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I M P R E S S U M


Irritation

 

von Walter Gerten


© 2022 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2022 Walter Gerten

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss

Manfred Wilt und die Rocker

Der Bote des Zarathustra

Monte Nudo

Unterwegs mit Tom Kerouac

Ich bin ein Schiff

 

Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola

Die Sternenbücher 2 Akba

Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes

Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens

Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome

Die Sternenbücher 6 Das Nichts

Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers

Die Sternenbücher 8 Paradise2

Die Sternenbücher 9 Solitan

Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan

Die Sternenbücher 11 Das Ubewu

Die Sternenbücher 12 Ich und Es

Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern

Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit

Die Sternenbücher 15 Selbst Ich

Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden

Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT

Die Sternenbücher 18 Marielle

Die Sternenbücher19 Arkadien

Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer

 

Die philosophischen Romane:

Lust

Pilgern

Scheitern

Irritation

Ehrlichkeit

Stille

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Das Buch

 

Der Erzähler befindet sich mit dem Motorrad auf einer merkwürdig irrealen Fahrt durch Griechenland. Sein Begleiter Mike verschwindet. Aber es finden sich andere Menschen ein, die ihre eigenen Wege verfolgen, entlang einer Spur, die sie zu den Fragen nach dem Selbst leitet. Manche dieser Weggefährten erweisen sich als Illusionen, Irritationen aus der Phantasie, aus einem imaginären Spiegel, der hinab leuchtet in die eigenen Abgründe. Andere begleiten ihn, werden selbst zu Marksteinen entlang der Straße der Sehnsucht. Möglichkeiten tun sich auf, die das Spektrum von Irrsinn bis Freundschaft und Liebe erforschen und der Erzähler verliert sich im verzweigten Netz der eigenen Geschichte. Die prägenden Erinnerungen an einen alten Philosophieprofessor seiner Studentenzeit werden wirksam und dessen Thesen gewinnen neues Leben. Selbstzweifel, Unsicherheit, die tiefen Fragen nach dem Wesen des Daseins und seiner Freuden und Schrecken sind das Thema einer kleinen Gemeinschaft, die auf der Insel Hydra eine Zeit ungewöhnlichen Zusammenlebens erprobt.

Kapitel 1

 

Das Böse: Unkontrollierte Eigenliebe.

Das Gute: Erkennen der Verbundenheit mit Allem.

Die Grenzen des Ich: Am Beginn der Verbindungen.

Die Illusion: Das Ich.

Die Angst: Vor der Auflösung.

Das Verhaften: An allen Vorstellungen, die das Ich schützen.

Die Partnerschaft: Geben und Nehmen als Tauschgeschäft.

Die Spielregel: Kein Geben ohne Nehmen.

Das Festhalten: An den Täuschungen des Ich.

Die reine Lebenslust: Das Spiel mit den Illusionen.

 

Zunächst wollte ich einfach weiterfahren, aber dann wurde mir klar, dass es besser wäre, anzuhalten. Ich hatte das Gefühl, ein verdächtiges Geräusch zu hören. Irritiert war ich dadurch, dass ich dieses rätselhafte Sägen nicht eindeutig zuordnen konnte. Der Wind pfiff seit mehreren Kilometern anders als gewohnt an meinem Helm entlang. Ein aggressives, bohrendes Timbre hatte sich in sein Frequenzspektrum gemischt, das mich beunruhigte. Es mochte von den Reifen kommen, oder ebenso gut auch vom Motor. Ich wartete mein Motorrad stets selbst. Ich kannte es in- und auswendig. Warum sollte es jetzt, in Griechenland, auf der Strecke den Peloponnes südwärts, plötzlich streiken?

Ich nahm das Gas zurück und suchte am Straßenrand nach einer Parkmöglichkeit. Links fiel die Böschung ab, hundert Meter bis zum Gestade des Ionischen Meeres. Rechts türmten sich buschig überwachsene Hänge auf, die abweisend und dornig jeden Gedanken an Zugang abwehrten.

Ich ließ die Maschine auf den schmalen Streifen neben der linken Fahrbahn rollen, hielt an. Ich öffnete den Helm und horchte auf die letzten Umdrehungen des Motors. Tief unten hörte ich dominant das Geräusch der Wellen am Ufer. „Rauuuuschsch…“ Das Motorrad knisterte. Alles schien normal, wie üblich. Und doch beunruhigte mich ein besonderer Aspekt des Klangteppichs, den die Maschine erzeugte. War es Einbildung, geboren aus der Angst, zu havarieren? „Alle Dinge sind miteinander verbunden, materielle und gedankliche.“

Ja, es war eine Erinnerung, die aus der Unendlichkeit herankam und sich mir offenbarte. Einen Grund musste es in der Welt der Dinge geben, wenn ein Geräusch sich veränderte. Mein Professor hatte diesbezüglich zweifellos eine brauchbare Aussage getroffen. Der Kolben war mit der Pleuelstange verbunden, die Pleuelstange mit der Kurbelwelle, die Kurbelwelle mit der Nockenwelle, die Nockenwelle mit den Kipphebeln und so weiter. Professor Tarantok war selbst Motorradfahrer gewesen, wenn ich mich nicht täuschte. Es lagen vier Jahrzehnte dazwischen, aber ich glaubte, ihn damals mit einem kleinen englischen Viertakter gesehen zu haben, Ende der Siebziger - auf dem Universitätsparkplatz. „Die Verknüpfungen der Dinge sind Anstöße für Ereignisse.“, hatte er gesagt.

Professor Tarantok hatte uns die Augen für eine Wahrnehmung der Welt geöffnet, die wir bis dahin nicht gekannt hatten. Vom Gymnasium kommend waren wir alle von Vorstellungen besetzt, die uns zu Helden machten, zu Erneuerern, zu Eroberern. Psychologisch war es eine Verdrängungsleistung, die wir als solche nicht bewusst registrierten - die man uns erst eröffnen musste.

Er hatte sich damals dazu berufen gefühlt. Die Wahrheit, so wie wir sie verstanden hatten, fegte er mit einem halbstündigen Referat vom Tisch. Er ersetzte sie durch die Erkenntnis unseres generationenspezifischen Wunschdenkens, das er bitter einer Nagelprobe unterzog.

Doch was interessierte mich in dieser Lage die Erinnerung an Professor Tarantok? Ich wusste es nicht. Sie war aus der Unendlichkeit gekommen und in meinem Bewusstsein gelandet.

Ich setzte mich auf die Randsteine, drehte mich mit einer sanften Bewegung zum Meer und zog die Jacke aus, den Helm, die Handschuhe. Das Motorrad knisterte leise, beruhigte sich von der Fahrt, kühlte ab. Ein Lastwagen brummte den Berg hinauf, hupte. Ein Rollerfahrer winkte. Vom Gipfel her flogen zwei Geier in gerader Strecke in die Richtung der felsigen Ufer.

Ich war unterwegs nach Pirgos. Mike war krank. Er lag im Zelt und litt unter heftigen Kopfschmerzen. Ich wollte ihm Medizin besorgen. Es war nicht besorgniserregend, wenn man seinen Worten glaubte. Eine Art Sommergrippe, meinte er. Er war anspruchslos.

Ich hatte ihn in Patras auf der Fähre kennengelernt. Er fuhr ebenfalls ein Motorrad und kam via Italien aus Deutschland. Wir bildeten aus Sympathie eine lockere Reisegemeinschaft den Peleponnes südwärts. Das Merkwürdige war - und ich entdeckte es bereits am ersten Abend, als wir auf einem winzigen Campingplatz vor unseren Zelten saßen - dass er ebenfalls bei Professor Tarantok studiert hatte, jedenfalls ein oder zwei Semester. Seit dem gemütlichen Gespräch am Feuer landeten Erinnerungen an den Professor in unregelmäßigen Abständen in meinem Bewusstsein. Sie waren mir angenehm. Und auch Mike brachte Eindrücke von lange vergangenen Situationen ins Gespräch, wenn wir gedanklich abdrifteten in die Philosophievorlesungen. Ihm wie mir waren eine Reihe grundsätzlicher Aussagen im Gedächtnis geblieben, die wir für originale Schöpfungen des Professors hielten. Eine Fülle von erzählbarem Material befruchtete unsere Tage, wenn wir uns in die griechischen Ortschaften begaben, um unsere Einkäufe für die Mahlzeiten zu tätigen, um die üblichen Flaniermeilen in den Hafenpromenaden zu erkunden oder wenn wir geruhsam die Tage an den Stränden ausklingen ließen. Lebenskunst. Der Luxus des Genießens, gesteigert durch die Anwesenheit eines intelligenten und aufmerksamen Gesprächspartners.

Doch jetzt rätselte ich über das beunruhigende Geräusch an meinem Motorrad. Natürlich bildete sich recht bald eine erste Erklärung heraus, die vor meinem inneren Auge erschien. Es gab gewaltige Höhenunterschiede auf der Tour durch den Süden Griechenlands. Für den Motor war das eine ziemliche Herausforderung, nicht wegen der Steigungen, die schaffte er leicht. Aber er hatte Probleme mit dem Sauerstoffgehalt, da er extrem variierte, je nach Fahrt - entweder auf Meereshöhe oder manchmal auf nahezu 2 Kilometer Höhe. Das Innenleben des Zweizylinders mochte dabei Ablagerungen bilden, die sich wieder abbauten - und das mochte, ebenso spekulativ, Änderungen in der Geräuschkulisse erzeugen. Ja, das war gehörig spekulativ.

Mike lag in meiner Vorstellung hustend im Schlafsack, die Stirn schweißnass und mit bleicher Gesichtsfarbe, der Mittel harrend, die ich ihm bringen würde. Also erhob ich mich aus dem Gras, warf halb unbewusst noch einen letzten Blick auf das Meer tief unten und zog meinen Helm wieder an. Zwölf Kilometer bis Pirgos. Keine Zeit zum Bummeln. Ich kam von Kaiafas und hatte die Strecke über die Berge gewählt. Vermutlich war das der Grund für die verstörenden Nebengeräusche. Man musste vermutlich nur den innerlich leicht verrußten Motor wieder freifahren.

 

Einmal angeregt, drifteten meine Gedanken auf dem weiteren Weg nach Pirgos wieder ab, streunten ein wenig durch die jüngere Vergangenheit und beschäftigten sich mit dem Moment meines Zusammentreffens mit Mike. Ich hatte es bisweilen erlebt, dass man auf Motorradtouren fremde Menschen leichter kennen lernte. Natürlich half in diesem Fall auch die gemeinsame Sprache. Und als wir entdeckten, dass wir denselben Professor kannten, war das gegenseitige Interesse natürlich geweckt. Mike konnte sich sogar noch an die Thesen des Professors erinnern.

Philosophie war ein merkwürdiges Fach; ein spezieller, recht freier Bereich einer quasiwissenschaftlichen Disziplin. Man nannte sie „Liebe zur Weisheit“; nicht immer und überall wurde sie als Wissenschaft akzeptiert, aber sie galt verbreitet als Fundament in erkenntnistheoretischer Hinsicht und auch als Bewahrerin der Folgerichtigkeit des logischen Denkens.

Mike öffnete mit seiner recht klaren Erinnerung einen verschütteten Bereich in mir, der sich von da an nicht mehr recht lösen konnte von den Wiederentdeckungen, die sich mir offenbarten, aufsteigend aus dem Vergessenen. Dabei steuerte Mike eine belustigende, manchmal regelrecht fröhliche Note bei, die den damaligen Ernst unseres Wissensdurstes konterkarierte. Das wurde mir nun bewusst und ich genoss es. Durch die Wegpunkte meiner Fahrt zum Peleponnes schien sich ein Liniengitter zu legen, das alles miteinander verband. Und auch mein jetziger Weg nach Pirgos war nur eine logische Verbindung zwischen zwei Punkten die ich miteinander verknüpfte, entsprechend den Erfordernissen meines Weges. Ich lächelte. Auch im Motor meines Motorrades war alles miteinander verbunden - mechanisch. Die Räder mit dem Rahmen, die Antriebswelle mit dem Getriebe, die Vergaser mit dem Tank. Nichts funktionierte ohne die Verknüpfung mit allem anderen.

Ich war nun mit Mike verknüpft und in seine Belange eingebunden - so wie er in meine. Pirgos würde mir in einer Apotheke die Medikamente bereithalten, die ich suchte. Der Motor schnurrte wieder wie gewohnt und die Reifen brummten mir ein Lied von Freude und Leichtigkeit. Ich driftete in Gedanken ab und hörte den Professor wieder mit seiner sonoren Stimme uns Studenten die Thesen seiner Philosophie erklären.

„Es gibt drei Aussagen, die fundamental sind für das Verständnis der uns umgebenden Wirklichkeit, die wir nicht wirklich kennen.“

„Hast du das jemals verstanden?“, hatte mich Mike gefragt.

„Nun, ähm, ja, es handelte sich um die Grundlagen, denke ich. Das, wovon man ausgehen darf, wenn man eine These entwirft.“

Es entspann sich danach auf dem Gelände von Kato, am Strand des Campingplatzes, ein weitläufiges Gespräch über die Voraussetzungen für erkenntnistheoretische Thesen und ob sie von den jeweiligen Urhebern bereits entsprechend ihrer Vorlieben und Erwartungen entworfen worden waren. Ein auf den ersten Blick trockender und langweiliger Gesprächsstoff, der sich aber erstaunlicherweise zu voller Blüte entfaltete und uns mitriss in eine leidenschaftliche und emotionale Dynamik. Und auch darin lebte die Lebendigkeit der damaligen Vorlesungen von Professor Tarantok. Auch das war eine Verknüpfung, sogar eine, die weit in die Vergangenheit reichte.

 

Bergauf zog mich der alte Motor voran, wie ich es gewohnt war und meine latente Sorge verschwand. Dort unten, zwischen meinen Füßen in dem metallenen Gehäuse, pulsierte ein eifriger Strom sich explosiv entfachender Energie, der von zyklisch heftig arbeitenden Komprimierungs- und Ausstoßungsorganen dirigiert wurde. In unglaublich schneller Abfolge und Präzision übertrug das Gerät sein Bewegungspotential auf die Straße, die sich grau und flimmernd hinauf wand, der Stadt entgegen. Das bewährte Stahlross schwang in eleganter Linie meinen Körper und meinen Geist hinan zu ihrem Ziel. Ich spürte die Verbindung, erlebte die Abhängigkeit der Maschine von meinen feinauflösenden Impulsen, die sie lenkten, erfuhr die Rückmeldung und die lustvolle Lebendigkeit der innigen Verbindung, die mir spontane Freude am Hier und Jetzt vermittelte. Kein trübender Gedanke.

 

 

Mike war auf dem Weg der Besserung. Er hätte nie von einem schlechten Zustand gesprochen, so war seine Selbstwahrnehmung nicht. Ich meinerseits wusste daher nicht, ob er meinen Einsatz wirklich begrüßte, der ihm Medikamente aus Pirgos beschert hatte. Immerhin hatte er sie eingenommen.

Nun saß er im Schneidersitz vor dem Zelt, schlürfte den englischen Tee, betrachtete das Meer und lächelte. Die Fähren von Korfu, Italien, Ithaka und Kefalonia liefen Patras an, das Tor zum Peleponnes. Unser Zwischenaufenthalt in Kato war nur kurzfristig angelegt; es sollte weiter nach Süden gehen, bis zum südlichsten Punkt der Halbinsel Mani. Griechenland trug noch immer den Nimbus der alten Hochkultur, des großen Vorbildes für alle späteren Hochkulturen des Abendlandes. Doch die Städte, die Provinzorte, die Dörfer, die Zivilisation insgesamt sprach eine moderne Sprache, ein dem Konsum geschuldetes Gemeinverständnis, das der Wirtschaft und ihren Segnungen angepasst war. Auf unserer Route war es der Tourismus, der als Wirtschaftszweig die erste Reihe einnahm. Die Antike war ihm als Produkt nachgelagert.

Und auch der Alltag sah keineswegs aus wie Hochkultur. Aber das hatten wir gewusst, Mike und ich. Es gab weltweit keine Hochkulturen mehr - das hatten wir bei Professor Tarantok gelernt. Erkenntnis als Antrieb für Entwicklung war beiseite getreten hinter die Bedürfnisse nach Wohlstand, Luxus, Leichtigkeit des Besitzens.

 

Mike trug nur eine Badehose. Dennoch bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn, als er sich ein wenig mühsam zu mir umdrehte, der ich im Schatten an einem Baumstamm lehnte und las.

„Du liest immer noch die Bekenntnisse?“, fragte er.

„Ja!“

Ich legte das Buch in den Sand, betrachtete Mike, wie er mich neugierig ansah. Ich war noch immer überrascht von der Unkompliziertheit, mit der wir unsere jeweils solo angetretenen Reisen verknüpft hatten. Und ich hatte das merkwürdige Empfinden, dass es sich auf geheimnisvolle Weise auf die gemeinsam erlebten Vorlesungen von Tarantok zurückführen ließ. Mike und ich hatten uns damals kaum gekannt. Außer bei einigen Begegnungen in diversen Cafés oder bei einer der Feten oder Partys war er mir selten aufgefallen, aber wir hatten durchaus mehrere Sätze gewechselt - mehr nicht, wenn ich mich richtig erinnerte.

Nun hatten sich unsere Linien gekreuzt, sich berührt und verknüpft, so, wie sie bereits vorher mit dem Professor und seinen spannenden Universitätstätigkeiten verknüpft gewesen waren. Die zahllosen Fäden unserer Leben bildeten bekannte und unbekannte Netze, die wir bewusst oder unbewusst ausgeworfen hatten, um Begleiter der einsamen Geworfenheit zu finden. Und doch blieb uns kaum mehr als ein trunkenes Gefühl der Gemeinsamkeit mit verwandten „Seelen“ und ein kleiner, nagender Zweifel, wie weit denn wohl jene Verwandtschaft ginge.

 

Da ich seine Frage nicht nutzte, um ein Gespräch zu entwerfen, stand Mike unbeholfen aus dem Schneidersitz auf und ging gemessenen Schrittes zum Strand. Wir waren beide längst aus dem „besten“ Alter heraus. Ich konnte für mich eine halbwegs eindeutige Motivation für diese Motorradtour formulieren und hatte es ihm gegenüber bereits getan.

Ich nutzte die Zeit, die sich durch mein Ausscheiden aus dem Beruf nun anbot, um einen lange zaudernd gehegten Plan zu verwirklichen: Die Wiederholung einer früheren Motorradtour quer durch den Peleponnes und Italien, die ich vor zwanzig Jahren mit einem Freund unternommen hatte.

 

„Nun, wenn du nicht reden magst, dann macht das nichts.“, sagte er, als ich mich neben ihn in den Sand setzte. Gleichgültig rollten die Wellen heran, zogen sich zurück, um wieder voran zu rollen, ihre Gischt schäumend zu uns zu schieben und mit zartem Rieseln auszuatmen.

„Das ist es nicht, Mike. Es reift ein Gedanke in mir, den ich nicht fixieren kann. Ich sehe ihn schemenhaft im Hintergrund, aber sein Gesicht erkenne ich nicht. Er will mir etwas zeigen. Tagsüber taucht er zwischen den Zeilen der Bekenntnisse auf, die ich nur unkonzentriert lese. Nachts schleicht er sich in meine Träume. Er scheint eine gewisse Wichtigkeit zu haben, obwohl ich nicht weiß, welche.“

„Erinnerst du dich an Tarantok und seine Thesen? Was du sagst, ähnelt seinem ersten Exkurs über die Wahrnehmung der Gedanken. Es gibt keine Dinge in den Gedanken, sagte er. Nur Gedanken über Dinge. Wenn wir denken, benennen, einordnen, verknüpfen, dann sehen wir nur noch unsere Gedanken über etwas. Das Etwas, das Ding, hat sich dann längst scheu zurückgezogen.“

„Ja. Ich erinnere mich dunkel. Tatsächlich würde die Reifung im Dunkeln unterbrochen, wenn ich es vorzeitig ins Licht zerren würde, um es zum Thema eines Gesprächs zu machen. Ich will sensibel mit den Dingen umgehen, die eine gewisse Wichtigkeit im Hintergrund entfalten.“

 

Einige Tage später konnte ich erkennen, welche Gedanken jenes zur Reife gekommene Gefühl anregten. Es war eine Form von Überblick, eine Art offenbar gewordene Erkenntnis. Sie sprang mich im Schlaf an und ich wachte auf. Sie war erfreulich und lebendig. Sie zeigte mir eine starke emotionale Verbundenheit mit allem, was ich erlebte, erlebt hatte. Gerade das, was ich wohl am meisten begehrte - das Glück - entsprang einer ungeheuren Lust am Leben, in schöner Gemeinsamkeit mit demjenigen Leben, das mich umgab. Die reine Lust erfüllte mich mit Genugtuung, als ich dort lag und meine unwillkürlich offenbarte Erkenntnis erlebte.

Sobald ich, ebenfalls unwillkürlich, den ersten Gedanken darüber entwarf, begann sich eine unmerkliche Distanz dazwischen zu schieben, die mich von ihr entfernte, ein wenig zuerst, dann mehr. Und als ich begann, Gedanken in Sätze zu formen, um sie Mike mitteilen zu können, war der offenbarte Überblick vorbei. Dabei war jenes Gefühl gar nicht in einer Trennung zwischen mir und meinem Erlebnis begründet, sondern im Verbinden.

„Es war exakt nach Tarantoks zweiter These.“, sagte ich, als ich am nächsten Tag Mike davon erzählte. „Die Verbundenheit mit allen Dingen, die wir erleben, bedeutet, dass wir all das sind. Und all das deutet weit über das hinaus, was wir mit unserem Ich zu bezeichnen gewohnt sind. Das war so ungefähr seine These.“

„Ich erinnere mich …“ Mike hatte sich einen Brei aus Getreideflocken und Obst zum Frühstück gemacht. Ich zog frisches Brot vor. Er schaute versonnen in Richtung Meer, auf die Wellen, die Möwen, die ersten Badenden, die hinaus schwammen. Die Sonne stand erst knapp über dem Taygetos im Osten. Ich erwartete kein weiteres Gespräch über das Thema, aber Mike ergänzte nach einigem Zögern:

„Damals wusste ich nicht, welche Bedeutung seine These hatte. Ich fand sie faszinierend, wegen der nahezu unbegrenzten Tragweite. Aber viel viel später, Jahrzehnte später, als sie mir nach langer Zeit wieder vor das innere Auge kam, bemerkte ich, dass sie in letzter Konsequenz mein Ich ins Wanken brachte.“

„Ja, das geht mir genauso.“

„Das Schlimmste ist dieses Wort, das Tarantok für das Ich verwendete: Chimäre.“

„Es ist schmerzhaft, das stimmt!“

 

Rückblickend war die Reise durch Griechenland eine Reise ins Innere. Ich wunderte mich eine Weile wegen der Anwesenheit Mikes. Er war unverhofft aufgetaucht wie ein kranker Derwisch, aber er erholte sich unter meiner Pflege erstaunlich schnell und wir planten einen gemeinsamen weiteren Weg über die Straßen des Landes, über die abgelegenen Pfade und Schluchten der peloponnesischen Hand, die greifend ins Mittelmeer ragte. Ich hatte mich auf eine einsame, eventuell sogar bedrückend isolierte Fahrt eingestellt, also erfreute mich der Umstand, dass sich stattdessen die gemeinsame Fahrt ergab.

Mike erwies sich als kongruente Bereicherung. Wir ergänzten unsere beschränkten Vorräte und Gerätschaften und bildeten eine Gemeinschaft auf Basis intuitiven Verständnisses.

Mein Erleben der Fahrt wurde von da an irreal. Es funktionierte besser als zuvor, aber es ergänzte sich um einen phantastischen Faktor, der hinzu kam. Nicht unerfreulich, durchaus angenehm und bereichernd.

 

„Erinnerst du dich noch an die Zeit der Musikpartys in Tarantoks Haus?“, fragte er, als er vom Strand zurückkam und sich beineüberkreuzend neben mich setzte. Ich musste eine Weile nachdenken, denn ich hatte es fast vergessen. Dann stieg all das auf, was Mike mit seiner Frage ansprach.

Professor Tarantok war ein halbwegs guter Saxophonist gewesen - nicht in professioneller Hinsicht und auch nicht in perfekter Umsetzung vorgegebener Phrasierungen. Aber das störte ihn nicht. Ihm ging es einfach um das Erlebnis des Erzeugens von Musik. Er hatte einen Aushang am schwarzen Brett in der Uni-Mensa platziert und Mike, ein Freund namens Gerd, den er seit einiger Zeit kannte und von dem er wusste, dass er Schlagzeug spielte, ergänzt durch meine Person fanden sich am angegebenen Zeitpunkt vor seiner Haustür ein.

Nach dem erfolgreichen Start seiner Idee hatte sich die Zusammenkunft zum Zwecke des gemeinsamen Musizierens bald als monatlicher Zyklus etabliert und einige weitere interessierte Studenten kamen hinzu. Tarantok definierte keinerlei Vorgaben, so dass sich die Abende in seinem geräumigen Musikzimmer je nach Besetzung entwickelten, stets im Bereich zwischen Folk, Rock und Jazz.

„Ja, natürlich erinnere ich mich an die wilden Sturmfluten brandender Musik und das Bad in den Klängen, die wir dort erlebten.“

„Keiner wäre alleine dazu imstande gewesen, nicht wahr?“

„Gewiss nicht. Es gehörten alle dazu, die sich dort trafen.“

„Man hätte daraus etwas machen können. Tarantok war ganz gut und wir, die Studenten, waren gewiss nicht schlechter. Es hätte sich durchaus ein bühnentaugliches Ensemble bilden können.“

„Ja, aber das war nicht der Sinn in dem Ganzen.“

„Es war das Leben in Reinform, nicht die Spekulation mit seinen Potentialen. Der Professor wollte keine Combo bilden.“

„Obwohl zumindest wir Studenten ständig darüber redeten.“

„Stimmt, wir entwickelten die wildesten Vorstellungen.“

Es hatte eine lange Reihe berauschender Abende gegeben, die in Tarantoks Haus stattfanden, einem gewissen inneren Takt folgend, der sich nicht nach seiner Vorgabe richtete, sondern nach den Emotionen und Randbedingungen aller Beteiligten. Diese wuchsen dadurch zu einer Gemeinschaft zusammen, die sich - nicht nur in musikalischer Hinsicht - auf einander verlassen konnte und aufeinander einging.

Wir erzeugten Schallwellen. Ich spielte einen Elektrobass, Mike eine Elektrogitarre. Sein Freund, der Schlagzeuger, Gerd hieß er, wenn ich mich richtig erinnerte, hatte Erfahrung mit Bands, aber er genoss das freie, ungeprobte Spiel. Tarantok flocht die eine oder andere Formulierung aus seinem Philosophiethema in die Gespräche ein. Er liebte es, Attribute der Musik für das alltägliche Leben einzuflechten, auch an den Musik-Sessions.

„Das Erzeugen von Wellen im aktuellen Luftraum ist das klarste und reinste Tätigkeitsfeld.“ Er arbeitete offenkundig an der Perfektionierung des Lebens in der Gegenwart und die Sessions dienten ihm als Übung in dieser Hinsicht. Oder vielleicht waren sie sogar die Essenz, das Ergebnis seiner Übungen. Er äußerte sich dazu nicht weiter, wohl um durch solche Gedanken und Meinungen die Lust am Spiel nicht zu beeinflussen.

Und es mangelte nicht an dieser Zutat; die Lust am Spiel schien unendlich variantenreich und inspirierend. Alle Teilnehmer, es waren zuzeiten zehn bis zwölf, die aber nicht alle gleichzeitig tätig waren - alle fügten sich ein in ein größeres Ganzes, dessen Dynamik sie mitnahm, herausriss aus den Gedanken, empor hob in die Sphäre der Musik und sie auf ihren Wellen trug.

Meist ergab sich ein der Instrumentierung entsprechender Stil, über den wir improvisierten. Der Professor bediente sein Saxophon mit einer forcierten Hingabe, wir anderen gaben ihm entsprechend unserer jeweiligen Rolle in der Combo unsere Unterstützung, bzw. lösten ihn mit eigenen Melodien und Ideen ab. Er war in diesem Umfeld - es handelte sich um einen wunderbar großen, bequem eingerichteten und schallisolierten Raum im Keller seines Hauses - ein anderer Mensch als in der Universität. Dort äußerte er sich in pädagogischer Manier in Form von Thesen, Antithesen, Aussagen und Betrachtungen. Hier hörte er zu, bis er die musikalische Aussage und Thematik begriff und einstieg.

„Erinnerst du dich noch an den einen Abend nach dem Jahreswechsel? Ja? Wann war das? Es waren einige unbekannte Leute in Tarantoks Musikkeller. Sie spielten Kongas, Bongos, oder hörten nur zu.“ Mike grübelte noch über die korrekte Jahreszahl. Ich wusste, welches Treffen er meinte. Die Luft vibrierte damals im heißen Puls der dahin rollenden Wellen. Mein Bass spielte sich alleine, suchte sich seinen Weg zum Schlagzeuger, malte Muster in die Luft, über die das Sax sich eine Melodie entwarf, begleitet von den Akzenten einer schrägen Gitarre.

Im hinteren Teil des Raumes, wo in gedämpftem Licht fünf Zuhörer an der Bar standen und beifällig Zurufe des Wohlgefallens äußerten, hörte man untermalenden Gesang, der sich mit unserer Musik verband und uns anspornte. Zeitlos entfaltete sich eine Welt aus Klang und Rhythmus, aus Struktur und Linie. Reichhaltig fügten sich ständig neue Figuren ein, vielfältige Bewegungen fanden gemeinsame erzählerische Bilder. Gegen Ende einer solchen inspirierten Entwicklung bereitete sich unterschwellig eine Beruhigung, ein Abstieg vor und leitete über zum Schluss und der nachfolgenden Pause, die wir auf den Sofas und Sesseln verbrachten, im Gespräch.

Mike hatte ein gutes Gedächtnis.

Wir plauderten in angeregter Stimmung, bis die Sonne zum Meer hinab sank, dann kochten wir zu Abend. Es war eine umständliche Zeremonie, die auf meinem Benzinkocher stattfand und von diversen Kalamitäten begleitet wurde. Aber wir hatten mittlerweile einen gewissen Ritus um diese Zeremonie entworfen, der unser gemeinsames Leben und Essen begleitete.

Danach setzten wir unser Gespräch fort bis in die tiefe Dunkelheit hinein. Die damals in Tarantoks Session-Raum erlebte Musik und das Zusammensein waren enorm anregende Themen, die sich im weiteren Verlauf des Abends in zarte philosophische Blüten verwandelten, nicht ganz loszulösen von unseren gemeinsam erlebten Vorlesungen, die ebenfalls in des Professors Anwesenheit und unter seiner profunden Leitung jene Zeit begleitet hatten.

Am folgenden Morgen hatten wir Mühe, in die Gänge zu kommen und als wir - später - getreu unseres Plans aufbrechen wollten und alles Gepäck verstaut hatten, klagte Mike über die bereits so weit fortgeschrittene Stunde.

 

Kapitel 2

 

 

Hätte es einen unsichtbaren Beobachter des Geschehens gegeben, er hätte sich erheblich gewundert über die Abläufe. Es ging anfangs um die Beschaffung von Medikamenten, um das Wohlergehen, sowohl des Menschen als auch der Maschine, nun ging es um die Erinnerungen an den legendären Professor, die Gesprächsinhalte.

All das, alle Dinge, Gedanken, Emotionen, Geschehnisse, Anregungen schienen auf geheimnisvolle Weise sich zu bedingen, den Verlauf zu beeinflussen und die Gegenwart zu bestimmen. Jene Bedingungen für das, was der unsichtbare Beobachter mit Skepsis, mit Zweifel und Misstrauen betrachten würde, kamen aus dem unbekannten Untergrund des Bewusstseins. Sie flossen aus dem Dunkel ins Licht, so wie das Wasser aus dem Felsen bricht und seinen Lauf sucht, ganz gemäß dem Gelände, das es vorfindet. Woher es kommt? Wer kann das beantworten? Er müsste graben, den Felsen spalten, Wege in umgekehrter Richtung auffinden. Er würde eine übergroße Sphäre allerkleinster Zuflüsse erkunden müssen und dabei keinen einzigen übersehen. Und er würde weit im Hinterland, auf der Hochebene, dort, wo sich die Tropfen sammeln und erste Rinnsale bilden, dort würde er schließlich feststellen, dass der Ursprung noch nicht entdeckt, die Herkunft noch nicht geklärt sei. Denn dichter Nebel bedeckt die Höhe und feinste Feuchte schwebt in ihm, sammelt sich an den Blättern der Bäume und Gräser, sickert hinab zu den Wurzeln und ins Erdreich hinein.

Von dort unten stieg eine mit Nährstoffen angereicherte Lebensader hinauf. Sie hatte uns zu den musikalischen Aktivitäten des Professors geführt und die damit verbundenen Erlebnisse waren bedeutsam, noch immer. Tarantok war ein ungewöhnlicher Vertreter der menschlichen Spezies gewesen. Er hatte sich nicht allzu viel um gesellschaftliche Konventionen gekümmert, jedenfalls nicht mehr als notwendig. Er entstammte einer Einwandererfamilie aus dem Osten Europas, woher genau, wusste niemand mehr. Der Grund, warum er musizierte, war gänzlich unspektakulär - es ging ihm um die tonale Gestaltung, mehr nicht. Er erwartete keinen Ruhm, keinen Erfolg, keine Expertise, keine höhere Weihe in irgendeiner Form. All das war für ihn gesellschaftliche Konvention und das Kollektiv, die Gesellschaft, war etwas, dessen Wirkmächte er sich vom Halse halten wollte.

 

 

Kapitel 3

 

Mike wollte auf dem Weg nach Arkadien an einem der beiden Klöster vorbei, entweder dem Kloster of St. John, oder am Kloster of the Philosopher. Ich wollte ebenfalls nach Arkadien, aber aus anderen Gründen. Es war eine Region, die legendären Status hatte, seit ewigen Zeiten.

Also beschlossen wir wieder einmal, gemeinsam diesen Weg zu wählen. Aber mein Motorrad machte uns mit seinen Startschwierigkeiten Probleme. Wir hatten wenig Lust, in irgendeine Werkstatt zu fahren und ergründeten die Zusammenhänge selbst, soweit wir konnten. Es war ein altes Kabel, das die Schwierigkeiten verursachte.

Die Glaubenstraditionen der griechischen Klöster, meist orthodox geprägt, interessierten mich nicht die Bohne. Was mich erstaunte, war die Art, wie Stein auf Stein in die Felsen hinein Bollwerke von gemeinsamen Weltfundamenten gebaut worden waren. Und noch erstaunlicher fand ich die Tatsache, dass man diese Glaubensfundamente noch immer pflegte, so lange Zeit nach Nietzsche, dem großen Besen, der den Himmel gefegt hatte.

 

Die Hitze war fast unerträglich. Mir ging das Geräusch der Reifen und Motoren auf die Nerven und ich probierte es mit Ohrstöpseln. Ich fuhr im Hemd, mit hochgekrempelten Ärmeln, gegen alle Vernunft. Wir tranken Liter um Liter und schwitzen alles durch die Poren wieder hinaus. Die Nieren transportierten nichts mehr in die Blase. Das Band der heißen Asphaltschlange wand sich den Berg hinab ins Tal, Arkadien entgegen.

Die heißen Felsen wurden von staubigen Feldern abgelöst. Eselskarren plagten sich die Straße entlang zu unbekannten Zielen. Karge Gärten mit trockenem Laub säumten den Weg, gebeugt standen graue Menschen in den Furchen, hoben die Hacken oder die grüßenden Hände, wenn wir an ihnen vorbei fuhren. Die gleißende Sonne reflektierte in wabernden Täuschungen glitzernden Lichtes.

Dann das Meer. Gelassen wie immer. Es rollte ans Ufer und scherte sich nicht um unsere Vorstellungen und Erwartungen von Freiheit und Abenteuer. Es wehrte sich nicht gegen die Emotionen, die Freude, die wir seinen Wellen entgegen brachten. Wir wuschen den Dreck ab. Alles passte zusammen; das Rauschen, die Kühle, die Macht der Wellen, die Frische der Umarmung, die Reinigung von Staub und Gedanken.

 

Und weiter ging unser Spiel der Reise in die Vergangenheit. Es hatte sich etabliert, fand seinen Platz in der Zeit nach dem abendlichen Aufbau des Zeltes, der Aktivierung des Benzinkochers, dem Essen, dem Abwasch, dem Bad und dem gleitenden Übergang in unsere Erinnerungen, die sich nahtlos mit unserer Gegenwart verbanden, ja, diese erklärten und mit einer Unterströmung versahen.

Das Gute und Wahre, das Richtige und Wertvolle, das so tiefgreifend Essenzielle von dem Minderen zu trennen - hatten wir das nicht ursprünglich von Tarantok gelernt? Ja, natürlich, wir hatten auch vorher bereits daran geforscht, jeder für sich, gemäß seinem edlen und wahrhaftigen Instinkt. Aber war dieser Professor nicht in gewisser Weise ein Katalysator gewesen für diese positiven Tendenzen? Hatten seine Thesen, seine „Aussagen“, wie er sie nannte, nicht einen kleinen Platz eingenommen in unserer mentalen Struktur, unserem persönlichen Kosmos?

Das, was Philosophen taten, war uns immer weit entfernt vorgekommen, so wie wissenschaftliche Forschung auf einem weit ins Firmament ragenden Berggipfel, einem Turm. Aber Tarantok sprach von eigenen Erlebnissen, nicht von den herausragenden geistigen Taten anderer Philosophen, legendärer Vorreiter und bewundernswerter Leuchttürme.

 

Unser Zelt stand in der Bucht von Pyrgos Dirou auf der Halbinsel Mani, weit im Süden. Es war Abend und zunächst menschenleer. Ich hatte versucht, meine Haare im Meerwasser zu säubern, aber es war mir nicht recht gelungen.

Halbwegs erfrischt bereiteten wir uns ein Mahl aus griechischem Salat und ein wenig Brot. Dann folgten einige Kontroversen mit spät eintreffenden Touristen, die uns die Sicht verstellten auf eine eindrucksvoll im Meer versinkende Sonne.

„Unglaublich, was sich manche Menschen herausnehmen an ignoranter Unverschämtheit!“, sagte Mike und ich pflichtete bei.

„Jeder ist sich selbst der Nächste!“, sagte ich.

„Jetzt haben wir sie ja nachhaltig verscheucht; also lassen wir dieses Thema beiseite, oder?“

Wir lehnten uns in unserer primitiven Wohnlandschaft aus Schlafsäcken, Motorrädern und Matten, betrachteten gelassen die letzten Verfärbungen des Gestirns und ließen eine Flasche kreisen. Noch immer waren die Musik-Sessions bei Tarantok lebendig, aber auch seine Vorlesungen traten nach und nach aus dem Dunkel der Erinnerung ins Licht der Wahrnehmung.

„Kannst du dich noch an die Thesen erinnern, die er zur Diskussion stellte?“

Mike reichte mir den Ouzo für einen kleinen Schluck und sah mich fragend an.

„Aussage Nr1“, sagte ich, „Alles ist mit Allem verbunden!“

„Es war merkwürdig, als er uns die Vorstellung nahm, dass wir als Individuum irgendwo reale Begrenzungen hätten.“

„Es ist auch heute noch merkwürdig.“

„Ja, das ist es. Aber wenn man bedenkt, - dieses Motorrad“, er deutete hinter sich, wo meine Maschine stand, „ es ist zwar als Begriff genauso definiert wie du, der du es fährst. Doch es kann ohne dich nicht einen einzigen Meter rollen. Es ist auf dich angewiesen - und umgekehrt. Erst gemeinsam bildet ihr ein Fahrzeug im brauchbaren Sinne. Dann, beim fahren, seid ihr eins, sonst würde es nicht funktionieren.“

In dieser Art verlief das Gespräch und als Analogie tauchten mir immer wieder die Musik-Sessions auf. Auch da funktionierte nichts durch Abgrenzung, sondern durch Verknüpfung.

 

Einige Tage später befanden wir uns auf dem Weg nach Olympia. Das alte griechische Heiligtum, eine Siedlung seit fünftausend Jahren, Ort der Götter, Philosophen und Politiker und natürlich des sportlichen Treffens, es versprach, den Hauch des jenseitigen Olymps in die Zeit und den Raum zu atmen. Als ich dort ankam, auf einem recht nüchternen und praktisch gestalteten Parkplatz ohne jede Atmosphäre, hatte ich Mike verloren. Ich wartete vergeblich - er tauchte nicht auf. Ich wurde nervös, beschloss, zurück zu fahren, zumindest eine Teilstrecke, um zu sehen, ob ihm vielleicht etwas zugestoßen war. Natürlich musste es nicht gleich ein Unfall sein, aber eventuell Probleme mit dem Motorrad.

Ich versuchte es auf dem Telefon, aber eine englischsprachige Stimme bedauerte, ihn nicht erreichen zu können. Meine Suche dehnte ich nach einer halben Stunde weiter aus, kehrte dann um, in der Erwartung, ihn in Olympia anzutreffen. Aber er blieb verschwunden.

Also trat ich durch die Schranke, die die Außenwelt von Olympia trennte, zahlte an dem Kartenkiosk, betrat den vorgesehenen Pfad zu den Ruinen.

Und dann, - dann setzte eine Transzendierung ein, ein Wandel von der normalen in die anormale Wahrnehmung. Ich betrachtete noch die Informationen auf dem Faltblatt zu den Gebäuderesten, wähnte mich in einem Bereich der damaligen Philosophen, die die sportlichen Wettkämpfe beobachteten. Der Körper. Der Wettkampf, die Psyche des Willens, - das waren Anschauungsobjekte. Doch ich selbst, ich war nur Adept, ein unbedeutender Junge, ein Neuling im Feld des Denkens. Ich wandelte durch die Gassen, zwischen den Unterkünften der Sportler, ging mit meinem Lehrer hinüber zu den Hallen, in denen man diskutierte. Es waren Bauten für die Vorläufer der Philosophie.

Es gab Regeln, die das Sprechen strukturierten, die die Art des Sprechens in Formen zwang, die die Reihenfolge der Sprecher regelten. Ich tauchte ein in die Flut der Argumente, der denkerischen Ziele, des Prinzips der Logik.

 

Bald schwirrte mir der Kopf vom Tonfall, von der Bedeutungsschwere, von dem nachdrücklichen Wert, der Kraft der Worte, der rhetorischen Phrasierung, dem manierierten Duktus großangelegter Denk-Werte. Wie ein unablässiger Strom unscharfer Begriffe flutete der Klang wohlbekannter Sprache durch meine Gehörgänge, sondierte sich in angenehm und unangenehm.

Wo kam all das her? Es war Destillat dessen, was man wahrgenommen hatte, aus dem Erleben als Anschauung für bedeutsam herausgelöst und mit Wert verknüpft hatte, abseits des unwichtigen alltäglichen Krimskrams. Im Gegensatz dazu schien es der genauen Betrachtung lohnend.

Und doch, wenn ich mich nach der Herkunft fragte, dann war es durch die Tore der Sinne eingetreten in die Krypta des Denkers. Er, der es wahrnahm, mühte sich um Verwendung, weil er es in seinem denkerischen Universum eingliedern wollte.

Mein Lehrer wies mich leise flüsternd auf gewisse Personen, bestimmte Gedankengänge, wichtige Sätze und markante Begriffe hin, die ihm auffielen, und die er mir vermitteln wollte. Doch in meinem überlasteten Kopf summierte sich alles zu einer polyphonen Komposition aus Strängen, die doch letztendlich aus der gleichen Quelle stammten, - der Welt, die wir wahrzunehmen glaubten.

 

„Nein, es kann nicht sein, dass der Denker höher steht als der Gedanke! Diese Wahrheit darfst du niemals vergessen, Epidimneris. Es ist fundamental wichtig, die Diskrepanz zwischen diesseitiger und jenseitiger Wirklichkeit nicht zu verwechseln. Aber das tatest du soeben mit deinem Ausspruch, es sei ein Produkt der Logik, dass die Substanz des Gesehenen niemals mit der Erwartung des Sehenden deckungsgleich sein könne.“

„Aber bedenke doch Avenoverikus! Du selbst bist doch derjenige, der sich in diese betrachtende Position begibt und von dort aus seine Bewertung des Betrachteten vornimmt. Es ist nicht möglich zu sagen, was konkret dort vor den Toren unserer Wahrnehmung lagert!“

„Gehe ich zurück auf die direkte und unvermittelte Art der Rezeption, die ich angesichts meiner Eindrücke hatte, dann ergibt sich für mich keinerlei Veranlassung, mein Position erneut zu überdenken, denn beachte bitte: Ich bin es gewohnt, gründlich und sorgfältig meine Gedanken abzuwägen und ihre Bedeutung gezielt zu platzieren. Also nimm bitte deine der rhetorischen Gepflogenheit geschuldete Position ein und repliziere entsprechend den Regeln!“

 

All das, ich sah es bildlich vor mir, die Gedankenstränge, die von irgendwo her kamen und die ich, aus der Zeit gefallen, wie ich war, nicht auf ihre Ursprünge zurückführen konnte, - all das summierte sich zu einem Strom von Energie, der sich bemühte, das, was die Sinne dem Menschen der Antike boten, in eine zumindest halbwegs schlüssige Form zu bringen.
Irgendwo in meiner traumhaften Wanderung durch die Ruinen Olympias fühlte ich wohl die Irrealität meiner Phantasien, aber dieser Impuls war schwach, zu schwach um durchzudringen. Es war eine höhere Attraktivität, auf dieser Traumebene zu verbleiben. Ich war ein Zeitgenosse, ein Neuling, ein noch unwichtiger Beobachter der antiken philosophischen Tradition, die Bedeutung erlangt hatte, weit über ihr Zeitalter hinaus, bis in unsere moderne, unphilosophische und trivial-banale Zeit hinein. Und ich genoss das Privileg meiner Träumerei bis an die Grenzen ihrer wahnsinnigen Gegenwart. Ich floss hinüber in die Antike.

Und ich sah mit halbem Auge dennoch die Gegenwart meines Körpers und seiner zeitgemäßen Umgebung, so wie sie sich nicht abwaschen, negieren, leugnen oder übersehen ließ. Ich war gespalten in zwei. Im Jetzt wusste ich, dass es eine kollektive Psyche gab, ein Übereinkommen dessen, was man für wahr hielt, da wo ich herkam. Und die Antike sagte mir, dass etwas Derartiges eben nur ein Übereinkommen sei, eine Beruhigung für das einsame Individuum, ein öffentlicher Ort, an dem Wahrheiten gemeinsam geteilt und hochgehalten wurden, ob sie nun stimmten oder nicht, alles zum Zwecke der Beruhigung.

Ich und sie. Meine Verknüpfung mit dem Kollektiv, der Gesellschaft, dem Volk, dem Staat dem Land, in dem ich aufgewachsen war. Es war meine Umgebung, in der ich mich mitteilen konnte, allein schon wegen der gemeinsamen Sprache. Und siehe, alle diese Ströme von Gedanken, die nur so überschäumten von Wörtern und Begriffen, von gemeinsamer Sprache, - sie rührten dennoch, weit vor der Trennung der Kulturen, aus den Quellen der Sinne. Denn das, was man sah, roch, fühlte, hörte und dachte, - es war angeregt durch einen Impuls aus der Welt.

 

Sokrates hatte in den peloponnesischen Kriegen, so

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0511-5

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