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Lust

I M P R E S S U M


Lust

 

von Walter Gerten


© 2021 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2021 Walter Gerten

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss

Manfred Wilt und die Rocker

Der Bote des Zarathustra

Monte Nudo

Unterwegs mit Tom Kerouac

Ich bin ein Schiff

Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola

Die Sternenbücher 2 Akba

Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes

Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens

Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome

Die Sternenbücher 6 Das Nichts

Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers

Die Sternenbücher 8 Paradise2

Die Sternenbücher 9 Solitan

Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan

Die Sternenbücher 11 Das Ubewu

Die Sternenbücher 12 Ich und Es

Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern

Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit

Die Sternenbücher 15 Selbst Ich

Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden

Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT

Die Sternenbücher 18 Marielle

Die Sternenbücher 19 Arkadien

Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer

 

Die philosophischen Romane:

Lust

Pilgern

Scheitern

Irritation

Scheitern

Stille

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Das Buch

 

In einer malerischen Kleinstadt des ländlichen Frankreich wird durch glücklichen Zufall eine uralte Schrift entdeckt. Sie ist das einzig verbliebene Dokument einer längst vergessenen Religion, die sich auf eine Göttin bezieht. Sie lehrte die Philosophie des Lebens, die Macht des Augenblicks, die Erweiterung des Bewusstseins hin zum Erkennen der eigenen Beschränkungen.

Jene Religion, die etwa 250 Jahre vor Christi Geburt im antiken Griechenland entstand und über die Enklave Marseille oder „Massalia“ nach Nordeuropa kam, wurde in einer immer kleiner werdenden Gemeinschaft gepflegt und schließlich von der letzten Zeugin, einer alten Französin, zwei Autoren aus Deutschland offenbart. – Oder ist alles ein Fake?

 

Der Roman „Lust“ ist der erste aus einer Reihe, die sich im Rahmen von erzählerischen Geschichten mit philosophischen Themen beschäftigen. Es gibt in allen jeweils eine Gruppe von Freunden, die sich in ihren Gesprächen, Aktivitäten, Reisen, Plänen und Träumen gemeinsam auf diese (philosophische) Weise weiterentwickelt.

„Lust“ erzählt in zwei sich verstrickenden Handlungssträngen einerseits von einem Freundeskreis, der in einer gewissen Krise steckt, weil allen vier Teilnehmern klar geworden ist, wie autonom und uneinnehmbar die individuellen Weltbilder doch sind. Der Protagonist (der Ich-Erzähler) zieht sich zurück ins private, idyllische Leben zuhause und erlebt, wie die tiefgreifenden Gespräche der Gruppe andererseits zum Trigger für einen zweiten Erzählstrang werden, der sich um Epikurs Garten rankt.

Die alte Schule dieser griechischen Philosophierichtung fasziniert ihn zunehmend und wird in seinen Vorstellungen lebendig.

Einer seiner Freunde reaktiviert ihn mit einer Idee voller Enthusiasmus und Kreativität: Er überredet ihn, gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, das verrückter und absurder in der modernen Zeit des 21ten Jahrhunderts nicht sein könnte: die Gründung einer neuen Religion.

Nach anfänglicher Skepsis lässt sich der Protagonist auf die Ideen seines Freundes Fred ein und auch die übrigen Teilnehmer des Vierer-Kreises gesellen sich nach und nach zögernd dazu.

Epikur und seine Philosophie liefern in der Phantasie des Erzählers die Grundlage für etwas, das schon einmal, vor zweitausend Jahren, an der Schwelle zu einer eigenen Religion stand. Und bei allem ernsthaften Bemühen der Gruppe wird das Unternehmen trotzdem schon bald karikaturhafte Formen gewinnen, ohne dass sie selbst es bemerken.

Epikurs Garten als Legende, als Symbol für eine Befreiungsphilosophie, geht aus den Wirren um die Bemühungen Freds und seiner Freunde am Ende rein und geläutert hervor, während alle Aktivitäten um ein angeblich in Frankreich aufgefundenes antikes Dokument und eine noch lebende letzte Zeugin der untergegangenen Religion in ein Dilemma abrutschen, das alle Beteiligten zurückruft zu einer Besinnung auf die Urantriebe für genaues und ehrliches Denken und Empfinden.

 

Die Unternehmung der vier Hobby-Philosophen jedoch gewinnt aufgrund der investierten Euphorie eine Eigendynamik, die sich bis zum Zusammenbruch der Phantasien kontinuierlich steigert. Zunächst scheint alles zu gelingen; es bilden sich die ersten ernstgemeinten Keimzellen des neuen Glaubens. Es kommt zu einem lebhaften Interesse von Seiten der Medien. Die Motivationen wirken echt und korrekt. Und doch bleibt ein leiser Zweifel des Ich-Erzählers. Sind doch die Zutaten zur Religionsgründung nicht wirklich belastbar, manifest; handelt es sich doch um zweckdienliche Versatzstücke, die man geschickt einsetzt.

Auf dem Höhepunkt der erfolgreichen Aufwärtsbewegung holt die Realität schließlich diese Fata Morgana ein. Die letzte Zeugin jener erfunden Religion und ihr „Dokument“ bringen den Schwindel zu Fall. Es bleibt eine Rückbesinnung auf den von jedem Ehrgeiz freien Kern der Philosophie Epikurs, die ursprünglich als Vorbild gedient hatte. Hier treffen sich die beiden Handlungsstränge und nur der ehrliche, von reiner Tiefe bewegte beweist seine innere Qualität.

 

 

 

I M P R E S S U M

Inhalt

Vorwort

  1. Elias
  2. Die Runde
  3. Epikur
  4. Der Tunnel
  5. Die Lust
  6. Religionsgründung
  7. Reisebericht, erschienen in „Psychologie im Trend“, sowie zwölf weiteren artverwandten Zeitschriften und Online-Medien. Autoren: M...x und F...x.
  8. Interview eins bis drei
  9. Anfangserfolge
  10. Giselle
  11. Artefakte
  12. Probleme
  13. Vermutungen
  14. Ich bin Kunst
  15. Nachwort

 

 

Vorwort

 

Die Angst des Autors beim Schreiben

Der Schreiberling kennt den Leser nicht. Er hält ihn für einen positiven, gebildeten, neugierigen Menschen, der eine gewisse Lieferung, einen Gegenwert, ein „Produkt“ erwartet. Also bemüht sich der Schreiberling um einen „Hook“, einen Haken im Text, der genügend Potential hat, um den Leser zu fesseln, ihn hineinzuführen in einen Spannungsbogen, eine Geschichte, die ihn persönlich fesselt, ihn interessiert und bindet.

Selbst Nietzsche bemühte sich in seinem Hauptwerk, dem „Zarathustra“, um einen solchen Effekt auf den Leser. Er milderte seine Sperrigkeit um einen gehörigen Betrag, allein um dem Leser zu gefallen.

Was würde Gegenpart des Autors, dieser wichtige Teilnehmer der Unternehmung „Schreiben“ erwarten, wie würde man ihn (den Leser) zufrieden stellen können, ihn bei der Stange halten? Die „Stange“ assoziiert die Tänzerin in einer Oben-Ohne-Bar, die mit gekonnter Vorführung ihrer körperlich-formalen Qualitäten die Zuschauer zu fesseln beabsichtigt. Mit erotischer Betonung gewisser Zonen versucht sie, die Anwesenden zu faszinieren, ihre Instinkte zu aktivieren, ihnen Vergnügen zu bereiten.

Nietzsche ist jenseits aller Verdächtigungen, dass er sich zu prostituieren beabsichtigte, - ganz gewiss! Und doch tat er, - ja er sagte, er habe es für die Poesie getan -, einen Schritt heraus aus der direkten Sprache und auf den Leser zu und bot ihm eine Darreichungsform, die sich seinen Bedürfnissen beugte. Er konstruierte sein Werk FÜR den Leser.

Der Schreiberling hofft auf die Geduld, auf die Neugier, die auch von unscheinbaren Sujets angefacht wird, auf die Sensitivität, die nicht auf Morde, Katastrophen, Explosionen, Verzweiflungen, Sensationen anspringt, sondern im Gegenteil von solch üblichen Mustern gelangweilt ist. Dass es unter- oder oberhalb solcher Konzepte genügend Material, ausreichend Beobachtungen, Phänomene, Beschreibungen für eine interessante Reise im Reich der Schriftsprache geben möge, das ist die Hoffnung des Schreiberlings, der hiermit schon einen gewissen Vorgeschmack zu generieren hofft: hier geht es um die Aufmerksamkeit für nicht ganz so offensichtliche Begebenheiten.

 

 

Elias

1 Elias

 

Ich dachte darüber nach, wie lange ich ihn denn schon kannte. - Eigentlich schon immer, mindestens vierzig Jahre -. Aber wann war er in mein Leben getreten? Wann hatte man ihn mir vorgestellt? Wer hatte ihn mir nahegebracht, empfohlen, ihn als interessant und bemerkenswert bezeichnet? Sylvie, Marcel, Christoph? Ich erinnerte mich nicht. Sicher war, dass ich ihn weder aus dem Sandkasten noch aus der Schule kannte. Irgendwann danach war er erschienen.

Sein Elternhaus war mir unbekannt, dabei hatte ich bei all meinen anderen Freundschaften stets die jeweiligen Eltern früher oder später kennen gelernt. Nur seine nicht. Vermutlich waren sie Griechen. In Griechenland beheimatete Griechen. Dort wohnhafte Eltern, während er nach Deutschland ausgewandert war, - irgendwann.

Sein Name deutete darauf hin. Auch seine Gesichtszüge erinnerten an Griechenland; - das alte Griechenland; - das Griechenland der Antike, der Philosophen und Lebenskünstler. Die prägnante Nase, an einen Greifvogel gemahnend, leicht gebogen und nicht zu klein. Die direkten und doch weichen dunklen Augen. Die Augenbrauen, die ebenso gut zu einem erheblich älteren Mann gepasst hätten. Aber die Fältchen um den breiten Mund waren noch verspielt, spöttisch, nicht so verhärmt

wie bei älteren Menschen. Die Stirn zeigte bereits einige Furchen, auch noch vorläufig und noch unausgereift. Also war er jünger als ich, - oder?

Während ich noch unentschlossen bezüglich seines Auftauchens mit meiner Erinnerung an ihn herumspielte, ihn drehte und wendete, - ohne eine Gravur, eine Punze, eine eindeutige Zuordnung aufzufinden. Während ich an eine prüfende Begutachtung dachte, entzog sich mir sein Bild, verschwamm und verflüchtigte sich, lockte meine Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt meines Lebens, die Gegenwart. Dort war durchaus auch sein Refugium, das spürte ich nun. Er war, das konnte ich nicht leugnen, ein Begleiter all meiner reflexiven Tätigkeit.

Wie eine Norm, ein Prüfstein für Güte und Vertrauen, Verlässlichkeit und Qualität, mischte sich sein Double in meine Gedankentätigkeit ein und spielte die Rolle, die er, der Grieche, beanspruchte.

 

Diese Rolle war selten im erkennbaren Bewusstsein meiner Wahrnehmung anzutreffen. Doch im Nebel des Schattens, im dubiosen Raum meiner versteckten Bestandteile war er nicht mehr wegzudenken. Durch bestimmte Erlebnisse, die fundamental zum Bestandteil meines eigenen Schauspiels, zum Theaterfundus meiner inneren Bühne, zur Klaviatur meiner Musik gehörten, war er Mitglied meiner inneren Familie geworden, so wie viele andere auch.

Der Grieche, - er hieß Elias -, hatte einst eine Schlüsselrolle in meiner Initiation gespielt, das wusste ich noch. Doch mittlerweile, einige Jahrzehnte später, hatte ich das Gefühl, ihn immer schon gekannt zu haben. Wahrscheinlich übertrieb ich alles, was mit der Initiation, dem Vorstoß ins Unbekannte zu tun hatte und Elias hatte längst nicht eine so wichtige Funktion dabei gespielt, wie ich nun dachte. Vermutlich war es nur eine zeitliche Synchronizität gewesen, die mich dazu veranlasste, ihn in dieser Rolle zu sehen. Ihm selbst war das sehr wahrscheinlich gar nicht bewusst gewesen. Sicherlich baute ich ein Szenario auf, das nie existiert hatte. Gewiss war ich mit der Struktur meiner inneren Räumlichkeiten befasst, die ich als guter Architekt korrekt und makellos sehen wollte, obwohl sie auf chaotische und planlose Weise entstanden waren.

 

Dabei war wirklich wenig an seinem Beitrag makellos gewesen, bei Gott! Nun, Gott wertete ich schon lange nicht mehr als Maßstab, dafür hatte er einfach zu oft versagt. Aber Elias ebenso. Nur war durch seine erweckende Funktion, die er während meiner Initiation wahrgenommen hatte, alles in ein verklärendes Licht getaucht, was er tat. Bis irgendwann, - dann war der Zauber erloschen und Elias war zu einem normalen Menschen zurecht gestuft worden, - wohl auch von meinem ominösen Unterbewusstsein.

Allein die Tatsache, dass er aus Griechenland stammte, jenem antiken Vorreiter unserer Kultur und Weltanschauung, gab ihm dennoch einen Status in meiner Gedankenwelt, der ihn verklärte. Er wurde, peu à peu, zu einem Mitspieler im Elferrat meiner Qualitätskontrolle, zu einem Beisitzer in der Jury der Bewerter meines Tuns und Denkens. Basta!

 

Die Archetypen, jene urtümlichen Mächte im Dunkel meiner Psyche, waren sich oft uneins, wenn es um ihr Eingreifen in den Fluss meines Wirkens ging. Schließlich war es höchstes Ziel und feinste Ausübung der Lebenskunst, die Strömungen und Wirbel im Flussbett nicht zusätzlich zu stören, sondern stattdessen jedes Driften auf diesen Einflüssen nach Möglichkeit und Kräften zu fördern.

Also übten sie ihr Korrektiv wenig bis gar nicht aus, jene Mächte im Dunkel, beschränkten sich auf ihr Erscheinen in den denkerischen Abschnitten, vermieden das Auftauchen von Zweifeln, soweit möglich.

Viele dieser antiken Archetypen waren mir unbekannt. Ich hatte noch nicht einmal einen Namen für sie, geschweige denn ein Gesicht oder eine figurative Imagination. Es war zum Beispiel der Logos oder der Krieger, der Magier, der Liebende, die Vernunft. Doch daneben gab es reale, neuzeitliche Personen, die einen Platz gefunden hatten in diesem Konglomerat wirkmächtiger Kräfte. Elias gehörte dazu.

 

Ich hatte ihn kennen gelernt, als wir uns in einem fliegenden, schwerkraftfreien Bereich nach Abschluss der Hochschulreife befanden. Man erwartete von Gesellschaftsseite eine Art Selbstfindung, eine Orientierung im Thema Beruf, Karriere, Geld, Entwicklung, Partnerfindung. Man stellte mit gewisser erzwungener Geduld eine begrenzte Auszeit zur Alternative, die man aber niedriger wertete.

Nun, sowohl mir, als auch Elias und vielen Anderen aus meinem Umfeld war diese Erwartung herzlich egal. Was die Gesellschaft unter „Selbstfindung“ verstand, war nicht unser Thema. Wir waren erheblich weiter, ehrlicher, ernster in diesem Themenkomplex: Wir hinterfragten die Gesellschaft. Elias als Dissident, als eingewanderter griechischer Auswanderer, als Sonderling im technokratischen Europa der siebziger Jahre des 20ten Jahrhunderts, als Exot im Aquarium stupider Guppys mitteleuropäischer Schwarmfische, als Individuum inmitten von Gruppenmenschen warf einen Handschuh in den Ring. Er hatte die Zeichen der Zeit erkannt und demonstrierte das völlige Desinteresse an den Interessen der Gesellschaft. Elias war nur einer von vielen. Nur ein Echo von ihm in meiner Erinnerung überdauerte die Zeit. Es blieb seine Stimme in der Jury, dem Rat der Weisen, der jeden Menschen begleitet bis zum Tod.

 

Die Geschichte seiner Person, seines Lebenslaufes, seiner Kontakte mit meinem eigenen Lauf der Dinge mag nicht derart wichtig erscheinen, dass ihre Erzählung hier lohnt. Aber es bleibt für mich als Beobachter der Vorgänge in meiner Schattenwelt, dem unter-bewussten meines Daseins, die Frage nach der Besetzung jenes Gremiums, das mein Handeln bewertet, meine Planung lenkt und meine Gedanken zu einem fließenden Musizieren in der rechten Tonart formt, die ich so liebe. Andere Personen leisteten Beiträge zum Fundus jenes Theaters, zum Konvolut denkwürdiger Denkvorgänge im Vorfeld durchlebten Lebens. Elias lebt in mir. Ich denke, er weiß das.

 

Damals, in der Frühzeit experimentellen Eroberns der Welt hatte er mich begleitet, als wir weibliche Schönheiten bewunderten, ihre Formen begutachteten und ihre Tauglichkeit in einer neuen Welt, einer neuen Kultur, einer explosiv-spontanen Lebensäußerung abschätzten, ohne sie jemals zu berühren. Es war der Schatz, den es zu heben galt, die Versüßung, der Lohn, der Antrieb unserer Forschung und Kreativität, so wie Freud es lange zuvor formuliert hatte und Marx es nicht gewagt hatte zu sehen, - die Libido, die uns als Treibstoff diente, solange sie uns unbewusst blieb. Das ewig lockende Weib.

Elias war trotz seiner chaotischen Pläne erfolgreicher, möglicherweise wegen des Exotenstatus seiner Herkunft und seines Erscheinens. War doch sein eher kurz geschorenes Haar, sein klarer Blick, sein rückhaltloses Gesicht mit der unbeeindruckten Mimik um so einen erheblichen Betrag eindrucksvoller als mein scheues Ausweichen.

Sein Beitrag zu meinem Erwachsenwerden war nicht unerheblich und soll nicht gering geschätzt werden. Er führte ins Land der Phantasie, der virtuosen Kreativität. Eigenständiges Potential zur Entfaltung des Individuums war die Maxime, wurde meinerseits dankbar aufgenommen und umgesetzt. Doch auch davon, von der eliaschen Maxime gab es eine Emanzipation, die mich weiterführte auf meinem Weg. Alles andere wäre kontraproduktiv gewesen, wenn man die Individuation als Herausschälen dessen betrachtete und ernst nahm, das maßgeblich war.

 

Die griechischen Götter, die archetypischen Beweger der inneren Bewegung, sofern man sie so verstand, - sie waren Platzhalter für das, was maßgeblich war im Handeln und Denken oder Denken und Handeln, - wie auch immer. Wo kam es her, das diesen Maßstab bildete? Von Christoph, Sylvie, Marcel, oder gar Sarah? Von allen ein wenig.

Ich war nicht sonderlich mit Griechenland verbunden, weder durch Reisetätigkeit, noch durch Interesse. Die griechischen Götter kannte ich nur sehr oberflächlich und ihre Verknüpfungen, ihr inzestuöses Tun und die eigensüchtigen Feindschaften unter ihnen waren mir schon immer suspekt gewesen. Ich verstand nicht, dass sie von den Griechen im Alltag wahrgenommen wurden, so wie ein neuzeitlicher Christ vielleicht sagen würde: „Jesus lebt!“ Nein, das verstand ich nicht.

Die Wiege der Philosophie war mir sogar noch unbekannter. Sokrates, Plato und Aristoteles, Euklid, Pythagoras, Thales, Diogenes, Archimedes, Plutarch, Empedokles, Sophokles; - ihre Namen kannte ich zwar, aber kaum mehr.

Elias gab einmal zu, dass er nur wenig mehr über sie wusste. Einige dieser Helden hatten sich daran begeben, die Götter zu stürzen, sie durch schnöde gedankliche Thesen zu ersetzen, den Zauber der Poesie, den sie aufrecht erhielten, zu zerstören. Elias tat es ihnen zwar nicht gleich, war aber diesbezüglich Kind seiner Zeit, wie eben auch ich. Wir glaubten nicht mehr an Götter. Die Ratio, der alte griechische Begriff, hatte gesiegt.

Er, Elias, war für mich dennoch ein Überbringer guter Botschaften gewesen, eben weil er durch seine frühe Eigenständigkeit das Zeug dazu hatte, mich zu beeindrucken, mir als Vorreiter, als Beispiel zu dienen, - vermutlich ohne es selbst zu bemerken. Der Vorgang der Individuation, des Heranwachsens an die persönliche Eigenständigkeit wurde damals von ihm in Gang gesetzt. Also gebührte ihm ein kleiner Thron in meiner Erinnerung. Er erschien mir schemenhaft, wenn ich um die Wertigkeit meines Handelns und Denkens kämpfte, um die Ethik.

 

In Wirklichkeit war das nur ein beruhigendes Gefühl für das Selbstbildnis; - ja, du machst das richtig! Selbst bei wenig überzeugenden Episoden funktionierte diese Beruhigung. Erst später, viel später, eigentlich erst, nachdem dieser Beruhigungsmechanismus mir bekannt wurde, schränkte sich seine Funktion massiv ein. Aber es gab noch andere Verteidiger meiner Makellosigkeit.

Im unbekannten Dunkel der inneren Räume meines Geistes gab es Verschiebungen, Neubewertungen, Vergleiche, Abgleiche, Angleichungen an gleich fragwürdige Vorbilder, Übertragungen. Elias war dafür nicht zuständig, sein Ressort war die Ethik in griechisch-antiker Machart. Für die moderneren Strategien gab es Notfallassistenten.

Sie sprangen mir bei, wenn Not am Mann war, wenn mein Selbstbild litt. Ich war es nicht gewohnt, mich selbst nicht am höchsten zu werten. Das gehörte nicht zu meinem Verständnis von Individuation. Im schlimmsten Fall plädierte ich auf das Recht des Künstlers, des irrenden Lebenskünstlers, der selbst seine Irrungen noch als autobiographisches Highlight wahrzunehmen imstande war.

 

 

Einige der Helfer in meinen dunklen Innenräumen mühten sich ab, plagten sich mit lastenden Stressoren, schufen mit positiv orientierter Kraft Szenarien für den glücklichen Exit aus verzwickten Situationen, blieben selbst unkenntlich und ohne gebührenden Lohn, denn ich erblickte sie nicht, spürte lediglich den Erfolg ihrer Arbeit, ohne die Tätigkeiten selbst je wahrzunehmen.

Beachtenswert, - und doch stets unbeachtet! Nur einige von ihnen, Platzhalter für Figuren meiner Erinnerung, hatten so etwas wie ein Gesicht. Elias, der Grieche, sein nicht allzu hochgeschossener Körper, seine breiten Schultern, sein kräftiger Brustkorb, die blauen Augen und die dichten, kurz-gelockten Haare, - er war als geistiges Erinnerungsbild immer da, wenn ich mich an einer ominösen Ethik abglich.

Ein anderer war Max. Wir hatten ihn früher, in den glorreichen Siebzigern oft Max Mustermann genannt. Und genau dieser Aspekt seines Wesens, seines Lebenslaufes war dominant; - dominant gewesen. Denn ich hatte ihn ebenso wie Elias ewig nicht wiedergesehen. Max stand in meinen Schattenzonen für den Menschen per se. Das Menschliche.

Das konnte stark oder auffallend schwach sein, egal. Beides war mustergültig für den Menschen. Irgendwie billig, aber auch normal, nichts Besonderes.

 

 

Wie ein Reiter auf einem Schaukelpferd schwang ich routinemäßig in gewohnte Abläufe, in Denkmuster, Handlungsimpulse, Reaktionen und Aktionen, die gewohnte Bewegungen versprachen. Nur ein Fortkommen, ein Weiterkommen gab es dabei natürlich nicht, - aber die Absicht genügte. Irgendjemand im Schattenteam gab sich mit der Illusion von ernsthafter Absicht zufrieden und segnete das Ganze ab. Es war lächerlich, wenn man es distanziert und kritisch von hinten, also im Rückblick und ungeschönt, betrachtete.

Der eine oder andere Bewohner des Schattenreiches murrte gar gegen die Prämisse des klaren Blicks. Was soll das bringen? Lass uns doch lieber eine schöne Phantasie pflegen, eine Vorstellung von attraktiver Erbauung.

Mir war beides recht. Es gab für alles seine Zeit, den passenden Rahmen. Überhaupt, wer war denn ich? War ich nicht auch einer von denen?

Manchmal fürchtete ich mich vor mir selbst, beziehungsweise vor meinem Nichtvorhandensein.

 

 

Die Runde

2 Die Runde

 

Hallo Max! Ewig nicht gesehen!“ Elias riss mich aus meinen Tagträumen mit seinem unverhofften Zuruf. Max bleib stehen, musterte uns, die wir an einem der kleinen Bistro-Tischen in der Fußgängerzone saßen. Jetzt erkannte er uns. - Im selben Moment, da auch ich ihn, sein Gesicht einordnen konnte in die geheimen Fächer meiner Erinnerung.

Mensch Elias! Das ist ja ein Ding! Ihr? Na das hätte ich nicht erwartet!“
„Setz dich, Max. Ein Stuhl ist noch frei. Komm! Mann, wo kommst du her? Wohnst du noch hier. Wieso habe ich dich zwanzig Jahre oder länger nicht gesehen?“ Ich zog einen der Blechstühle heran und deutete auf seine Sitzfläche, - rostige, gelochte Kreisfläche mit den Resten diverser ehemaliger Lackanstriche.

Max reichte mir die Hand, klopfte Elias auf die Schulter, setzte sich. Sein Kopf war breiter geworden, die Stirn höher, das Kinn runder. Aber er trug noch immer die für ihn typische Holzfällermode: bleiche, extrarobuste Jeans und wattiertes Karohemd in verschossenem Rot-Blau.

 

Er bestellte einen Cappuccino und grinste. Offenbar freute er sich ehrlich, uns wiederzusehen. Dann begann er, uns auszufragen. Namen fielen, Begebenheiten wurden lachend erzählt, Zeitpunkte wurden hinterfragt und abgeglichen. - Was man so tat, wenn man sich traf.

Max hatte strahlende blaue Augen die euphorisch unter den buschigen Brauen funkelten. Elias ließ sich anstecken und lachte laut bei jedem Zugriff auf die gemeinsame Vergangenheit. Ich selbst erlebte die Situation ebenfalls in gehobener Stimmung und griff alle Angebote dankbar auf, steuerte selbst eine Reihe von Anekdoten bei, aber insgeheim, in einem stillen Kämmerlein meiner vielschichtigen Schattenwelt beobachtete ich uns, wie wir uns sortierten, in eine ehemalige Gemeinschaft spielerisch wieder eingliederten.

Die Illusion war tragfähig, fast so, wie sie damals gewesen war, als wir noch jünger und emotionaler interagierten. Man erlebte solche Höhen in unserem Alter nicht mehr jeden Tag, also erwogen wir versuchsweise eine Wiederholung. Max brachte Fred ins Gespräch, zu dem er, so wie früher, noch immer einen guten Kontakt pflegte.

 

Und so ergab sich das, was nun, da ich es berichte, bereits seit drei Jahren zum regelmäßigen Ritus gereift war: ein zunächst im Spielmodus, später dann im Forscherduktus stattfindendes Hinabtauchen in die ehrlichen Tiefen unserer „Seelen“. Anfangs war es mehr ein Vergleichen, ein Erproben unserer jeweiligen Weltanschauungen gewesen, ganz so, als ob das Bessere der Feind des Guten sein könnte. Aber es gab, das lernten wir, keine Chance für Überzeugungsarbeit, denn keiner von uns wollte sich belehren lassen. Also konstatierten wir irgendwann diesen Umstand und verlegten uns aufs gegenseitige Verstehen unserer vier unterschiedlichen Welten, denn jeder lebte in einem ihm eigenen Kosmos.

Dadurch wurde es leichter, ehrlich zu sein, denn es gab nichts mehr zu beweisen. Ansichten waren Halbwertzeiten unterworfen, nicht von uns, sondern von der Zeit. Worauf man sich noch vor einem Jahr hatte berufen können, genügte nicht mehr den gestiegenen Ansprüchen. Also konstatierten wir einen Qualitätssprung hinein in ein besseres Level, - welches wir auch nicht wirklich konstant halten konnten. Es gab Rückfälle in die Phase der Überzeugungswut, die egoistische Verblendung eigener Hellsicht und Wichtigkeit.

Wir griffen auf unsere Lieblingskapazitäten zurück, Autoren, namhafte Vorbilder, Philosophen, Leuchttürme der ungetrübten Schau. Doch auch das Propagieren der Makellosigkeit solcher Kompetenzen wurde uns schal. Wichtig war doch letztlich nur das Eigene. Und so gerieten wir langsam aber sicher in eine Auflösung unserer Privatsphären, - ohne die damit hereingeholten Schwierigkeiten, Probleme und Gefahren zu bemerken.

 

Fred war schon damals, vor vierzig Jahren, ein scheuer, sensibler Mensch gewesen, fast zu scheu, um durchsetzungsfähig zu sein. Jetzt, nach der langen Zeit, hatte er offenbar eine Routine verinnerlicht, die diesen Aspekt seiner schwierigen Möglichkeiten überspielte. Er war sogar weit erfolgreicher gewesen als ich, zumindest rein finanziell gesehen. Auch er betrachtete ganz sicher die Konstellation als Chance, um Dinge aufzuarbeiten, die in seinem Keller noch lagerten. Das war sein persönlicher Kosmos. Nun war er gereift.

Ich hatte solche Altlasten nicht anzubieten, - oder zumindest erschien mir mein Status dementsprechend; aber das mochte täuschen, eine Unsicherheit ließ sich nicht leugnen. Elias betrachtete die gemeinsamen Treffen, die wir wöchentlich veranstalteten, als Chance, seinen persönlichen Kosmos zu erläutern. Freds Problematik nahm er ernst, aber die meine war ihm nicht ganz geheuer. Im Klartext störte ihn mein notorischer Skeptizismus. Max wiederum liebte die Klarheit des Denkens über alles und kam mir mit dieser Strategie zumindest prinzipiell entgegen, wobei mir seine Inhalte, seine Denkgebäude, seine Welt-Anschauung doch sehr fremd war.

Wie bereits dargelegt: vier Menschen mit ihrem jeweiligen Kosmos an Planetensystemen und Kräftediagrammen. Alle vier kaum angreifbar und recht unbeweglich, außer im Spiel.

Es gab, nachdem wir diese (relative) Unbeweglichkeit bemerkt und akzeptiert hatten, Manöver hin zu einem mehr spielerischen Umgang. Aber dem stand die Ernsthaftigkeit, das ehrliche Bemühen entgegen, das dem Aufbau von (auch kleinen) Illusionen feindlich entgegen stand.

 

Der Leser konstatiert, dass es um Anderes geht als um Liebesgeschichten, um Eifersucht, Rache, Machtstreben und Selbstbehauptung. Ja, es ist eine Schrift, die sich mit dem Schattenreich beschäftigt. Einem Reich, das jedem Anwesenden, auch dem Leser, halbwegs geläufig und doch mehr als halbwegs unbekannt sein mag. Dort, in dem unbekannten Aktionszentrum unseres Lebens, dort, wo wirklich entschieden und geherrscht wird, wo es um die Ernte von Emotionen, um die Ausgestaltung eines befriedigenden, ja, begeisternden Selbstbildes geht, - dort findet statt, was uns im Allgemeinen nicht gewahr wird. Natürlich gibt es dort auch hocherotische Vorgänge, ja, die ganze komplexe Bereitschaft zum körperlichen Nahkampf findet genau dort statt. Die Wirklichkeit ist dagegen bei genauer Betrachtung unattraktiv. In diesem Segment findet ganz gewiss eine Vermischung von realer Einschätzung und ausgefeilter Phantasie statt. Doch dir, lieber Leser, soll keinesfalls die lustvolle Herausbildung von Phantasien vermiest werden, - keine Angst!

 

Max war ein erfolgreicher Beamter gewesen, wer hätte bei seinem Namen „Mustermann“ anderes vermutet. Keiner von uns sah das als Lebensinhalt kritisch, keineswegs. Alles war gut und geeignet, die Verwirklichung dessen darzustellen, was individuelle Wunschvorstellung war. Und diese Vorstellung war TABU, war enthoben aller Kritik. Mit seiner blonden Mähne war er schon immer ein Symbol für die Weiblichkeit gewesen, eine Versprechung, mit der wir Minderbegünstigten nicht konkurrieren konnten, selbst wenn wir gewollt hätten, damals, in den wilden Siebzigern, als man über sich selbst noch nicht so genau Bescheid wusste.

Er hatte es gewusst, also hatte er entsprechend gedacht und gesucht, seine Eroberungen gemacht und als Erfolge verbucht, bis das Alter ihm, - so wie uns allen, eine Bremse gezogen hatte.

Elias war noch immer in demselben Modus, in dem er immer gewesen war: er huldigte der göttlichen Prämisse der Wahrhaftigkeit.

 

Dir, lieber Leser, mag das egal sein, wie ein Mensch seinen Kosmos in einem funktionalen, den gewohnten Erwartungen entsprechenden Zustand hält. Auch ich finde das nicht sonderlich interessant. Wir alle agieren entsprechend diesem Muster. Wir finden das, was wir suchen. Wir bestätigen uns in dem, was uns wie gewohnt rückversichert. Das ist ein Zirkelschluss, den wir nicht bemerken. Wir gehen keine Risiken und keine Experimente ein, wenn es um unser Sicherheitsgefühl geht, unseren Kosmos. Elias ist uns da nicht fremd. Er will sich da verorten, wo er zuhause ist. Das gefällt uns!

Fred und ich sind da unsichere Kandidaten, auf Sand gebaute Festungen. Das muss ich als gegeben hinnehmen, denn es entspricht der Wahrheit. Ich bin unsicher, ebenso wie Fred.

 

Fred war in einer Art Ruhestand. Max hatte ihn nie aus den Augen verloren und sich stets um ihn gekümmert, - denn er hatte das Gefühl, sich um ihn kümmern zu sollen. Tatsächlich war man, wenn eine gewisse Zeitspanne des Zusammenseins mit Fred verstrichen war, versucht, ihn bei der Hand zu nehmen und zum Weg zu führen, auf dem das Wandern (im übertragenen Sinne) erfreulicher war. Wer ihn nur so eben, vielleicht im Vorbeigehen, ansah, auf den wirkte Fred wie ein in sich ruhender, zentrierter Mann. Er hatte in der Schiffstechnik gearbeitet, war in einer norddeutschen Werft Teil der Konstruktionsabteilung gewesen. Jetzt war er in die alte Heimat zurückgekehrt. Max hatte ihn unserm Kreis zugeführt und so vervollständigte sich die alte Gruppe. Ich selbst war in der Motorradbranche selbstständig gewesen und betätigte mich noch immer in geringem Umfang mit dieser Technik. Elias, das sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, war noch immer Erzieher, denn er war wenige Jahre jünger als wir anderen.

Seit jenem Tag im Sommer, als wir beide Max wiedersahen, waren unsere Vierertreffen zu einer festen Institution im Ablauf der Wochen geworden. Und ziemlich bald, nachdem alle gemeinsamen Erinnerungen aufgefrischt waren, folgte eine weitere Phase, die uns zu dem führte, was uns schon damals bewegt hatte: die Erforschung unserer Tiefen, bzw. der Tiefen der Welt, - des Daseins. Wir begannen mit dem Philosophieren über die Dinge, die uns im Inneren bewegten.

 

Es war von da an eine Diskussion, die in ihrer Ernsthaftigkeit und dem beseelten Eifer an die Studentenzeit erinnerte, als wir noch das Feuer der Jugend und die Sorglosigkeit des ungetrübten Ausblicks genossen. Doch nun, im Alter, da rückte einerseits die Lebensperspektive in ein anderes Verhältnis, andererseits ergriff man gerne die Gelegenheit, ehemalige Fäden wieder aufzugreifen und sich statt mit materiellen Plänen mit dem Bewusstsein, dem Erkennen, der ungeschönten Klarheit zu beschäftigen.

 

Max: „Mir geht es nicht um die Frage des Glaubens, des Vertrauens in eine Macht, die größer ist als unser menschlicher Geist. Mir geht es um das Potential, das wir nicht verschwenden sollten. Der Mensch ist befähigt, sich zu entwickeln. Hin zu einer Einheit mit dem großen Geist, der so oder so in uns wirkt, - den wir nur erkennen müssen.“

Elias: „Bin komplett ungläubig und glaube noch nicht einmal an die Sinnhaftigkeit einer solchen Entwicklung. Sie weckt die Hoffnung auf eine Erlösung von was auch immer. Es gibt Strukturen, die solche Fantasien für angenehm erachten. In dir scheinen sie vorhanden zu sein. In mir nicht. Ich bin bestimmt von Urformen der Psyche, Archetypen, die allen Menschen gemeinsam sind und schon immer waren.“

Fred: „Aber es ist doch keine Frage von Zustimmung oder Ablehnung. Wenn eine Macht erfahren wird im ganz konkreten persönlichen Leben, die uns in höhere Sphären, höhere Intensität des Erlebens hebt, dann muss ich an eine solche Macht nicht glauben. Ich kann sie erfahren. Mehr ist es doch nicht. Einfache Erfahrung von göttlicher Macht. Begründen oder intellektuell durchdenken muss ich das nicht, denn es ist direkt, - ohne Umwege, erfahrbar!“

Ich: „Man neigt zum Selbstbetrug. Zumindest diese Neigung sollte man schon berücksichtigen, wenn ihr euch ausmalt, was denn aufzufinden ist im Prozess der Bewusstwerdung. Bewusstsein ist immer nur aktuell, also intime möglich, - nicht als Hoffnung, nicht als Perspektive, nicht als Theorie.“

 

So oder so ähnlich war die Melodie der Gespräche, und in dieser Tonlage pflanzten sie sich fort und fort. Wenig Entwicklung hätte man als Zuhörer konstatiert, weder in den Strophen, noch im Refrain, der immer wieder die Formeln formulierte, so wie er in der Musik auf das Thema des Liedes zurückgriff. Und doch wurden uns Dinge bewusst, die sich nicht auf die individuellen Meinungen bezogen, - das auch -, sondern auf gerade diesen Umstand, die Tatsache nämlich, dass es nicht um einen Abgleich, eine Erprobung von divergierenden Standpunkten gehen konnte. Das wurde langweilig.

 

Max nahm gruppendynamisch eine gewisse Zeit die Rolle des „Schulungsleiters“ ein, bis wir dagegen eine Richtungsänderung vornahmen. Danach war der kybernetische Aspekt unseres kleinen Systems allen bekannt und wir vermieden die Rollenverteilung konsequent und problemlos. Es blieb bei der nun bekannten Tatsache, dass wir in vier verschiedenen Heißluftballons unterwegs waren, aus deren Körben wir je einzeln die Aussicht betrachteten. Wir waren mittlerweile geübt darin, einzuschätzen, was es von dort aus zu sehen gab. Der Luftschiffer in seinem Korb war mit dem Gefährt verbunden. Sogar die Art, wie er und es aussahen, war auf geheimnisvolle Weise gekoppelt. Und niemand konnte überwechseln.

Man hätte diesen Zustand für bedauernswert halten können und ganz sicher wäre ein normaler Mustermann dieser Meinung. Nun, Max war, ebenso wie wir drei anderen, im Laufe der gemeinsamen Entwicklung in diese Situation geraten, da wir diesen Umstand konstatierten. Und er war kein Mustermann, ganz gewiss nicht. Mustermann würde weiterhin davon ausgehen, dass sein eigener Ballon der Standard-Ballon sei und ein Jeder das sehen könne. Nicht nur Mustermännern unterlief dieser Irrtum.

Uns war nach den vielen Wochen intensiven Darlegens der Standpunkte, der Meinungen, der Vermutungen und Hoffnungen klar geworden, dass die Kapitäne der Ballons keine fremden befehligen konnten und jeweils nur einen einzigen lenkten. Das ergab ein stimmiges Bild, von dem man zwar sagen mochte, dass es zunächst frustrierend sein müsse, aber dem war nicht so. Es ließ sich eigentlich ganz gut akzeptieren, dass diese faszinierenden Fahrzeuge durch eine jeweils individuelle und schillernde Welt schwebten.

 

Auch der Kapitän auf einem Schiff, ich meine einen Ozeansegler,“ sagte Max, „ist er nicht durchaus nur ein Gleicher unter Gleichen, die auf der Brücke stehen, die Tiefen ausloten, die Wellen einschätzen, den Kurs vorgeben, die Richtung bestimmen? Aber er ist dennoch der einzig verantwortliche, den das Ich als Identifikation entdecken kann. Er bleibt als einziger weisungsbefugt; er ist der alte, uns allzu geläufige immergleiche Kapitän, der durch die Zeitalter segelt.“

Elias: „Nun, einer unter vielen anderen Gleichen. Wer ist denn dann dein Kapitän? Welcher von ihnen?“

Max: „Es muss einen geben, einen einzigen, der bestimmt!“

Elias: „Nur weiß ich nicht, wer von ihnen das ist. Manchmal Dieser, manchmal Jener, manchmal ein ganz Seltener, ein Unbekannter aus dem Schattenreich.“

Ich: „Ganz recht. Ein Olymp. Ein griechisches Götterpantheon mit den antiken Figuren auf der Bühne. Ein bunter Haufen nur diffus wahrgenommener Clowns, die im Halbschatten ihren Schabernack mit uns treiben und uns glauben machen, wir hätten eine Art Oberhoheit, einen Kapitän.“

Fred: „Nana, Jungs, nu mal langsam. In der täglichen Erlebniswelt sieht es aber schon so aus, als ob ich selbst die Zügel, ähm, das Steuerrad in der Hand habe. Es ist ja ein direktes Erlebnis, das ich direkt erlebe, - mehr ist es ja nicht!“

 

Es lief häufig auf einen Punkt hinaus, den wir alle allzu gut kannten. Ich, ich, Ego, Me-myself-I, das Ding im Fokus. Doch eines Tages, ich war mit Elias unterwegs und wir hatten in der Dämmerung den Weg durch den Park gewählt. Er verlangsamt seinen Schritt. Ich hatte irgendetwas geredet, eine Geschichte erzählt, eine Erinnerung aufgewärmt, - ich erinnerte mich später nicht mehr daran. Insgeheim hatte ich das Gefühl, dass er mir gar nicht richtig zuhörte. Dann fiel mir sein veränderter Gang auf, an den ich mich automatisch, halbbewusst, anpasste. Dann blieb er ganz stehen, deutete auf die im Zwielicht liegende Heckenreihe, die eine schmale Wiese begrenzte. Elias machte mich wortlos auf die Laubkronen der hohen Haselbüsche aufmerksam.

Ein Abendwind wehte unverhofft durch die kleine Senke rechts von uns, stieg heran und ergriff die ersten Hecken, die sich bogen, mit den Blättern raschelten, sich in eine Welle hineinlegten und in dieser Bewegung einem übergreifenden Schwung folgten, der nun die gesamte Gruppe ergriff und eine theatralische Dynamik erzeugte, die unbeschreiblich war. Die Direktheit der gewaltigen Bewegung, ihre Eleganz und Formvollendung verbat sich jegliches Attribut, erzwang einen offen staunenden Blick, der von jedem Gedanken ledig war.

Was ich sah, war, das war mir klar, nichts Besonderes. Man würde es als langweilig und tausendmal gesehen abtun und ich wusste um diese Tatsache. Aber ich konnte mich für die Zeit, da ich es erlebte, nicht gegen die Lebendigkeit dieses ach so uninteressanten Vorgangs und speziell seiner optischen Komponente wehren. Es wäre zwecklos gewesen, denn das, was ich sah, war überzeugend. Es war, wenn ich denn schon eine Beschreibung würde wählen müssen, ein Ausdruck von selbstgenügsamer natürlicher Schönheit ohne Falsch.

Erst später, als ich das Erlebnis gedanklich wiederholte, entstand eine Vermutung, wie es zustande gekommen sein mochte. Der unverhoffte Hinweis, doch zu sehen und zu staunen, erweiterte durch sein Art, wie er auf mich wirkte, in geheimer Weise das Blickfeld meiner Augen, so dass ich in Gänze die Welle, vom Wind angestoßen, durch die Hecken rollen sah, so wie ich es nie zuvor hatte sehen dürfen. Wir sind es gewohnt, stark zu fixieren und nur Teilaspekte bewusst wahrzunehmen.

Elias zupfte an meinem Ärmel und neigte den Kopf, während er auf dem Weg weiter schritt, hinein in den kleinen Wald des Parks. Er bot mir eine weitere Aufmerksamkeit an, die mich erstaunte. Seine einfache Frage: „Hast du gesehen?“ verknüpfte sich allerdings nicht mit dem Wind in den Wipfeln, die noch immer in meinem Hirn nachwehten wie Fahnen, sondern mit einem anderen Aspekt unserer Umgebung. Elias war wie ich ein optisch wahrnehmender Mensch, - ganz offenbar. Denn er deutete auf die Bäume im Park, unter denen wir nun auf einem einfachen, schmalen Weg entlang gingen.

Ich sah auf, folgte seinem ausgestreckten Arm und dem Finger, der in die Zweige deutete, die wegen der zunehmenden Dunkelheit eine geradezu mystische Zwielichtigkeit umgab, wie sie dort oben an den langen Stämmen, die solide und gerade wie Säulen unseren Waldweg säumten, das Blattwerk trugen.

Eine Halle aus Grün, leise, geduldig und still, ganz abseits der Windlichtung, präsentierte sich mir, der ich hinauf sah, dem Fingerzeig des Freundes folgte und mich fragte, was er mir zu zeigen beabsichtigte. War es ein Beitrag zu unserem Gespräch, das wir verfolgt hatten, seit wir uns auf dem Weg durch diesen Park begeben hatten? Vermutlich schon, denn als ich, - neugierig, wie ich war -, seinem Hinweis folgte, bemerkte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0264-0

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