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Leseprobe

Die Bewahrer der Zeit 2

Verian

Ronald Streibel

Das Buch

Dies ist die Fortsetzung des Romans Die Bewahrer der Zeit 1: Elysium, wo eine unerwartete Begegnung mit einem Fremden für einen jungen Physiker der Startpunkt einer unglaublichen Reise durch Raum und Zeit war. Plötzlich erhielt er einen ganz neuen Blick auf das Wesen des Universums, seinem Ursprung und der Bedeutung von Leben und Bewusstsein. Und in der geheimnisvollen Dunkelheit der Oortschen Wolke erlebte er noch die Überraschung seines Lebens. Auf der Eiswelt Elysium hat er etwas wiedergefunden, was er für immer verloren geglaubt hatte.

Nach seinem Aufenthalt auf Elysium geht Adams Reise nun weiter bis zum dunklen Ende der Zeit. Dort wird er Zeuge von der Erschaffung des Wurmlochs, aus dem unser Universum entsprungen ist. Durch das Wurmloch gelangt er zurück an den Anfang, erlebt im Schnelldurchgang die Geburt der Milchstraße und des Sonnensystems und landet schließlich an einem Zeitpunkt unserer Vergangenheit, an dem die Geschichte zwei völlig unterschiedliche Verläufe hätte nehmen können. Und das ist der Moment, in dem sich Adams wahre Bestimmung offenbart. Sein erster Auftrag ist gleichzeitig eine Prüfung für seine Aufnahme in die Reihen der Bewahrer der Zeit. Er muss verhindern, dass eine dystopische Horrorvision auf der Erde Realität wird. Und er muss das Problem allein lösen.

Wieder zurück in seiner Zeit und seinem biologischen Körper vertraut man ihm als ersten eigenständigen Auftrag eine harmlos wirkende Aufklärungsmission zu einer Zeit an, in der Menschen bereits in Kolonien auf terrageformten Exoplaneten leben. In dem Zeitschiff Astranova beginnt er nun seine zweite Rundreise durch die Zeit. Bald sieht er sich jedoch vor die Aufgabe gestellt, auf dem Planeten Verian eine grauenhafte Bedrohung einzudämmen, bevor daraus eine ernst zu nehmende Gefahr für das galaktische Netzwerk werden kann. Aber jetzt ist er nicht mehr allein. Er erhält eine Hilfe, auf die er nicht zu hoffen gewagt hätte.

Ein Taschenbuch mit dem Inhalt von Band 1 und Band 2 ist bereits erschienen unter dem Titel Reise zum Ende der Zeit, ISBN: 979-8359050814.

Impressum © 2023 Ronald Streibel

Nelkenstr. 7, 73563 Mögglingen
streibel@proton.me

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Stable Diffusion

Inhalt

Titelseite

Das Buch

Impressum

Ende und Anfang

Der Eingriff

Verian

Die Seuche

Epilog

Ende und Anfang

1

Wir waren wieder im Weltraum. Unter uns war die Oberfläche von Elysium im Licht unserer Scheinwerfer noch gut zu erkennen. Aber als wir uns von der Oberfläche entfernten, verschwand der Zwergplanet schnell in der Dunkelheit. Und als die Landescheinwerfer schließlich verloschen, blieb von ihm nur noch ein kreisförmiges Loch im Meer der Sterne übrig. Klar, wir starteten auf der von der Sonne abgewandten Seite, aber selbst auf der Tagseite würde man kaum mehr sehen – zu weit waren wir von der Sonne entfernt, zu tief befanden wir uns in der Oortschen Wolke, als dass von der Sonne mehr zu sehen war als ein besonders heller Stern.

Von außen wirkte Elysium wie eine in Kälte und Dunkelheit erstarrte Eiswelt, und dennoch machte dieser Planet seinem Namen alle Ehre - verbarg sich doch in seinem Innern ein Paradies. Allerdings nicht, wie ich zuerst gedacht hatte, in einem riesigen Hohlraum unter der Oberfläche. Dort befanden sich nur gewaltige Datenspeicher und Computeranlagen, versorgt von Kraftwerken, die den hier nahezu unbegrenzt vorhandenen Wasserstoff zu Helium fusionierten. Wie Elias mir mitteilte, wäre die Energieversorgung auf hunderte von Milliarden Jahren gesichert. Selbst wenn die Sonne längst erloschen wäre, würde das Leben auf Elysium fortbestehen. Ja, es gab Leben auf Elysium, allerdings kein biologisches. Das Paradies war in Wirklichkeit eine riesige virtuelle Realität, bevölkert von unzähligen virtuellen Wesen. Und eines dieser Wesen war Katrin, die ich nun zurücklassen musste und die ich bereits jetzt schmerzlich vermisste. Katrin, meine erste und einzige Liebe, die vor über einem Jahr auf so tragische Weise ums Leben gekommen war. Ich hatte mein Glück kaum fassen können, als ich sie an diesem Ort wiedergefunden hatte. Und die Zeit, die wir dort verbracht hatten, war einfach traumhaft. Aber ich hatte eine Mission zu erfüllen, und daher war der Abschied unvermeidlich.

Elias und ich saßen in der Kommandozentrale. Über uns leuchteten die Sterne. Es waren die echten Sterne, die materielle Realität, aber die Augen, die sie ansahen, waren nach wie vor virtuell. Das ganze Raumschiff war virtuell, sogar Elias und ich waren virtuell. Hätte Elias mir auf Elysium nicht endlich die Wahrheit gesagt, ich hätte es nicht bemerkt. Gut, als Physiker sind mir die seltsamen Verhältnisse auf Elysium schon aufgefallen, etwa wie auf einem so kleinen Himmelskörper eine normale Erdschwerkraft herrschen konnte, oder der scheinbar überlichtschnelle Flug hierher, aber was wusste ich schon von den enormen technischen Möglichkeiten dieser Wesen, die sich selbst die Bewahrer der Zeit nannten.

Aber die Vorstellung, dass mein biologischer Körper in diesem Moment auf der Erde war und seinem Tagwerk nachging, ohne von all dem etwas zu ahnen, war schon mehr als befremdlich. Doch nein - wenn alles so liefe wie geplant, dann wäre doch meine Zukunft bereits seine Vergangenheit und er könnte sich an alles erinnern, selbst an diesen Gedanken jetzt - wie abgefahren war das denn! Aber natürlich müsste dazu unser Trip einmal rund um die Zeit auch erfolgreich abgeschlossen werden. Scheitern wir, könnte dieses Bewusstsein hier mit all seinen neuen Erinnerungen einfach ausgelöscht werden, und für mein Ich auf der Erde wäre nichts von alledem geschehen. Ich würde immer noch um Katrin trauern, wüsste nichts von Elysium und dem Leben, dass sie dort hat. Nein, das durfte nicht geschehen! Ich musste erfolgreich sein, ich durfte einfach nicht versagen. Ich würde meine Mission erfolgreich zu Ende bringen, was immer es auch sein wird.

Ich schaute mich um. Von Elysium war nichts mehr zu sehen, obwohl der Zwergplanet noch nicht weit weg sein konnte.

»Wohin geht es als nächstes?«, fragte ich.

Elias antwortete: »Unsere nächste Reise geht hauptsächlich durch die Zeit, also in die Zukunft. Ich könnte mir vorstellen, dass dich die nähere Zukunft brennend interessieren würde, aber da will und darf ich dich nicht spoilern, du wirst all das schließlich auch so erleben. Die Zukunft ist nur spannend, wenn man nicht weiß was kommt. Stattdessen begeben wir uns in die fernere Zukunft.«

»Und wie weit?«

»So etwa 800 Milliarden Jahre.«

»Waaas?« Das sollte wohl ein Scherz sein.

»Richtig gehört – wir werden zuschauen, wie ein Wurmloch erschaffen wird.«

»Aber, wie soll das gehen?«

»Bei einem virtuellen Bewusstsein ist die Reise in die Zukunft recht einfach. Man muss lediglich die Frequenz des Systemtaktes verringern, und schon scheint die Zeit schneller zu verlaufen. Und wenn man den Takt fast zum Stillstand bringt, vergehen die Jahrmillionen wie im Flug.«

»Und wie komme ich dann in meine Zeit zurück?«

»Da gibt es nur einen Weg – durch das Wurmloch.«

Da verstand ich und fragte: »Und am Ende kommen wir an genau dem Tag zurück, an dem die Reise begann?«

»Ja, wenn alles so läuft wie geplant. Ich sagte ja, im Moment genießt du wahrscheinlich deinen wohlverdienten Urlaub, mit einer satten Erfolgsprämie auf deinem Konto.«

»Einer Prämie?«

»Das wäre nur fair. Deine Arbeitzeit wäre ja offiziell nur ein paar Stunden gewesen, da käme nicht viel dabei rum – oder aber 800 Milliarden Jahre, und das wäre unbezahlbar, auch für uns.« Elias grinste. »Du siehst, das mit der Lohnabrechnung kann in unserem Job etwas schwierig sein. Aber Spaß beiseite, Geld wird für uns nie ein Problem sein – wenn wir was brauchen, bekommen wir es auch, solange es in einem vernünftigen Rahmen bleibt. Eine eigene Insel in der Karibik wäre da schon etwas grenzwertig, es sei denn, du hättest einen sehr guten Grund dafür.«

Elias machte einige Einstellungen auf seiner Konsole und blickte dann zu mir: »Wir können starten. Bist du bereit?«

Ich blickte mich suchend um. »Ist unser Ziel irgendwo auf den Bildschirmen zu sehen?«

»Das ist schlecht möglich, da es noch gar nicht existiert. Allerdings – einige der Bestandteile existieren schon heute, wenn auch in anderer Form. Warte, ich hab eine Idee.«

Er tippte etwas in eine Konsole, und kurze Zeit später erschien auf dem Hauptbildschirm ein eindrucksvolles Bild. Es zeigte einen hellen Stern inmitten einer farbigen Gas- und Trümmerwolke. Es wirkte wie das eingefrorene Bild einer Explosion. Irgendwie erinnerten mich die filigranen Strukturen darin an die Iris eines menschlichen Auges.

Elias erklärte: »Das ist AG Carinae, ein blauer Überriese. Solche Sterne haben nur eine kurze Lebensdauer, bevor sie nach einer Supernova-Explosion zum Schwarzen Loch werden. Und eines der Schwarzen Löcher, die für die Erschaffung des Wurmlochs verwendet werden, ist der Überrest von AG Carinae. Natürlich ist es in ständiger Bewegung, wie alles in einer Galaxie, aber wir müssen dorthin, wo es in 800 Milliarden Jahren sein wird. Also können wir zu Recht sagen, dies hier ist unser Ziel. Also, sollen wir starten?«

Ich nickte und Elias schob einen Regler nach vorn. Das Bild mit dem Nebel begann sich zu bewegen. Aus der eingefrorenen Explosion wurde nun eine Explosion in Zeitlupe. Aber der Nebel dehnte sich nicht nur aus, sondern der Stern in der Mitte stieß immer weiteres Material aus, Eruption folgte auf Eruption. Dabei pulsierte die Helligkeit des Sterns heftig und ging in ein Flimmern über, als sich unsere Zeitreise beschleunigte. Dann plötzlich ein Blitz. Blendende Helligkeit erfüllte einen kurzen Moment den Bildschirm. Dann war der Stern verschwunden. Dort, wo er sich befunden hatte, war ein schwarzer Fleck und drumherum eine unregelmäßig geformte Trümmerwolke, die sich schnell ausdehnte und dabei an Helligkeit verlor. Auch diese Trümmerwolke sah eindrucksvoll aus, aber sie verblasste zusehends, und bald war nichts mehr zu sehen. Das Schwarze Loch in der Mitte war bei dieser Auflösung nicht zu sehen.

Auch die Sterne, die ich durch die Kuppel sehen konnte, bewegten sich nun. Aber es war nicht so, als würde man sich durch ein Sternenmeer bewegen, denn die Sterne bewegten sich in verschiedene Richtungen, und mit verschiedenen Geschwindigkeiten, und sie wurden heller und wieder dunkler, nur der helle Stern, der unsere Sonne war, blieb zunächst an Ort und Stelle. Mir fiel auf, dass manchmal Sterne plötzlich aus dem Nichts auftauchten und andere plötzlich verschwanden. Dann ein roter Lichtblitz. Ich starrte unsere Sonne an, die fast wieder wie eine Sonne aussah, sehr viel heller als zuvor und flächig statt punktförmig – und rot wie der Mars. Ich kniff meine Augen zusammen, aber plötzlich war es wieder dunkel und ich sah nur noch das Nachbild auf meiner Netzhaut.

»Das war’s wohl mit der Sonne. Sie ist jetzt nur noch ein weißer Zwerg, mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen«, sagte Elias. »Außerdem verlassen wir bereits das Sonnensystem und bewegen uns ein Stück in Richtung eines der galaktischen Zentren, genau genommen des Andromeda-Zentrums – inzwischen ist die Verschmelzung mit der Andromeda-Galaxie ja fast abgeschlossen.«

Der Zusammenstoß zweier Galaxien, einfach so in einem Nebensatz! Da fiel mir auf, dass das Band der Milchstraße kein einfaches Band mehr war, sondern Schlaufen bildete und seltsame Wellen aufwies, die sich langsam veränderten. Die eigentliche Kollision hatte ich allerdings nicht bemerkt – gut, ich könnte auch nicht einmal sagen, wo Andromeda liegt, oder eher gelegen hat. Was ich aber bemerkte, war eine Abnahme der Sternendichte und der allgemeinen Helligkeit – sollte es nicht umgekehrt sein, wenn nun zwei Galaxien denselben Platz einnehmen? Außerdem schien es immer mehr rötliche Sterne zu geben, die hellen weißen tauchten immer seltener in meinem Gesichtsfeld auf. Und immer dunkler wurde es und immer weniger Sterne waren zu sehen. Auch das Band der Milchstraße oder was daraus geworden war, verblasste immer mehr und war irgendwann nicht mehr zu erkennen. Schließlich war der Weltraum ein tiefschwarzer Abgrund, in dem gelegentlich eine kleine rote Sternschnuppe vorüberzuziehen schien. Dann vermeldete Elias: »Wir sind da, das Schiff hat angehalten.«

Einen Unterschied zu vorher konnte ich nicht sehen, da draußen war nur Schwärze. Ich fragte: »Und wo sind wir? Ich kann da draußen nichts sehen.«

»Moment, ich schalte unsere Sicht auf Mixed Reality um.«

Jetzt erschienen in der Dunkelheit winzige blaue Kugeln, die sich in einem kompliziert aussehenden Reigen auf verschlungenen Pfaden gegenseitig umkreisten. Etwas abseits waren mehrere grüne Ringe und dahinter eine langgestreckte Gitterstruktur zu sehen, ebenfalls in Grün. Zahlreiche weitere grüne Punkte waren zu sehn, sowie gelbe Punkte, die sich dazwischen hin und her bewegten.

»Die blauen Kugeln sind Schwarze Löcher. Ihre Position wird künstlich ins Sichtfeld eingeblendet. Sehen kann man sie nicht, denn dieser Bereich des Raums enthält so gut wie keinen Staub und kein Gas mehr und gefüttert werden die Löcher jetzt auch nicht mehr. Und ein Schwarzes Loch, das keine Materie verschluckt, ist einfach nur schwarz. Ach, und unsere Zeitwahrnehmung ist immer noch verlangsamt, damit wir die Bewegung der Schwarzen Löcher besser sehen können. Im entscheidenden Moment werden wir unsere Wahrnehmung sogar über das normale Maß hinaus beschleunigen, um alle Details mitzukriegen.«

Ich betrachtete die tanzenden blauen Kugeln. Mir fiel auf, dass sich einige Kugeln zu Paaren zusammengefunden hatten, die alle mit der gleichen Geschwindigkeit umeinander kreisten, wie zum Takt einer kosmischen Walzermusik. In meinem Kopf stellte ich mir eine passende Musik vor. Nach einer Weile schien aber der Takt nicht mehr zu stimmen. »Ändert sich gerade unsere Zeitwahrnehmung, oder werden die Schwarzen Löcher schneller?«

»Gut beobachtet! Die Paare strahlen beim Umkreisen Gravitationswellen ab und verlieren dadurch Energie. Dadurch kommen sie sich immer näher und kreisen immer schneller umeinander. Jetzt dauert es nicht mehr lang, und sie werden kollidieren, und zwar alle im selben Moment.«

»Aha, so erschafft ihr also ein Wurmloch.«

»Nein, das ist nur ein Teil des Prozesses, wenn auch der aufwendigste. Es geht darum, die bei der Kollision entstehenden Gravitationswellen mit Gravitationslinsen so zu fokussieren, dass für einen kurzen Moment eine extreme Raumkrümmung entsteht – so ähnlich, wie in einem rotierenden Schwarzen Loch, nur außerhalb und ohne störenden Ereignishorizont. Und in genau diesem Moment wird hier ein Projektil eintreffen, nennen wir es mal Urknallbombe, das aus dieser extremen Krümmung einen permanenten Tunnel in der Raumzeit macht und darin den Urknall startet. Es hat Milliarden Jahre gedauert, um all diese Schwarzen Löcher hierher zu bringen, sie auf die richtige Masse anzufüttern und sie in die richtige Rotation zu versetzen. Gut, das Ganze ist einfache Himmelsmechanik, und wenn man genügend Zeit hat, können kleinste Effekte am Ende gewaltige Auswirkungen haben. Dennoch hat es all unsere Ressourcen verbraucht. Ein zweites Mal könnten wir so etwas nicht mehr machen, es ist einfach nicht mehr genug Material und Energie übrig. Das heißt, wir haben nur einen Versuch. Wenn dabei irgendwas schiefgeht, dann war’s das mit dem Universum.«

Das klang nicht sehr beruhigend. Ich fragte: »Was genau kann denn alles schiefgehen?«

»So manches. Siehst du diese lange Gitterstruktur? Hier wird die wichtigste Komponente zusammengestellt und abgeschossen – die gerade erwähnte Urknallbombe. Es ist natürlich nicht einfach eine Bombe, sie besteht aus einer Reihe von Schichten, wobei jede eine spezielle Funktion hat. Zum Teil kommt auch eine exotische Form von Materie zum Einsatz. Einige der Bestandteile sind so instabil, dass sie erst im letzten Moment hergestellt und hinzugefügt werden müssen.

Am instabilsten ist dabei das falsche Vakuum. Es handelt sich um eine metastabile, sehr energiereiche Form des Vakuums. Hier reicht ein kurzer Kontakt mit dem wahren Vakuum, um einen Phasenübergang auszulösen. Dabei geht es in das wahre Vakuum über und die innewohnende Energie wird freigesetzt. Einerseits ist das ganz gut so, denn das falsche Vakuum wirkt antigravitativ und bläht den Raum, den es einnimmt, mit exponentieller Geschwindigkeit auf. Würde es nicht sofort zerfallen, würde es unser Universum förmlich zerreißen.«

Das erinnerte mich sofort an die Theorie der kosmischen Inflation. »Ah, ich verstehe. Damit soll im neuen Universum die Inflationsphase gestartet werden.«

»Richtig. Hier, diese grünen Ringe, das sind Teilchenbeschleuniger. Jeder davon hat den Durchmesser der Merkurbahn. Zum berechneten Zeitpunkt feuern alle gleichzeitig ein Teilchenpaket mit enormer Energie auf die Stelle, an der das Wurmloch entstehen soll. Die dabei erzeugte Energiedichte reicht aus, damit das falsche Vakuum entstehen kann. Wichtig ist dabei, dass das erst geschieht, wenn sich das Wurmloch bereits gebildet hat. Nur so kann ein Kontakt mit unserem wahren Vakuum verhindert werden. Das falsche Vakuum bläht den Wurmlochausgang dann zu einem richtigen Kosmos auf, der sich exponentiell ausdehnt. Jetzt hat die Urknallbombe noch eine letzte Aufgabe. Nach einer exakt bemessenen Zeitspanne muss sie das Wurmloch weiten und das falsche Vakuum so in Kontakt mit unserem Universum bringen. Wie ein Kristallisationskeim wird dadurch der Vakuumzerfall ausgelöst, der sich dann mit Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen ausdehnt. Und da die Energiedichte des falschen Vakuums eine Konstante ist, das Volumen sich aber extrem vergrößert hat, wird dadurch genug Energie frei, um all die Materie für alle Galaxien des Universums zu erzeugen.

Das klingt zwar nach einer Verletzung des Energieerhaltungssatzes, aber wie du weißt, gilt der nicht für das Universum selbst, jedenfalls nicht für ein expandierendes Universum. So kann mit der vergleichsweise geringen Energie der Ringbeschleuniger ein ganzes Universum entstehen. Ach, und was auch noch wichtig ist, dieser Kristallisationskeim trägt auch bereits eine winzige Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie in sich. Nur so wird verhindert, dass in der Paarauslöschungsphase sämtliche Materie zerstrahlt wird – andernfalls hätten wir ein Universum voller Strahlung, aber ohne Sterne.

Was kann also schiefgehen? Keine Komponente darf im entscheidenden Moment ausfallen, der Zeitplan muss exakt eingehalten werden, nichts Unerwartetes darf geschehen. Und auch die Zeitverzögerung bis zum Start des Vakuumzerfalls muss genau stimmen. Passiert das zu früh, ist das Universum nicht groß genug. Passiert es zu spät, könnte es zu einem spontanen Phasenübergang kommen, der aber höchstwahrscheinlich zu einem anderen Zustand führen würde, so dass das Universum andere Eigenschaften und andere Naturkonstanten hätte und somit lebensfeindlich wäre. Oder das Universum schnürt sich komplett ab und wir haben keinen Zugang mehr zu ihm.«

»Und ich nehme an, es gab vorher keinen Probelauf?«

»Natürlich nicht. Sicher, die einzelnen Komponenten wurden wieder und wieder getestet, es gibt gewisse Redundanzen, und automatische Regelsysteme können Abweichungen noch im letzen Moment korrigieren. Nur bei den Schwarzen Löchern lässt sich nichts mehr korrigieren, aber die spulen wie ein Uhrwerk ihr Programm ab, vollkommen präzise, exakt nach den Gesetzen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Hier ist eigentlich keine Überraschung zu erwarten.«

Nun, ich hoffte mal, die Konstrukteure wussten genau, was sie da taten. Aber dennoch kam mir das Ganze recht riskant vor. »Und was ist, wenn doch etwas schief geht?«

»Da wir das Ganze nicht wiederholen könnten, hätte unser Universum keinen Urknall, keine Inflationsphase, keine Materie, einfach gar nichts. Da wir aber existieren, kann das nur bedeuten, es wird alles genau so funktionieren wie berechnet. Wir haben uns große Mühe gegeben, die Erfolgswahrscheinlichkeit so hoch wie nur möglich zu treiben. Das genügt. Das Quäntchen Glück, das dann noch nötig ist, ist dann garantiert. Aber Mühe mussten wir uns geben, denn die Wahrscheinlichkeit eines Universums ist das Produkt aller Einzelwahrscheinlichkeiten, wie ich dir bereits erklärt habe.«

»Ja, hast du. Aber gerade frage ich mich – Wahrscheinlichkeit hat doch etwas mit Zufall zu tun. Ich dachte, echten Zufall könnte es nicht geben.«

»Stimmt, in einer mathematisch exakt definierten Universumstheorie kann es keinen Zufall geben. Wenn es aber eine Bewertungsfunktion gibt, die auch die Wahrscheinlichkeit berücksichtigt und es eine Instanz gibt, die nur das eine Optimum dieser Bewertungsfunktion akzeptiert, ist der Zufall eliminiert.«

»Der Hüter des Wissens«, murmelte ich verstehend.

»Unter anderem, ja.«

Ich schaute nach oben. Die Lochpaare schienen gerade immer schneller und schneller umeinander zu kreisen.

»Achtung, gleich passiert es! Ich beschleunige mal unsere Wahrnehmung.« Elias hantierte an der Konsole und das Kreiseln wurde sehr viel langsamer.

Jetzt konnte ich sehen, wie sich aus der Gitterstruktur ein gelber Punkt löste und sich auf das Zentrum der Löcher zu bewegte. Plötzlich erfüllte sich das ganze Gesichtsfeld mit einem blassroten Linienmuster, das in der Nähe der Löcher heller wirkte und im Rhythmus der Umkreisungen waberte. Das musste eine Visualisierung der Raumkrümmung oder der Gravitationswellen sein – wahrscheinlich beides. Das Wabern wurde schneller, und dann trat aus den grünen Ringen jeweils ein gelber Punkt aus – das musste der Marker für das Teilchenpaket aus den Beschleunigern sein. Sie bewegten sich mit hoher Geschwindigkeit auf das Zentrum zu. Gleichzeitig wurde das Wabern der Linien immer heftiger, die Linien verdichteten sich zu Schockwellen, während der Tanz der Lochpaare immer heftiger wurde und plötzlich mit einem roten Aufblitzen purer Gravitationsenergie verschmolzen.

Ich wusste, dass die verschmolzenen Löcher gerade einen beträchtlichen Teil ihrer Masse eingebüßt hatten, Masse, die nun in Gravitationswellenenergie umgewandelt wurde und die Raumzeit zum Erbeben brachte. Die dabei ausgelösten Schockwellen wurden von anderen Schwarzen Löchern, die als Gravitationslinsen fungierten, umgeleitet und auf das Zentrum fokussiert. Dort trafen die roten Schockwellen schließlich ein, und zwar im dem Moment, als alle gelben Punkte sich im diesem Zentrum zu einem einzigen Punkt vereinigten. Ein weißes Aufblitzen im optischen Bereich, dann war wieder Dunkelheit. Hat es funktioniert? Ist es bereits geschehen? Ich wollte Elias fragen, aber da erschien in der Darstellung im Zentrum eine kleine violette Kugel. »Diese lila Kugel, ist das …«, begann ich fragend.

»Das Wurmloch!«, ergänzte Elias. »Wir haben ein Wurmloch.«

»Wow, dann hat es wirklich funktioniert.«

»Nun ja, das Wurmloch ist da, und es ist stabil. Was aber dahinter ist, können wir derzeit noch nicht sagen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Copyright © 2023 Ronald Streibel, Nelkenstr. 7, 73563 Mögglingen, streibel@proton.me
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2023
ISBN: 978-3-7554-4012-3

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