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I M P R E S S U M


 

von Walter Gerten


© 2022 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2022 Walter Gerten

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan
Die Sternenbücher 11 Das Ubewu
Die Sternenbücher 12 Ich und Es
Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern
Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit
Die Sternenbücher 15 Selbst Ich
Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden
Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT
Die Sternenbücher 18 Marielle

Die Sternenbücher 19 Arkadien
Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer

Die philosophischen Romane:
Lust
Pilgern
Scheitern
Irritation
Ehrlichkeit
Stille

 

 

Das Buch

Wir trafen uns wöchentlich, um uns kurzzuschließen. Es waren verkopfte Dinge, die wir uns abrangen, bedeutsame Themen, die wir gemeinsam zu bewältigen versuchten. Sinn, Selbst, Welt, Ich, Bewusstsein, Tod, Geist und so weiter. Es ergaben sich bei uns stets unterschiedliche Sichtweisen, trotz der Schwere, der Gravitation der Bemühung“.

Vier Hobby-Philosophen versuchen auf ehrliche Weise einen klaren Blick auf ihr Denken zu finden. Dabei beginnen sie ein merkwürdiges Experiment, das sich auf geheimnisvolle Weise mit der Geschichte des Hauses verknüpft, in dem sie leben. Es handelt sich um ein ehemaliges Schloss aus der Gründerzeit des neunzehnten Jahrhunderts. Die damaligen Besitzer sind seit den Säuberungen nach dem zweiten Weltkrieg enteignet, aber das, was einst der zentrale Geist ihrer unternehmerischen Aktivitäten war, entpuppt sich als Lösung der philosophischen Probleme. Denn der letzte Angehörige jener Familie enthüllt ihnen die Zusammenhänge und entwirft eine Perspektive, die ihnen neu ist und doch im Bewusstsein der Zeit immer wieder auftaucht: es ist eines der sieben Welträtsel.

Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.

Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.

 

 

Inhalt

I M P R E S S U M

Inhalt

1        Prolog

2        Gründergeist

3        Intermezzo 1

4        Irrweg

5        Geheiligte Erde

6        Desorientierung

7        Daniel

8        Intermezzo 2

9        Gabriel

10     Das Hausfest

11     Der nächtliche Besucher

12     Familiensaga 1

13     Intermezzo 3

14     Karl

15     Intermezzo 4

16     Familiensaga 2

17     Intermezzo 5

18     Der Freund

19     Intermezzo 6

20     Die Qualia

21     Intermezzo 7

22     Manuela

23     Intermezzo 8

24     Familiensaga 3

25     Intermezzo 9

26     Familiensaga 4

27     Das Rätsel Nr. 3

28     Gaga

29     Kvalia

30     Wahlverwandtschaften

31     Die Welträtsel

32     Gedankenexperiment

33     Abschied

34  Nachtrag


 

 

 

 

 

 


Was aber Qualität ist, Phaidros, und was nicht, - müssen wir darüber erst andere fragen?

Nach Platon, „Phaidros“


1 Prolog

1. Prolog

 

Es war irrsinnig. Wir trafen uns wöchentlich, um uns kurzzuschließen. Es waren verkopfte Dinge, die wir uns abrangen, bedeutsame Themen, die wir gemeinsam zu bewältigen versuchten. Sinn, Selbst, Welt, Ich, Bewusstsein, Tod, Geist und so weiter. Es ergaben sich bei uns stets unterschiedliche Sichtweisen, trotz der Schwere, der Gravitation der Bemühung.

Während der ganzen Zeit schwang im Hintergrund die Vorstellung mit, dass wir uns irgendwo begegnen, treffen würden, - dieser naive Glaube an eine doch bitte anzustrebende Harmonie! Doch stets verliebten wir uns alle insgeheim in unser gewohntes „Ja, aber“. Immer gab es etwas auszusetzen an der Sichtweise der anderen Erforscher unserer Welt. Wir strebten zu irgendeinem mysteriösen Ort, an dem wir zusammen den Ausblick, die Schönheit, die erkannte Erstaunlichkeit des Momentes sehen würden. Doch trotz unseres heldenhaften Kampfes um Brüderlichkeit trat jener Moment nicht ein. Im Gegenteil: wir mussten schmerzhaft erleben, dass wir uns ganz offenbar weiter von einander entfernt befanden, als wir bis dahin gedacht hatten. Denn, - und das war Prinzip - wir erwarteten, dass die anderen folgen würden – zu jenem Ort, den wir vorschlugen.

 

Nachdem es uns allen - wir waren ja nur vier Möchtegernephilosophen - schmerzhaft bewusst geworden waren, dass jeder den besten Ort kannte und nur dort zum Treffen einlud, setzte Ernüchterung und Entfremdung ein.

Man kennt das. Sobald die Vorstellungen sich definitiv nicht mehr realisieren lassen, muss der Selbstschutz starten und die Lage neu bewerten. Er ist ein Notfallassistent, der automatisch im Untergrund startet. Failsafe, eine Programmierung, eine selbstablaufende Routine zur Sicherstellung der stabilen Grundlage für das Selbstgefühl.

Für Gabriel, der als Letzter begriffen hatte, dass sich das, was er für selbstverständlich gehalten hatte, überdeutlich von der Sichtweise aller anderen unterschied, war es das Ende einer Hoffnung auf Synchronizität. Für Daniel bewahrheitete sich eine Erwartung, die er längst gespürt, sich entsprechend seiner Einschätzung als notwendig zurecht gelegt und sich darauf vorbereitet hatte. Wassim war überrascht, dass es sich so entwickelte, obwohl er ja stets für eine Harmonisierung eingetreten war. Seine fatalistische Konsequenz bestand in einer verstärkten Konzentration auf sich selbst und seinen Tagesablauf, während ich, Gottfried, die Entwicklung nicht in dieser Form akzeptieren wollte.

 

Ich entstammte einem alten Göttergeschlecht aus der Historie des Nordostens, aus dem Sagenschatz der Ostsee und der Germanenwelt, aus Walhalla und dem reichen Erbe der keltischen Mystik mit ihren verflochtenen Naturwesen Europas. Jenes Erbe, das in mir pulsierte, erstreckte sich über Jahrtausende und über Räume, die im Blut der Generationen vom Nordmeer bis zu den Ebenen jenseits der Alpen reichten. Für mich, Gottfried, den Nachkömmling eines Geschlechtes, das aus dummen Bewohnern dieses riesigen Refugiums bestand, gehörte ein unausgesprochenes Missverständnis, ein deutlich verbalisiertes Erstaunen über abgehobene Ansichten zu den Warnsignalen eines kommenden Scheiterns. Wir waren als Bewohner der gemäßigten Zonen des Scheiterns geübt, des Zweifels trainiert und der Skepsis anheim gefallen. Wir erwarteten quasi das Unausweichliche, während andere noch träumten.

 

Der Belesenste von uns zog sich auf seine Lektüre zurück, der Phantasiereichste widmete sich seiner Leidenschaft, dem Phantasieren und ich, der Nachkömmling eines merkwürdig provinziellen Geschlechtes von Landgöttern, ich freundete mich mit der Ernüchterung an, die mich umworben hatte, seit wir uns kannten. Ich kannte Traumbilder von gelingendem Gruppensinn, von euphorisierendem Antrieb, der alle mitriss, selbst den Skeptiker, - aber nun, angesichts der überschaubaren Anzahl von vier Personen mit jeweils eigenen Ansichten war die Ernüchterung groß. War doch die eigene Logik, die Deutlichkeit der persönlichen Errungenschaften im Begreifen ein Gut, das man nicht aufgeben wollte, weder auf der göttlichen, bewährten und erprobten Ansicht, noch auf dem Feld der Verbrüderung mit Genossen, die dann doch fremdes Glaubensgut propagierten und zum Inhalt des Gruppenduktus erheben wollten. Immerhin war ich doch ein Nachfahre eines Göttergeschlechtes …

 

Allein der Name. Ich hatte mich als Jüngling nicht damit anfreunden können, dass meine Eltern mich so genannt hatten. Später gewöhnte ich mich an das befremdliche Gefühl meiner Benennung und jüngst, seit zwei Jahrzehnten, empfand ich sie als edel, ja adelig. Gottfried, Gottfried der junge Unsterbliche, Gottfried der Gott des Friedens mit Gott. Als ob es jemals Frieden mit Gott gegeben hätte.

 

2 Gründergeist

2. Gründergeist

 

Die anderen drei Philosophen wussten nicht, ob sie Ableger von Göttern waren, oder gar von Gott. In den Familien wurden solche hochtrabenden Bezeichnungen niemals verwendet, selbst in der von Gottfried nicht. Genau betrachtet war deshalb auch die Herkunft von Gottfried mehr oder weniger ungewiss und die forsche Verknüpfung mit göttlichem Geschlecht war vorschnell. Gott und seine Konkurrenten, die Götter, hätten solche Selbstbezeichnungen nie geduldet, das wussten die Vorfahren seiner Eltern noch besser als diese selbst. Es hatte sich ja noch nicht in den Kollektiven verwurzelt, dass es Gott als Zorn nicht mehr gab. Nachdem einst, vor anderthalb Jahrhunderten, ein scharfer Denker seinen Thron ins Wanken gebracht hatte, formierten sich anschließend die Reihen der Gläubigen. Die Bedenkenträger und Moralapostel schlossen freiwillig auf und stützten das, was sich bedenklich neigte wie der Turm von Pisa. Ein solcher Tabubruch, eine Häresie ersten Grades, eine Frechheit angesichts der mangelhaften Güte des Menschengeschlechtes, - ja, ein Schritt, der hinaus ins Nichts führte, anders konnte man diesen Vorstoß nicht nennen und deshalb musste das alte Fundament wieder gestärkt werden. Provokante Tötung Gottes und seine prompte Wiederbelebung, - eine Farce!

Wo käme man hin, wenn jeder beliebige Gottfried sich Gott nennen würde? Ins Irrenhaus! Wohin sonst? Was hatte man denn dann noch als Anker, als Vorbild, als Hoffnung, als Sinn? Sich selbst? Ja, gab es das denn? War nicht Jeder selbst nur ein Knecht seines Herrn? Musste auch diese erste, höchste und letzte Wahrheit noch fallen? Welche Wahrheiten würden denn dann noch bleiben, - die eigenen etwa?

 

Gabriel, Daniel, Wassim und Gottfried. Vier Götter, die sich im Philosophieren versuchten! War das nicht einen herzlichen Lacher wert? Philosophie, die Kunst des Verstehens, wo doch Götter sich auf das Lenken, das Dirigieren, das Fordern und Vergelten verlegt hatten. Und jeder der vier Götter hatte Kämpfe hinter sich. Echte Kämpfe, keine Scheinkämpfe! Sie hatten Wunden hinterlassen und Beeinträchtigungen. Der eine oder andere redete gar von Trübungen, Wahrnehmungstrübungen! Kämpfe fanden statt. Wegen der Verteidigung von Gut gegen Böse. Die alte Leier. Dabei gab es gar keinen Bösewicht. Alles selbst generiert, Gut und auch Böse. Kampf gegen sich selbst. Lustig, - nicht wahr? Ja, Trübungen, wahrhaftig!

 

Es grenzte an Lächerlichkeit, wenn sich Götter oder Götternachfahren philosophierend ihrer Kämpfe, ihrer Beeinträchtigungen brüsteten. Der eine behauptete, einem kosmischen Geschlecht zu entstammen, das sich zwar ehemals rühmte, in weisem Überblick die Mechanik aller Vorgänge universalen Übergreifens zu bedienen, ja, diese Mechaniken sogar zu verstehen. Der andere, Daniel, sonnte sich im Licht glasklaren Sehens dessen, was es zu sehen gab. Entsprechend weniger klar stufte er dasjenige ein, das sich kosmischer Dimensionen rühmte. Der dritte unserer philosophierenden Gruppe sah unbekannte Kräfte am Werk, die sein Dasein bestimmten. Er brachte mit dieser These gar die Grundlage aller göttlichen Selbsterkenntnis zu Fall und zog sich zurück auf eine Position, die ihn von unbekannten, noch diffusen Einflüssen allmächtiger Art abhängig definierte. Verzicht auf Göttlichkeit war in diesem Kreis nicht verboten. Jedwede Selbstverortung war erlaubt, denn anders wäre die individuelle Freiheit in Zweifel geraten. Doch das wollte keiner der vier philosophierenden Götter. Der Vierte hatte einen Plan. Entlang seiner Vorstellung von göttlicher Evolution stellte er sich die Philosophie rückblickend in die Antike und vorausschauend in die zu erwartende Zukunft vor. Und seine Götterkollegen sah er in diesen Plan eingewoben, zu seiner Vorstellung passend.

 

Es war, wie gesagt, irrsinnig. Es gab keinerlei Bewegung. Die Betrachtungsmuster des göttlichen Daseins waren festgefahren wie Fahrzeuge mit glatten Reifen auf seifigem Lehm. Nun, man hätte aussteigen können und behaupten, es hätte so kommen müssen. Klar, wenn man nicht bereit war, seine kleinkarierte Sicht aufzugeben, dann musste man nun mal die Konsequenzen tragen. Festgefahren war der übelste Zustand überhaupt. Schlimmer war nur noch „völlig verirrt“ oder „gänzlich vernebelt“. Die Devise war in einem solchen Fall für alle Betroffenen: Rückzug, Konzentration auf den eigenen Fundus, Wahrung der eigenen Versatzstücke für die Überlebenschancen des gewohnten Gesamtbildes.

Für Daniel war es nicht reproduzierbar, ob die Philosophen der Antike sich anders verhalten hätten als wir vier Neuzeitgötter. Auch damals mochte es Konkurrenzen zwischen den Vertretern unterschiedlicher Weltanschauungen gegeben haben. Immerhin waren in den Frühkulturen die Götter noch nicht ins Rutschen geraten.

Gabriel sah sie ständig am Werk, die Guten. Davon abzuweichen – von seiner Sicht – war nicht sein Ding. Eher hätte er neue erfunden oder, wie er es nannte, GEfunden, als sie abzuschaffen. Durchaus sogar eine ganze Horde; Naturgötter, Wurzelgeister, Lichtlein im gefährlichen Wald, der so gar nicht friedlich war.

Wassim dagegen roch ihn um sich herum, den Duft des Heiligen, des Wahren und Präsenten. Und auch er hätte sich keinen Zweifel an seinem feinen Geruchssinn gefallen lassen. Geruch war Geruch, beziehungsweise war es in diesem Fall ein Duft, der spirituell belebte.

Der einzige in diesem Kreis, der „wusste“, dass er göttlicher Natur bereits war, Gottfried, tat sich schwer mit der kreisinternen Fliehkraft. Sie war selbsterzeugt und verhinderte, dass man aufeinander zugehen konnte. Immerhin war er selbst ebenfalls von dieser Selbstbezogenheit befallen. Erkannte man ihn doch nicht an als Gott; würdigte man doch seine göttliche Einsicht in die Natur der Dinge nicht standesgemäß!

 

 

Sie waren nur vier von vielen, die in einem Gebäude wohnten, dessen Aussehen, dessen innere Struktur, dessen Atmosphäre, dessen Sinn und Zweck sich kaum beschreiben ließ. Versuchsweise könnte man sich vorstellen, es stünde inmitten einer wilden Wiese am Rande eines urbanen Parks. Man konnte von allen Etagen aus hinabblicken in diesen Park, seine Hügel und Wege, seine Schatten und Bänke. „Sonderwelt“ nannte ihn Gabriel, denn die Flaneure, die kinderwagenschiebenden Mütter, die taschenbuchlesenden Junggesellen, die im Schneidersitz studierenden Studenten auf den kurzgeschorenen Wiesen, die stöckewerfenden Familienväter mit Hunden, die Mädchen mit ihren ersten Fahrrädern und die Jungs mit Drachen und Bumerangs, sie nutzten diesen Park nicht wegen des Ertrags, den sie dort verdienen konnten, sondern genau wegen des Gegenteils: weil es müßig, nutzlos, entspannt, frei und Zeitvertreib war.

Demgegenüber war jenes Gebäude inmitten des leicht ungepflegten Geländes am Rand der urbanen Struktur geradezu verwegen platziert. Kein Gärtner kümmerte sich um sein Außengelände, kein gut entlohnter Meister besorgte das Putzen der Fenster, das Säubern der Pflasterfugen, den Schnitt der Hecken, das Fegen der Treppe, das Sammeln herumfliegender Papierchen und Fetzen von entflohenen Drachen, das Entfernen von Moosen und Flechten von den Mauersockeln eines Hauses, das niemand zu bemerken schien, der im Park flanierte.

Die Frage nach der Zahl seiner Etagen, nach der Höhe des Daches, der Anzahl der Wohnungen und Zimmer, der Stufensumme im Treppenhaus, der Briefkästen und Klingeln, der Verschläge im Keller und Stuben im Obergeschoss wusste niemand zu beantworten. Selbst die Bewohner legten einen Finger an die Stirn, bohrten eine Weile in der Nase und verzogen die Mundwinkel, um dann davonzugehen, als ob sie die Frage nicht gehört hätten. Manchmal bekam man eine Antwort. Zehn, sieben, vierzehn, - vier gar. Alles inkorrekt und illusionär. Denn das Haus war wie ein Organismus, der sich mal so, mal so verhielt. Innen und außen war es belebt. Und auch sein Aufbau, sein Körper, die Form drückte etwas aus, das man respektierte. Vermutlich lag die Jahreszahl seines Baus in der Gründerzeit; der Fassade nach zu urteilen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Es gab Anklänge an klassizistische Stilelemente in den Fensterlaibungen, in der Dachform mit dem steilen Flanken und dem angesetzten flachen Teil, der verspielt von angedeuteten Zinnen umkränzt war, die entfernt an eine Burg oder Schloss erinnerten.

 

Gottfried saß hin und wieder ganz oben auf dem Dach, zwischen den Kaminen und Zinnen und betrachtete versonnen tief unten die Spaziergänger im Park, drehte sich zu Gabriel um und beschrieb alles, was er sah, ganz so, als ob es eine Auflistung aller Dinge der Welt sei, die er als Gott zu beobachten habe. Wassim konnte viele genaue Attribute aller Vorgänge dort unten schildern, weil er sich gut auskannte mit den Eigenheiten, den inneren Mechanismen, den natürlichen Gesetzen des Geschehens im Park. Daniel steuerte eine übergreifende Sinnhaftigkeit all dessen bei, die sich in seinem Verständnis des Daseins dort unten in diesem Gelände schon immer befunden hatte. Er schien diese grundlegenden Regeln, die er darin sah, schon immer gewusst zu haben. Gabriel hakte normalerweise genau dort regelmäßig ein und stellte genau diese Regularien infrage. Es war ein Reflex. Und auch Gottfried und Wassim erlagen regelmäßig jenem Reflex, Daniels Verkündung der großen Planbeschreibung alles Geschehens im Park zu widersprechen. Nein, dort unten geschah etwas anderes, nämlich genau jenes, das Wassim behauptete. Oder war es doch Gabriel, der das richtige Verständnis der Vorgänge artikulierte?

Gottfried ertappte sich selbst dabei, spontan vorzupreschen und der eigenen Sicht der Dinge zu ihrem Recht zu verhelfen. Immerhin war er Gott! Doch dann erfasste ihn eine gewisse Traurigkeit, die ihn bremste. Man würde ihm nicht folgen. Seine göttliche Sicht wurde latent verkannt und abgelehnt. Hatte er nicht oft genug diese Lehre ziehen müssen, dieses ernüchternde Fazit konstatieren und sich zurücknehmen müssen, trotz seiner göttlichen Einsicht in die Natur der Dinge?

 

Man verschob weitere Kontroversen auf den Tag des wöchentlichen Treffens, an dem intensiver Diskurs, ernsthafte Faktenabwägung und sauberes Argumentieren geübt wurde. Sie hatten gute Absichten. Sie nutzten Werkzeuge, die ihnen die Arbeit erleichterten und Klarheit erzeugten. Es waren Arbeitsstrukturen erkennbar, die aus einem Willen entsprungen waren, Unsauberkeiten und Irrtümer zu vermeiden. Konsequentes und penibles Erschaffen von belastbaren Fundamenten und korrekter Aufbau von geradlinigen Gedankengebäuden sollte irgendwohin führen. Zur Wahrheit!

 

Gottfried behauptete, es gäbe keine Wahrheit, alles sei dem zeitlich bemessenen Verfall anheim gestellt. Indem er das als Wahrheit empfand, zog er seine These ins Absurde.

Gabriel sah evidente Gegebenheiten, die sich selbst außerhalb jeden Zweifels setzten und machte diese Sicht nutzbar für seine Zwecke. Auch das ein zirkulierender Zirkelschluss mit dem Hintergedanken, unangreifbar zu sein.

Daniel zog sich auf seine langzeiterprobten Pläne zurück, die den Sinn für die gegenwärtigen Dinge immer zuverlässig erklärten und enthob sich damit der Aufgabe, sich von Langzeitgewohnheiten zu verabschieden.

Wassim war, wenn man seine Vorlieben kannte, vorhersehbar in der Art, wie er Dinge zu betrachten liebte, spirituell und duftend. Ebenso vorhersehbar wie die Betrachtungen der anderen Drei.

 

Das Haus, es mochte aus gewissen Perspektiven so wirken, als ob es seine besten Zeiten längst hinter sich hätte. Aber dann wieder, wenn man sich nicht auf Material, Statik, Zerfallsprognosen, Marktwert und Substanzeinschätzung einließ, sondern auf den Gegenwert in Leben, in innerer Dynamik, in Produktivität von Sinnhaftigkeit, in Wert und Glück für die Bewohner, - dann erschien es jung und progressiv, ja, - on top, auf der Höhe des Gebotenen.

Es gab an der Seite zum Park hin einige Erker, die die Silhouette prägten. So, wie es nun nach mehr als hundert Jahren aussah, das Haus, mit seinen etwas unregelmäßig verteilten Erkern, die sich nur an wenigen Wohnungen befanden, erinnerte es seitlich betrachtet an einen menschlichen Kopf. Die Nase stand vor und auch die Augenbrauen. Ein schwach vorstehendes Dach über der Eingangstür gab die Oberlippe. Die Fenster unter den Augenbrauen waren von innen mit Vorhängen geschmückt, wodurch sie den Betrachter fragend ansahen. Und manchmal, wenn in der Dämmerung dahinter eine Beleuchtung schien, dann folgte ihr Blick neugierig den Passanten. Zumindest bildete man sich das ein, wenn man für solche Assoziationen empfänglich war.

 

Die Rückseite des Hauses war geprägt von angebauten Garagen, einem Schuppen für Fahrräder, einem Blechcontainer für Werkzeuge. Diese Ansicht gemahnte den unscharf hinsehenden Betrachter an den gebeugten Rücken eines Menschen. Ein Rucksack mochte noch darauf geschnallt sein, in dem das Werkzeug sich befand. Niemand wusste so recht, was wirklich in der Blechhütte untergebracht war. Rechen, Spaten, Besen, Rasenmäher, Schubkarre und Streusalz?

Natürlich lag es im Auge dessen, der Muße und Aufmerksamkeit hatte für die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, ob er die beschriebenen Verknüpfungen ebenfalls sah. War der Schritt aber einmal getan, dann konnte man sich kaum mehr davon befreien und aus jeder beliebigen Perspektive nahm das Haus menschliche Züge an, mal Kopf, mal Körper, mal nur mit viel Phantasie, mal überdeutlich.

Die Teilnehmer des wöchentlich stattfindenden kleinen Philosophierclubs wohnten alle darin. Jeder von ihnen hatte Familie, doch diese Treffen waren nur für sie und mittlerweile hätte auch kaum jemand den Kreis ergänzen oder verlassen können. Zu fortgeschritten und codiert war die Dynamik der internen Kommunikation. Und kein Aspekt der behandelten Themen war zu sperrig; ganz im Gegenteil: je diffiziler das Objekt, desto größer die Anforderung an die Genauigkeit und die Sorgfalt. Und es gab das Scheitern.

Wassim verglich es mit einem der Wege im Park:

„Wenn du selbst dort entlang gehst – er führt parallel zu den oberen Wiesen und dann zwischen die Baumreihen mit den exotischen Gehölzen – dann fällt dir gar nicht auf, dass sich deine Umwelt klammheimlich verändert. Denn wenn man dort geht, auf dem oberen Weg, dann ist man meist in Gedanken. Irgendwann bemerkt man, dass ringsum unter den hohen Baumstämmen Schatten sich ausgebreitet hat und eine seltsame Stille herrscht, die man erst jetzt wahrnimmt, wenn sie die Gedanken vertreibt und Platz schafft für ein erstauntes Umherschauen, wo man sich denn wohl befindet. Und man ist bereits im Wald, denn es gibt keine Hinweistafeln mehr, aus welchem Land denn die Bäume stammen.

Der Weg führt zu einem Bachlauf, den man nur über eine Zone großer Felsblöcke erreicht, die man kletternd überwinden muss, - was man gerne tut. Denn man will, sobald man diesen attraktiven Wasserlauf entdeckt hat, in sein klares Wasser blicken. Danach geht man eine gewisse Strecke an seinem Ufer entlang und stellt fest, dass man nicht der Erste ist. Es gibt schmale Pfade und Abfall, ein wenig, nicht viel.

Nach der Kletterei und dem Sattsehen am Bach schaut man auf und stellt fest, dass man die Orientierung verloren hat!“

„Was hat das mit Scheitern zu tun?“ Ich verstand nicht, was er meinte.

„Nimm einmal an, wir hätten uns auf das Ergründen des Bewusstseins verlegt.“

„Das haben wir doch mehrfach getan!“

„Ja, aber vergleiche es mit diesem Weg durch den Park. Zunächst denkt man an die Problematik und achtet nicht auf den Weg. Die Problematik, das Bewusstsein zu ergründen ist wirklich kompliziert und schwierig, aber sie wird nicht durch Nachdenken über die Problematik gelöst. Das Denken darüber ist nicht das Bewusstsein, doch insgeheim, beim Weiterverfolgen des eingeschlagenen Weges, wenn man die Komplexität und das Denken darüber vergessen hat und sich umsieht, wo man sich denn befindet, dann kehrt das Bewusstsein zurück und befindet sich direkt vor uns, führt uns zu seinen klaren Wassern und lässt uns hinein blicken.“

„Das ist wahr!“ Daniel nickte. Wir saßen auf der Dachterrasse und betrachteten den Park im Dämmerlicht des Abends. Gabriel lächelte und sagte:

„Was soll daran ein Scheitern sein?“

Wassim beugte sich vor und deutete hinab ins Zwielicht, in dem die Baumreihen nur noch schemenhaft zu erkennen waren.

„Von hier oben betrachtet habe ich viele Male sehen können,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0485-9

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