Reise zum Ende der Zeit
Hard Science Fiction
Ronald Streibel
Das Buch
Eine unerwartete Begegnung mit einem Fremden ist für einen jungen Physiker der Startpunkt einer unglaublichen Reise durch Raum und Zeit. Plötzlich erhält er einen ganz neuen Blick auf das Wesen des Universums, seinem Ursprung und der Bedeutung von Leben und Bewusstsein.
In der geheimnisvollen Dunkelheit der Oortschen Wolke erwartet ihn dann noch die Überraschung seines Lebens. Das ändert alles. Doch all das ist erst der Anfang, der Beginn seiner neuen Karriere als Zeitagent.
In dieser Funktion gelangt er nicht nur an die Grenzen von Zeit und Realität, sondern wird auch Zeuge von der Geburt des Universums. Und er erhält einen wichtigen Auftrag, von dem sehr viel abhängt - für ihn persönlich und für die ganze Menschheit.
Impressum © 2022 Ronald Streibel
Nelkenstr. 7, 73563 Mögglingen
streibel@proton.me
Alle Rechte vorbehalten
Cover-Bild: AG Carinae, Credit: NASA, ESA and STScI
Inhalt
Titelseite
Das Buch
Impressum
Das Angebot
Aufbruch
Elysium
Ende und Anfang
Der Eingriff
Verian
Die Seuche
Epilog
Irrwitzige Quantenwelt
Das Angebot
1
Der Countdown lief. Ein Countdown, der vor Milliarden von Jahren gestartet wurde, und in wenigen Augenblicken würde er ablaufen. Und dann würde ein neues Universum geboren – falls alles so funktionierte, wie berechnet. Und es gab nur diese eine Chance. Wenn irgendetwas schief ginge, wären wir geliefert. Der Countdown ließ sich weder stoppen, noch neu starten. Nichts konnte das Konstrukt aus einander umkreisenden Schwarzen Löchern stoppen, und wenn sie alle im gleichen Moment kollidieren würden, wäre das ein einmaliges Ereignis im Universum. Eine Wiederholung wäre unmöglich – zu gigantisch war bereits der Aufwand für dieses eine Mal.
Ich blickte auf die größte Maschinerie, die jemals im Universum erschaffen wurde. Ihre Konstruktion hatte Jahrmilliarden in Anspruch genommen und hatte die Bündelung aller Kräfte und Ressourcen auf dieses eine Ziel verlangt. Aber es musste getan werden. Es war die Bestimmung allen Lebens, dies am Ende zu vollbringen und diese Bestimmung konnte nicht verweigert werden.
Ich schaute mich um. Jenseits dieser Maschinerie gab es nichts mehr zu sehen. Das Universum hatte seine besten Zeiten längst hinter sich. Alle helleren Sterne waren bereits ausgebrannt. Und der kümmerliche Rest besonders langlebiger Sterne glimmte so schwach, dass mit unbewaffnetem Auge nichts mehr davon zu sehen war. Auch die Milliarden von Galaxien, die einst das Universum erfüllt hatten, waren zum großen Teil verschwunden. Die beschleunigte kosmische Expansion hatte sie in weite Ferne gerückt oder ganz aus dem sichtbaren Universum hinauskatapultiert. Uns blieb nur noch diese eine Galaxie, hervorgegangen aus der Verschmelzung der Milchstraße mit der Andromeda-Galaxie und einigen kleineren Galaxien, welche einst unsere lokale Gruppe gebildet hatten.
Täuschte ich mich, oder hat sich das Wirbeln der Schwarzen Löcher bereits merklich beschleunigt? Wie auch immer, es konnte nicht mehr lange dauern. Dann wäre der große Moment gekommen, auf den das Universum hingefiebert hatte, an dem der große Kreis geschlossen würde und sich der kosmische Sinn allen Lebens erfüllen würde. Ein Scheitern dieses Projekts wäre undenkbar – eigentlich sogar völlig unmöglich. Sicher, es könnte eine Menge schiefgehen, und die Anforderungen an Präzision und Timing waren enorm. Aber es war nicht irgendein Universum, das da erschaffen werden sollte – es war unser eigenes!
Erst hab ich nicht verstanden, warum man so einen Aufwand treiben sollte, um ein Universum zu erschaffen, das doch bereits existiert. Aber man konnte mir glaubhaft nachweisen, dass dies die einzige Möglichkeit ist, damit ein Universum überhaupt existieren kann. Ich solle mir das Universum als ein vierdimensionales Raumzeitobjekt vorstellen, bei dem Raum und Zeit in sich gekrümmt ist. Da kann es keine offenen Enden geben, denn in was sollten sie sich öffnen, wenn drumherum nichts existiert – weder Zeit noch Raum. Die Kette aus Ursache und Wirkung, die Kausalität kann nicht einfach aus dem Nichts beginnen. Und was ist die einzige Möglichkeit, lose Enden zu vermeiden? Man verbindet sie zu einer geschlossenen Schleife. Und genau das sollte in wenigen Augenblicken geschehen.
Und darum musste das Projekt einfach erfolgreich sein. Ein Universum ohne Ursprung kann nicht existieren und da das Universum offensichtlich existiert, hat es auch einen Ursprung. Diesen zu erschaffen war die Aufgabe dieser Maschinerie vor mir. Und es war die einzige Möglichkeit. Nur ein Universum, das in der Lage ist, Leben hervorzubringen und Bewusstsein zu entwickeln, hatte überhaupt eine Existenzchance. Und es war unabdingbar für die Existenz des Universums, dass das Leben seiner Bestimmung nachkommt und erfolgreich die Kausalkette schließt und so den Kredit zurückzahlt, der seine Existenz erst möglich gemacht hat.
Ehrfurcht erfüllte mich, als ich an die gewaltigen Ausmaße und die enorme Bedeutung des Ganzen dachte. Und ausgerechnet ich sollte Augenzeuge dieses Ereignisses sein? Dabei war ich vor kurzem noch ein ganz normaler Physikstudent und nun stand ich hier an diesem Ort am dunklen Ende der Zeit, so unendlich weit von zu Hause entfernt. Und es sollte noch lange nicht das Ende meiner Reise sein.
Wie bin ich nur hierhergelangt? Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Es war nur eine kleine Unstimmigkeit, nur ein paar Zahlen auf einem Zettel, die den Gesetzen der Physik zu widersprechen schienen. Ich hätte den Zettel einfach wegwerfen können und nichts von all dem wäre passiert. Es wäre nichts weiter als eine kuriose Begebenheit gewesen. Aber ich war neugierig und unterlag dem Reiz des Unerklärlichen. Natürlich dachte ich zuerst an einen Trick und versuchte die Sache als Täuschung zu entlarven. Aber was ich auch versuchte, es gelang mir nicht. Und so musste ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass mit meiner Vorstellung von der Welt etwas ganz und gar nicht stimmte. Und von da an gab es kein Zurück mehr.
Aber ich sollte nicht weiter vorgreifen und mit meiner Geschichte dort anfangen, wo alles begann.
Es war einer dieser letzten warmen Tage im Herbst. Ich hatte gerade mein Studium abgeschlossen und brauchte jetzt einfach eine kleine Auszeit. Also schlenderte ich gedankenverloren durch den weitläufigen Park meiner Stadt. Das Herbstlaub der Bäume leuchtete golden, und die Wärme der milden Herbstsonne fühlte sich angenehm auf der Haut an. So konnte ich endlich mal den Kopf freibekommen. Ein paar freie Tage wollte ich mir gönnen, bevor ich mich an die Jobsuche machen müsste.
Mein Name ist Adam Salander, ein angehender Physiker frisch von der Uni. Ich hatte mich auf Atomphysik spezialisiert und interessierte mich besonders für die Kernfusion als Energiequelle der Zukunft. Eine Anstellung bei einem der Forschungsinstitute, die sich mit der Entwicklung eines Fusionsreaktors befassen – sei es nun ein Tokamak oder ein Stellarator – das war mein Traum.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass derartige Überlegungen bald völlig bedeutungslos sein sollten, dass dieser Tag der Beginn einer Kette von Ereignissen war, der Beginn einer bizarren Reise durch Raum und Zeit, die mich bis zum Ende der Zeit und zum Ursprung des Universums bringen sollte. Und dennoch bin ich wieder im Hier und Jetzt, um meine Geschichte aufzuschreiben. Ich weiß zwar nicht, ob mir jemals erlaubt wird, sie zu veröffentlichen, aber ich musste es einfach schriftlich festhalten.
Ich könnte all das, was passiert ist, auch für einen Traum halten. Es war aber alles andere als ein Traum, denn ich habe etwas verändert, etwas bewirkt, dafür gesorgt, dass die Dinge den richtigen Verlauf nahmen. Und ich habe gesehen, was geschehen wäre, hätte ich das nicht getan und es war eine albtraumhafte Welt, in der ich nicht leben wollen würde. Ich weiß auch nicht, warum gerade ich das Zünglein an der Waage sein musste, der Ausschlag gebende Faktor – vom Hüter des Wissens erhält man selten eine Begründung für sein Handeln.
Aber von all dem hatte ich damals noch keine Ahnung. Stattdessen machte ich mir Gedanken, wo ich mich am besten bewerben sollte. Wie ich so in Gedanken an einer Gruppe Ahornbäume vorbeiging, sprach mich plötzlich ein fremder Mann an.
»Sind Sie Adam Salander?«
Ich schaute ihn verblüfft an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals gesehen zu haben. »Ja – kennen wir uns?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber vielleicht habe ich etwas für Sie. Ich weiß, Sie sind Physiker und noch auf der Suche nach einer Aufgabe.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich misstrauisch.
»Ich hätte da eine Nuss zu knacken – extra für Sie als Physiker«, sagte er und gab mir einen Zettel. »Wenn ich Ihr Interesse geweckt habe, treffen wir uns morgen zur selben Zeit an dieser Stelle.«
Ich warf einen Blick darauf. Auf dem Zettel standen oben eine Uhrzeit und eine Internetadresse.
»Das ist ein Live-Stream, er zeigt die Ziehung der Lottozahlen. Schauen Sie sich das an und tragen die Zahlen in der Reihenfolge ihrer Ziehung in die Kästchen auf dem Zettel ein und Sie werden begreifen.«
Ich sah sechs Kästchen in einer Reihe und dahinter nochmals eines. Unter den ersten vier Kästchen stand jeweils eine Zahl, ebenso unter dem Letzen.
Ich schaute verwirrt auf: »Jetzt sagen Sie aber nicht, dass Sie die Lottozahlen vorhersagen können!«
»Sie sind doch Physiker«, meinte er. »Sie wissen, das Ziehungsgerät ist ein chaotisches mechanisches System. Es ist unmöglich, das Ergebnis einer Ziehung vorherzusagen!«
»Und was sollen die Zahlen dann bedeuten?«
»Sie sollen Ihnen zeigen, dass das, was ich Ihnen morgen erzähle, wahr ist, auch wenn es sich noch so unglaubwürdig anhören mag.« Der Fremde wandte sich zum gehen. »Morgen, derselbe Ort, dieselbe Zeit – falls ich Ihr Interesse geweckt habe.«
Damit entfernte er sich. Ich wollte ihm noch nachrufen, dass ich morgen keine Zeit hätte, ließ es aber bleiben.
»Seltsamer Typ«, murmelte ich und schob den Zettel geistesabwesend in meine Tasche.
2
Diese seltsame Begegnung ging mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf, obwohl mir meine innere Stimme sagte, dass das eigentlich nur ein schlechter Scherz gewesen sein konnte. Dennoch überlegte ich, ob ich nicht doch einen Lottoschein ausfüllen sollte. Aber es fehlten noch zwei Zahlen – ich könnte natürlich alle Kombinationen durchprobieren, das wären 49 zum Quadrat – nein, vier Zahlen hatte ich schon, also 45 mal 44, das waren – ich rechnete kurz nach – 1980 Kombinationen. Ein teurer Spaß, außerdem würde ich Stunden brauchen, um all die Scheine auszufüllen – es sei denn, es gibt Systemscheine, bei denen man nur fünf oder vier Zahlen ankreuzen muss. Plötzlich ging mir ein Licht auf und ich schlug mir die Hand gegen die Stirn: »Ich Idiot, fast wäre ich darauf reingefallen!«
Ein Reklametrick. Jemand wollte, dass ich in das nächste Lottogeschäft renne, um einen teuren Systemschein auszufüllen. Wahrscheinlich kassierte dieser Typ dann eine ordentliche Provision. Ich erinnerte mich, wie ich als unbedarfter Anleger einmal auf eine E-Mail reagiert hatte, in der die Zukunftsaussichten einer neuen Firma und deren revolutionäres Produkt in den rosigsten Farben beschrieben wurden. Auch auf deren Webseite sah alles sehr verheißungsvoll aus. Die Aktienkurse sollten sich in kurzer Zeit vervielfachen. Naiv wie ich war, glaubte das auch noch und kaufte einige Aktien – zum Glück nicht allzu viel. Es dauerte nicht lange und die Aktien stürzten ab, und als sie nur noch wenige Cent wert waren, musste ich sie als wertlos ausbuchen lassen – der Verkauf hätte mehr Gebühren gekostet als der Erlös. Ich verbuchte es als Lehrgeld, noch einmal würde ich auf so etwas nicht mehr hereinfallen. Wenn mir ein Fremder unverlangt scheinbar wertvolle Informationen gibt, dann will er nur mein Bestes – mein Geld!
Neu ist allerdings, dass sie die Leute jetzt schon persönlich ansprechen – und woher kannte der Typ meinen Namen? Das machte das Ganze doch etwas merkwürdig. Wenn er einfach irgendwelche Passanten ansprach, konnte er ihre Namen nicht kennen – oder hatte er eine neuartige Gesichtserkennungssoftware? Hatte nicht Facebook mal so was aktiviert? Gut, ich hatte mir nichts dabei gedacht, als ich mein Profilfoto da hochgeladen hatte, aber ich dachte, die Gesichtserkennung wäre längst wieder abgeschaltet – aus Datenschutzgründen. Aber was Facebook kann, können andere schließlich auch, und die Bilder sind frei zugänglich. Aber, so recht gab die ganze Sache keinen Sinn. Ich musste heute Abend einfach die Übertragung anschauen. Dann konnte ich das Ganze ruhigen Gewissens als Fake abtun und musste mir weiter keine Gedanken mehr darüber machen.
Ich kehrte also zurück zu meiner Wohnung, ohne einen Lottoschein auszufüllen. Den Aufzug ließ ich wie üblich links liegen und nahm die Treppe zu meiner Wohnung im dritten Stock. Gut, Wohnung war übertrieben, es war ein besseres Wohnklo, aber für einen Student war es ausreichend, und für einen Job würde ich eh umziehen müssen. Als ich mein Zimmer betreten hatte, fiel mein Blick auf das gerahmte Foto von Katrin und brachte mir wieder schmerzvoll meinen großen Verlust zu Bewusstsein. Ich sollte das Foto wegräumen, um nicht ständig an sie erinnert zu werden, aber ich brachte es bisher nicht übers Herz. Außerdem hätte es nicht viel genützt. Immer wieder im Verlauf eines Tages, oft in den unpassendsten Momenten überfiel mich die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag.
Katrin Arnsfeld war da bereits seit zwei Jahren meine Freundin und wir überlegten uns, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, als mich die Nachricht über ihren plötzlichen Tod völlig aus der Bahn warf. Sie war gerade zu Besuch bei ihren Eltern – ihre Mutter hatte Geburtstag. Ich selbst habe ihre Eltern noch nie gesehen – ich wusste nicht, warum sie immer noch zögerte, mich ihren Eltern vorzustellen, aber ich wollte sie nicht bedrängen. Jedenfalls war dort auch ihr älterer Bruder Robert anwesend. Und weil es so ein schöner Vorfrühlingstag war, überredete er sie zu einer kleinen Spritztour mit seinem neuen Motorrad.
Man hat nie herausgefunden, warum er in dieser Linkskurve von der Fahrbahn abgekommen war. Ihr Bruder hatte noch Glück und landete bei dem Sturz im Gestrüpp, aber Katrin wurde gegen einen Baum geschleudert. Ihr Genick traf direkt auf den Baumstamm und wurde zertrümmert. Sie war auf der Stelle tot. Auf der Beerdigung wussten ihre Eltern nicht, wer ich war. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen ihrer Kommilitonen, von denen einige anwesend waren – was ja eigentlich auch stimmte. Ich beließ es dabei – ich war sowieso nicht in der Lage, über sie und meine Gefühle zu ihr zu sprechen – nicht in dieser Situation.
Ich schüttelte die Erinnerung daran und meine trübseligen Gedanken ab und machte mir mein Abendessen. Ich war gerade mit dem Abendessen fertig, als mich beim Blick auf die Uhr eine gewisse Beklommenheit erfasste. Die Lottoziehung müsste gleich beginnen. War es wirklich nur ein Scherz oder ein Werbetrick, oder steckte doch mehr dahinter? Und wenn ja, was würde das bedeuten für mein Bild von der Welt und für alles, was ich glaubte? Andererseits, als Wissenschaftler sehnte ich es auch herbei, das Unerwartete, das Ergebnis eines Experiments, das sich mit den bekannten Theorien nicht erklären lässt und so die Tür aufstoßen könnte zu ganz neuen Erkenntnissen, zu einer neuen Physik.
Ich aktivierte mein Smartphone. Die Internetadresse auf dem Zettel ignorierte ich. Falls das zu einem gefaketen Stream führen sollte – darauf würde ich nicht hereinfallen. Stattdessen aktivierte ich die Spracheingabe und sagte »Lottoziehung«. Der erste Treffer der Suche war eindeutig ein Link zur Lottogesellschaft – ich tippte darauf. Auf der nun geöffneten Seite tippte ich auf das Videofenster mit dem Titel Live-Ziehung.
Die Übertragung hatte gerade begonnen. Ich blickte auf den Zettel des Fremden: »19, 8, 47, 11, und am Ende eine 3«, murmelte ich.
Die Kugeln ergossen sich in die Glaskugel, und diese begann zu rotieren. Nach einer Weile änderte sich die Drehrichtung und der Aufnehmer gabelte einige Kugeln auf. Ich beugte mich dichter über den Bildschirm. Die Kugel ganz vorne sah aus wie … konnte das tatsächlich die 19 sein? Die Kugel rollte in den Auffangbehälter.
»Und es ist die 19«, sagte gerade die Moderatorin.
Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengrube breit. »Zwei Prozent Wahrscheinlichkeit!«, dachte ich, »Es kann immer noch ein Zufall sein.«
Als der Aufnehmer wieder eine Reihe Kugeln erfasste und ich eine 8 erkennen konnte, glaubte ich schon nicht mehr an einen Zufall. Wie betäubt saß ich da und war nicht mehr sonderlich überrascht, als die Moderatorin sagte: »und Kugel Nummer drei ist die 47.«
Die Ziehung lief weiter, es wurde noch die 11, die 49 und die 1 gezogen. Am Ende war dann noch die Superzahl an der Reihe. Es war natürlich die 3. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, gerade eine einmalige Chance verpasst zu haben. Ich hätte heute den Jackpott knacken können. Ein unangenehmes Gefühl verkrampfte meinen Magen – das Gefühl, das man vermutlich hat, wenn man gerade einige Millionen Euro verzockt hat – obwohl ich das Geld natürlich nie besessen hatte. Aber ich hätte es können, wenn ich nur …
Ich kam zur Besinnung. Da war irgendetwas faul. Ein Trick, vielleicht Versteckte Kamera oder wie diese Fernsehshows alle hießen. Ich bin Physiker, ich weiß, was möglich ist und was nicht, und das konnte definitiv nicht so sein, wie es zu sein schien. Als erstes musste ich diese Zahlen verifizieren.
»Alexa, wie sind die Lottozahlen?«
Die Antwort meines smarten Lautsprechers kam sofort: »Die Gewinnzahlen der Lotto 6 aus 49 Ziehung von heute waren 1, 8, 11, 19, 47 und 49. Die Superzahl war 3.«
Okay, das ging alles über das Internet. Wenn sie mein Internet gehackt hatten – es wäre zwar aufwendig, mehrere verschiedene Quellen zu fälschen, aber diese TV-Teams haben sicher ein großes Budget und entsprechende Spezialisten. Hm, ich könnte einfach mitspielen und das gute Opfer mimen – andererseits packte es mich an der Ehre. Mein Ruf als Wissenschaftler wäre doch ruiniert, bevor ich überhaupt angefangen hätte. Ich brauchte etwas, das nicht über das Internet ging – Videotext! Das war zwar schon etwas antiquiert, aber hatte den Vorteil, dass er völlig unabhängig vom Internet war. Die Satellitenschüssel war am Balkongeländer montiert, von dort ging es durch eine Fensterdurchführung direkt zum Receiver. Das war noch ein älteres Modell ohne Internetanbindung und ohne WLAN. Ich kontrollierte alles, konnte aber keine Anzeichen einer Manipulation entdecken. Ich schaltete den Receiver und den damit verbundenen Fernseher an. Dann aktivierte ich die Anzeige der Signalqualität und drückte gegen die Schüssel. Bei einem leichten Druck verschlechterte sich der Wert, und bei einem starken Druck fror das Fernsehbild mit Mosaikstörungen ein. Das war eindeutig das Signal vom Satellit. Da der Satellit in halb Europa empfangen werden konnte, war es unvorstellbar, so ein Signal zu fälschen. Es heißt zwar immer, die Lottozahlen wären ohne Gewähr, aber die rechtlichen Konsequenzen, wenn Millionen Menschen absichtlich mit gefälschten Informationen versorgt werden – kein TV-Streich würde dieses Risiko rechtfertigen. Also suchte ich im Index nach den Lottozahlen, rief die Seite auf – es waren wieder dieselben Zahlen. Fieberhaft überlegte ich weiter – was konnte ich noch tun? Ich ließ den Fernseher weiterlaufen, am Ende der nun beginnenden Nachrichtensendung sollten auch die Lottozahlen gezeigt werden.
Ich schaltete meinen Computer ein und startete den Torbrowser. Als Exitnode wählte ich willkürlich einen Ort im Ausland. Ich suchte mit mehreren Suchmaschinen nach den deutschen Lottozahlen und verglich die gefunden Ergebnisse. Es waren immer die gleichen Zahlen, die ich längst auswendig kannte. Mittlerweile war die Nachrichtensendung fast am Ende, und die Lottozahlen wurden eingeblendet und vorgelesen – immer die gleichen Zahlen. Und da auch kein Fernsehfritze aus einem Schrank gesprungen kam mit dem Ruf ›April, April‹ oder ›Herzlich willkommen in der Fernsehsendung Sowieso‹ musste ich wohl langsam akzeptieren, dass das wohl keine derartige Verlade war. Aber was dann? Kann so ein Ziehungsgerät womöglich doch manipuliert werden – eventuell mit Magneten in manchen Kugeln? Aber das würde doch auffliegen, und dann wären Gefängnisstrafen fällig – es wäre schließlich ein Betrug an Millionen von Spielern, und es ginge um viele Millionen Euro. Und das alles, um mich in die Irre zu führen?
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Immer wieder kreisten die Gedanken um diese Geschichte und als ich schließlich einschlief, hatte ich wirre Träume, in denen es um irgendwelche unheimlich wichtige Zahlen ging, an die ich mich aber nicht mehr erinnern konnte und einem verschwundenen Lottoschein, der mich zum Millionär machen würde, wenn ich ihn nur endlich finden könnte.
3
Am nächsten Morgen irrte ich ziellos durch die Straßen der Stadt, und immer wenn ich an einem Kiosk oder Laden vorbeikam, an dem es Tageszeitungen gab, schaute ich nach den Lottozahlen – irgendwie hoffend, einmal andere Zahlen zu finden, als die auf dem Zettel – aber dem war nicht so. So vertrödelte ich in Gedanken versunken die Zeit, denn zu etwas Konstruktivem war ich im Moment nicht fähig. Als der vereinbarte Zeitpunkt näher rückte, machte ich mich auf zum Park und suchte die Stelle auf, an der ich den Fremden gestern getroffen hatte.
Als ich schließlich an der Baumgruppe angekommen war, erblickte ich den Fremden, der in der Nähe entspannt auf einer Bank saß. Ich ging direkt auf ihn zu. Anstelle einer Begrüßung rief ich: »Was wird hier gespielt?«
Er blinzelte in meine Richtung: »Oh, Herr Salander, schön, dass Sie gekommen sind.«
»Wie hätte ich nicht kommen können, bei dem Hammer von einem Rätsel, das Sie mir hinterlassen haben. Ich hätte mich mein Leben lang gefragt, was dahintersteckt.«
»Sie sollen alles erfahren, vorausgesetzt, Sie sind unser Mann.«
Das überraschte mich etwas: »Sie wollen mir einen Job anbieten?«
»Ja, das kann man so sagen.«
»Und um was geht es bei diesem Job?«, fragte ich misstrauisch.
»Oh, Details kann ich Ihnen noch nicht nennen, aber ich kann Ihnen sagen, er ist sehr gut bezahlt, Ihre Ausbildung und Ihre speziellen Fähigkeiten kommen zum Einsatz, und Sie werden so viel lernen und erleben, wie in keinem anderen Job der Welt – und ich werde Ihre Fragen beantworten.«
Das klang erstmal zu schön, um wahr zu sein, daher fragte ich vorsichtig: »Und wo ist der Haken? Ist es gefährlich oder illegal oder unmoralisch?«
»Kein Haken, nichts dergleichen. Ihnen kann nicht das Geringste passieren und Ihre Aufgabe wird höchst ehrenwert sein. Allerdings unterliegt alles, was sie erfahren, der strengsten Geheimhaltung. Sie könnten zwar jederzeit aussteigen, wären aber verpflichtet, unsere Geheimnisse weiterhin zu wahren. Und Sie würden sich auf eine weite Reise begeben – natürlich mit allem Komfort und ohne Entbehrungen, und es wäre eine außerordentlich interessante und informative Reise.«
Eine Reise also. Ich war kein Freund des Verreisens, nur um des Reisens willen, aber das klang dennoch interessant. »Klingt erstmal nicht schlecht. Sie sagten, die Bezahlung wäre gut – wie gut?«
Er erwiderte: »Nennen Sie mir Ihre Gehaltsvorstellungen, und ich werde den Betrag verdoppeln.«
Damit hätte ich nun nicht gerechnet. Ich überlegte mir, was ich anderswo an Gehalt erwarten konnte – nicht das Anfangsgehalt, sondern nach einigen Jahren an Erfahrung. Aufgrund der besonderen Situation und der Geheimniskrämerei schlug ich noch 50 Prozent dazu und rundete das Ganze großzügig auf. Dann nannte ich den Betrag. Ohne mit der Wimper zu zucken, nannte er den doppelten Betrag: »Und falls das nicht reicht, können wir jederzeit noch etwas draufschlagen, und Erfolgsprämien sind auch möglich. Und übrigens, es gibt einen Vorschuss von drei Monatsgehältern, den Sie auf keinen Fall zurückzahlen müssen.«
Ich war ziemlich perplex. Wenn das wirklich so war, was hatte ich zu verlieren? »Wo muss ich unterschreiben?«
»Keine Unterschrift, ein Handschlag genügt.«
Ich streckte Ihm meine Hand entgegen: »Ich kenne immer noch nicht Ihren Namen.«
»Ich muss mich entschuldigen.« Er ergriff meine Hand. »Nennen Sie mich einfach Elias. Willkommen im Club!«
»Danke, Elias – gut, dann können Sie Adam zu mir sagen.«
»Auf gute Zusammenarbeit, Adam.« Damit ließ er meine Hand los.
»Gehen wir ein Stück, dann kann ich Ihnen die drängendsten Fragen schon mal beantworten. Ich nehme an, sie beziehen sich auf den Zettel, den ich Ihnen gegeben habe.«
»Allerdings«, entgegnete ich. »Verraten Sie mir nun den Trick dahinter? Haben Sie die Ziehung manipuliert? Oder haben Sie mich hypnotisiert und dann heimlich den Zettel ausgetauscht?«
Er lächelte: »Das war kein Trick. Die Zahlen standen im Almanach – sozusagen.«
Mir war der Begriff ›Almanach‹ zum ersten Mal in dem Film ›Zurück in die Zukunft‹ begegnet. Es handelte sich um ein Verzeichnis aller wichtigen Sportergebnisse, aber im Film kam er aus der Zukunft. Wer ihn besaß, konnte todsichere Wetten abschließen und stinkreich werden.
»Sie wollen allen Ernstes sagen, Sie haben Aufzeichnungen über Lottozahlen aus der Zukunft? Na, kein Wunder, dass Sie bei meinem Gehalt so großzügig sein konnten«, ergänzte ich sarkastisch.
»Oh, wir bevorzugen Wetten auf Aktien- und Devisenkurse. Das geht viel eher in der Masse unter.«
Er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Daher argumentierte ich verärgert: »Meinens Wissens erlauben die Gesetze der Quantenphysik keine exakte Prognose der Zukunft, Sie wissen schon, Unschärferelation, echter Zufall – man erhält stets nur Wahrscheinlichkeiten. Dazu kommen die Gesetze der Chaostheorie. Wie zum Teufel wollen Sie dann die Zukunft vorhersagen – oder haben Sie etwa eine verdammte Zeitmaschine?«
Er atmete tief durch: »Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Ich hoffe, Sie haben genug Zeit und Geduld.«
»Nur zu, ich will’s wirklich wissen. Und wir haben Zeit, denke ich.«
»Ja, Zeit ist kein Problem für uns.« Er lächelte geheimnisvoll.
4
»Okay, Ich erzähl Ihnen mal eine hypothetische Geschichte. Sie handelt von einer hochentwickelten Zivilisation in einer sehr fernen Zukunft. Das Universum ist dunkel, kalt und leer geworden. Alle helleren Sterne sind längst ausgebrannt und die beschleunigte Expansion des Universums lässt die Galaxien in eine unerreichbare Ferne entschwinden. Ihr bleibt bald nur noch die eine Riesengalaxie, die durch Verschmelzung aus unserer lokalen Gruppe hervorgegangen ist. Die Zivilisation sucht nun einen Weg, aus dieser Tristesse zu entkommen. Sie mobilisiert alle noch verfügbaren Energiereserven, um in einem Jahrmilliarden dauernden Prozess eine Konstellation aus schnell rotierenden Schwarzen Löchern zu formen. Ihr Ziel ist es, ein neues junges Universum zu erschaffen. Dieses muss zudem durch ein passierbares Wurmloch mit unserem Universum verbunden bleiben, welches lange genug Bestand haben muss, um dorthin übersiedeln zu können.
Ein Beschleuniger, groß wie ein kleines Sonnensystem, schießt im richtigen Moment eine sorgfältig vorbereitete Kapsel ins Zentrum der Konstellation. Darin enthalten sind verschiedene Arten exotische Materie und eine Art Höllenmaschine. Diese sollte, sobald sich ein Wurmloch gebildet hat, an dessen Ausgang einen extremen Energiezustand produzieren, wie es ihn zuvor nur beim Urknall gegeben hat, wodurch eine Blase aus falschem Vakuum entstehen sollte. Da es am Wurmlochausgang noch kein wahres Vakuum gibt, das zum Zerfall des falschen Vakuums führen könnte, würde diese Blase aufgrund des Drucks ihrer hohen Vakuumenergie mit exponentieller Geschwindigkeit expandieren und so in extrem kurzer Zeit eine gigantische Größe annehmen.«
»Sie sprechen von einer kosmischen Inflation!«, warf ich ein.
»Ganz recht«, sagte Elias, »was auch in der Frühphase unseres Universums geschehen sein muss. Das falsche Vakuum muss lange genug von dem echten Vakuum isoliert werden, um ein Universum mit der nötigen Größe zu bilden. Sobald es dann über das Wurmloch mit dem echten Vakuum in Kontakt kommt, welches eine Art Kristallisationskeim darstellt, beginnt der Zerfall – der Übergang in das wahre Vakuum. Dieser breitet sich rasend schnell über die ganze Blase aus. Dabei wird eine enorme Energiemenge freigesetzt, aus der wiederum zahlreiche Teilchen und Antiteilchen hervorgehen. Ein neues Universum entsteht, das sich nun mit linearer Geschwindigkeit ausdehnt, sich dabei immer weiter abkühlt und aus dem schließlich Sterne und Galaxien hervorgehen.«
»Und wie will man verhindern, dass sich die entstandene Materie und Antimaterie gegenseitig wieder vernichten?«, fragte ich. Das war nämlich auch bei unserem Universum ein noch ungelöstes Rätsel.
»Ein guter Einwand, in einem vollkommen symmetrischen Universum müsste stets genau so viel Materie wie Antimaterie entstehen, und am Ende bliebe nur noch Strahlung übrig. Dieses Universum ist aber nicht völlig symmetrisch, zum einen, weil es über ein Wurmloch mit einem längst nicht mehr symmetrischen anderen Universum verbunden ist, und vor allem durch die Art der Materie, die mit der Kapsel genau in der Entstehungsphase in das neue Universum gelangt ist und ihm bestimmte Eigenschaften aufgeprägt hat. Ein solches Universum kann gar nicht mehr vollkommen symmetrisch sein, und die geringe Asymmetrie reicht aus, dass genug Materie übrig bleibt, um all die Sterne und Galaxien zu bilden.«
»Okay, das ist eine faszinierende Geschichte, aber wie soll sie erklären, dass Sie die Zukunft kennen?«
»Nun, Sie kennen die Pointe noch nicht. Also, nachdem das neue Universum erschaffen wurde, müssen sie noch einige Millionen Jahre warten. Es muss erst soweit abkühlen, dass es betreten werden kann, ohne sofort gegrillt zu werden. Dann schicken sie die ersten Raumschiffe hindurch. Die dortige Hintergrundstrahlung liegt allerdings noch immer im Infraroten und nicht wie bei uns im Mikrowellenbereich. Als sie diese vermessen, stellen sie fest, dass ihre Struktur exakt dieselbe ist wie in dem Universum, aus dem sie gekommen sind, nur eben viel wärmer. Und das konnte nur eines bedeuten – das Universum, das sie da erschaffen haben, war nichts anderes als ihr Heimatuniversum!«
»Was, ein Universum, das aus sich selbst hervorgeht?« Mir kam das seltsam vor. »Aber, klingt das nicht wie: sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen?«
»Nach Art des Lügenbarons Münchhausen? Na ja, wer das versucht, reißt sich höchstens die Haare aus, kommt aber kein Stück aus dem Sumpf. In meiner Geschichte ist die Kausalkette aber lückenlos, es gibt keine Wirkung ohne Ursache und es wird kein Naturgesetz verletzt.«
»Auf den ersten Blick mag das stimmen«, sinnierte ich, »aber… ach jetzt verstehe ich, worum es hier geht! Die Raumschiffe landen in ihrer eigenen Vergangenheit, mit all dem Wissen aus der Zukunft. So wissen sie auch, was geschehen wird.«
Elias lächelte: »Genau darauf wollte ich hinaus. Es gibt eine Möglichkeit, in die Zukunft zu sehen, ohne dass dabei ein Naturgesetz verletzt wird. Irgendwelche übernatürliche Kräfte aus der Parapsychologie sind dafür nicht erforderlich.«
Ich wandte ein: »Gut, vielleicht. Aber …, Sie sagten ›hypothetische Geschichte‹. Also nicht die wahre Geschichte.«
»Ja, das sagte ich. Sie kann so auch gar nicht stimmen«, gab Elias zu.
»Dachte ich’s mir doch!«
»Ich meinte, es stimmt nicht alles. Das Wurmloch existiert durchaus, aber wir wissen jetzt natürlich, dass es nicht zu einem neuen Universum führt, sondern in unsere eigene Vergangenheit. Das hat natürlich großen Einfluss auf Vorbereitung und Motivation, aber das Ergebnis bleibt dasselbe.«
Ich war fassungslos: »Sie meinen ernsthaft, da draußen ist ein Wurmloch, das ständig Raumschiffe aus der Zukunft ausspuckt?«
»Richtige Raumschiffe waren es nur zu Anfang, als es darum ging, eine autarke Raumbasis zu errichten. Heute sind es fast nur noch riesige Container mit Speicherkristallen, in denen Information so kompakt wie nur möglich gespeichert ist. In all den Jahrmilliarden fällt ’ne Menge an Information an, da will man keinen Platz für Luxuskabinen verschwenden.«
Mir wurde schwindelig: »Jahrmilliarden! Und Sie meinen, sie zeichnen alles auf und schicken es dann in die Vergangenheit?«
»Vereinfacht gesagt: ja«, antwortete Elias.
»Und auf einem dieser Informationskristalle waren die Lottozahlen von gestern?«
»Auch das ist richtig. Wie sonst hätte ich sie wissen sollen?«
Ich stöhnte: »Das alles ist ziemlich schwer zu glauben, aber immerhin eine plausible Erklärung. Ich habe auch keine bessere, außer dass jemand einen gewaltigen Aufwand treibt, um mich recht gründlich zu verarschen.«
»Warum sollte das jemand tun wollen?«
»Sie haben recht, das macht einfach keinen Sinn. Gut, gehen wir mal davon aus, Ihre Geschichte stimmt. Ich hätte da doch noch eine ganze Reihe Fragen.«
»Ich hätte auch nichts anderes von Ihnen erwartet«, erwiderte Elias. »Aber, Sie müssen verstehen, dass ich nicht auf alle Fragen eine Antwort geben kann, zumindest jetzt noch nicht!«
Ich überlegte: »Zunächst, warum diese fiktive Geschichte von der Erschaffung eines neuen Universums?«
»Es handelt sich dabei um einen möglichen Kausalpfad, der zu der Erschaffung des Wurmlochs führt, und zwar, und das ist entscheidend, OHNE dass dabei Information aus der Zukunft nötig wäre. Die Existenz eines solchen Pfades hat entscheidenden Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines Szenarios, auch wenn dessen endgültige Ausprägung letztlich eine andere ist. Außerdem ist diese Geschichte wesentlich einfacher zu verstehen als die Realität und sie verrät keine Geheimnisse, die ich noch nicht preisgeben kann.«
»Na schön, gut, aber, wenn sie genau wissen, dass sie kein neues Universum erschaffen können, warum dann der gewaltige Aufwand? Es ist ja ein Jahrmilliarden-Projekt und am Ende schaffen sie nur ein Universum, das eh schon existiert.«
»Wir haben gar keine andere Wahl. Ein Universum, in dem das Wurmloch nicht erschaffen wird, kann einfach nicht existieren, weil es dann keinen Anfang hätte. Für einen natürlichen Ursprung ist das Wurmloch aber viel zu komplex. Und außer uns gibt es niemand, der so etwas vollbringen könnte – zumindest haben wir niemanden gefunden.«
Ich stutzte: »Das Universum existiert nur deshalb, weil wir es erschaffen haben – oder werden?«
»Im Grunde ja! Und das löst übrigens auch ein anderes Rätsel der Physik und der Kosmologie: Warum sind all die Naturkonstanten exakt so justiert, dass die Entstehung von Leben möglich ist? Jetzt ist es klar: Ein Universum ohne intelligentes Leben kann einfach nicht existieren, weil es keinen Anfang, keinen Urknall hätte.«
»Und was ist mit der Multiversum-Theorie oder der ewigen Inflation? Zusammen mit dem schwachen anthropischen Prinzip könnte es das doch auch erklären.«
»Eine interessante, aber grundsätzlich unbeweisbare Theorie, hat aber leider einige Haken, aber dazu später. Aber das Wichtigste: wir brauchen kein Multiversum, um unser Universum zu erklären. Ockhams Rasiermesser! Man soll die Dinge nicht komplizierter annehmen als notwendig.«
Damit wandte Elias sich um zum Gehen. Er winkte mir zu. »Kommen Sie mit, wir können das Weitere unterwegs besprechen.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu unserem Stützpunkt in der Stadt. Dort werde ich Ihnen alles Interessante zeigen und Sie in ihre Arbeit einführen. Oder hatten Sie schon etwas anderes vor?«
Meine Jobsuche hatte sich ja gerade erledigt. Und natürlich wollte ich jetzt mehr wissen. »Nein, ich habe sonst nichts vor.«
Er nickte. »Gut, gehen wir.«
5
Ich folgte ihm. Erst grübelte ich darüber, was ich gerade gehört hatte. Ein Universum, das sich selbst erschaffen hat, Informationen aus der Zukunft, ein Wurmloch in die Vergangenheit, die Möglichkeit, damit in die Vergangenheit zu reisen. Auch wenn die Gesetzt der Physik Zeitreisen nicht grundsätzlich zu verbieten scheinen, glaubten die meisten Physiker, dass es da noch unbekannte Mechanismen geben müsste, die das Reisen in der Zeit unmöglich machen sollten – zu groß wären die kausalen Probleme, die sich aus Zeitreisen ergeben würden.
Also sprach ich das Problem an: »Wie ich das verstanden habe, erlaubt das Wurmloch Reisen in die Vergangenheit. Es kann ja sein, dass die Naturgesetze Zeitreisen nicht grundsätzlich verbieten, aber was ist mit all den Paradoxien?«, sagte ich, »wenn ich zurückreisen würde und meinen Großvater töten würde, bevor er meine Großmutter kennenlernt? Was wäre dann?«
»Das klassische Großvaterparadoxon.« Er schmunzelte. »Nun, es kommt noch viel schlimmer. Es ist so gut wie unmöglich, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, ohne ein Zeitparadoxon auszulösen. So etwas Drastisches wie ein Mord ist gar nicht nötig. Es reicht aus, kurz in der Vergangenheit aufzutauchen, irgendwo in einer verlassenen Gegend, kurz zu blinzeln und sofort wieder zu verschwinden.«
»Sie meinen, ohne irgendetwas zu tun, und ohne dass irgendjemand etwas bemerkt?«
Er sagte: »Allein das Auftauchen würde eine gewisse Menge Luft verdrängen, und dort, wo diese hinfließt, wird weitere Luft verdrängt und so weiter. Luftströmungen verändern sich, Wirbel bilden sich an einer anderen Stelle. Die Störung breitet sich im Laufe der Zeit immer weiter aus.«
Ich warf ein: »Aber es ist doch nur Luft – oder spielen Sie auf den Schmetterlingseffekt der Chaostheorie an?«
Er meinte: »Der Flügelschlag eines Schmetterlings, der am anderen Ende der Welt einen Sturm auslösen kann? Das wäre zwar theoretisch auch möglich, aber ich denke an etwas anderes. Die Luft ist nicht wirklich homogen. Neben winzigen Partikeln enthält sie auch zum Beispiel Atome des radioaktiven Gases Radon. Nun sterben jedes Jahr Tausende an Lungenkrebs, die nie geraucht haben oder sonst etwas Belastendem ausgesetzt waren. In dem Fall ist die wahrscheinlichste Ursache ein Radonatom, das nach dem Einatmen in einem ungünstigen Moment und einer ungünstigen Stelle zerfallen ist, und deren Strahlung die DNA an einer kritischen Stelle getroffen und geschädigt hat. Wäre das Radonatom beim Zerfall nur um einen Mikrometer verschoben gewesen, wäre die Strahlung an einer ungefährlichen Stelle eingeschlagen und nichts wäre passiert.«
Ich verstand langsam, worauf er hinauswollte: »Durch mein kurzes Auftauchen in der Vergangenheit hätte ich dann solche Verschiebungen bewirkt.«
»Ja, zumal in einem chaotischen System Störungen nicht einfach abklingen. Nein, die Verschiebungen werden immer größer und ausgedehnter, je mehr Zeit vergeht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Verschiebungen den kompletten Planeten erfasst haben. Und das bedeutet, Menschen, die gestorben wären, überleben, und Menschen, die noch lange gelebt hätten, sterben viel zu früh. Und das führt dazu, dass Menschen geboren werden, die nie geboren worden wären, und diese haben später Ehepartner, die dann den ursprünglichen Partnern nicht mehr zur Verfügung stehen. Andere werden nie geboren werden, mit entsprechenden Folgen. Dazu kommt noch, dass der Zeitpunkt einer Befruchtung entscheidend über die genetische Ausstattung ist, da ständig neue Spermien reifen und die vorhandenen ständig durchmischt werden. Wer von den vielen Millionen im entscheidenden Moment in Führung liegen würde, ändert sich von Sekunde zu Sekunde. Findet sie durch veränderte Lebensumstände zu einem anderen Zeitpunkt statt, etwa weil man an einer Kreuzung wegen eines verschwunden Menschen nicht solange warten musste, und es daher die nächste Ampel noch grün hatte…«
»Okay, schon verstanden!«, unterbrach ich ihn.
Er fuhr fort: »Jedenfalls führt das zu einem Lawineneffekt, bei dem irgendwann die Menschheit komplett ausgetauscht wäre. Und da andere Menschen an wichtigen Positionen auch oft andere Entscheidungen treffen, würde auch die Welt irgendwann komplett anders aussehen. Entscheidend ist stets der Zeitfaktor. Je weiter die Reise in die Vergangenheit führt, umso größer wäre die Veränderung nach der Rückkehr.«
Ich dachte nach: »Aber, … was wäre, wenn man sehr weit zurückspringen würde, etwa in eine Zeit, als es noch gar keine Menschen gab?«
Er schmunzelte: »Es wären die gleichen Mechanismen, nur würden dadurch Wesen verändert, aus den irgendwann Menschen hätten hervorgehen sollen – was dann vermutlich nicht mehr geschehen würde. Das ultimative Paradoxon. Dagegen wäre der Mord am eigenen Großvater eine Lappalie.«
Ich dachte an den Zettel mit den Lottozahlen: »Wenn aber nur Informationen in die Vergangenheit gelangen …«
Er winkte ab: »Das würde keinen großen Unterschied machen. Eine Information löst beim Empfänger eine Reaktion aus, die es sonst nicht gegeben hätte, und sei es nur ein Schulterzucken, das die umgebende Luft in Bewegung bringt.«
»Dann verstehe ich aber nicht, wie Sie mir die Lottozahlen aus der Zukunft geben konnten. Meine Reaktion war jedenfalls weit mehr als nur ein Schulterzucken. Haben wir jetzt ein Zeitparadoxon ausgelöst?«
Er beruhigte: »Keine Angst, das Universum wird deswegen nicht aufhören zu existieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass so eine Nachricht zu einem Paradoxon führt, liegt prozentual bei 99,999 und noch eine Menge weitere Neuner Prozent.«
»Also praktisch immer. Und das soll mich beruhigen?«
»Fast immer«, korrigierte er mich. »Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt zu einem Paradoxon kommt, exakt Null.«
Ich war verwirrt: »Was denn nun von beidem?«
Mittlerweile waren wir bei einem Parkplatz angekommen. Er drückte den Entriegelungsknopf seines Schlüssels und ein silberfarbener Mercedes Hybrid vor uns blinkte. »Steigen Sie ein, wir können auf der Fahrt weiterreden«, sagte er und wies auf die Beifahrertür.
Wir nahmen Platz, und er fuhr geräuschlos aus der Parklücke und bog in die Straße ein. Der Verkehr war dicht und stockte immer wieder. Ich machte mich auf eine längere Fahrtzeit gefasst.
6
»Ein Universum mit einem Paradoxon«, begann er mit seiner Erklärung, »ist sozusagen eine mathematische Unmöglichkeit, so wie eine Gleichung wie 1 = 2. So ein Universum kann es einfach nicht geben. Es würde nicht plötzlich aufhören zu existieren, sondern hätte nie existiert. Da unser Universum aber nachweislich existiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier jemals ein Paradoxon aufgetreten ist oder irgendwann auftritt, exakt Null. Was nun ihre Lottozahlen betrifft – Sie sind sicher vertraut mit der Everettschen Vielewelten-Interpretation der Quantenmechanik?«
Plötzlich ging mir ein Licht auf: »Sie meinen, wenn jede Messung zu einer Verdoppelung des Universums führt, dann muss dasselbe auch bei einer Zeitreise passieren! Wir verändern nicht unser eigenes Universum, sondern schaffen ein neues, wo die Dinge sich problemlos anders entwickeln können.«
Er schüttelte den Kopf: »Nicht ganz. Klar, das würde jede Gefahr eines Zeitparadoxons auf elegante Weise beseitigen. Allerdings, die Lottozahlen könnten sie damit kaum vorhersagen. Zwar arbeitet das Ziehungsgerät mit klassischer Mechanik, aber auch dann gibt es kritische Situationen, wo kleinste Unterschiede zu einer großen Abweichung führen. Und da reichen Quantenfluktuationen aus, um einen Unterschied zu bewirken. Und da jede derartige Quantenfluktuation zu einer weiteren Aufspaltung des Universums führen kann, wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass wir uns jetzt in genau dem Universum befinden, in dem alle diese Quanteneffekte dasselbe Resultat hatten, wie in dem Universum, aus dem die Zahlen ursprünglich stammen. Die gezogenen Lottozahlen hätten rein gar nichts mit denen auf dem Zettel zu tun.«
Mir schwirrte der Kopf: »Aber …«
»Außerdem«, ließ er mich nicht zu Wort kommen, »Sie erinnern sich doch noch an die Hintergrundstrahlung. Als in meiner Geschichte die ersten Besucher das Wurmloch passierten, war der kosmische Hintergrund exakt der gleiche wie in ihrem eigenen Universum. Da diese Strukturen ihren Ursprung in den Quantenfluktuationen vor oder während der Inflationsphase hatten, müssten sie in einer anderen Everettwelt ganz anders aussehen.«
»Aber …«, versuchte ich es nochmals, »wenn nicht einmal eine Zeitreise eine neue Everettwelt schaffen kann, heißt dass, die Viele-Welten-Hypothese ist falsch?«
Er meinte: »Mathematisch gesehen, ist es eine elegante Möglichkeit, alle Beobachtungen zu erklären, und die Alternativen klingen auch nicht gerade überzeugend – etwa dass es einen Beobachter braucht, damit etwas real wird, oder dass ein Beobachter eine Wellenfunktion zum kollabieren bringen sollte und niemand weiß, warum das geschieht und wie es geschieht.
Und diese Zufallsereignisse – letztlich gibt es keine mathematische Funktion, die einen echten Zufall erzeugt. Und jedes echte Zufallsereignis produziert Information, gleichzeitig verbieten die unitären Operationen der Quantenphysik, dass Information entstehen kann oder vernichtet werden kann. Die Everettsche Viele-Welten-Interpretation kommt ohne diese Brüche aus und ist mathematisch korrekt. Allerdings, haben Sie schon mal überlegt, wie viele Everett-Welten es geben müsste?«
Mir viel ein, schon einmal einen Artikel darüber gelesen zu haben: »Ich habe mal eine Schätzung gesehen, es war eine doppelte Zehnerpotenz«.
»Ja«, pflichtete er mir bei, »wenn man sich auf das beobachtbare Weltall beschränkt, könnte man es mit zehn hoch zehn hoch 118 abschätzen. Das hat mit den möglichen Protonenpositionen im Volumen zu tun. Geht man dagegen von der Anzahl aller Teilchen aus, das wären hauptsächlich die Photonen der Hintergrundstrahlung, und beschreibt jedes Partikel mit 100 bis 1000 Bits, dann wären es eher zehn hoch zehn hoch 90. Das sind natürlich nur Hausnummern, da die meisten dieser Welten gar nicht möglich wären, andererseits ist das Universum aber viel größer als der momentan sichtbare Teil.
Aber egal welche Zahl man nähme, wollte man sie als Dezimalzahl aufschreiben, hätte diese sehr viel mehr Stellen, als das Universum Atome hat. Das muss man sich mal vorstellen! Das Universum hat vielleicht 10 hoch 82 Atome und jedes Atom steht für eine Ziffer, aber dennoch reicht es bei weitem nicht. Na gut, die Mathematik kennt auch den Begriff Unendlich, und das ist noch unvorstellbar viel mehr. Was ich sagen wollte – die Mathematik ist geduldig, die Physik ist es aber nicht!«
Ich runzelte die Stirn: »Wie meinen Sie das?«
»Die Raumzeit bietet nun mal nur Raum für genau eine Welt. Da die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie von nichtlinearer Art sind, kann man nicht einfach mehrere Welten überlagern, ohne die übelsten Gravitationsartefakte zu erzeugen. Überlegen Sie mal, seit Jahrzehnten versuchen die Physiker, die Gravitation zu quantifizieren, ohne Erfolg. Kein Wunder, die Gravitation ist eine Eigenschaft der Raumzeit und die Raumzeit ist die Bühne, auf der sich die Quanten austoben können. Niemand würde auf die Idee kommen, diese Straße hier, auf der sich alle möglichen Fahrzeuge bewegen, selbst als Fahrzeug zu interpretieren und ihr Fahrzeugattribute wie Antriebsart, Leistung oder Geschwindigkeit anzudichten.«
Mir fielen sofort zwei Gründe ein, warum eine Quantentheorie der Gravitation nötig war: »Was geschieht aber bei extrem verdichteter Materie, etwa beim Urknall oder im Inneren von Schwarzen Löchern, wo unsere bekannte Physik einfach nicht mehr funktioniert und Singularitäten erzeugen
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Cover: Cover-Bild: AG Carinae, Credit: NASA, ESA and STScI
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6430-3
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