Ehrlichkeit
von Walter Gerten
© 2022 Walter Gerten.
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Autor: Walter Gerten
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Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2022 Walter Gerten
Der Autor:
Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.
Weitere Romane:
Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan
Die Sternenbücher 11 Das Ubewu
Die Sternenbücher 12 Ich und Es
Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern
Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit
Die Sternenbücher 15 Selbst Ich
Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden
Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT
Die Sternenbücher 18 Marielle
Die Sternenbücher 19 Arkadien
Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer
Die philosophischen Romane:
Lust
Pilgern
Scheitern
Irritation
Ehrlichkeit
Stille
Sie nennt sich „die Tafelrunde“ und ist doch nur eine lose Gemeinschaft, die von einer langen Freundschaft füreinander geprägt ist. Und Prägung ist irgendwann durch beiläufige Umstände zum Thema der Gespräche, der Gefühle und auch der Handlungen geworden. Prägung oder Ehrlichkeit, den eigenen Antrieben gegenüber – schließt sich das nicht gegenseitig aus, fragt man sich? Und so nagt der Verdacht, der Zweifel, an der Aufrichtigkeit, der eigenen und der anderen. Ist es Reinheit oder ist es Gewohnheit, Eitelkeit, Musterhaftigkeit, die an der Tafelrunde zirkuliert? Und so zerfällt die Runde, verteilt sich im Unauffindbaren, wandert davon und folgt der Zentrifugalkraft. Doch im Inneren lebt sie weiter und tagt an der Tafel, sehnt sich nach der Wiedervereinigung. Doch wo soll man suchen?
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.
I M P R E S S U M
Das Buch
Inhalt
10. Jochen
Sengende Hitze lag über dem Garten. Aber er wollte noch die erste Etappe der Arbeiten abschließen, auch wenn es nur provisorisch sein würde. Sobald er den spärlichen Schatten verlassen musste und die Glut der Sonne auf seinem Rücken spürte, wurden ihm die körperlichen Grenzen des Arbeitens unter solchen Bedingungen bewusst.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, damit die salzigen Tropfen nicht in seine Augen rannen. Es war ein tropischer Sommer, wie er bislang nicht üblich gewesen war für diese Region. Doch genau das würde zukünftig zur Regel werden und deshalb bereitete er sich - beziehungsweise den Garten - auf diese Zukunft vor. Man würde bewässern müssen, weit mehr als zurzeit. Ein Gewässer, ein Brunnen, ein Bach, eine Quelle, - all das stand ihm nicht zur Verfügung. Also legte er eine Zisterne an, um den segensreichen Regen dann zu sammeln, wenn er fiel.
Eine muntere Plauder-Runde - das sogenannte innere Gespräch - in seinem Kopf begleitete die Planung und die Arbeit, sorgte für seine Unterhaltung und die Abwägung aller relevanten Argumente. Natürlich war in diesem Gremium des geheimen inneren Parlamentes auch die eine oder andere düstere Zukunftsvision zur Sprache gekommen. Aber dominant waren sie bislang nicht geworden. Wichtiger war die Umsetzung von Vorstellungen, die Berechnung von Kosten, die Bemaßung von Leitungen, die Beschaffung von zusammen passenden Materialien.
Stimmen in seinem Kopf kommentierten seine Gedanken, unterzogen sie einer gnadenlosen Prüfung. Und er wusste, dass sie nicht einmal im Schlaf schweigen würden, wenn er den Kopf auf das heiße Kissen legte, die schmerzenden Handgelenke entspannte, die Arme streckte und mit den Beinen die dünne Decke vom Körper schob, weil sie ihn zu sehr erwärmte. Im Traum kehrte sie wieder, die illustre Runde der Denker und Planer, der Fachkundigen und Dilettanten, der schnellen Schrauber und der routinierten Mahner.
Im Wachbewusstsein bezog er (nennen wir ihn Hagen, weil er von seinen Eltern so genannt worden war) seine Stellung und fällte seine Entscheidungen und dann, wenn er sich belustigt von diesem inneren Gespräch abwandte, dann fiel ihm auf, dass die Bevölkerung seines „Kopfes“ sich auch in ganz anderen Situationen, in völlig unterschiedlichen Momenten und Verläufen an ihrem gewohnten Stammtisch zusammen setzte und ihr Palaver abhielt. Andere Besetzung, andere Themen, andere Randbedingungen, - aber gleiche Arbeitsweise. Hagen und seine geheime Tafelrunde.
Er träumte von einem Badeteich im Garten, von klarem Wasser in ausreichender Menge, von der Kühle des Wassers am Körper, an der Haut. Er imaginierte sich selbst in diesem kleinen Gewässer, sich und seine Frau. Wasser auf erfrischter Haut, die Tropfen glitzernd in der Sonne wie kleine Prismen, die das Licht auffächerten in Gelb und Ultramarin und Purpur. Lässiges Leben neben dem ebenfalls genüsslich räkelnden Körper von Hilda, die ihn anlächelte. Nur eine Imagination.
Hagen musste sich die Kommentare seiner inneren Tafelrunde anhören, wenn er die erotischen Formen badender Frauen bewunderte. Er wollte das nicht, aber es passierte ohne seinen Willen. Er war längst über das Alter hinaus, in dem Körperkonturen bewundert wurden, ohne Abstriche hinzunehmen. Er benötigte keine kritischen Stimmen. Er hatte längst die positive, lyrische Bewertung der realen Bewertung vorgezogen, schwelgte in der Fülle freiwilliger Überbetonung, der Illusion, der sexuellen Phantasie, der befruchtenden Vorstellung. Kurz, er akzeptierte, dass sich auch in Bezug auf sich selbst die Illusion eher lohnte als die krasse, konturierte Realität.
Hagen spürte die bewusst wahrgenommene oder auch unterschwellige Präsenz jener Plauder-Runde, wenn er tat, was immer er auch tat. Sie waren stets dort, die heimlichen Begleiter, die spirituellen Pädagogen. Sie gingen ihm auf die Nerven, wenn sie gegen seinen Willen redeten, wenn sie seine vitale Kraft hinterfragten, seine chaotische Kreativität kritisch bewerteten, seine Sorglosigkeit mit Mahnungen zu bändigen suchten. Sie waren lästig!
Der Garten war die Bühne seiner Aktivität, das Opfer seiner Vorstellungskraft. In der bildnerischen Vorstellung seiner Planung sah er ihn so werden, wie er ihn sich vorstellte. Und Hilda, seine geliebte Frau, war wie er in die Jahre gekommen … Doch noch immer spielte die Erotik eine Rolle in seiner Schaffenskraft. Neu war - und das war ihm bewusst geworden in den Jahrzehnten der Reife - dass sich eine routinierte Gelassenheit dazu gesellt hatte, die alles Schaffen zur reinen Freude machte. Auch darüber wurde diskutiert in seinem inneren Gespräch - kontrovers diskutiert.
Hagen trug den Namen eines Helden. Er hatte seine Mutter nie gefragt, warum sie ihm diesen Namen gegeben hatte, nach dem Krieg. War es der Wunsch nach Helden, die man sich erträumte nach dem grandiosen Desaster? Er wusste es nicht. Jedenfalls waren die inneren Vorgänge, die er seit geraumer Zeit bewusst beobachtete, nicht anders als bei jedem Anderen auch. Vielleicht etwas bewusster, nun, nachdem sie ihm zunehmend auffielen und er ein Augenmerk darauf hatte. Es war seiner Neugier geschuldet, dass er sich damit beschäftigte. Und dem Umstand, dass er wenig Ablenkung hatte.
Natürlich war ihm auch längst jener beängstigende Gedanke gekommen, der wohl ganz unbemerkt die längerfristige Beobachtung eines inneren Gespräches irgendwann begleitet. Die Frage: „Was, wenn es unregelmäßige oder auch fehlerhaft zu nennende Abläufe, Funktionen gäbe? Sind denn die Teilnehmer jener ominösen Tafelrunde unfehlbar? Und wer von ihnen trifft schlussendlich die Entscheidungen?“
Hagen wusste nicht, ob solche Überlegungen auch Andere beschäftigte. Er hatte mit seinen Freunden darüber geredet und man hatte ihn komisch angeschaut. Erst wollten sie ein wenig darüber nachdenken …
Natürlich verknüpfte man mit dieser merkwürdigen Thematik „Realitätsverlust“. Realität war sowieso kein vorrangiges Thema, das ihn beschäftigte. Er hielt es mit Astrid Lindgren und ihrer Romanfigur Pippi Langstrumpf. Für ihn zählte vorrangig seine Vorstellung von lebenswerter Welt. Die Vorstellungswelt war der Quell seiner tagtäglichen Vergnügungen. Er vermutete, dass es in anderen Vorstellungswelten ähnliche Prämissen gab.
Der Garten und seine Möglichkeiten in der hypothetischen Erlebniswelt der Zukunft. Darin nahm das Wasser einen wichtigen Platz ein. Denn ohne Wasser kein Leben, kein Wachstum, kein Lebensraum. Doch es gab darüber hinaus gehende Erwartungen in der Zukunftswelt der Vorstellungen. Abkühlung überhitzter Aktionen in einem Bereich der Regeneration. Ja, das war eine lohnende Vorstellung. Man konnte auf dieser Basis kreativ und tätig werden. Das bestätigte ihm sein innerer Stammtisch relevanter Stimmen. Die Erde und ihre Natur, ihre belebte Natur, war ein schöner Ort und außerdem gab es keinen anderen.
Das Leben hatte noch einige Reize für ihn bereit. Nicht nur die Vorstellung nasser Haut. Auch die weniger auffälligen Attribute des Daseins gliederten sich ein in geschickt gestalteten Genuss. Einen höheren Input erwartete er nicht. Weder träumte er von einer noch zu erwartenden Steigerung des Erlebens, noch von einer höheren Erkenntnis, einer Erleuchtung gar, die den Sinn des Ganzen final ersichtlich machen würde.
All das erachtete Hagen als bereits gegeben, als vorhanden, präsent, dem willigen Menschen zugänglich. Wohl gemerkt begleitet von der Möglichkeit des Irrens, des ungeschickten Verlaufs seines inneren Disputs, den er konstatierte. Um das Potential des Gegebenen auszuschöpfen, bemühte Hagen sich um geschickten Umgang mit seiner Zeit. Doch parallel zu dieser bequemen, verlässlichen Zone des Vertrauens in das eigene Geschick gab es einen Verlauf, der aus einer anderen, unbekannten und beunruhigenden Zone kam. Es war nicht direkt beängstigend, eher kam es ihm vor wie eine Lücke im heimatlichen Weltbild, wie etwas, gegen das man sich wappnen und schützen sollte wie den Garten, der unter der Gluthitze der Sonne verdorren würde.
Es war, wenn er weiter in dieser Richtung dachte, eine Art Gluthauch, ein heißer Atem, ein feuerspeiender Drache, der sich noch nicht bemerkbar gemacht hatte, aber als Vermutung und Sage eine Bedrohung darstellte. Noch gab es für Hagen keinen Anlass, sich damit zu beschäftigen, denn seine Schaffenskraft war groß, seine Vorstellung war präzise und farbig, sein Potenzial schöpfte die Kraft der Kreativität am Brunnen des vitalen Seins, des Lebens.
Sein innerer Dialog, seine Gespräche mit sich selbst kreisten niemals um diese parallele Spur. Es gab zwar einen stummen Teilnehmer an jener Runde in seinem Kopf, der etwas darüber hätte beitragen können, aber er hatte sich nicht gemeldet und niemand hatte ihn aufgefordert. Lag es an einer Ahnung, die zwar schon spürbar war, aber die man noch verdrängen konnte, zugunsten des erfolgreichen Tagesgeschäftes? Hagen jedenfalls wusste darauf keine Antwort. Manchmal, in seinen Träumen, erlebte er fremdartige Szenerien, die er nicht mit seinem Alltagsleben überein bringen konnte. Es waren bedrückende Erlebnisse. Hinter Türen wüteten Unholde, aber sie waren bislang ungesehen, konturlos, unheimlich. Diesseits der Türen bewährten sich die Vorstellungen von Lebensenergie, über die Hagen zu verfügen wähnte in seinen Tagträumen, in seinen Projekten, in den Vorstellungen, die seine Projekte entwarfen, bevor sie entstanden.
An der Tafel des Diskurses wurden die Ziele der Vorstellungen entworfen, immer befeuert vom Potenzial des Lebens, ohne dass Hagen immer teilnahm oder informiert war. Manchmal sah er die Tafelrunde vor sich, hörte die Dialoge, verfolgte die Tendenzen. Meist jedoch wähnte er sich nur in der entscheidenden Rolle des Hierarchen, des Helden, des Machthabers, ohne alles wirklich verfolgt zu haben. Die Tafelrunde mochte lamentieren, - es musste auch Entscheider, EINEN Entscheider geben. So sah es für ihn aus.
Hagen hatte sich als Kind lange gegen seinen unzeitgemäßen Vornahmen gewehrt. Als ihm die Verknüpfung zur germanischen Sagenwelt im Alter von neun Jahren bewusst geworden war, hatte er sich zunächst eine Weile geschmeichelt gefühlt, doch später, nach einer weiteren halben Dekade hatte natürlich der Vergleich mit zeitüblichen Namen eingesetzt und die Frage nach der Motivation zu solcher Benennung. In der Folge wollte er über die unausgesprochenen Erwartungen an einen Sohn namens Hagen nichts mehr wissen und hören und lehnte ihn grundlegend ab.
Es bleibt für den Leser lediglich zu konstatieren, dass es vielleicht (!) Verknüpfungen von Namen und Selbstbildern geben mag, dass man sich aber auf solche Vermutungen nicht verlassen kann. Der Held der Geschichte, Hagen, sah sie nicht. Aber wer war er im Gefüge seiner inneren Tafelrunde? Beobachter, Weisungsgebender, Dulder, Teilnehmer oder eine ganz andere Rolle?
Der Leser wird Hagens Freunde und diverse weitere Personen kennenlernen und er mag sich fragen, ob die Protagonisten dieser merkwürdigen Geschichte denn die Fragestellung unabhängig zu beantworten in der Lage sein werden. Vieles wird nicht wahrgenommen und ist unter Umständen dennoch vorhanden.
Hagen sah vor seinem inneren Auge die Ergebnisse dessen, was er zu tun beabsichtigte. Er begutachtete es gemeinsam mit seiner Tafelrunde im Kopf. Er ging auf Gedanken ein, er erwog die Alternativvorschläge, die sie ersannen. Er probte andere Bilder, verglich Plätze und Ansichten und die Ausführungen der auf ihn zukommenden Arbeiten. Er träumte …
Im Traum war der Garten ein Park, der sich dem flanierenden Gärtner sequenziell öffnete, der Szenerien enthielt und Perspektiven öffnete. Und natürlich war im Traum auch Hagens visueller Geschmack am Werke, wehrte sich gegen Fehlgriffe und allzu mutige Pläne, verteidigte seine Gewohnheiten, zog sich auf die Ästhetik der Hagen-typischen Sehweise zurück. Insgeheim war ihm dabei ein wenig unwohl. Irgendetwas in ihm wusste, dass er es liebte, auf seine Wohlfühlroutine hinaus zu kommen. Und dieses Etwas in ihm, das es wusste - schon im Vorhinein wusste - deutete scheu auf jene noch unbekannte Lücke im wohlbekannten Weltbild, - auf den Drachen und seinen Gluthauch des sengenden Lichtes.
Und Hagen bemerkte sie, die Lücke.
Einer seiner Freunde war eines Tages zu Besuch und Hagen erläuterte ihm seine Pläne der Wasserwelt im Garten. Jener Freund, (nennen wir ihn Jochen), verstand sofort die Sichtweise und ihren Bezug zu Wahrnehmungsmustern. Jochen war Akustiker, Musiker, Tontechniker, „Hörer“. Und er bestätigte, dass im akustischen Raum vergleichbare Phänomene auftraten wie im optischen Raum.
„Es gibt den Rückzug der Hörer auf Gewohnheiten, auf das Bekannte“, sagte er, „es ist das Muster, das zuverlässig die Sicherheit des zu Erwartenden dem Unbekannten vorzieht.“
Jochen sprach von Signalketten, von Filtern, die das ursprüngliche akustische Geschehen veränderten, die Musik beeinträchtigten und vom direkten Erlebnis der Wellen und Frequenzen trennten, indem sie es ergänzten oder reduzierten, verzerrten oder komprimierten.
„Die Ehrlichkeit gegenüber dem, was zu hören ist, ist unabdinglich, wenn man sich nichts vormachen will!“
„Was meinst du denn damit, Jochen? Was ist denn die akustische Ehrlichkeit, wenn es denn eine solche gibt?“
„Du darfst dabei nicht mit deinen Erwartungen heran gehen. Das Hören nur dessen, was man zu hören erwartet, ist ein selektiver Filter, der Dinge ausblendet, indem er eigene Vorstellungen beim Hören wirksamer macht als das Hörspektrum selbst!“
„Das verstehe ich! Beim Sehen ist es ähnlich. Selektives Sehen ist eine Wahrnehmung, die dem eigenen Auge schmeichelt, statt es mit der harten Helligkeit zu konfrontieren. Ein vertrocknetes Blatt am Zweig kann traurig oder attraktiv sein, je nach dem, was man darin sieht. Jedoch gibt es ja stets die Möglichkeit, sich nicht schon beim Hinschauen zu entscheiden, was daran man sieht und was man übersieht.“
Jochen dachte nach und auch Hagen wusste, dass er den fraglichen Umstand, den er hatte verdeutlichen wollen, nicht wirklich gut beschrieben hatte.
Auch für den Leser mag es eine merkwürdige Thematik sein, die durch die Hintertür einer mäßig spannenden Konstellation der Geschichte sichtbar wird. Ob es wirklich Menschen gibt, die über derartige Themen zu kommunizieren versuchen? Und was war noch einmal der Inhalt des Themas? Selektives Hören und Sehen?
Doch! Das ist ganz gebräuchlich und üblich. Und tatsächlich steht das durchaus hin und wieder hinderlich im Weg.
„Ach so, du meinst die Möglichkeit, dass die ehrliche Reinheit der Wahrnehmung gänzlich unbekannt sei? Du bist immer noch der ängstliche Novize im Becken mit den Freischwimmern, Hagen. Du solltest gegen deine Dämonen kämpfen und die Oberhand gewinnen! Du hast doch gute Anlagen! Deine Ideen haben Potential und dein Geschmack ist ganz o.k. Trau dich und geh‘ es an!“
„Ach Jochen! Du hast es nicht verstanden. Liegt wohl an der Schwierigkeit, es verständlich zu machen. Mein Fehler! Versuch Nummer zwei: Wenn ich immer nur mich selbst hören und sehen will, dann ist das eine leichte Übung. Man tut es schon immer. Aber dieses
„Sag mir, wie ich dir helfen kann, Hagen. Du leidest unter Luxusproblemen. Wer würde sich beklagen, wenn er du wäre?“
Hagen verlor langsam seinen Fokus auf den Drachen, der mit blinzelnden Augen durch einen Spalt im Himmel herabschaute und seine Chancen abzuschätzen versuchte. Nein, ein scheues Zeitfenster schloss sich und zurück blieb das Strickwerk tauglicher Worte und Begriffe, das Gewebe Verflechtung suchender Stimmen und Personen. Sie mühten sich um einen Bahnhof, in dem die Gleise zusammen führten und die Emotionen sich trafen. Der Drache schloss sein Spaltauge und seufzte, zog die Lefzen hoch zu einem gutwilligen Lächeln und stob davon in die unbekannten Weiten des Firmamentes. Cirruswolken flossen in hauchfeinen Mäandern aufwärts, Wellen feuchter Wolken sammelten sich in himmlischen Ebenen, verdrehten sich vertikal und in der klaren Höhe zeigten sich die Muster der Atmosphäre. Die Grenze der Erde bildete sich so ab, wie es den tieferen Schichten natürlich und zugänglich war: in den Bildern strömender Medien. Jedes Wesen war in solchen Strömungen unterwegs und der Drache, der soeben noch verstört einen Riss darin gesehen hatte, wendete mit einem Schlag seines langen Schwanzes die Flugrichtung und zog seine üblichen Bahnen durch das blaue Gewölbe. - Menschendenken -, dachte er und gähnte …
Nun mag die Verwirrung komplett sein und das Gewohnte, das Heimatgefühl der Wiedererkennung, sieht sich einer Fremdheit gegenüber, die man zu leugnen ebenfalls gewohnt ist. Jener Drache, - er ist nicht existent!
Hagen ging seine erprobten Wege ehrlicher Tätigkeit. Seine Vorstellung war die richtige. Sie führte ihn zu einer sauberen Umsetzung der wasserführenden Aspekte des Gartens. Die Lust, die er durch die Arbeit erfuhr, ergötzte ihn und die Ergebnisse entsprachen seinen Erwartungen, weil er sich redliche Mühe gab. Er arbeitete hart und konsequent. Er grub und schaufelte. Er nivellierte und füllte auf, er trug ab und gestaltete Übergänge. Er installierte und restaurierte, verband und kombinierte. Er fühlte die Materie sich der flüchtigen Vorstellung angleichen und dann …
Dann sah er sich seiner Befriedigung gegenüber, der Antwort auf Sehnsucht und der Freude durch Bestätigung. Was kümmerte ihn ein fraglicher Drache hinter einem fraglichen Spalt?
Sich selbst wiederzuerkennen in den Taten, die man geplant, durchgeführt, genossen und gewertet hatte - gut bewertet und bestätigt gefunden hatte in den eigenen und anderen Reaktionen - das war die Erfüllung, auch wenn sie nicht durch klingende Münze untermalt wurde.
Es bedurfte eines Helden, um solche glatten Verläufe zu gestalten. Das wusste Hagen. Seine Eltern hatten ihm diesen Anspruch mitgegeben. Sein Selbstverständnis war dort verankert, in dieser sicheren Bucht. Er wusste sich in guter, ja besserer Gesellschaft. Kreative Menschen wie er. Er gab sich dem Zweifel, dort richtig beheimatet und verortet zu sein, nicht hin. Keineswegs! Intelligenz und Schaffensfreude waren ein untrüglicher Hinweis auf die Qualität dieser Gemeinschaft. Das Lob mochte nicht im öffentlichen Raum stattfinden, dazu war Hagen ein zu partiell agierender Held. Aber es genügte der vor Ort vorhandene, nun einmal doch sehr private Rahmen!
Jochen hatte bei seinem nächstfolgenden Besuch die höchste Bestätigung und Bewunderung formuliert. Hilda und Jochens Frau Tina bestätigten die Einschätzung und Hagen nahm sie für das, was sie war: ehrlich!
Hier mag dem Leser die Sache zu bunt werden. Ein Held, der insgeheim durch die laufende Erzählung den Eindruck von versteckten Selbstzweifeln hinterlässt. Eine Geschichte, die bislang halbwegs inhaltsleer erscheint, ein Spannungsbogen, der sich auf etwas aufbaut, das noch nicht greifbar ist, eine Aussicht, dass dieses langweilige philosophische Sujet möglicherweise irgendwann deutlicher und konturierter sein mag, - genügt das für eine milde Spannung, die das Weiterlesen rechtfertigt?
Ja, der Protagonist ist unbeeindruckt von den Fährnissen des Lesers. Ihm ist es egal, was jener denkt, denn seine Progression ist unabdinglich vorgegeben. Ohne Progression ist das Leben langweilig! Und nicht nur jener Hagen hat ein Techtelmechtel mit einem ominösen Drachen. Auch der normale Leser, der intelligente Mitdenker, hat einen solchen Drachen längst registriert, einen geheimen Part im inneren Dialog. Das Gespräch, das dort stattfindet, hat längst, vor Urzeiten, seinen Weg in die „reale“ Welt gefunden und begleitet uns seitdem durch alles, was unser Alltag, unser Wünschen und Wollen und unsere Träume gestaltet.
Hagen ist nur ein Schauplatz unter vielen, auf denen diese Muster und Mechanismen agieren. Doch sein Traum, sein unmaßgeblicher Wille, mag beispielhaft illustrieren, was geschieht. Er selbst würde andere Antworten und Vorstellungen äußern und auch Jochen hatte eigene Bilder im Kopf, als er von der „Ehrlichkeit“ gegenüber dem sprach, was zu hören sei.
Jochen dachte, es sei möglich, die Hörmuster zu „hinterhören“. Hagen verstand nicht, worüber Jochen redete, ahnte aber, dass ein gewisser Ernst damit verbunden war und reagierte sympathisch darauf. Er liebte ernsthafte Ehrlichkeit. Doch die Geschehnisse im akustischen Raum - er verglich sie intuitiv mit den Cirruswolken, die er beobachtet hatte – sie kamen ihm vor wie beliebige andere Geschehnisse in anderen Räumen oder Momenten. Alles war von dem, der es wahrnahm, in irgendeiner Weise beeinflusst. Da sah er auch spontan keine Chance für eine „Ehrlichkeit“.
Jochen und Hagen verbrachten einige Zeit damit, die Projekte im Garten zu besprechen und viele Querverbindungen zu Jochens Tätigkeiten taten sich auf und wurden ebenfalls diskutiert. Die haarfeinen Wolken hoch oben in der Stratosphäre hatten sich aufgelöst. Ihre Formen, die Hagen in ihren Bann geschlagen hatten für einen erquicklichen Moment, waren verschwunden. Klare Farben strahlten, stetiger Wind vertrieb die Hoffnung auf Regen, auf ein Ende der langen Hitzewelle. Jochen setzte sich auf eine Bank oberhalb des parkartigen Geländes und betrachtete die verdorrte Grasdecke und ihren farblichen Kontrast zu den blühenden Stauden in den Beeten,
„Musik!“, sagte er, „Musik aus Farben! Auch Licht und seine unterschiedlichen Bereiche bestehen aus Frequenzen. Wir nehmen sie wahr und verbinden damit Erinnerungen und Gefühle. Auch das sind Muster, die wir lieben.“
Hagen empfand einen gewissen Überdruss an Jochens Analysen. Er war abgelenkt von seinen eigenen Gedanken an die Projekte, die er noch verfolgte. Seine Vorstellungskraft sehnte sich nach ihrem Betätigungsfeld in diesen Projekten. Sie verlangte nach Konzentration, um exakte Vorstellungen zu entwickeln, nicht nach Ablenkung. Doch natürlich war es unumgänglich, Jochen zuzuhören und seine Gedanken zu begleiten. Immerhin waren sie Freunde. Beiden war an ihrer Freundschaft gelegen. Und so neigte sich dieser Tag dennoch harmonisch, in einer gelassenen Atmosphäre von vergehendem Licht, das mild und gelblich den Himmel in der Ferne verfärbte. Die Gedanken der Freunde sanken hinab in gravitätische Tiefen, lösten sich vom Tagesgeschäft und reicherten sich mit Emotionen und Erinnerungen an, so wie es abends unter solchen Bedingungen ihre Art war.
Jochen ahnte, dass er sich am Rande des Verständlichen befand und sah Hagen fragend an. Dieser hob die Augenbrauen, zweifelnd, nachdenklich. Es gab Strategien, mit unklaren Situationen umzugehen, - das wusste er. Man konnte bestätigen. Man konnte die Rolle des verständnisvollen und kundigen Partners spielen und bestätigend nicken. Man konnte auch durchaus ein vorsichtiges „Aber“ anfügen, um die Linie weiterzuführen und eigene Aspekte einzubringen. Es gab Strategien, um die Thematik in eigene Gefilde zu lenken. Man musste deswegen nicht kontrovers antworten. Aber auch die Kontroverse mochte je nach Stimmung eine gute Strategie sein, um die Lunte am Brennen zu halten. Alles war offen …
Hilda brachte Gläser und Wein. Sie und Tina setzten sich zu den Freunden und fragten nach dem Inhalt ihres Gesprächs. Nach einer Weile des Schweigens sagte Hagen:
„Es geht um Ehrlichkeit.“ Und Jochen ergänzte:
„Oder um gewohnte Muster.“
„Verhaltensmuster?“
„Ja!“
„Ach, und das schließt sich aus?“
„Nicht zwangsläufig. Es handelt sich eher um die Frage, ob es Ehrlichkeit gibt, oder ob man nur ausschließlich Muster sieht.“
„In diesem Fall gäbe es keine Ehrlichkeit. Man würde ja nur immer sich selbst sehen. Das wäre wie ein Spiegel. Unmittelbare Wahrnehmung würde nicht stattfinden. Man könnte nichts aussagen, außer der eigenen Vorliebe. Meint ihr das so?“
„Exakt!“ Jochen seufzte. Hagen verstand, dass er, als er gekommen war, das Gegenteil hatte sagen wollen. Doch noch gab es dazu keine abschließende Ansicht. Hagen seufzte ebenfalls und Hilda sah die Beiden verwundert an. Insgeheim mochte sie solche Stimmungen nicht. Sie hatten eine Anmutung von Tiefe, waren aber meist belastend, schwer, - zu schwer für ein Wohlgefühl.
Hilda lag nackt an einem Flussufer, das sich idyllisch in die Ferne zog, umsäumt von malerischen Kopfweiden und sanften Auwiesen. Im Traum sah sie ihren nackten Busen, wie er sich weiß und schön vom grün-flimmernden Hintergrund abhob in der Schwüle des Tages. Schweißperlen rannen schillernd ihren Hals hinab über die Brust, während sich die Szenerie des
Traumes noch weiter entfaltete. Ihre völlige Blöße störte sie nicht. Im Gegenteil, - die lustvolle Nacktheit war Teil der Botschaft, die aus unergründlichen Tiefen ihres Lebens die Nacht zur Bühne machte.
Hilda wälzte sich in ihrem Bett, stauchte das Kopfkissen im Schlaf und schob mit den Beinen die dünne Decke von der Haut. Sie fühlt am Ufer des spiegelglatten Wassers nach und nach andere Schauspieler auf der Bühne des Theaters, das ihr das träumende Panoptikum bereitet hatte. Zu ihren Füssen lag ein Hirsch im Gras. Friedlich und unaufgeregt streckte er die Hinterläufe und hob witternd die Nüstern in die laue Luft. Seine Zunge schob sich vor und prüfte einen Duft, der ihn erregte, der ihn alarmierte.
Hilda hielt sich an einem Bäumchen fest, zog sich ein wenig hinauf, bis ihr Oberkörper einen gewissen Überblick über die Lage erlaubte. Weich und überaus zart verschmolz in weiter Entfernung das Land mit der Luft. Ein Hauch von Kindheitsmärchen wehte von dort heran und entzündete eine Sehnsucht, die ihr fast die Tränen in die Augen trieb. Verheißungsvolle Erfüllung sättigte den Abendwind und es war keine Aufregung, die ihn erfüllte, sondern überaus endlose Gelassenheit, völlige Übereinstimmung mit dem Gegebenen.
Alles diente im Traum dieser Empfindung von perfekter Genugtuung ohne weiteres Sehnen. Alles war da, was Hilda sich hätte ersehnen mögen. Unverblümt lagerte sie in paradiesischer Unschuld inmitten der idealisierten Umgebung dessen, was sie rückhaltlos liebte. Und noch mehr: Offenbar hatte ein gewiss unverdächtiges Tier wie jener Hirsch ihren Duft nach Geschlecht und Fülle erwittert und geschmeckt und ein weiteres Wesen war ebenfalls deswegen auf den Plan getreten. Sie hatte ihn nicht gleich als solchen erkannt, - im Traum. Er war verfremdet, einer Symbolik angepasst, die sich als Trick der Traumsequenz herausstellte, als sie ihn erkannte. Aus zunächst unerfindlichen Gründen war er winzig klein, - Hagen.
Mit vorgestreckter Brust stand er auf ihrer kecken Hüfte. Wie Napoleon trug er einen Dreispitz auf dem Kopf. Ansonsten war er ebenfalls nackt. Hilda wollte seinen Penis betrachten, aber er deckte ihn mit der rechten Hand ab, der kleine Eroberer. Alles in allem war er von der Körpergröße gesehen nicht viel mehr als ein Eichhörnchen, aber die Körpersprache war eindeutig wichtiger, beeindruckender, selbstbewusster.
Und tatsächlich hielt er in der linken Hand eine Art Kette, ein Schmuckstück, eine Halskette aus goldenen Ringen und Perlen, die - sie konstatierte es mit Gleichmut - sich mit ihrem anderen Ende um ihren Hals schlang wie ein Zügel. Hilda bemerkte, dass von jenem Bäumchen, an das sie sich anlehnte, eine erkleckliche Anzahl angebissener Äpfel herab gefallen war. Ein Mäuschen machte sich bereits über die Batzen her und Insekten umschwirrten die übrigen. Äpfel? Waren sie nicht ein Urelement, das sich zwischen Mann und Frau befand? Auch das ein Symbol, - ganz gewiss. Die Versuchung. Das Angebot, die verbotene Frucht der Bibel. Das Weib, - der Mann. Die Wechselwirkung.
Natürlich war Hilda sich der Bedeutung des Traumes nur bruchstückhaft bewusst, während sie ihn träumte. Dafür war die darin enthaltene Symbolik zu komplex. Das zuständige Segment für Träume hatte dennoch seine Kreativität völlig ausgespielt und ein eindrucksvolles Werk entworfen, das seine Wirksamkeit bis in Hildas Wachzustand hinein ausübte. Sie erinnerte sich nächsten Tages an diverse - nicht alle - Einzelheiten und fügte Bedeutungen und Muster zusammen. Goldene Halsketten waren Versuche der Bindung. Körpergrößen waren Wichtigkeiten, die variabel waren. Lust war Verlangen und Vorstellung von Erfüllung. Reize waren Angebote, Bindemittel, Vertraulichkeiten. Liebe war Verständnis, Zutrauen, wohlmeinende Lust aneinander.
Dann vergaß sie alles, was auf geheimnisvolle Weise Sinn ergab. Was blieb, war am nächsten Tag ein Gefühl von Fülle und Freude und Verständnis. Und auch von Verstehen. Denn obwohl sie es nicht wusste, - eine Botschaft des Traumes war verstanden worden, irgendwo in ihr. Sie sah nun Hagens Bemühungen um den gemeinsamen Garten in einem anderen Licht. Es handelte sich um eine liebevoll geknüpfte Halskette, die lustvolles Glitzern ausstrahlte in ihren vielen Gliedern. Wie sie sich selbst erlebt hatte in ihrem Traum, das blieb als Hintergrundbild unbemerkt bestehen, während sie mit Hagen im Garten stand und diverse Fragen durchdachte. Und auch als Jochen und Tina kamen, um ihre Hilfe anzubieten, schwang ein Echo aus bedeutungsschwangerer Vision über die Stauden und Gräser.
Sie ertappte sich dabei, während sie mit Tina die geplante Größe der Wasserfläche mit dem Platzangebot verglich, dass sie sich selbst formatfüllend am Rand dieser Vorstellung liegen sah, nackt und feucht im Gras, verträumt einen Apfel anbeißend und sehnsüchtig nach Hagen Ausschau haltend, der wie ein Miniatur-Napoleon das Ufer abschritt. Seine bloßen Beine steckten in schweren Stiefeln, sein Geschlecht deckte er galant mit einer Hand ab und mit der anderen hielt er sein einziges Kleidungsstück, den dreispitzigen Hut auf dem Kopf. Eine funkelnde Kette glitt zwischen seinen Fingern hervor, verlor sich im Gras und tauchte zwischen den grünen Halmen wieder auf, ganz in der Nähe von Hildas braungebranntem Hals.
Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, konzentrierte sich auf Tina und sagte:
„Nein, so groß wird das nicht. Wir denken an ein ganz kleines Becken, gerade ausreichend für eine Abkühlung an heißen Tagen wie diesen.“
„Ach so.“
„Ja, mehr nicht. Wir wollen kein Schwimmbecken bauen; nicht dass du das denkst! Nur eine Möglichkeit, sich ins Wasser zu legen. Und eine Dusche, eine Gartendusche.“
Tina sah sie augenzwinkernd an.
„Und dann lauft ihr hier nackt herum in eurem Garten?“
Hilda errötete und lenkte ab. Sie deutete auf Hagen und Jochen. Sie waren in eine Debatte um Wasserleitungen, Verbindungselemente, Gewindegrößen und Abdichtung vertieft.
„Nun sieh dir Hagen an, Tina. Sieht er mit seinem strengen Blick, der in die Zukunft zu schauen scheint und seinem merkwürdigen Hut nicht aus wie Napoleon?“
„Ja, du hast recht. Diese Mütze sieht von hier aus gesehen wie der typische Dreispitz aus, den man im Karneval manchmal sieht. Komisch, was? Dabei ist es ja nur eine Mütze, aber von der Seite …“
Jochen drehte sich zu ihnen um und lächelte, als er bemerkte, dass die beiden Frauen sie beobachteten. Hilda sah zu Boden, erinnerte sich an den witternden Hirsch in ihrem Traum, der mit geblähten Nüstern und der langen Zunge einen aufregenden Duft erfasst hatte, eine weibliche Note, eine Spur von sexueller Bereitschaft. Sie hakte sich bei Tina unter und zog sie weiter, hin zu den blühenden Staudenbeeten.
„Ja, warum nicht?“, sagte sie.
„Was?“
„Nun, - nackt!“
Tina sah sie grinsend an.
„Natürlich! Warum nicht?“
Während sie die Blumen betrachteten und über die verschiedenen Arten, ihre Aussaat, ihre Pflege und ihre Vorlieben sprachen, wanderten Hildas Gedanken immer wieder ab und drifteten zu der Erinnerung an den Traum. Getragen war er von einer erotischen Grundstimmung und einer Vielzahl symbolischer Dinge und Handlungen, die Bedeutungen transportierten. Nach und nach wurden diese Aspekte konturierter und deutlicher, zahlreicher, verständlicher.
War es nicht das alte Spiel zwischen Mann und Frau, das schon Adam und Eva im Garten des Paradieses gespielt hatten? Die Versuchung, die Erregung, die Rollenspiele, die Liebe, die Genugtuung durch Liebe? Waren nicht die vielen Äpfel vom Baum der Erkenntnis im Traum nutzlos und angebissen im Gras gelegen? Hatte sich nicht gar ein Mäuschen daran gütlich getan und die Kerne heraus genagt? Und die Schlange … Hilda erinnerte sich an ein Detail, das überaus merkwürdig und doch bedeutsam war. Die Schlange hatte auf dem Kopf einen Schlüssel, mit dem man sie aufziehen und in Bewegung setzen konnte. Auch sonst sah sie eher mechanisch und wie ein Spielzeug aus. Sie ließ sich zum Spielen aufziehen und aktvieren. Ein Kinderspielzeug.
„Was ist los, Hilda, Liebe?“ Tina zog sie am Arm. „Hast du nicht verstanden? Ich fragte dich nach den purpurnen Dahlien. Sie wurden doch von Kaiserin Josephine, der Frau Napoleons nach Europa geholt, nicht wahr?“
„Ja, das stimmt. Entschuldige meine Unaufmerksamkeit.“
Natürlich hatte auch Napoleon das Spiel der Geschlechter beherrscht. Und Josephine ganz sicher auch. Es war keine einmalige Sache zwischen Adam und Eva gewesen. Es ließ sich immer wieder mit dem Schlüsselchen aufziehen und in Bewegung setzen. Und am Ende würde Napoleon seiner Kaiserin einen wunderbaren Garten gestalten und übers Meer aus Mexico Dahlien heranbringen, daraus eine Kette knüpfen, die er ihr um den Hals ziehen würde, um sie zu binden, an sich zu binden. Und Josephine würde verträumt und lasziv am Gewässer im Garten liegen, einen Apfel in der Hand halten und so tun, als ob sie von geheimen Mechanismen nichts wüsste.
Hilda wusste um die Thematik der inneren Gespräche und just im fraglichen Moment, da Tina sie zurückholte aus einer Vorstellungswelt der geheimen Abläufe, da war sie sich eines solchen bewusst geworden. Hagen hatte viel zu oft in den letzten Wochen darüber philosophiert und sie mochte das Thema gar nicht mehr hören. Aber das änderte nichts an der Tatsache. Es gab auch in ihrem Innenleben Dialoge, Trialoge, Quadrologe, Quintologe, Sextologe - sie wusste nichts Verlässliches über den Umfang und die Teilnehmer.
Zunächst hatte sie gewisse Befürchtungen gehegt, die dem allgemeinen Verständnis geschuldet waren, das bezüglich Personen mit „Stimmen“ herrschte, die sie zu hören meinten. Doch schon bald hatte sie sich darauf besonnen, dass es kein pathologischer Befund sein konnte, sondern eine normale Erscheinung, die sie eigentlich seit Kindertagen kannte bei sich und anderen Menschen, Männern und Frauen. Es war von gewisser Wichtigkeit erst wieder geworden, seit Hagen, Jochen und zwei weitere Freunde sich damit beschäftigten.
Hilda hatte beobachtet, dass ihre Stimmung zumindest teilweise vom Verlauf dieses „Palavers“ oder „Things“ abhing. Und mit der Zeit bemerkte sie, dass es möglich war, mit einer gewissen Vorsicht allzu negative Verläufe zu beenden. Das war ein schönes Erlebnis gewesen, als sie es wahrnahm und seither setzte sie das ein, wenn es ihr möglich war.
Der Garten war wegen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0563-4
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