stand rechts von ihr). Er war größer als Melanie und ich und wirkte irgendwie unbeteiligt. Er ließ seinen Blick erst über die unten versammelten Schüler schweifen, dann musterte er mich flüchtig, bevor sein Blick an Melanie hängen blieb. Die lächelte völlig entspannt nach unten. Klar, ihr dürfte das hier sogar Spaß machen. Sie liebte die Menschen und vor allem liebte sie große Auftritte.
Der braunhaarige Junge sah meine Schwester lange an, ihr honigfarbenes Haar, das das Sonnenlicht reflektierte, die weiche von der Sonne gebräunte Haut, das runde Gesicht mit den großen mandelförmigen hellgrauen Augen, die die Schüler musterten. Nachdem sein Blick sie komplett gescannt hatte, wanderte er wieder zu ihren Augen. Plötzlich, als hätte sie seinen Blick gespürt, sah meine Schwester auf und erwiderte den Blick des fremden Jungen eindringlich. Der Junge lächelte.
Auf einmal wurde mir schwindelig, ich klammerte mich an das Geländer der Empore, um nicht umzukippen.
„Die drei Neuen, die ich euch heute vorzustellen habe, sind… Tino Oriel, Melanie Farawell und Bianca Farawell! Ihr habt jetzt Gelegenheit, euch euren Mitschülern vorzustellen“, fügte die rothaarige Tiffany an uns gewandt hinzu.
Als erstes sprach der andere Junge, der Tino zu heißen schien.
„Ich bin Tino. Ich bin fünfzehn und komme aus San Francisco, und eigentlich wollte ich nicht hierher ziehen, aber es scheint hier ja gar nicht mal so übel zu sein…“ Er sah aus dem Augenwinkel zu Melanie. „Okay, Tino Oriel. Jetzt du, äh… Melanie.“ Diese verblödete Tiffany nahm Tino das Megafon weg und reichte es Melanie.
„Hey Leute, ich heiße Melanie Farawell und bin vierzehn Jahre alt. Meine Zwillingsschwester und ich sind gestern aus Illinois hergezogen, weil unser Dad hier einen neuen Job hat. Wir wohnen in der French Avenue“, ich hörte, wie manche der Schüler, unter anderem Tino Oriel, scharf einatmeten, als Melanie den Straßennamen nannte – es war schließlich eine ziemlich gehobene Wohngegend, „Nummer 7 und es ist uns nicht wirklich schwer gefallen, aus Illinois wegzuziehen. Auch, weil ich die Sonne liebe… Na ja, ich lass dann mal meine Schwester zu Wort kommen…“ Melanie endete mit einem ziemlich sympathischen Lachen und gab mir das Megafon. Ihren sonnigen Tonfall nachahmend, begann ich: „Ja, also, das Wesentliche hat meine Zwillingsschwester ja schon gesagt… also, ähm, ich heiße Bianca Farawell und bin auch vierz… äh… ja, vierzehn Jahre alt…“ Unsicher ließ ich das Megafon sinken. „Jaah… also, Melanie und Bianca kommen in die Zehnte, und Tino geht in die elfte Klasse. Das wär’s dann, Seaview Schüler, und einen schönen Tag noch!“, sagte diese Tiffany in das Megafon, das sie mir weggeschnappt hatte. Sie und ihre Cheerleader-Tussis blieben auf der Empore stehen und wedelten mit ihren grün-weißen Pom-Poms herum. Ich zog Melanie ungeduldig herunter. Tino Oriel folgte uns langsam. „Nette Ansprache, ähm… Melanie!“ Tino sprach mit meiner Schwester, in seiner Stimme schwang Sympathie mit. „Bist du immer so…“ – „…geschwätzig?“ – „Eigentlich wollte ich charmant sagen, aber wenn dir geschwätzig lieber ist…“ – „Neineinein… Ich dachte nur, weil ich häufiger zu hören bekomme, dass ich… äh…“ Hallo? Hatte ich was verpasst? Melanie, meine offene, aufgeschlossene, sonnige Schwester Melanie stotterte herum? Okay, sie schien was an dem Jungen, diesem Tino, zu finden. Ich entschied, sie und ihn erstmal allein zu lassen, wollte mich unauffällig entfernen und – stieß plötzlich mit einem ziemlich temperamentvoll aussehenden Mädchen zusammen.
Sie schien Mexikanerin zu sein. Ihre Haut war leicht olivfarben, ihr schwarzes Haar fiel ihr in schweren, seidigen Locken auf die Schultern und ihre Augen waren mandelförmig und von einem sehr dunklen Braun, fast schwarz. Sie lächelte nicht. „Oh, increíble! Unglaublich! Kannst du nicht aufpassen!“, schnauzte sie aufgebracht. „Ich, äh… ’tschuldigung, war keine Absicht…“ – „Oh, qué rabia! Wie ärgerlich!“, erwiderte sie. Ich hörte deutlich den sarkastischen Unterton in ihrer dunklen Stimme. „Du bist doch diese Neue? Tja, kleines Dorfmädchen, das hier ist LA. Und weißt du, hier gibt es eine Hierarchie… in der du nicht einmal vorhanden bist!“ Langsam begann ich, wütend zu werden. Nur weil ich sie versehentlich angerempelt hatte, machte die so ein Theater! „Tja, Miss ‚Ich bin ein VIP, macht mir alle Platz’, ich kann doch nichts dafür, dass dein Vorbau drei Minuten vor dir hier ist!“, giftete ich sie an, dabei bedachte ich ihre üppigen Formen, die von einer weit ausgeschnittenen indigoblauen Bluse umhüllt waren, mit einem abschätzigen Blick. Ich hasste es, so zickig zu tun, aber diese Möchtegern-Hollywooddiva ließ mir keine andere Wahl.
Mein bissiger Kommentar schien ihr die Sprache verschlagen zu haben. Ihre Augen wurden schmal, ihre volle dunkelrote Unterlippe zitterte. Sie versuchte, möglichst giftig zurückzuschauen, dann rümpfte sie die Nase und ging zu einem Grüppchen Teenager, die scheinbar allesamt mexikanische Wurzeln hatten.
Das fing ja schon mal super an. Ich war kaum eine Viertelstunde hier und schon hatte ich zwei Personen gefunden, mit denen ich überhaupt nicht klar kam. Der überfreundliche Cheerleader Tiffany und die zickige Mexikanerin, deren Namen ich nicht kannte – und dann war da noch das merkwürdige Mädchen mit den großen gelbbraunen Augen, das scheinbar etwas gegen mich oder meine Schwester (oder uns beide…?!) zu haben schien.
Wo war Melanie eigentlich? Es gefiel mir gar nicht, allein zu sein unter den vielen Fremden (die glücklicherweise das Interesse an mir verloren zu haben schienen), ohne zu wissen, wo sich meine engste Verbündete, meine beste und momentan scheinbar einzige Freundin Melanie herumtrieb. Sie war sicher mit diesem Tino Oriel unterwegs. Ich entschloss, mich auf die Suche nach den beiden zu machen; zur Not würde ich mich eben, auch wenn es mir nicht behagte, durchfragen.
Plötzlich wurde ich am Arm gepackt. Irgendjemand, den ich im Gedränge nicht sehen konnte, fasste meinen Arm und zog mich mit sich. Nicht schon wieder. Letztes Mal, als mich jemand an dieser komischen Schule mit sich mitgezogen hatte, stand ich Sekunden später vor der gesamten Caltym Seaview High-Schülerschaft. Diesmal fand ich mich kurz darauf in einer seltsamen Art Seitengasse, und direkt vor mir stand das kleine Mädchen mit den kurzen braunen Haaren. Ihre auffallend helle Haut wurde von der Sonne angestrahlt, was eigenartig aussah; das Licht ließ ihr schmales Gesicht und die großen bernsteinfarbenen Augen irgendwie von innen heraus leuchten. Das Mädchen war fast einen Kopf kleiner als ich; sie war wirklich auffallend klein (ich meine, ich war mit meinen eins neunundsechzig schon absolutes Mittelmaß!) und sah mich eindringlich aus leuchtenden gelbbraunen Augen an.
„Du bist Bianca Beatrice Farawell… aus Marseilles, Illinois…“, sagte sie, ohne wirklich mit mir zu reden; es war, als dachte sie laut nach. Ihre Stimme war klar und ebenso eindringlich wie ihr Blick (der leider immer noch beunruhigend durchdringend auf mir ruhte); ich fragte mich…
„Woher weißt du, dass ich aus Marseilles komme? Und meinen zweiten Vornamen? Das hab ich gar nicht erwähnt!“ Meine Fragen schienen das Mädchen aus ihren Gedanken zu reißen. Sie blinzelte zweimal, dann sagte sie, mich immer noch mit ihrem harten Blick durchbohrend: „Dann hat deine Schwester es wohl erwähnt… und überhaupt, ich wüsste wirklich nicht, was dich meine Gedanken angehen.“ – „Doch, wenn es in diesen Gedanken um mich geht! Wer bist du und was willst du von mir?“ Eigentlich erwartete ich nicht, dass Miss Mystery mir antworten würde; umso verwunderter war ich, als sie zu sprechen begann.
„Ich weiß viel über dich und deine Schwester… Zum Beispiel, dass du es geschafft hast, es dir in kürzester Zeit mit Maribel Gomez zu verscherzen…“ – „Maribel Gomez? Die Mexikanerin, die ich angerempelt habe?“ – „Und die du danach beleidigt hast, ja…“ – „Ich hab sie nicht beleidigt! Sie hat mich beleidigt; ich hab mich nur gewehrt!“ – „Ich sollte dir vielleicht erzählen… María Isabel Gomez, Maribel genannt, ist die Tochter armer mexikanischer Einwanderer – so scheint es. Aber ihre Mutter… Sie ist gefährlich, Bianca, und wenn dir deine Gesundheit am Herzen liegt, solltest du aufhören Maribel zu provozieren. Auch wenn du dich nur verteidigst.“ – „Noch mal, bitte. Du bist also tatsächlich der Meinung, Maribels Mutter würde mir was antun, wenn ich mich nicht von ihrer Tochter dissen lasse? Wer hat dir das denn eingeredet? Und überhaupt, du hast mir immer noch nicht gesagt, wer du eigentlich bist!“ – „Mein Name ist Kendra Grayson, und mir hat niemand etwas Derartiges eingeredet. Ich habe es gesehen.“ – „Du willst sagen, du warst live dabei, als Maribels Mutter irgendjemandem was angetan hat?“ – „Nein… das heißt, nicht wirklich… Du wirst es verstehen. Ich bitte dich, halte dich von Maribel fern. Und noch ein guter Rat… halte deine Schwester von Tino Oriel fern. Bitte.“ Ich blinzelte. Plötzlich war Kendra verschwunden.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch fassungslos in der Seitengasse gestanden habe, zumindest spürte ich auf einmal eine Hand an meiner Schulter. Ich drehte mich hastig um und sah direkt in Melanies besorgt blickende hellgraue Augen mit den kleinen gelben Punkten darin. „Fia? Alles okay mit dir?“ Ich blinzelte mehrmals und fasste mir an die Stirn. „Jaah… ähm… denke schon…“ Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als ich Tino Oriel neben meiner Schwester stehen sah, den Arm besitzergreifend um ihre Schultern gelegt. Er sah mich an wie vorhin auf der Empore, desinteressiert und eher mäßig besorgt.
„Ist wirklich alles okay?“ Meine Schwester fasste besorgt nach meiner Hand. „Oh Gott, was ist denn passiert? Du bist eiskalt!“ Sie legte den Handrücken an meine Stirn. „Wir bringen dich wohl besser zur Schulschwester!“ Ich wusste, wenn Melanie so drauf war, wenn sie Mommy spielte, war sie wirklich ernsthaft in Sorge und duldete keine Widerrede. Also ließ ich mich widerwillig von ihr ins Krankenzimmer bringen. Es wunderte mich; die ganze Zeit wurde ich wieder von einem quälenden Schwindelgefühl durchströmt, als würde ich gleich zusammenbrechen. Es war beängstigend. Auf dem Weg zum Krankenzimmer gingen wir an Kendra vorbei.
Sie lächelte nicht, als sie uns musterte, Tino und meine Schwester eindringlich, mich besorgt und irgendwie fragend.
Die Schulschwester war eine herzliche Frau mittleren Alters namens Mrs Welling. Sie verabreichte mir einen Löffel süße Medizin, als meine Schwester und Tino gegangen waren, und sofort verflog das Schwindelgefühl. Sie maß Fieber und entschied, mich mit achtunddreißig Grad erhöhter Temperatur im Krankenzimmer zu behalten. Gut so; ich wollte nicht noch mal auf eine dieser eigenartigen Personen treffen. Tiffany Melgrin. Kendra Grayson. Maribel Gomez. Und nicht zuletzt auch Tino Oriel.
Ich wusste nicht, weshalb, aber ich nahm die Warnungen von Kendra erschreckend ernst. Tino hatte mich angesehen, als wüsste ich etwas, was ich nicht wissen sollte. Und Maribel Gomez… na ja, es war ja egal, ob ihre Mutter wirklich gefährlich war oder nicht; ich ging dieser zickigen Maribel lieber aus dem Weg, weil ich keine Streits mag. Ich vermeide sie immer, wenn ich kann.
In der Pause fragte ich Mrs Welling, ob ich nicht in die Cafeteria gehen könne, um etwas zu essen. In den zwei Stunden, die ich mittlerweile im Krankenzimmer verbracht hatte, hatte ich unter anderem die Schulschwester beobachtet. Mrs Welling war eine geschäftige, ordentliche Frau, die ganz nach dem Motto „Herb, aber nicht derb“ zu leben schien. Sie war offen, ehrlich und gutmütig. Sie hatte ein breites rundes Gesicht mit blauen Puppenaugen und glattes schwarzes Haar, das etwas länger als bis zu den Ohren war. In die vergnügten blauen Augen fiel ihr ein fransiger Pony. Mrs Welling war schlicht gekleidet, in dunkelgrauem Cordrock und Twinset, eine Frau, die vor allem durch ihr heiteres Gemüt auffiel. Ich mochte sie sofort. Als ich sie nach der Cafeteria fragte, lachte sie. Sie maß noch mal Fieber. Ich hatte immer noch leicht erhöhte Temperatur (37, 5°C). Also durfte ich nicht in die Cafeteria; Mrs Welling ließ mir allerdings einen Imbiss aus der Schulküche ins Krankenzimmer bringen. Das war mir umso lieber; so brauchte ich weder Kendra Grayson noch Maribel Gomez sehen.
Ich war gerade beim Essen, da besuchte mich Melanie. „Ich hab Daddy angerufen und ihm bescheid gesagt, dass du leichtes Fieber hast. Er schickt dir einen Firmenwagen mit Chauffeur, der dich abholt, wenn es dir besser geht“, sagte sie fröhlich. „Neidisch?“, fragte ich sie. „Kein bisschen… wenn ich krank wäre, müsste ich im Bett liegen und könnte nicht mit Tino ins Celeb.“ – „Du gehst mit Tino ins Celeb?“ – „Mmh… Er hat mich eingeladen.“ – „Er hat dich eingeladen? Wo ist er denn jetzt?“ – „In der Cafeteria. Er lässt dir schöne Grüße und gute Besserung ausrichten.“ Na besten Dank! Darauf konnte ich verzichten. „Grüß zurück.“ – „Mach ich. Also, ich komm später noch mal wieder. Tschüssi!“ Und schon war meine Schwester wieder weg.
Eine halbe Stunde später, ich hatte gerade ein Nickerchen gemacht, bekam ich Gesellschaft. Mrs Welling öffnete einem besorgt aussehenden Mädchen mit rotblondem Haar die Tür, die jemanden zu stützen schien. „Sie ist einfach so zusammengebrochen, im Chemieunterricht! Mr Harris hat gesagt, ich solle sie hierher bringen…“ – „Da hat der gute Mr Harris völlig Recht, Ginger. Hilf mir, wir legen sie neben Bianca hier.“ Mrs Welling und das Mädchen, das scheinbar Ginger hieß, legten ein Mädchen in das Bett neben mir. Ich erkannte sie sofort. Es war Kendra Grayson, Miss Mystery, die da neben mich gelegt wurde. Bitte nicht! Ich war ihr doch extra aus dem Weg gegangen!
Kendra sah echt fertig aus. Ihr kleiner, zierlicher Körper zitterte heftig, ihre Augenlider flatterten. Ihre Augen, diese beunruhigenden großen gelbbraunen Augen, waren halb geschlossen. Ich hatte unweigerlich Mitleid mit ihr, wie sie da auf dem weiß bezogenen Bett lag, zitternd, ohnmächtig. Das Mädchen, Ginger, sah mich unsicher an, dann drehte sie sich um und ging. Mrs Welling deckte Kendras zitternden Körper mit der weißen Daunendecke zu, schüttelte ihr Kissen und ging dann durch die kleine Holztür an der linken Wand des Raums in den kleinen Medikamentenraum, um die passende Medizin für Kendra zu suchen.
Das Krankenzimmer war ein kleiner, hübsch eingerichteter Raum mit weißen Wänden und dunkelbraunen Türen, Bettgestellen, Fensterrahmen und Jalousien. Die Jalousien waren heruntergelassen, so dass der Raum leicht abgedunkelt war. Es gab keine Lampen; auf einem niedrigen Holztischchen an der linken Wand, direkt neben der Tür zur Medikamentenkammer, stand ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe. Es standen insgesamt drei Betten in dem Raum. Sie standen an der rechten Wand. Meines war das hinterste, am nächsten beim Fenster. Kendra lag auf dem mittleren Bett. Sie zitterte noch immer. Mrs Welling kam zurück und verabreichte der von Krämpfen geschüttelten Kendra ein paar Tropfen einer dunklen Flüssigkeit. Fast augenblicklich hörte Kendra auf zu zittern, ihre Augen schlossen sich und Kendra begann, ruhig zu atmen. Ich wandte den Blick von ihr ab und aß weiter mein Schinken-Käse-Sandwich. „Du bist auch hier“, hörte ich Kendra plötzlich sagen, „warum?“ Ich wollte ihr eigentlich gar nicht antworten; dieses Mädchen hatte mich schon genug verunsichert, doch die Worte kamen einfach aus meinem Mund.
„Mir war schwindelig“, sagte ich widerstrebend.
„Mir… auch. Mir wird… öfters schwindelig, das hängt… damit zusammen… was ich mache… aber so heftig… wie heute… war es noch nie“, sagte Kendra mit schwacher Stimme. „So? Was genau… machst du denn?“, fragte ich neugierig. Doch Kendra antwortete nicht. Ich sah zu ihr. Sie war wohl wieder eingeschlafen. Tja. Perfektes Timing. Leider. Ich musste wohl warten.
Mrs Welling kam wieder und verabreichte Kendra noch einmal etwas von der Flüssigkeit. „Sie wird bald wieder zu sich kommen. Armes Mädchen. Schwacher Kreislauf, denk ich mal. Vermutlich wurde sie als Baby nicht gut gefüttert…“, murmelte sie vor sich hin. Ich stellte mich schlafend, bevor die gute Mrs Welling mich auch mit Medizin abfütterte.
Melanie kam zwei Stunden später wieder vorbei, um mir zu sagen, wann Dads Firmenwagen am Schultor auf mich warten würde. Sie sah Kendra mit einigem Interesse an. „Ah ja, Kendra Grayson… sie ist in Chemie zusammengeklappt. Das war vielleicht merkwürdig. Einen Augenblick vorher hat Tino sie noch versehentlich gerempelt und plötzlich lag sie auf dem Boden… Ginger Gordon hat sie weggebracht. Ich dachte, sie wäre direkt nach Hause gebracht worden…“ – „Kendra ist in deinem Kurs?“ – „In unserem Kurs, Schwesterchen. Eigentlich sind wir ja zusammen in einem Kurs… wenn du nicht gerade fiebernd im Bett liegst“, grinste meine Schwester. „Hast du schon mal mit ihr geredet?“ – „Nein… sie hat mich nur angestarrt wie immer…“ – „Hast recht…“ Ich wusste, dass ich es nicht so meinte. Kendra war mir langsam sympathisch. Auch wenn sie ein Freak war. Sie war an dieser verdammten Schule die Erste, die mich wie einen normalen Menschen behandelt hatte. Und sie teilte momentan scheinbar mein Schicksal; hier, auf dieser einsamen Krankenstation, mit niemandem außer Mrs Welling als Gesellschaft, die einem ab und zu Medikamente einflößte… Melanie war anders als ich, sie fand immer rasend schnell Freunde. Ich konnte mir vorstellen, dass sie auch irgendwann ein Cheerleader werden würde (an unserer alten Schule gab es auch welche, aber da war Melanie zu jung für das Team) und sich mit diesen hüpfenden, kichernden Tussis wie Tiffany Melgrin prima verstehen würde. Auf die hatte sie ja sicher auch Eindruck gemacht, wie auf Tino Oriel, der scheinbar in meine Schwester verknallt war oder so.
„Also, Daddys Firmenwagen steht in einer Dreiviertelstunde am Haupttor. Der Chauffeur heißt John Rogers. Viel Spaß dann noch mit Miss Mystery.“ Lustig, dass sie Kendra denselben Spitznamen verpasst hatte wie ich. Melanie ging aus dem Raum.
Kaum eine Minute nach Melanies Abgang schlug Kendra die Augen auf. Es schien ihr deutlich besser zu gehen; ihre Stimme klang wieder klar und hell wie heute früh in der Seitengasse. „Deine Schwester scheint mich nicht besonders zu mögen“, stellte sie fest, dann fügte sie resignierend hinzu, „Miss Mystery.“ – „Sie meint es nicht so. Sie kennt dich nicht richtig und das ist eben Melanies Art“, sagte ich entschuldigend. „Also… um zu deinen Schwindelanfällen zurückzukommen… Gehe ich recht in der Annahme, dass dir immer schwindelig wird, wenn Tino Oriel in der Nähe ist?“, fragte mich Kendra scheinbar beiläufig. Ich dachte kurz darüber nach. „Hm… Ja. Ja, ich glaube schon.“ – „Genau wie bei mir. Meine Anfälle hängen mit bestimmten Leuten zusammen, deren Aura ich nicht vertrage. Tino Oriel ist einer dieser Menschen. Und auch Maribel Gomez. Jeder wird von Schwingungen umgeben, die die Aura bilden. Sie ist, je nach dem Umfeld und den Gedanken eines Menschen, positiv, negativ oder neutral. Die meisten Menschen haben eine neutrale Aura, ohne ‚besondere Vorkommnisse’, manche haben eine neutrale Aura mit leichter Tendenz in positiv oder negativ, aber Menschen wie Tino Oriel oder Maribel Gomez stehen durch und durch im negativen Bereich. Und diese Negativität, das ist es, was ich nicht vertrage. Durch häufiges Zusammensein mit jemandem, der eine positive Aura besitzt, werde ich hingegen stärker. So wie jetzt gerade, zum Beispiel.“ – „Was?“ Den letzten Teil hatte ich nicht ganz verstanden. Warum wurde sie jetzt gerade stärker?
„Deine Aura ist durch und durch positiv. Überdurchschnittlich positiv, um es ganz genau zu sagen…“ – „Wie kann das sein? Ich habe doch auch negative Gedanken und so…“ – „Ja, aber nicht richtig negativ. Du denkst ab und an – sehr selten – negative Gedanken, aber du handelst nie negativ. Das ist das Problem von Leuten wie Tino. Sie werden vom Negativen beherrscht. Und irgendwann… wenn ihre Aura die Oberhand gewinnt…“ – „Was ist dann?“ – „Wenn ihre negative Aura in sie eindringen kann… Gewöhnlicherweise ist die Aura eine Art Kraftfeld, das den Körper umgibt. Wenn eine Schwachstelle da ist, eine Lücke, eine kleine Öffnung in der dünnen Schicht Persönlichkeit, die den Geist und die Seele von der Aura abschirmt, durch die schädliche Einflüsse eindringen können, dann…“ – „Was dann?“ – „Dann wird erst die Persönlichkeit negativ, es entstehen Risse im Schutzfeld von Seele und Geist, und langsam wird die Person von innen heraus vernichtet. Es sammeln sich immer mehr negative Kräfte im Innern der Seele, und wenn das Plasma, aus dem die Seele besteht, nicht mehr stark genug ist, um die Kräfte zu halten… löst es sich auf.“ – „Die Seele löst sich auf?“ Ich war völlig konfus. „Wie kann das sein? Wie kann sich die Seele auflösen? Ich dachte, die Seele wäre unsterblich! Was war denn mit dem ganzen Kram, von wegen nach dem Tod lebt die Seele weiter?“ – „Das ist auch normalerweise der Fall, wenn die Gaiaeinheit, die aus der Aura, der Persönlichkeit, dem Geist und der Seele besteht, intakt ist. Was sie gewöhnlicherweise ja auch ist… Dann lebt die Gaiaeinheit als Ganzes weiter, wenn der Körper stirbt.“ Gaiaeinheit? Was war das denn jetzt schon wieder? „Gaiaeinheit?“ – „Gaia war die altgriechische Göttin der Erde. Die Gaiaeinheit wird aus den vier wichtigsten gottgegebenen Komponenten gebildet, über die ein Mensch verfügt: die Seele mit allen Emotionen und Erinnerungen des Menschen im Seelenplasma. Der Geist mit allem Wissen und allen Gedanken des Menschen, gespeichert in den vielen Zellen, die das Genia bilden, welches in der Mitte des Seelenplasmas liegt. Die Einheit aus Geist und Seele liegt im Körper verborgen und verfügen über eine Art Magnetfeld, das Schutz vor schädlichen Einflüssen bietet. Dann gibt es die Persönlichkeit, eine dünne Haut, die als zusätzliche Hülle die Einheit aus Geist und Seele umgibt. Und ganz außen liegt die Aura als Kraftfeld aus Schwingungen. Das alles bildet dann die Gaiaeinheit. Die Gaiaeinheit ist normalerweise weder sichtbar noch fassbar. Aber sie ist da. Und sie kann nur als Ganzes existieren. Nur wenn alles intakt ist, ist ein Leben im Jenseits möglich.
Du und deine Schwester, ihr werdet hier in Los Angeles euer Schicksal erfüllen. Ihr seid mehr als gewöhnliche Menschen. Aber ihr habt verschiedene Schicksale. Um sie zu erfüllen, müsst ihr unabhängig voneinander werden, versteht ihr? Deine Schwester wird ihre Aufgabe noch finden, aber du… Deine Aufgabe ist es, deine Schwester und die anderen Menschen zu schützen, sie vor den Störfaktoren zu beschützen, damit sie ihre Aufträge erledigen können. Melanie Farawell.“ – „Ich, äh, ich bin nicht Mel-“ – „Lass mich ausreden! Also. Melanie. Tiffany. Ronald. Jordan. Das sind die Namen der Personen, die es zu schützen gilt.“ – „Doch nicht Tiffany Melgrin, oder?“ – „Doch. Tiffany Melgrin. Weshalb?“ – „Ich kann sie nicht leiden.“ – „Du musst dich leider damit abfinden. Melanie, Tiffany Melgrin, Ronald Gregory und Jordan Grayson sind die Personen, auf die du achten musst. Halte sie von den Störfaktoren fern.“ – „Wer sind Ronald Gregory und Jordan Grayson… Moment mal, Grayson“ – „Zwei Jungs von dieser Schule. Ronald Gregory, alle nennen ihn Ron, ist Kapitän des Baseballteams. Er ist ziemlich beliebt. Er ist fünfzehn Jahre alt und…“, sie schloss angestrengt die Augen und konzentrierte sich, „deine Schwester kennt ihn bereits. Und Jordan Grayson. Er ist auch fünfzehn und hochintelligent. Genau wie Melanie.“ Kendra lächelte. „Die beiden spielen in derselben Liga. Das ist gut. Jordan ist recht arrogant, er bildet sich einiges auf seine herausragende Intelligenz ein. Ich denke mal, deine Schwester wird ihn auf den Boden bringen. Das hat mein Bruder dringend nötig.“ Sie lachte. Ein warmes, melodisches Lachen. Also hatten wir was gemeinsam. Wir hatten beide Geschwister, die scheinbar in diese Auftragsgeschichte verwickelt waren. Ich hoffte, mich so richtig mit Kendra anzufreunden. Sie war zwar um Einiges intelligenter als ich, aber sie war mir unheimlich sympathisch.
Ich sah auf die Uhr. „Oh mein Gott! Ich sollte schon vor sieben Minuten am Haupttor sein! Dads Chauffeur wartet sicher schon!“ Ich stand hastig auf. „Na ja, dann tschüss… lass den Chauffeur nicht warten!“ – „Kommt gar nicht in Frage! Du kommst mit! Komm, beeil dich, sonst kommt Mrs Welling wieder und füllt uns wieder mit Medizin ab!“ Als Kendra das Wort Medizin hörte, stand sie noch schneller auf als ich.
Ein paar Minuten darauf saßen wir auf der Rückbank einer geräumigen Mercedes-Limousine. Der Wagen war schwarz wie ein Leichenwagen, aber die Rückbank war bequem und wir hatten reichlich Platz. Sogar eine gefüllte Minibar war da, an der wir uns sofort bedienten (unsere Krankenverpflegung, die Schinken-Käse-Sandwichs, hatten widerwärtig geschmeckt). John, der Chauffeur, war ein netter junger Mann, vielleicht einundzwanzig Jahre alt. Er fuhr echt rasant, was irgendwie schade war – ich mochte die Limousine. So stiegen wir keine drei Minuten nach unserer Abfahrt vor French Avenue Nr. 7 und ich schloss die Tür auf. Meine Schwester war nicht da, die war ja mit Tino im Celeb – Tino! „Kendra! Meine Schwester und Tino Oriel sind gerade im Celeb!“ – „Was? Mit Tino im Café? Zieh deine Schuhe wieder an, wir gehen hin.“ – „Wieso erklären wir ihr nicht einfach alles?“ – „Sie würde uns nicht glauben. Und außerdem dürfen wir ihr nichts sagen. Das ist festgeschrieben. Alle dreihundert Jahre muss sich die Prophezeiung erfüllen, so wie sie geregelt ist. Immer werden vier Jugendliche, zwei Jungs und zwei Mädchen, vier komplett verschiedene Persönlichkeiten, auserwählt. Sie werden Aufträge erhalten, die sie zu erfüllen haben, und einige andere Personen, die irgendwie mit dem Team in Verbindung stehen – zum Beispiel durch eine Verwandtschaft, wie in unserem Fall – müssen gewährleisten, dass die Aufträge ausgeführt werden können, indem sie Störfaktoren aus dem Leben des Teams fernhalten. Davon darf das Team allerdings nichts erfahren, sonst sind sie nicht mehr unbefangen genug, um die Aufträge fehlerlos zu erfüllen. Die Gaiaeinheiten der Teammitglieder müssen vollkommen intakt sein. Wenn die Teammitglieder von den Störfaktoren wüssten, geriete alles aus dem Gleichgewicht. Und wenn das Team zu lange in Kontakt zu den Störfaktoren steht, können sie schädliche Einflüsse aus den negativen Auren der Störfaktoren aufnehmen. Und die Aufträge müssen von durch und durch positiv aurierten Menschen erfüllt werden.“
So langsam begann ich, den ganzen Kram, den sie redete, zu verstehen. Auch wenn es mir unwahrscheinlich erschien, dass eine höchstens eins fünfundfünfzig große Dreizehnjährige irgendwelche Kenntnisse von „Gaiaeinheiten“ und ähnlichem Zeugs hatte (falls es etwas wie Gaiaeinheiten überhaupt gab; Kendra konnte genauso gut völlig durchgeknallt sein). Aber dennoch, Kendra Grayson und ich waren so etwas wie Freunde, und ich mochte sie. Und jetzt mussten wir dringend zum Café The Celeb, an der Ecke French Avenue/Epcot Road, um meine Schwester von ihrem „Störfaktor“ Tino Oriel zu trennen.
Wir ließen einfach alles liegen und rannten die zwei Minuten zum Celeb. Melanie und Tino sahen wir schon von weitem. Sie saßen draußen auf zwei Stühlen aus Korbgeflecht und schienen sich königlich zu amüsieren. Einen Moment zweifelte ich. Meine Schwester schien Tino wirklich zu mögen. Sollte ich ihr das wirklich antun, ihr ihren ersten Freund in Los Angeles nehmen, nur weil irgendeine Hellseherin mir sagte, ich solle das tun? Sollte ich willentlich Freundschaften zerstören?
Es gab nur eine Antwort.
Ja, ich sollte.
Kendra und ich gingen wie normale Menschen ins Café und setzten uns in eine Ecke. „Was sollen wir tun?“, wisperte ich. Doch Kendra schien mich gar nicht zu hören. Sie hatte den Blick auf Melanie und Tino gerichtet, ihren durchdringenden Blick aus großen bernsteinfarbenen Augen. „Er nimmt ihre Hand!“ – „Ist das schlecht?“ – „Sogar sehr schlecht!“ – „Wieso? Ich dachte, der Körper ist nur eine Hülle und die… die Gaiaeinheit muss intakt sein? Und Melanies Gaiaeinheit ist doch intakt, oder nicht?“ – „Schon, aber ich sagte dir doch bereits, die Teammitglieder müssen möglichst wenig Kontakt zu Störfaktoren haben und – oh nein!“ – „Was ist los?“ – „Da! An der Tür! Das ist los!“ Da sah ich es auch.
Durch die Glastür hindurch konnte ich sehen, wie Maribel Gomez und ihre Clique eingebildeter Mexikaner direkt auf das Celeb zukamen.
Noch ein Störfaktor.
Die gläserne Tür öffnete sich, und die Mexikaner traten ein. Fast augenblicklich stöhnte Kendra auf und fasste sich an die Stirn. Leise, fast lautlos, begann sie zu sprechen. „Hast du je von Concha Ramirez gehört?“ – „Concha Ramirez? Die berüchtigte Mafiosa?“ – „Genau die. Concha Ramirez ist ihr Deckname. Sie ist vierunddreißig Jahre alt und seit sechzehn Jahren bei der mexikanischen Mafia. Kurz nach ihrem Mafiaeintritt wurde sie von einem Mitglied der russischen Mafia, Sergej Rasputinowitsch, schwanger. Als ein Jahr später ihre Tochter zur Welt kam, starb Rasputinowitsch eines plötzlichen Todes. Er war der Chef der russischen Mafia, seit fünfundzwanzig Jahren ganz oben. Sein Tod war eigentlich für niemanden eine Überraschung, denn genauso viele Anhänger wie er hatte, so viele Feinde hatte er auch. Keiner forschte nach, als er verschwand und ein paar Monate später seine Leiche in der Kanalisation auftauchte. Rasputinowitsch war erschossen worden. Viele hatten seine Geliebte Concha im Verdacht, doch es gab keine Beweise und insgeheim waren alle über Sergejs Ableben froh. Concha ist eine mexikanische Kurzform des Vornamens Consuela, und Ramirez ist der Mädchenname von Conchas Mutter. Eigentlich heißt sie Consuela Gomez, und sie wohnt hier in Los Angeles. Zusammen mit ihrer vierzehnjährigen Tochter María Isabel Gomez.“ – „Du meinst… Maribel Gomez von unserer Schule ist die Tochter der Mafiosa Concha? Wie kann das sein? Ihre Mutter müsste längst verhaftet sein, wenn jeder weiß, wer sie wirklich ist, es sei denn…“ – „Ja… meine Visionen. Außer mir und jetzt auch dir weiß kein Außenstehender bescheid. Und du solltest es besser für dich behalten, wenn dir dein Leben lieb ist. Wenn Concha Ramirez dich für eine Gefahr hält, liegst du schneller tot in einem Müllcontainer, als du denken kannst.“ – „In einem Müllcontainer?“ – „Du würdest mir nicht glauben, wie viele Gegner von Concha in Müllcontainern oder ähnlich erniedrigenden Orten gefunden wurden. Zum Beispiel Rasputinowitsch in der Kanalisation.“
Ich warf unauffällig einen Blick zu Maribel hinüber, die sich mit ihrer Clique an einen Tisch ganz hinten in der dunkelsten Ecke des Celeb positioniert hatte. Gerade in dem Augenblick, in dem mein Blick Maribel streifte, sah sie plötzlich auf und ihr Blick, ein flammender, hasserfüllter Blick aus großen schwarzen Augen, bohrte sich direkt in meinen.
Ich senkte rasch den Blick. Kendra stöhnte auf. „Hör auf damit!“ –„Womit?“ – „Maribel anzustarren. Für Mafiosi ist manchmal schon ein Blick ein Grund, jemanden aus dem Weg zu räumen.“
Ich spürte mein Handy in meiner Tasche vibrieren und begann, es aus der Tasche herauszusuchen. „Ja?“ – „Bianca? Bianca?“ Die Stimme meiner Schwester. Aber warum zum Teufel rief sie mich an? Sie saß doch hier im Celeb, oder nicht? Ich sah durch die verglaste Seitenwand nach draußen zu dem Tisch, an dem bis gerade eben noch meine Schwester und Tino Oriel gesessen und geflirtet hatten. „Wo bist du, Melanie? Ich dachte, du wärest im Celeb?“ – „War ich auch…“ Sie beschrieb mit wenigen Worten, wo sie sich zu befinden schien, dann legte sie auf. Mit versteinerter Miene drehte ich mich zu Kendra um. „Wir brauchen Hilfe.“ – „Was ist passiert?“ – „Meine Schwester. Wir müssen ihr helfen. Sie ist gekidnappt worden.“
Kaum fünf Minuten später saßen Kendra und ich in einem Taxi. Das Taxi, ein niedlicher Kleinwagen, schlängelte sich durch den dichten Verkehr Los Angeles’. Es war ziemlich stickig in dem Taxi. Die winzigen Seitenfenster waren alle geschlossen; der Fahrer, ein Mexikaner namens Jesús, machte keine Anstalten sie zu öffnen. Er schaute die ganze Zeit starr geradeaus und hatte genau ein Wort zu uns gesagt, „Wohin?“ mit einem merkwürdig harten Akzent. Wir befanden uns mittlerweile in einem völlig anderen Viertel von Los Angeles. Enge, schattige Straßen, gesäumt von heruntergekommenen Häusern, niedrigen Wellblechbauten und dreckigen Holzschuppen. Die schmalen Gassen quollen über vor Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, alle mit olivfarbener Haut und dunklem Haar, Mexikaner, Inder, Lateinamerikaner, Sinti und Roma, die hier in ihrer ganz eigenen Welt zu leben schienen. Die Kinder wirkten schäbig und ärmlich; sie waren dünn und schmutzig, hatten verfilztes dunkles Haar und trugen Kleider, die alle denselben Beigeton zu haben schienen. Die Frauen wirkten verzweifelt und doch ehrgeizig; geschäftig wuselten sie durcheinander und gingen ihrer Arbeit nach, manchmal in Zweier- oder Dreiergrüppchen, mit Einkaufstaschen und Wasserkrügen beladen. Einige der Frauen hatten ihre langen schwarzen Haare zu Zöpfen geflochten, die ihnen beim Laufen auf den Rücken schlugen; andere trugen die Haare nur knapp schulterlang und mit farbigen Bändern und bemalten Holzperlen verziert. Die Frauen trugen bodenlange Gewänder aus bunten Stoffen und flache Sandalen aus Bastgeflecht. Einige hatten auch um Kopf und Haar bunte Tücher gelegt.
Plötzlich hielt unser Taxi vor einem der Gebäude, einem einstöckigen Häuschen mit flachem Dach. Es hatte, wie die meisten der Häuser hier, keine Tür, dafür aber ein mottenzerfressenes dunkelrotes Leinentuch, das oben an den Türrahmen genagelt war und so Schutz vor neugierigen Blicken bot. „Hier ist es“, sagte der Taxifahrer mit seinem harten Akzent. „Ziel erreicht. Vierzig Dollar.“ Ich fingerte an meiner Geldbörse herum, suchte zwei Zwanzig-Dollar-Scheine ab und überreichte sie dem Fahrer. Der setzte sich wieder in sein stickiges kleines Auto und zog ab.
Vorsichtig ging ich auf den ausgefransten dunkelroten Vorhang zu, der die Tür des Hauses ersetzte. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Kendra und ich fuhren herum und sahen in das Gesicht einer der Frauen, die hier überall herumliefen. Sie war noch jung, trotzdem war ihr schmales olivfarbenes Gesicht vom Kummer gezeichnet. Sie hatte große tiefschwarze Augen und seidig glänzendes Haar. Sie trug es offen; die schweren pechschwarzen Locken fielen über ihre Schultern bis zur Mitte ihres Rückens hinab. Eine ihrer Hände lag auf meiner Schulter, die andere auf Kendras. Die Frau sah uns mit einem misstrauischen Ausdruck auf dem schönen, aber kummervollen Gesicht an. „Quién sois? Qué haceis aquí?“ Ich verstand kein Wort; stumm und hilflos starrte ich in die großen dunklen Augen. Mir wurde der Ernst unserer Lage bewusst. Meine Schwester war gekidnappt worden. Scheinbar befand sie sich hier im Ausländerviertel, aber Kendra und ich sprachen kein Wort Spanisch und wir hatten kein Taxi mehr. Wir saßen hier fest, unter vielen fremden Leuten, denen wir uns nicht verständlich machen konnten und die natürlichen Fremden gegenüber mehr als misstrauisch waren.
„I-ich spreche kein Spanisch“, stammelte ich nur, als die Frau mich verständnislos ansah.
Plötzlich wandelte sich ihr Gesichtsausdruck. Mühelos verfiel sie ins Englische. „Ja, natürlich. Das hätte mir klar sein müssen…“ Ihr Blick, der immer noch auf mir ruhte, wurde wärmer und freundlicher. „Du möchtest sicher zu deiner Schwester, oder?“, fragte sie ruhig. „Ja! Wissen Sie, wo sie ist? Geht es ihr gut? Warum wurde sie hierher gebracht?“ – „Mach dir keine Sorgen, mein Kind. Deiner Schwester fehlt nichts. Ich kann dich zu ihr bringen, wenn du möchtest.“ Sie fasste nach meinem Arm. Doch irgendetwas an der Art, wie mich die Mexikanerin festhielt, machte mir Sorgen. Sie umfasste meinen Oberarm fest, zog mich mit sich. Ich merkte, dass sie zwar freundlich tat, aber eigentlich sicher keine Widerrede dulden würde.
Ich drehte mich nach Kendra um. Sie wurde ebenso festgehalten wie ich und sah mich hilflos an. Die Frau zerrte uns an dem mottenzerfressenen roten Vorhang, der die Tür des kleinen Hauses ersetzte, vorbei nach drinnen und blieb dann in dem Raum stehen. Das gesamte Untergeschoss war ein Raum, eine Art sehr ärmlicher Wohnraum. Die Wände des Hauses bestanden aus mit Lehm verkleisterten Backsteinen, innen hatten sie weder Anstrich noch Tapete; einfach nur die nackte gelbbraune Wand. Der Boden hatte eine eigenartige Farbe. Er war ebenfalls nackt und hatte ein seltsames Braun mit deutlicher Rottönung. Die Mexikanerin bemerkte meinen Blick auf den Boden. „Lehm, gemischt mit Ochsenblut“, sagte sie. „Hält Ungeziefer ab.“ Dann rief sie einige Worte auf Spanisch nach oben.
Ich sah mich weiter im Raum um. In einer Ecke war eine Kochstelle mit einem großen gusseisernen Kochtopf, daneben stand ein niedriges Regal aus rohem, unbehandeltem und splittrigem Holz. In einer anderen Ecke war eine Art Sitzecke; Holzkisten dienten als Sitzgelegenheiten und in der Mitte stand ein großer umgestülpter Wäschekorb, der den Tisch darstellte. An sämtlichen freien Wänden standen Holzkisten, nebeneinander gestellt, auf denen Decken und Matten lagen. Ich begriff, dass sie Schlafgelegenheiten waren, zum Schutz vor der Kälte des Bodens erhöht.
Plötzlich kam ein großer, bärtiger dunkelhaariger Mann in den Fünfzigern die ausgetretenen Lehmstufen herabgeschritten und trat in den Raum. Die junge Frau verneigte sich leicht, dann ließ sie uns los und eilte zu dem Mann, um ihm einen Kuss auf jede bärtige Wange zu drücken. Einen Augenblick überlegte ich, ob wir fliehen sollten; dann sah ich jedoch, dass der Mann eine rostige Pistole am Gürtel trug, und kam zu dem Schluss, dass wir keine reelle Chance haben würden.
Die beiden Mexikaner unterhielten sich und schienen keine Notiz von Kendra und mir zu nehmen, also versuchte ich, mich mit Kendra in Zeichensprache zu unterhalten. „Was sollen wir tun?“, fragte ich sie lautlos. „Keine Ahnung“, signalisierte sie mir.
Da kamen die beiden Mexikaner, die junge Frau und der bärtige Mann, auf uns zu. Die Frau trat hinter mich und ergriff meine Schultern; der Mann ging ohne Zögern zu Kendra, hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter. Kendra quietschte vor Überraschung auf, dann strampelte sie und warf dem Mann sämtliche Schimpfwörter an den Kopf, die sie kannte. Er schien völlig unbeeindruckt. Er ging einfach samt Kendra die Treppe hinauf. Die junge Frau stieß mir in den Rücken, um mir zu verstehen zu geben, dass ich hinter ihm her gehen sollte.
Wir wurden in den eigentlichen Schlafraum gebracht. Überall auf dem Boden lagen Matten aus Stroh und zerlöcherte Decken. Allerdings war niemand da. In der Mitte hing eine Strickleiter von der Decke. Am oberen Ende der Strickleiter befand sich eine quadratische Öffnung; dort konnte man scheinbar auf das flache Dach hinaustreten.
Die Frau sagte leise auf Englisch zu mir, dass ich mich auf eine der Matten setzen solle. Der Mann, der Kendra hoch getragen hatte, machte sich nicht die Mühe, mit ihr zu reden; vielleicht konnte er ja auch gar kein Englisch. Er setzte sie einfach unsanft auf dem Boden ab und drückte sie grob neben mir auf die Matte. Dann redete er wieder auf Spanisch mit der Frau; dabei deutete er auf Kendra und mich. Die Frau antwortete und wies dabei mit dem Finger auf mich. Der Mann gebot mir, aufzustehen, dann sagte er auf Englisch, aber mit schwerem Akzent, „Folge mir.“
Er kletterte die Strickleiter hinauf; ich folgte ihm mit einigem Abstand.
Auf dem Dach erwartete mich eine ungewöhnliche Szenerie. Da lagen Matten auf dem Boden, eine Wäscheleine war an zwei Holzstangen quer aufgespannt; darauf hingen Decken und bunte Kleidungsstücke. In einer Ecke kniete ein mexikanischer Junge mit einem kurzen silbernen Messer in der Hand, dass er dem Mädchen an die Kehle hielt, das auf dem Boden vor ihm kauerte.
Meine Schwester Melanie.
Der etwa sechzehnjährige Junge trug kein Oberteil, nur weite dunkelrote Hosen aus einer Art gefärbtem Leinenstoff. Er kniete am Boden, den einen Arm um den Oberkörper meiner Schwester gelegt. Das silberne Messer hielt er in der anderen Hand, wenige Zentimeter von Melanies Kehle entfernt.
Meine Schwester schien bewusstlos zu sein. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und sie lag schlaff in den Armen des Jungen. Ihr weiches honigfarbenes Haar war zerzaust und aus ihren sonst immer leicht bronzenen Wangen war jede Farbe gewichen.
Ich musste schon sehr an mich halten, um nicht einfach auf den Jungen loszugehen, der ohne jede Gefühlsregung im Gesicht einfach nur da hockte und meine ohnmächtige Schwester mit einem Messer bedrohte. „Was haben Sie mit ihr gemacht?“, brach es aus mir heraus. Der Mann gebot dem Jungen mit einer lässigen Handbewegung, mir zu antworten; er selbst schien nur wenig Englisch zu sprechen. „Deine Schwester ist bewusstlos… wir haben ihr ein Schlafmittel verabreicht. Keine Angst, sie wird wieder aufwachen“, sagte der Junge in gönnerhaftem Ton, ohne mich anzusehen. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?“, wandte ich mich nun wieder an den Mann. Mir war nämlich sofort klar, dass ich den Jungen nicht leiden konnte. Doch der Mann sah wieder auffordernd zu dem Jungen hinüber und sagte zwei Worte auf Spanisch. „Wer wir sind, tut nichts zur Sache. Von dir wollen wir gar nichts… eigentlich nur, dass du deinen Vater bei Laune hältst. Sag ihm, die Kleine hier“, er strich Melanie ganz leicht mit der stumpfen Kante des Messers über die Wange, „sei bei einer Freundin. Damit dein Daddy keinen Ärger macht. Das würde deiner Schwester nämlich gar nicht gut bekommen…“ Er drehte das Messer um und drückte die Klinge kurz an Melanies Hals; nicht an die Halsschlagader, sondern an eine kleinere, unbedeutende, aber dennoch drückte er fest genug zu, um Melanies Haut zu verletzen; ein kleiner Tropfen hellroten Bluts quoll aus dem winzigen Schnitt. Ich atmete geräuschvoll ein und war drauf und dran, mich auf den Jungen zu stürzen… doch der große Mann hatte mich bereits gepackt und mit seinen mächtigen Armen umklammert; er schob mich auf das quadratische Loch im Boden zu, unter dem, wie ich wusste, das Schlafzimmer lag. Er rief auf Spanisch etwas in das Loch hinein und ich konnte erkennen, dass die Frau, die Kendra und mich hergeführt hatte, darunter erschien. Der bärtige Mann packte mich fest an beiden Oberarmen und ich keuchte vor Schmerz auf. Er hob mich an den Armen in die Luft und ließ mich in die Öffnung fallen… Mir wurde schwarz vor Augen.
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2010
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Widmung:
Für Bree