Cover

Die Farbe ihrer Welt

Cro glotzte sie mit seiner Pandamaske so provokant an, am liebsten hätte Helen die CD aus dem Regal genommen. Aber sie mochte den Job in dem kleinen CD-An- und Verkauf eigentlich, deshalb ließ sie ihn im dort stehen und ging zur Kasse. Dort stand ein junges Paar und kaufte eine Kuschelrock-CD. Klischees über Klischees, dachte Helen, als sie abkassierte und den beiden einen schönen Abend wünschte. Es war schon fast zwanzig Uhr, fast Feierabend, fast Ladenschluss, und außer ihr waren nur noch ein Kunde und Josy im Geschäft. Das reichte auch schon aus. Während der Kunde höflich nach einem Rat fragte, den Helen ihm nur allzu gern gab - schließlich wollte er wissen, wo denn Bands wie Shinedown oder Three Days Grace zu finden waren - beäugte Josy sie auffällig von oben bis unten und verdeckte mehr schlecht als recht ihr hämisches Lachen.

Der Kunde bedankte sich gerade und wollte bei Helen bezahlen, als Josy dazwischen grätschte. "Ich mache das mal lieber, sonst dreht sie Ihnen noch was von ihrem schwarzen Zeug an." Sie deutete auf Helens Armbänder, für die sie von dem netten Typen vorher ein Kompliment bekommen hatte. Perplex sah er zwischen den beiden hin und her und wandte sich schließlich wieder ihr zu. Sie lächelte jetzt beinahe verlegen. "Das macht dann 4,99 Euro.", sagte sie und gab ihm auf seinen Fünfer raus. Josy beobachtete akribisch ihre Handbewegungen. "Nicht, dass sie mal wieder in die Kasse greift. Sie braucht ja ständig Kohle für neuen Stoff.", sagte sie nett grinsend zu dem Kunden. Der nahm den Cent jetzt zögerlich entgegen und betrachtete Helen skeptisch. "Danke für die Warnung.", sagte er und warf einen genauen Blick in sein Portemonnaie. Helen lächelte ihn an, aber sein Blick war nur noch abwertend. Bevor sie sich versah, war er geflüchtet. Josy grinste von einem Ohr zum anderen.

Auf ihrem Heimweg stellte Helen die Musik auf die lauteste Stufe, sodass sie über die Kopfhörer hinaus gar nichts mehr hörte. Es hatte angefangen zu regnen und sie lief an der Hauptstraße entlang. Mehrfach hupten sie Autos an und die Typen, die darin saßen, lachten laut auf. Helen schaute einfach auf ihre Schuhe und lief weiter. Ihr schwarzes Top und die Hotpants klebten an ihr, in den schwarzen Stiefeln stand schon Wasser und ihre Tattoos glänzten im Laternenschein durch das Wasser und spiegelten sich verrückt.

Der Wagen kam schnell auf sie zu und sie erkannte ihn auch aus dem Augenwinkel. Es war ein Kommilitone von ihr, der in der gleichen Gegend wohnte. Er raste durch die Straße, viel zu weit rechts, und dann erwischte er genau die Pfütze, die er treffen wollte; die direkt neben Helen. Das schmutzige Wasser ergoss sich schwallartig über sie. Ihr dunkles Haar triefte bis auf ihren Hintern und ihr wurde kalt, als der Wind auffrischte. Das Lachen, das aus dem weißen BMW ertönte, war schrill und stechend. Helen schüttelte sich, schlang die Arme um ihren Körper und lief einfach weiter.

Zuhause angekommen zog sie sich aus, duschte heiß und verkroch sich in ihrem Bett. Im Dunkeln schaltete sie ihr Handy ein und betrachtete die Bilder, die sie an früher erinnerten. Da waren keine Tattoos und kein schwarz, und allein der Anblick fühlte sich schrecklich falsch an; auch, wenn sie damals nicht so einsam gewesen war, nicht so unglücklich. Sie schaltete die Musik ein und lauschte Shimon Moores Stimme, wie sie "My World" sang. Eingewickelt in die schwarze Satin-Bettwäsche schlief sie ein, und in ihren Träumen kam einer von ihnen, Brent, Shimon, Tyler, Matt, und hielt sie einfach nur fest.

Sie verbrachte die Tage und Wochen an der Uni und im Laden und mit jedem bissigen Kommentar, mit jedem Lachen, wurde es mehr schwarz um sie herum und so wärmte sie sich gegen ihre Kälte und wappnete sich gegen den Feind. Erst an ihrem Geburtstag traute sie sich, wieder tief durchzuatmen. Sie betrat den Laden mit einem Lächeln und einer wunderschönen Krähe auf der Jagd nach dem zierlichsten und filigransten Schmetterling auf ihrem Rücken. Die Folie war seit einer Woche ab und sie hatte gar nicht genug Fotos machen können. Jetzt trug sie es zum ersten Mal offen, das neue Tattoo, und hätte stolzer nicht sein können.

Helen merkte gleich als sie den Laden betrat, dass etwas nicht stimmte. Alle sahen sie an, Kunden, Mitarbeiter, sogar der Filialleiter. Mit jedem Blick stach es sie mehr und ihr wurde eiskalt und höllisch heiß zugleich. Josy grinste viel zu breit und ihr dämlicher Freund Kevin stand so aufgeplustert hinter ihr, dass Helen erwartete, er würde vielleicht platzen; und die ganze Sauerei würde Josy treffen. Doch als sie zu den beiden blickte, da begann das Gelächter und sie fand sich in einem Strudel aus Beleidigungen, widerlichem Lachen und eiskalten Händen wieder, als mehrere Kunden - allesamt männlich - sie umringten und betatschten. "Das gefällt dir doch." und "Magst du es hart?" erklang um sie herum und Helen wusste nicht wie ihr geschah, bis ihr einer von ihnen einen Zettel vor die Nase hielt, mit einem Bild darauf; einem Bild von ihr.

Es war eines der Fotos, die sie nur für sich ganz allein gemacht hatte, und sie fragte sich noch, wie jemand es in die Finger bekommen konnte, als ihr heiße Tränen in die Augen stiegen und sie sie nicht mehr zurückkämpfen konnte. Verzweifelt und sich in Grund und Boden schämend wühlte sie sich durch das Gewirr aus notgeilen Händen und lief schluchzend aus dem Laden, den Zettel mit ihrem Bild darauf fest in der Faust. Erst zehn Querstraßen später hielt sie an. Ihre Lungen brannten und ihr Atem rasselte. Helen starrte nur das Bild an und fragte sich immer wieder, was sie getan hatte, dass die ganze Welt gegen sie war. Nur weil sie nicht gewöhnlich war? Das Bild zeigte sie, nur in einem String bekleidet, von hinten, die Haare wunderschön kunstvoll über Schulter und Rücken verteilt, mit ihrer natürlichen Wildheit, das Tattoo im Fokus. Es war nicht obszön oder plump, aber jemand hatte darunter eine Anzeige geschrieben, die sie als Prostituierte auf einer Emo-Porno-Seite titulierte. Helen rang nach Atem.

Sie holte ihr Handy hervor und sah es direkt, ihr Bild war überall geteilt worden und die Kommentare konnte sie sich einfach nicht antun, es war zu abscheulich. Kevin hatte das Bild gepostet. Vermutlich hatte Josy Helens Handy in der Mittagspause genommen und durchgesehen, da musste sie es entdeckt und an sich selbst geschickt haben. Helen schluckte. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein? Ein Auto fuhr vorbei und hupte. Als sie aufsah, machte der Kerl am Steuer eine obszöne Geste mit seiner Zunge. Helen drehte sich um und übergab sich in den Gulli.

Sie rief ihren Chef an und meldete sich krank. Dann rannte sie nach Hause und schloss sich ein, weinte unter ihrer Decke und wartete, bis ihr Leben endlich vorbei war und niemand sie mehr so widerlich behandeln würde, bis sie endlich da war, wo sie immer hatte sein wollen, unter Menschen die es verstanden, ihr Schwarz und ihr Leben und sie. Sie verließ die Wohnung eine Woche lang gar nicht und danach nur verhüllt und inkognito. Ihr Arzt stellte ihr über drei Wochen ein Attest aus, weil sie so elend aussah, und Helen hörte die ganze Zeit über nur Musik und weinte, bis sie keine einzige Träne mehr übrig hatte; für niemanden, nicht einmal für sich selbst.

Nach den drei Wochen betrat sie den Laden wieder, ganz in schwarz und all ihre Tattoos präsentierend. Sie würde sich nicht selbst verleugnen, eher würde sie weggehen. Josy sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und das Grinsen schlich sich wieder ein. Helen sah weg und ging in die Abteilung mit den Metal-, Rock- und Alternative-CDs. Hier würde sie niemand stören. Als die Türklingel einen Kunden ankündigte, war sie zu sehr damit beschäftigt, all ihre Lieblingsmusik wieder zu ordnen, also sah sie nicht auf. Erst in dem Moment, in dem sie die Stimme hörte, schreckte sie hoch und hätte beinahe die Skillet-CD fallen lassen, die sie gerade liebevoll ins Regal stellen wollte. "Finde ich hier eine gewisse Helen Kramer?", hörte sie diese wundersame Stimme sagen und glaubte nicht an all das hier, als sie ihren eigenen Namen hörte. Josys gelangweilte Quietschestimme antwortete: "Ja, die Irre ist da hinten bei dem Kram, den eh keiner will." Helen sah auf und entdeckte Josys Finger, der ungeniert auf sie deutete. "Aber wollen Sie nicht lieber eine kleine Beratung in Sachen Musik von mir haben? Ich habe einen sehr guten Geschmack.", flirtete Josy den Fremden an. Helens Blick fiel auf ihn. Die Skillet-CD fiel zu Boden und die Hülle zerbrach.

Das blonde Haar, die blauen Augen, eins-achtzig pure Muskeln und eine Stimme zum zerfließen. Vor ihr stand Hollywood, der einzige Musiker von dem sie es nicht einmal wagte zu träumen. Er war zu fantastisch um wahr zu sein. Er war das Ultimative, der eine Unschlagbare. Und er wollte zu ihr. "Hoppla!", sagte er, als er die kaputte CD-Hülle entdeckte. Er stand jetzt direkt vor Helen. Die konnte nur schlucken. "Gut, dass John Cooper das nicht mitbekommen hat.", sagte sie leise. Hollywood lachte fantastisch. "Sie wollten zu mir?", fragte Helen zögerlich. Hollywood lächelte jetzt weich. "Ja, genau. Ich bin hier, weil ich dieses Mädchen einfach kennen lernen musste, das so ein unglaubliches Selbstvertrauen hat und so ein großartiges Bild von sich veröffentlicht." Er zeigte ihr das Foto, das Helen drei Wochen lang Schmerzen zugefügt hatte. Ohne die schäbigen Untertitel. "Nun ja, jetzt hast du mich gefunden. So spektakulär bin ich wohl nicht.", sagte Helen irritiert, doch Hollywood schüttelte energisch den Kopf. "Unsinn! Du bist noch interessanter als ich dachte, du bist ungewöhnlich und trotzdem so authentisch. Geh mit mir auf ein Date. Ich lade dich ein, ich hole dich ab; wir zwei, so ungewöhnlich wie es geht."

Ihr Kopf war leer und Helen musste sich festhalten, um nicht einfach umzufallen. Josy blickte skeptisch zu ihr herüber und verzog das Gesicht. Helen nickte abwesend. "Also?", fragte Hollywood schließlich. "Wann hast du Feierabend?" "In zehn Minuten.", erklärte Helen mit einem Blick auf die Uhr. Es wurde alles immer realer um sie herum, und endlich lichtete sich der Nebel und sie sah sich und ihn, genau wie in ihren geheimsten Träumen, innig und echt und ohne Gelächter - ganz in schwarz. "Dann warte ich hier und wir gehen zusammen aus? Gleich?" Seine Stimme war hoffnungsvoll und Helen schöpfte daraus so viel Kraft, dass sie sich plötzlich lebendig fühlte. "Ja, das ist perfekt! So machen wir es."

Und als sie das Geschäft nach zehn Minuten lachend und Arm in Arm verließen, da blickte Helen zu den anderen und schließlich in ihr Spiegelbild in der Tür. Und da wusste sie es: Sie lebte ihr Leben in dem Bemühen, sich selbst zu finden, anders zu sein. Was sie gefunden hatte, die Welt in die sie gehörte, war nur für den zu verstehen, der sie kennen und lieben wollte, sie oder ihre Welt. Farbe brauchte Vielfalt, doch Schwarz konnte für sich allein stehen; es besaß die Macht der Stärke in der eigenen Unabhängigkeit. Und doch ließ es sich gleichzeitig mit allen Farben kombinieren, eine Harmonie bilden. Genau diese Eigenschaft besaß ihre Welt, und es erfüllte sie mit großem Stolz ein Teil davon zu sein.

Sie wusste, es gab ihr eine Identität und es gab ihr Verbündete und Feinde. Sie war nicht wie andere, sie empfand ihre Welt, ihr Leben, ihr Schwarz, als tiefgründiger.

 


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für euch, die ihr mir beigebracht habt, so zu sein, wie ich heute bin.

Nächste Seite
Seite 1 /