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1. Kapitel - Glücklich zu dritt

 

„Probier mal den Frappuccino ...“ Beate reichte Mia den braunen Plastikbecher. Diese gab einen ebensolchen zurück: „Der hier heißt Mokka Latte, schmeckt entfernt nach Kaffee.“

Die Dritte in der Runde nippte auch an einem Becher. „Ich trinke Brühe. Schmeckt gar nicht übel. Wer von euch will mal?“

Mia und Beate schüttelten den Kopf und zogen eine angeekelte Miene. „Nee, Hanna, behalte die für dich. Dass so ein Zeug in einem Kaffeeautomaten überhaupt drin ist! Das hat mit Kaffee doch gar nichts zu tun“, murmelte Beate und Mia schimpfte: „Als wir Durchprobieren sagten, meinten wir Kaffee, nicht Brühe!“

„Hat aber keine von euch gesagt. Dann trinke ich sie halt alleine, ist wahrscheinlich sowieso gesünder als euer Kaffee. Der Geschmack ist echt gut, hätte ich gar nicht gedacht.“

 

Die drei Freundinnen standen im Aufenthaltsraum der Hochschule und probierten zum wiederholten Mal die Getränke des Kaffeeautomaten durch. Die fantasievollen Namen der Kaffeesorten unterschieden sich deutlich mehr als der Geschmack, aber es machte ihnen Spaß.

 

„So, jetzt haben wir dank Hanna wirklich alle Sorten durch. Fangen wir von vorn an?“

„Nee, Mia, ich habe meinen Favoriten. Ich trink ab jetzt nur noch Kaffee ohne irgendwas, der war am erträglichsten“, entgegnete Beate.

Mia schmunzelte. „Langweilig! Ich trinke jeden Tag abwechselnd Cappuccino, Frappuccino und Cacaoccino, die haben mir am besten geschmeckt.“

Hanna schlürfte den Rest ihres Bechers genussvoll aus und gab ebenfalls ihr Fazit ab: „Alles Milchpulver, Zucker, Kaffee und Kakao mit einer Tendenz zu Schwerpunkt Zucker. Ich trinke ab jetzt Brühe. Und ihr habt noch gar nicht alle durch, ihr habt die Brühe nicht probiert!“

Hanna war von den dreien die Gesundheitsbewussteste. Sie aß Vollkornbrote und viel Obst und machte nur aus Freundschaft das Kaffeeautomatenspiel mit.

„Leute, es ist 10 Uhr, es geht weiter! Los, Professor Bauer wartet.“

Beate hatte mit Erschrecken auf ihre Uhr gesehen. Kein Wunder, dass der Aufenthaltsraum menschenleer war, die Vorlesung hatte bereits begonnen. Schnell warfen sie ihre Becher in den Mülleimer, schwangen sich die Taschen über die Schultern und stürmten in Raum E211. Dort war Professor Bauer mit seiner Vorlesung schon mitten in den verschiedenen Führungsstilen angekommen.

 

Leider hatten sie vergessen, den hinteren Eingang zum Hörsaal zu nehmen und waren zur vorderen Tür hereinspaziert. So standen sie – alle drei eher klein und zierlich – neben ihrem Professor und begrüßten ihn verlegen. Er unterbrach lächelnd die Vorlesung.

„Mia, Beate und Hanna, bleibt gleich hier vorne. Erzählt euren Kolleginnen etwas von teamorientierter Führung. So miteinander verwachsen, wie ihr seid, könnt ihr das sicher gut!“

Das hatten sie nun davon! Professor Dr. Martin Bauer, wie sein vollständiger Titel lautete, unterrichtete das Studienfach Management und war für seine spontane Einbeziehung der Studenten bekannt. Jetzt hatte es sie erwischt. Die Kommilitonen, hauptsächlich weiblicher Art, kicherten schadenfroh.

„Äh, ja, teamorientierte Führung heißt, dass man im Team führt“, begann Beate stotternd und Mia ergänzte brillant: „Die Führung erfolgt im Team, ja!“

Nur Hanna konnte noch ein klein wenig ihren Ruf aufbessern, indem sie mit sachlichem Tonfall rezitierte: „Totler schreibt in seinem Management-Buch, dass es zwei hauptsächliche Führungsstile gibt, den streng hierarchischen und den teamorientierten. In einem hierarchischen hätte ich wahrscheinlich keine Brühe getrunken, sondern wäre eingeteilt worden, einen Kaffee zu trinken, den ich nicht gewollt hätte. Deswegen bevorzuge ich einen teamorientierten Führungsstil.“

Hanna zog ihre Stirn nachdenklich kraus und setzte hinzu: “Obwohl ich beinahe gezwungen worden wäre, Kaffee statt Brühe zu trinken ...“

„Wir haben doch gar keinen Chef, wir sind gleichberechtigt“, maulte Mia Hanna an.

Die stützte ihre rechte Hand an die Hüfte und gab zurück: „Na, ich finde Beate manchmal schon ganz schön bestimmend ...“

Beate wehrte sich: „Stimmt doch gar nicht!“

Professor Bauer schickte das Dreiergespann – in sich hinein grinsend – auf ihre Plätze.

Man sah sie selten allein, sie waren wie die drei Musketiere. Nicht ganz so brillant – ihre Noten hielten sich im guten Mittelmaß. Interessiert waren sie schon, aber vor allem lustig, und nach so vielen Jahren als Dozent bevorzugte er diese Sorte von Studentinnen.

„Danke, Team Mia, Beate und Hanna für euren aufschlussreichen Vortrag, ihr dürft euch setzen.“ Sie nahmen ihre Taschen auf, die sie kurz abgestellt hatten, und gingen aufatmend durch den fast voll besetzten Hörsaal nach hinten.

 

Die Freundinnen studierten im dritten Semester Medien- und Informationsmanagement in Stuttgart. Sie hatten gleich in der ersten Woche bei einem Kennenlerntag zusammengefunden und waren seitdem unzertrennlich. Meist belegten sie die gleichen Vorlesungen und Seminare und saßen immer nebeneinander. Zur Not bettelten sie darum, dass jemand mit ihnen den Platz tauschte.

Heute waren ganz hinten noch drei Stühle in einer Reihe frei.

„Die habe ich euch freigehalten. Ich dachte mir, bevor noch mehr Zeitverzögerung durch eure Umsetzaktion entsteht!“, flüsterte Hannelore ihnen zu.

„Danke, du bist ein Schatz!“

 

Als es Zeit war für die nächste Pause, blieben Mia, Beate und Hanna ein bisschen länger sitzen. „Wenn wir so spät gekommen sind, müssen wir ja nicht als Erste hinausstürmen, wie wir es sonst immer tun“, grinste Beate und lehnte sich entspannt zurück.

Hanna löste ihre langen blonden Haare – sie band sie während der Vorlesungen immer hoch, damit sie nicht beim Schreiben störten –, holte einen Müsliriegel aus ihrer Tasche und fing an, ihn genüsslich zu verzehren. Sie konnte erstaunliche Mengen an Essen verdrücken, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Eine Eigenschaft, auf die Mia und Beate manchmal neidisch waren. Allerdings eher weniger auf die Art der Nahrung, die Hanna zu sich nahm, da diese doch sehr körnerhaltig und gesund war.

Mia zog ihr Handy aus der Tasche und schaltete wieder auf online. Während der Vorlesungen mussten alle Mobiltelefone ausgeschaltet bleiben, so lautete eine der vielen Vorschriften an der Hochschule. Viele Studenten umgingen diese allerdings, indem sie ihr Gerät einfach nur auf ‚lautlos‘ schalteten.

 

„Oh!“, stutzte Mia. „Ich habe eine neue Nachricht. Komisch, die Nummer kenne ich gar nicht. Hm, noch eine neue, von meinem Bruder, der ruft sonst nie an ...“

Mia wählte den Rückruf an Jens, ihren drei Jahre älteren Bruder, der im letzten Jahr seines Jurastudiums steckte und gar keine Zeit mehr hatte. Es musste wirklich dringend sein.

„Hi Jens, dass du noch lebst! Was machen die Paragrafen?“

„Mia, sitzt du?“

Mia wurde von einer Sekunde auf die andere ernst. Die Hand, die das Handy hielt, fing an, leicht zu zittern.

„Was ist los? Sag!“

„Mia, du musst sofort nach Ludwigsburg fahren, unsere Eltern liegen im Krankenhaus.“

Mia japste erschrocken nach Luft. Ihr Bauch krampfte sich zusammen in Erwartung noch schrecklicherer Botschaften.

„Wie geht es ihnen?“ Ihr versagte beinahe die Stimme, sie brachte diesen kurzen Satz kaum heraus. Was war geschehen?

Ihr Bruder spannte sie nicht lange auf die Folter und erzählte in knappen Sätzen: „Sie hatten einen schweren Unfall, aber sie leben. Komm so schnell wie möglich. Nimm am Bahnhof ein Taxi. Ich kann dich nicht abholen, ich bin schon im Krankenhaus.“

Er legte auf, und Mia ließ das Handy langsam auf ihren Schoß sinken.

Beate und Hanna saßen rechts und links von ihrer Freundin und schauten sie besorgt an. Mia war immer blass, aber so kreidebleich hatten sie sie noch nie gesehen.

Beate fragte vorsichtig: „Was ist los, Mia? Ist etwas mit Jens oder deinen Eltern?“

„Sie liegen im Krankenhaus. Meine Eltern. Ein Unfall. Jens ist auch dort. Ich soll so bald wie möglich hin ...“, stammelte Mia und stopfte alle Unterlagen und Stifte wild in ihre Tasche. „Ich muss los ...“

„Ich fahre dich, ich bin mit dem Auto da. Du fährst nirgends allein hin!“, bestimmte Beate und nahm Mia am Arm. „Ich begleite dich! Das Krankenhaus in Ludwigsburg, oder?“

Mia nickte stumm, sie war in Gedanken schon nicht mehr anwesend. Was war passiert? Wie ging es ihren Eltern? Warum waren gleich beide so schlimm verletzt? Und es musste schlimm sein, wenn Jens eine Pause in seiner endlosen Paukerei einlegte. Er lernte sonst ununterbrochen, er hatte so viele Prüfungen. Ob es ein Autounfall gewesen war? Was könnte sonst passiert sein? Wie war der Weg zum Krankenhaus, kannte Beate ihn? Lagen sie auf der Notaufnahme? Wie ging es ihnen? Ob sie Schmerzen hatten?

Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf und verwirrten sie.

Doch zum Glück war Beate auch in stressigen Zeiten immer gut organisiert und kümmerte sich um alles Nötige.

Willenlos ließ sich Mia von Beate zum Auto führen und ihre Tasche abnehmen. Beate verstaute sie im Kofferraum, öffnete für Mia die Tür und fuhr unverzüglich los.

Hanna hatte angeboten, Mia und Beate bei den Dozenten und Professoren für den Tag zu entschuldigen. Sie würde ihnen die Notizen des Tages kopieren. Am liebsten wäre auch sie mitgefahren, sie machte sich um ihre Freundin große Sorgen. Doch Beate versprach ihr, sie gleich über das Wichtigste zu informieren, sobald sie zurück war.

Die Fahrt verbrachten sie schweigend. Mia konnte nicht weinen, sie stand unter Schock. Ihre Gedanken kreisten und führten immer wieder zum gleichen Schluss: „Hoffentlich leben sie noch!“

 

 

2. Kapitel - Flora

 

Klaus betrat den kleinen Blumenladen Flora am Marktplatz in Ludwigsburg heute zum ersten Mal. Er war kein Fan von Blumensträußen, er bevorzugte es, wenn das Grünzeug im Garten stand, wo es seiner Meinung nach hingehörte.

Aber morgen feierte seine Mutter ihren 50. Geburtstag, und er wusste, dass sie sich über einen üppigen bunten Strauß riesig freuen würde. Also sprang er über seinen Schatten und hob einen Batzen Geld ab, um das monströseste Blumenmonster zu besorgen, das es zu kaufen gab. An seiner Seite lief Ferdi in den Laden, ein tollpatschiger Golden Retriever. Ein Welpe, der sich vor zwei Monaten in sein Herz geschlichen hatte.

Dabei hatte er nur seine Mutter besucht, um zum wiederholten Mal die Feierlichkeiten anlässlich des Jubiläums zu besprechen. Immer wieder warf seine Mutter ihre Pläne über den Haufen und wollte die Änderungen mit ihm, dem einzigen Sohn, diskutieren. Dieses Mal ging es darum, ob in der Gaststätte eine Sitzordnung herrschen sollte oder nicht!

Als er die Wohnungstüre geöffnet hatte, wäre er beinahe über ein blondes Wollknäuel gestolpert, das ungeschickt auf ihn zugeschossen kam und dabei fast über seine eigenen Beine gestolpert wäre. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Zumindest für Ferdi.

Er hatte Klaus angehechelt und aus treuen braunen Augen angehimmelt. Ab diesem Zeitpunkt hatte er keinen Blick mehr übrig für sein eigentliches Frauchen Carmen, Klaus' Mutter, die sich den kleinen Retriever selbst zum Geburtstag schenken wollte. Erst vor zwei Tagen hatte sie ihn bei einer züchtenden Freundin abgeholt, und zu dem Zeitpunkt hatte Ferdi seine Zuneigungsbekundungen ihr gegenüber noch deutlich gezeigt.

Jetzt aber ließ er Klaus keine Sekunde lang mehr aus den Augen, und als der sich nach einer Stunde verabschieden wollte, heulte das kleine blonde Knäuel herzzerreißend.

„Du musst ihn mitnehmen, er jault sonst die ganze Nachbarschaft zusammen“, stellte Carmen mit missmutiger Miene fest. Sie hatte den kleinen Hund schon sehr ins Herz geschlossen und seine Untreue verkraftete sie nur deshalb, weil Klaus ihr einziger und liebster Sohn war.

„Du undankbarer, untreuer Geselle. Ich habe dich bezahlt, gefüttert, gestreichelt, und jetzt gönnst du mir keinen Blick mehr!“, schimpfte sie Ferdi.

Das stimmte leider, denn er sah gebannt auf Klaus und hatte alles andere, selbst Carmen, ausgeblendet.

„Mach einfach die Tür hinter mir zu, er wird mich gleich wieder vergessen und sich an das leckere Fressen erinnern! So wie ich dich kenne, bekommt er nur das Beste“, grinste Klaus und schob das Fellknäuel vorsichtig auf die andere Seite der Tür, die er ganz schnell schloss. Als er schon im Auto saß, hörte er das Jaulen zu einem immer lauter werdenden Crescendo anschwellen. Als er sich anschnallte, hörte es plötzlich auf.

Prima! Das Tier hatte ihn schon vergessen, wahrscheinlich war eine Dose Hundefutter geöffnet worden. Da kratzte es an der Autotür. Ein anhaltendes sehnsuchtsvolles Winseln ließ keinen anderen Schluss zu: Ferdi hatte seine Mutter überzeugt, die Haustür zu öffnen. Aber sollte er jetzt seine Tür öffnen?

Er tat es, und Ferdi startete sofort dankbar den Versuch, ins Auto zu klettern. Doch der kleine Tollpatsch wedelte vor lauter Freude so heftig mit dem Schwanz, dass sein Gleichgewichtssinn beträchtlich darunter zu leiden hatte und er wieder abrutschte. Klaus nahm den Kleinen auf den Arm und half ihm auf den Beifahrersitz. Seitdem waren Ferdi und er unzertrennlich geworden.

Aus dem kleinen Fellbüschel war ein größerer Welpe geworden, sie hatten gemeinsam die Hundeschule besucht, Körbchen und Halsbänder gekauft und nun standen sie im Blumenladen Flora.

 

Es musste ein besonders prächtiger Strauß werden, um die Schmach des Hundeverlustes zu tilgen, das wusste Klaus. Und er liebte seine Mutter, also sprang er über seinen Schatten.

Der Laden war klein, höchstens zwanzig Quadratmeter. Jeder Winkel war mit Trockenblumensträußen, Eimern mit Rosen in jeder Farbe und Größe, Dekorationsartikeln, Bändern und Papieren, leeren und gefüllten Blumentöpfen und anderen Dingen ausgefüllt, die anscheinend in einen Blumenladen gehörten. Er kannte sich da ja nicht aus. Es war überhaupt das erste Mal, dass er einen „Tote-Blumen“-Betrieb betrat. Vor lauter Staunen bemerkte er erst gar nicht, dass mittlerweile eine junge Frau hinter der kleinen Theke auftauchte. Sie hatte sich, als er den Laden betrat, nach einem Band auf dem Boden gebückt, um es aufzuheben.

„Grüß Gott!“, empfing sie Klaus, und dieser zuckte ein wenig zusammen.

„Grüß Gott! Ich habe Sie gar nicht gesehen, entschuldigen Sie. Ich bin ein bisschen erschlagen von der großen Auswahl, die Sie anbieten!“

Die junge Frau, er schätzte sie auf Anfang zwanzig, lachte herzlich. „Ja, so ging es mir am Anfang auch. Aber jetzt finde ich mich ganz gut zurecht. Kann ich Ihnen helfen?“

„Sie arbeiten noch nicht so lange hier?“

„Stimmt. Aber lange genug, um Ihnen vielleicht zu helfen, wenn Sie mir sagen, was Sie wünschen.“

Klaus war ein vorsichtiger Mann, der Stimmungen gut spürte. Er hatte nun das Gefühl, zu schnell persönlich geworden zu sein.

„Oh entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie sich mit Ihrer Arbeit nicht auskennen.“ Dabei lächelte er entschuldigend und zupfte sich verlegen am linken Ohr. „Ja, also, da wiederum ich mich mit Blumensträußen überhaupt nicht auskenne, können Sie mir sicher helfen! Ich suche einen großen schönen Strauß für meine Mutter. Sie feiert morgen ihren fünfzigsten Geburtstag.“

Die junge Frau trat hinter der Theke vor und bemerkte erst jetzt den kleinen Ferdi. Sie brach in Entzückensrufe aus: „Ist der hübsch! Und noch ganz jung. Ein Welpe, nicht wahr?“

Ferdi schien die Portion Aufmerksamkeit zu gefallen, denn er begrüßte sie heftig schwanzwedelnd. Dabei fiel ein Blumentopf um, der sich innerhalb seines Wedelkreises befunden hatte.

„Oh, wie peinlich! Ich hätte ihn draußen lassen sollen. Er ist nur so furchtbar anhänglich und heult dann ohne Pause ...“, entschuldigte sich Klaus und half beim Scherbenaufsammeln.

„Kein Problem, die Blume mochte ich eh nicht, deshalb stand sie auch in der Gefahrenzone für lebhafte Kunden oder deren Hunde“, lächelte sie und ließ ein leichtes Zwinkern erahnen.

Klaus fasste Mut und fragte sie: „Wie heißen Sie eigentlich? Flora?“

Sie lächelte etwas verhalten: „Nein, meine Mutter heißt Flora. Ihr gehört der Laden.“

Kleine Wolken der Sorgen zogen über ihre Stirn, verschwanden aber so schnell, dass Klaus sich nicht sicher war, ob er sie sich doch nur eingebildet hatte.

„Ich heiße Mia.“

Klaus strahlte und hielt ihr seine Hand entgegen. „So schöne Namen. Flora und Mia. Ich heiße Klaus.“

„Sehr erfreut!“ Mia und Klaus schüttelten sich die Hände, während sie noch auf dem Boden knieten, und lächelten sich an.

Ferdi tummelte sich zwischen dem kleiner werdenden Scherbenhaufen, beschnupperte alles und begrüßte Mia noch einmal gründlicher. Er roch an ihrem Gesicht, das sich so praktisch nach unten begeben hatte, und schleckte einmal quer darüber. Lecker! Die Frau roch und schmeckte gut!

Mia wischte sich lachend mit ihrem Ärmel über das nasse Gesicht. Anscheinend war sie Hunde gewohnt.

Klaus nahm Ferdi enger an die Leine.

„Entschuldige bitte, er geht noch in die Welpenschule. Aber er hat einen sehr eigenen Willen. Das Schlecken sollte er sich schon längst abgewöhnt haben!“

„Macht nichts. Ich kenne das, ich hätte damit rechnen müssen, wenn ich ihm so nahe komme. Meine Eltern hatten früher auch einen Hund, aber einen Mischling. So einen schönen Retriever wie deinen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wie heißt er denn?“

„Ferdi. Guten Tag hat er dir ja schon gesagt“, grinste Klaus, dem Mia immer besser gefiel. Sie hatte Humor, ein hübsches Lächeln und ihre Figur konnte sich sehen lassen. Etwas zierlich, aber ein paar Rundungen genau an der richtigen Stelle machten sie zu einer Augenweide.

Mia musste seine Blicke bemerkt haben, denn sie versuchte, seine Gedanken wieder auf die Blumen zu lenken. Sie hatte keine Lust aufs Flirten, es gab zu viele Sorgen, die ihr im Kopf kreisten. Obwohl ihr der junge Mann mit der roten Baseballkappe und der schwarzen Jeansjacke sympathisch war. Höfliche Männer waren selten geworden. Da tat seine ruhige Art schon sehr gut.

Sie fragte: „Hast du dir schon Gedanken über den Strauß gemacht?“

Er grinste ein bisschen schief. „Hm, ja, aber keine besonders positiven oder detaillierten. Vor meinem geistigen Auge geisterte ein Blumenmonster, das Tentakeln auswarf.“

„Du magst keine Blumen“, stellte Mia lächelnd fest.

„Wahrscheinlich ist es ziemlich dumm, das der charmantesten Blumenverkäuferin zu gestehen, die ich je gesehen habe.“ Klaus machte eine kurze Pause, in der er leicht verlegen drein schaute. „Aber Blumen gehören für mich in den Garten oder Park und nicht ins Haus. Da verwelken sie doch so schnell.“

„Gar nicht dumm, ich finde das auch“, bestätigte Mia ihn.

Klaus war erstaunt. „Und da arbeitest du hier? Ach ja, der Laden gehört deinen Eltern ...“

Schon wieder hatte er anscheinend etwas gesagt, das Mia missfiel, denn ihr Lächeln verebbte.

„Stimmt, ich arbeite hier und jetzt sollte ich das auch wirklich mal wieder tun. Also, gehe ich richtig in der Annahme, dass du mir dankbar wärst, wenn ich dir einen prächtigen bunten Strauß zusammenstelle, in den ein paar kleine Dekorationsteile eingeflochten sind und der mächtig teuer aussieht, aber bezahlbar ist?“

Klaus nickte eifrig und zerrte Ferdi von einem Blumenuntersetzer fort, aus dem er angefangen hatte zu trinken.

„Ja, aber er darf schon was kosten. Es ist ja immerhin der 50. Geburtstag meiner Mutter. Und den Blumentopf bezahle ich dir auch. Hässlich hin oder her.“

Es dauerte noch eine viertel Stunde, bis Klaus mit Ferdi und einem riesigen Monsterstrauß den Laden verließ. Ferdi war schwer zu bändigen gewesen, weil er alles beschnuppern wollte, und Mia war zwischendurch mit zwei Kundinnen beschäftigt, die jeweils nur eine Rose wollten und für ihre Entscheidung ewig brauchten. Als der Strauß fertiggebunden war – er würde seiner Mutter sicher gefallen – kam eine weitere Kundin in den Laden, um sich ein Gesteck empfehlen zu lassen. Er fühlte ein leises Bedauern, dass sie nicht weiter hatten plaudern können, denn Mia gefiel ihm. Vielleicht würde er seine Abscheu vor Blumenläden doch ablegen und noch einmal kommen …

 

3. Kapitel - Jens

 

Endlich war es Abend. Mia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Tag war warm geworden, und in dem kleinen Laden stauten sich Luft und Gerüche, die sie bedrückten. Gerade, als sie die Tür schließen wollte, drängte sich ein junger, hochgewachsener Mann herein und umarmte sie stürmisch.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mia!“ Er gab ihr noch einen dicken Schmatz auf die linke Wange. „Wieder ein Jahr reifer!“

Mia verdrehte die Augen und strahlte doch gleichzeitig. Jens! Typisch Jens! Ihr Bruder ließ sich zwei Monate nicht sehen oder hören, aber dann stand er ohne Anmeldung vor der Tür und schoss ein Feuerwerk der Herzlichkeit ab. Er kannte keinen zweiten Gang!

„Hättest du nicht anrufen können? Dann hätte ich etwas früher Schluss gemacht.“

„Lass dir ruhig Zeit. Während du aufräumst, helfe ich dir beim Kassenabschluss.“

„Das ist ein Angebot. Ich hasse Kassenabschlüsse!“ Mia stöhnte, als ihr das Wort Kasse durch den Kopf ging. Jens war ein Schatz, dass er daran dachte, sie an ihrem Geburtstag ein bisschen zu entlasten.

Jens grinste.

„Deswegen bin ich heute hier. Sollst an deinem Geburtstag ja nicht leiden.“

Er stürzte sich auf die alte Registrierkasse und strahlte nach dem ersten Blick: „Oh, prima! Das war ein guter Tag!“

„Für die Kasse! Frag mal meine Beine, die sagen was anderes!“

Mia räumte währenddessen auf, fegte den Boden, sortierte verwelkte Blätter und Blumen aus und plauderte nebenher mit Jens. Was für ein schöner Tag. Erst Klaus und Ferdi und nun Jens. Es war das schönste Geburtstagsgeschenk, das sie sich vorstellen konnte, außer ... außer …

Ihre Miene trübte sich und die gute Laune schwand dahin. Ein paar Tränen stahlen sich in ihre Augenwinkel und ließen den kleinen roten Blumentopf, den sie hielt, leicht verschwommen aussehen. Drei Monate war es nun schon her, dass ihre Eltern den fatalen Unfall gehabt hatten. Drei Monate voller Bangen und Warten ...

Und heute würde sie ihren Geburtstag ohne die Eltern verbringen. Das war noch nie vorgekommen …

So viele Erinnerungen kamen in ihr hoch, zu viele auf einmal. Längst vergessene Geburtstagsfeiern, Sommerpartys, ihre Eltern mit Geschenken in der Hand, alles wirbelte durch ihren Kopf. Sie brach, den Blumentopf noch immer in der Hand, auf dem Boden zusammen und schluchzte heftig.

Jens war im selben Moment an ihrer Seite und kauerte neben ihr, nahm sie in seine Arme und rieb ihr über den Rücken. „Mia, liebe Mia ...“, tröstete er sie. Er, der doch selber Trost brauchen könnte, aber eben der große Bruder war. „Ich weiß doch, wie schwer das für dich ist, kleine Schwester. Immerzu schuften und dann erinnert dich die Arbeit hier, der Laden, so sehr an die Eltern ...“ Er hielt kurz inne und drückte sie noch einmal innig. „Ich vermisse sie auch, sie fehlen mir so sehr.“

Doch kurz darauf klopfte er ihr schon wieder aufmunternd auf den Rücken. „Mia, ich habe mir für heute Abend freigenommen, ich will dich zum Essen einladen.“

Mia schniefte, stellte den Blumentopf ab und kramte ein Taschentuch aus ihrer Hose. Sie schnäuzte sich die Nase und schluchzte noch einmal kurz. Es tat gut, in den Arm genommen zu werden.

Sie streichelte ihrem Bruder leicht über den Arm und lächelte wieder ein bisschen. Sie war ihm dankbar für seinen Trost. Einen großen Bruder zu haben, war ein wunderbares Geschenk …

„Und wenn ich heute Abend schon etwas vorhätte?“ Sie rieb sich die Tränen aus den Augen und schniefte noch einmal ein wenig.

Jens schüttelte tadelnd den Kopf: „Das wäre schön. Aber es würde mich überraschen. Du igelst dich doch nur noch ein. Hast du heute Abend denn etwas vor?“

„Nein. Ich freue mich auf das Essen mit dir. Ich hab dich vermisst!“

„Ich dich auch! Komm!“

 

Jens fasste seine kleine Schwester – sie war nicht nur drei Jahre jünger, sondern auch einen Kopf kürzer als er – am Arm und führte sie zu Fuß ein paar Straßen weiter zu einem italienischen Restaurant. Casa Italia war ein Familienbetrieb, in dem Kinder und Enkelkinder durch die Gaststätte tobten und die Luft vom Geruch nach wohlriechenden Kräutern und Tomatensoße erfüllt war. Ein lebhaftes Stimmengewirr brodelte durch den kleinen Raum, sodass nur Wortfetzen zu verstehen waren.

 

Jens hatte vorausschauend einen kleinen Tisch für zwei Personen reserviert. Und anscheinend dem Gastwirt mitgeteilt, dass seine Schwester heute Geburtstag hatte, denn dieser kam persönlich an den Tisch und drückte Mias zarte Hand zwischen seinen Pranken.

„Signorina! Ich gratuliere herzlich zum Geburtstag! Schön, dass Sie kommen in meine Casa.“

Und schon war er wieder verschwunden, nur um ein paar Minuten später mit einem italienischen Hauswein in der Karaffe zurückzukommen.

Der Abend war wunderbar, weil sie sich so viel zu erzählen hatten – und doch stand das tragische Schicksal ihrer Eltern zwischen ihnen und dem vollkommenen Glück. Der private PKW von Flora und Tom Kroll war von einem Falschabbieger mit überhöhter Geschwindigkeit derart gerammt worden, dass er sich mehrfach überschlug. Zwar hatte der Unfall nicht ihr Leben gekostet, doch waren die Verletzungen so schlimm, dass beide in ein Koma gefallen waren, aus dem sie – selbst drei Monate später – noch nicht erwacht waren. Und mit jeder Woche schwand die Hoffnung auf eine Wiederkehr aus dem langen Schlaf ein Stückchen mehr.

Mia besuchte ihre Eltern jeden Tag nach der Arbeit. Auch Jens nutzte seine wenigen freien Minuten vom Studium und dem Nebenjob in einem Lager, um bei ihnen am Krankenhausbett zu sitzen und von seinen Erlebnissen zu erzählen, in der Hoffnung, sie bekämen in ihrem tiefen Schlaf wenigstens einen Teil davon mit. Doch seine freien Zeiten lagen eher am Morgen, deshalb trafen sich die Geschwister fast nie im Krankenhaus.

Ihre Eltern hatten erst vor einem Jahr ihren Lebenstraum wahr gemacht und alle Ersparnisse in einen kleinen Blumenladen gesteckt. Die Miete war hoch, da er sich zentral am Marktplatz in Ludwigsburg befand. Aber die Kunst von Flora, ihrer Mutter, sprach sich schnell herum, und der Charme von Tom, ihrem Vater, tat sein Übriges.

Der Unfall hatte alles in Frage gestellt. Wie sollte die Miete bezahlt werden? Wann würden sie wieder erwachen? Was würden sie sagen, wenn sie erfuhren, dass sie zwar wieder gesund wurden, aber von ihrem Lebenstraum nichts übrig geblieben war außer Schulden?

Schon als ihr das Problem bewusst wurde, wuchs in Mia der feste Plan, den Ladenbetrieb bis zur Gesundung ihrer Eltern aufrechtzuerhalten. Sie sollten nach dem Erwachen ein Ziel haben, für das es sich lohnen würde, wieder auf die Beine zu kommen. Mia wollte ihnen ihren Traum erhalten.

Ein paar Tage später meldete sie sich vom Studium ab, kündigte ihre Studentenbude und zog in das kleine Reihenhaus ihrer Eltern. Sie fing an, die Zukunft des Geschäfts selbst in die Hand zu nehmen und Flora erneut für die Kunden zu öffnen.

Nun rächte es sich allerdings, dass sie keinerlei Leidenschaft für die Floristik geerbt hatte. Weder hatte sie sich je für Gestecke interessiert – das Steckenpferd ihrer Mutter – noch kannte sie auch nur die Hälfte der Namen aller Blumen, die im Laden verkauft wurden. Doch schon nach der ersten harten Woche, in der sie jeden Abend nach einem kurzen Imbiss erschöpft ins Bett fiel, merkte sie, dass sie sich mehr Wissen nebenher angeeignet hatte, als sie zuerst vermutete. Auch wenn sie oft nicht richtig zugehört hatte, ein Teil von dem, was

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mona Lida
Bildmaterialien: Sascha Pikkemaat
Lektorat: Marcel Porta/ Egon Jahnkow
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5826-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Mama

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