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I M P R E S S U M


Die Sternenbücher Band 19

 

Arkadien

 

von Walter Gerten


© 2018 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
info@smg-gerten.de

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2018 Walter Gerten

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss

Manfred Wilt und die Rocker

Der Bote des Zarathustra

Monte Nudo

Unterwegs mit Tom Kerouac

Ich bin ein Schiff

Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola

Die Sternenbücher 2 Akba

Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes

Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens

Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome

Die Sternenbücher 6 Das Nichts

Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers

Die Sternenbücher 8 Paradise2

Die Sternenbücher 9 Solitan

Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan

Die Sternenbücher 11 Das Ubewu

Die Sternenbücher 12 Ich und Es

Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern

Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit

Die Sternenbücher 15 Selbst Ich

Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden

Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT

Die Sternenbücher 18 Marielle

 

 

Das Buch

 

Nach zehn Jahren wird eine weitere Reise zu dem Planeten Terremoines vorbereitet und durchgeführt. Dort trifft die Forschungscrew auf zwei Eremiten, die sich einst von ihrem Astronautenteam absetzten, indem sie ihren Tod inszenierten (Band 12, Ich und Es).

Noch während des ersten Tages stirbt einer der beiden und der andere gerät unter Mordverdacht. Der Fall soll von dem dienstältesten Piloten aufgeklärt werden, doch eine weitere Macht spinnt ihre Fäden in die Handlungsmuster vor Ort: der Zentralrechner an Bord. Als helfendes Instrument gedacht, zur Unterstützung der Raumfahrer, nutzt er geschickt sein Netz für Irritation und Manipulation.

 

 

 

Inhalt

Inhalt

 

 

I M P R E S S U M

Inhalt

  1. Meteoriten
  2. Vorgeplänkel
  3. Die Lichtaspekt-Phase
  4. Warten
  5. Dingo
  6. Gefahr
  7. Das Palais
  8. Das Grab

9.  Chaos

  1. Ruhe
  2. Angriff
  3. Sabotage
  4. Rückkehr
  5. Gartenarbeit

 

 

 

1. Meteoriten

1. Meteoriten

 

Wenn es ein Zufall gewesen wäre, dann hätten sich weitere Überlegungen erübrigt. Frank glaubte nicht an Zufälle. Ich auch nicht. Wie er mir später sagte, hatte er sogar wenige Momente vorher das diffuse Gefühl eines herankommenden Ereignisses verspürt. Als ich ihn das durch meinen Kopfhörer sagen hörte, musste ich zunächst nachdenken, was er wohl meinte, bis mir ein oder zwei ähnliche Situationen einfielen, die ich selbst erlebt hatte.

Dann hatte es ihn, bzw. seinen Raumgleiter erwischt. Das Hecktriebwerk wurde von einem wild rotierenden Gesteinsbrocken getroffen und lahmgelegt, während Frank noch versuchte, dem absehbaren Crash durch ein zu spät eingeleitetes Ausweichmanöver zu entkommen. Ich selbst konnte durch eine Serie von Rollmanövern meinen Gleiter heil durch die unerwartet auftauchenden Meteoriten lenken. Dann, als ich in den Normalmodus überging, bemerkte ich Franks Lage.

Zunächst war es kein Problem, denn er konnte noch steuern; die Rangier-Düsen waren unversehrt. Außerdem hatte er kaum an Fahrt verloren.

Beim Lesen dieser Zeilen überkommt mich eine Wehmut, die mich überfällt, wenn ich die Differenz spüre, die sich zwischen meiner verzerrten Erinnerung und meiner Vorstellung, die ich von mir selbst habe, auftut. Wie ein Graben, der ohne Vorwarnung neben meinem Weg die Erde spaltet, schneidet ein scharfes Messer durch die weiche Illusion, die meine Selbstwahrnehmung spinnt. Was ich sagen will: Bei völliger Ehrlichkeit mir selbst gegenüber musste ich Tendenzen an mir wahrnehmen, die nicht immer schmeichelhaft waren.

Frank war stets ein guter Freund gewesen. Es gab keinen Grund, ihn in seiner misslichen Lage sich selbst zu überlassen. Dennoch musste ich konstatieren, dass ein Teil von mir sich danach sehnte, ohne Umstände und Zwischenfälle endlich den Ort unserer Destination zu erreichen.

Die Meteoriten waren ja beileibe nicht der erste Hemmschuh, der uns straucheln ließ. Viele unglückliche Zwischenfälle säumten unsere Route zu den Sternen des sogenannten arkadisch-kosmischen Archipels.

Wie eine Hoffnung aus frühen Tagen hatten mir diese Region bislang eine Ruhestätte, eine Verheißung wahrsagerischer Nornen bedeutet. Wie Inseln am Ende der wellenreichen Meere lagen diese Sterne und ihre Planeten, speziell Terremoines, schemenhaft am Horizont meiner Fantasie. Nun, beim aktuellen Notfall schienen sie mir so fern wie selten zuvor. Frank zog das Pech an wie ein Magnet und ich übertrug all unsere Schwierigkeiten auf sein diesbezügliches Talent. Wann endlich würde sich unser Weg nach MEINEN Talenten richten?

 

Ein unbeteiligter Beobachter unserer Bemühungen würde vielleicht verschämt gegrinst und sich ein komplettes Scheitern unserer Mission bereits lebhaft vorgestellt haben. Ich selbst, - für Frank mochte ich es nicht beantworten -, konstatierte, dass ich langsam aber sicher die Geduld verlor. Ich erwog, ihn dort zurückzulassen, - aber nur einen blitzkurzen Moment. Dann wog ich seinen Wert in meiner imaginären Waage und erkannte seine Bedeutung plötzlich. Er war ein Teil von mir, - schon lange. Auch er war ewig und drei Tage unterwegs zum arkadisch-kosmischen Archipel. Ja, - es war nicht das Pech, - es war das Glück, das uns zusammengeführt hatte in dieser Mission, die eventuell meine letzte sein würde. Denn ich hatte nicht vor, Arkadien jemals wieder zu verlassen. Es war, lange bevor ich es wusste, bereits immer meine Bestimmung gewesen; - so dachte ich.

Doch zunächst galt es, ihn wieder flott zu bekommen, meinen Begleiter aus frühen Tagen, den ich so unverhofft wiedergetroffen hatte während der Vorbereitung zu diesem denkwürdigen Flug ins Ungewisse.

Arkadien war auch ein Ort meiner Fantasie, nicht mehr und nicht weniger. Dort war ich eine Art „Held“; ein Held im Ruhestand, der seinen Ruhm und sein Charisma, seinen Ruf und seine Attraktivität genoss; nicht nur in der Selbstwahrnehmung, sondern durchaus gesellschaftlich, akzeptiert. Dort würde er stattfinden, der legendäre „glückliche Tag“. Dort würde es erscheinen, das „finale Muster“, das alle Erlebnisse durchzog, sich in allen Eindrücken fand und die Grundstruktur aller Ereignisse bildete, das so lange unverstandene „Geheimnis des Glücks“, die Erkenntnis des „letzten Sinns“. Wie ein roter Faden zog es sich durch meine Wünsche und Träume und verschlüsselt war es in den merkwürdigen Bestrebungen der Gesellschaft zu finden, die ihm ebenfalls zuzusteuern schien.

Wer die Berichte meiner Reisen kennt, der wird nun bereits wissen, vermuten, konstatieren, dass das Selbstbild, mag man es sich noch so attraktiv ausmalen, wohl stets die Realisation seiner erhofften Potenz verfehlte, so wie Frank die rechtzeitigen Steuerbefehle verfehlte, um ein Quäntchen verpasste und deshalb den Lohn seiner Ungeschicklichkeit ernten musste. Ich selbst bemühte mich natürlich um eine Verbesserung seiner Lage. Mein Selbstbild hätte nichts anderes zugelassen, - immerhin hatte ich eine ethisch empfundene Messlatte für meine Verhaltensweisen.

Ich stöhnte zwar innerlich für eine gewisse, begrenzte Zeit, während zwei meiner Serviceroboter (ich hatte sie sofort losgeschickt) bereits die Schäden an Franks Maschine analysierten. Doch das Interesse an seinem Weiterkommen war aufrecht, ehrlich. Er war einer der wenigen Partner, die ich mir für solche Einsätze wünschte.

Seine eigene Reaktion auf die Unterbrechung war fatalistisch, ganz so, als ob er selbst gar keinen Anteil daran gehabt hätte. Nicht dass er an ein ominöses Strafgericht Gottes oder ein zielgenau zuschlagendes Karma geglaubt hätte, - aber ich gewann bei Frank immer den Eindruck, er sei verwundert über die Gegebenheiten, so, als ob ein unprofessioneller „Schöpfer“ letztendlich die Unperfektion seiner Welt nun endlich einmal zu registrieren habe.

 

Wir hatten einen Zeitplan. Wir würden ihn nun nur noch mit Schwierigkeiten einhalten können, wenn sich uns zukünftig irgendwo die Chance vielleicht bot, Zeit eventuell „zurückzugewinnen“. Das Raumfahrtdezernat in Berlin erwartete uns an einem bestimmten Punkt im Zeitgefüge an einem bestimmten Ort im Raumgefüge. Wir selbst, - und da fühlte ich eine Gleichheit bei Frank und mir, - wir selbst zogen den sogenannten „Königsweg“ vor. Ich war sogar sicher, dass nur der Königsweg nach Arkadien führte.

Das bedeutete, dass die Verzögerung durch den Crash zum Weg gehörte und ihre Funktion als Meilenstein gerne ernst genommen sah. Punktum! Tatsächlich war es eine der Qualitäten des „Königswegs“, dass jeder seiner Meilensteine, seiner Punkte, völlig gleichwertig war. Am Zielort eine herausragend höhere Qualität zu erwarten widersprach bereits dem „Königsprinzip“.

Nun, ehrlich gesagt fragte ich mich, wer diesen „Königsquatsch“ überhaupt in die Welt gesetzt hatte. Vermutlich ließ sich dieses Vokabular auf einen steinalten Taoisten oder Zen-Buddhisten, einen Eremiten mit verringerter Kulturkompetenz oder einen mittelalterlichen Mystiker zurückführen, der die Zeichen der Zeit nicht kannte, - nie gekannt hatte. Da es aber nun einmal in der Welt war, ließ es sich nicht mehr umkehren und ich konnte höchstens versuchen, jede Verwendung solchen Vokabulars zu vermeiden.

Andererseits: - was wäre schädlich daran, wenn es in Umlauf käme?

 

Frank und sein Raumschiff waren für mich bereits längst zu einem Synonym geworden. Ich stellte mir seit vielen Wochen und Monaten vor, dass er sich dort in seiner Steuerkabine nicht zu jeder Zeit der Funktionen bewusst war, die sein Schiff vollzog. Und, - ehrlich gesagt erging es mir selbst genauso, wenn ich ungeschönt hinsah. Wir wussten nicht exakt, - nicht einmal inexakt, was uns vorantrieb!

Es waren unsere Schiffe Synonyme für unser Unbewusstes. Wer hatte Frank daran gehindert, exakte Manöver, effektive Ausweichrouten zu fliegen, während es mir problemlos gelungen war, den Meteoriten zu entkommen? Unbekannt!

Ich fragte ihn nicht, ob er selbst vielleicht eine Idee habe. Unbekannt! Etwas hatte seine Aufmerksamkeit mit Beschlag belegt, so dass er nicht hatte spontan genug reagieren können. Vielleicht waren unnütze Gedanken dazwischen getreten. Aber wieso hatte sein Bordrechner nicht reagiert? Er war doch teuer genug gewesen und stand im Ruf, das Beste vom Besten, das Neueste vom Neuen, das Zuverlässigste vom Zuverlässigen zu sein.

 

Die Roboter wuselten einige Zeit in und um das Triebwerk, lieferten einen vorläufigen Bericht, der Hoffnung weckte, dass es reparabel sein würde. Die inneren Kammern waren durch den Treffer deformiert und perforiert. Zwar würde die Deformation nicht gänzlich rückgängig gemacht werden können, aber unsere mechanischen Servicetrupps würden etwa 87% wiederherstellen, wenn wir bereit waren, die entsprechende Zeitspanne abzuwarten.

Wir benötigten den Raketenmotor mit seinem Rückstoß-Antrieb nicht unbedingt. Er würde erst wieder erforderlich werden, wenn wir die Rückreise zur Erde antraten. Bis dahin würde das Schiff mit den intakten Steuerdüsen und den elektrischen Generatoren genügen Manövrierfähigkeit zur Verfügung haben. Der aktuelle Zustand war ein wenig besorgniserregend, weil das Schiff immer noch in einer langgestreckten Trudel-Linie gefangen war. Die Automatik bemühte sich redlich, die Amplituden zu reduzieren und Frank wieder in die richtige Bahn zu bringen, ohne dabei allzu viel Fahrt und Energie zu verlieren.

Sie würde erfolgreich sein, das prognostizierte die „Bordspinne“. Frank hatte seine zentrale Rechnereinheit so genannt und diesen Namen beibehalten. Manchmal nannte er sie auch einfach „BS“. Sie hatte ihr Netz gespannt und verfügte in seinen Maschen über alle Informationen, die mit dem Schiff, dem Flug, den Absichten und Zielen, der Kalkulation, der maschinellen Verwaltung und der internen und externen Kommunikation zu tun hatte; - und vermutlich auch über Informationen, die darüber hinausgingen. Die Spinne wob ihre Fäden in das Steuerungssystem, in das Kraftstoffsystem, das Funksystem, das Navigationssystem, das Lagersystem mit den Arbeits- und Forschungsgeräten, das Versorgungssystem, das Sicherheitssystem, das planetarische und galaktische System, - kurz, sie war ein System in den Systemen.

Sie kommunizierte mit Frank die Planungen, die Manöver, die Strategien. Trotzdem war klar, dass sie unabhängig davon eigene Planungen verfolgte, eigene Entscheidungen traf und eigene Daten aus den Systemen zog. Wieso das Schiff dennoch von einem Meteoriten getroffen worden war, blieb mir bis dahin unverständlich und ich vermied es, Frank darauf anzusprechen. Ich mochte solche intelligenten Helfer nicht und hatte darauf bestanden, eine wesentlich ältere Raumgleiter-Version zu bekommen, die noch mit einfacheren Regelungs-Einrichtungen flog.

Meine Idee des Königswegs, so unausgereift sie auch sein mochte, vermied es instinktiv, natürliche Beweggründe durch künstliche zu ersetzen. Unsere Freiheiten als Raumpiloten waren bei dieser Reise sehr weit gefasst, das Dezernat hatte uns in vielen Dingen Entscheidungsfreiheit gegeben und das Ziel selbst, Arkadien, war noch nicht endgültig in seiner Rolle im Forschungsauftrag definiert. Das würde sich noch ergeben. Eine derart offene Reise hatte ich noch nicht erlebt und war unserem Chef dankbar, dass ich daran teilnehmen durfte.

Es war mein zweiter Flug zu dem Planeten Terremoines.

 

2. Vorgeplänkel

2. Vorgeplänkel

 

Die Erinnerung ist ein unscheinbares Ding in einer kleinen Schublade, die wiederum ein kleines Element unter vielen in einem riesigen Schrank ist. Man zieht sie auf und blickt hinein. Das Auge ist noch nicht an die relative Dunkelheit in dieser Schublade gewöhnt und man erkennt den Inhalt nur schemenhaft, diffus. Doch nach und nach werden seine Konturen schärfer, - bald zeichnen sich seine Umrisse besser ab und es entstehen die ersten verbindenden Gefühle mit dem Ding aus der Erinnerung. Es ist angenehm oder unangenehm, es ist willkommen oder kommt eben ungünstig. Jedenfalls nimmt es in der Wahrnehmung einen Platz ein und gerät dadurch ins Bewusstsein, wo es die aktuellen Eindrücke verdrängt. Es nimmt den fokussierten, zentralen Platz ein.

Franks Spinne hatte ihren Namen wohl deshalb erhalten, weil sie mit entsprechenden Gefühlen verbunden war. Frank liebte sie nicht. Spinnen treffen selten auf menschliche Liebe. Vielleicht hatte Franks Einfall, sie so zu benennen, sogar mit der Furcht zu tun, in einem Netz gefangen zu werden. Erst während der Reise, als ich Zeit hatte, über solche Dinge nachzudenken, fiel mir auf, dass ich ihn nie darüber befragt hatte. Ich sah mich selbst, wie ich dieses Versäumnis bewertete. Ich bedauerte es. Frank hätte sicherlich viele Gedanken über die Spinne äußern können, bei denen sich das Zuhören lohnte. Er war ein guter Beobachter.

Als wir vom Mond aus starteten, unsere kleinen Raumgleiter beschleunigten und die erste Etappe in Angriff nahmen, teilte Frank mir über Funk seine Freude mit, an dieser Mission in meiner Begleitung teilnehmen zu dürfen. Mir kamen fast die Tränen. Wann hatte zuvor jemand so etwas zu mir gesagt? Es musste ewig her sein. Ich war überwältigt, vor allem, weil es ganz klar und deutlich so formuliert war, dass es nicht als beiläufige Floskel verstanden werden konnte, sondern als persönliche Emotion.

Ich erwiderte das Kompliment. Auch mich hatte eine Euphorie ergriffen, die das Ergebnis langer Planung, gründlicher Vorbereitung und einer Zeit vertiefter Beschäftigung mit jenem Arkadien war, das wir ansteuern würden.

Meine Erinnerung an Terremoines war noch lebendig und der damalige Aufenthalt auf dem Planeten war in fast allen Einzelheiten in mein Denken und Fühlen, in meine Träume und Wünsche zurückgekehrt, während wir die Mission strukturiert und konzipiert hatten. Dann hatte ich Parallelen bemerkt, die wie Zwangsvorstellungen stets alle meine Flüge geprägt hatten: die Vorgaben der Planung.

Ich war im Laufe meiner Astronautenkarriere jedoch an einem Punkt angekommen, an dem sich klar abzeichnete, dass Vorgaben, Planungen, Konzepte und Strukturen die zu erntenden Ergebnisse der Erforschung bereits beeinflussten, - in den Erwartungen befand sich schon das Aufzufindende. Ich sprach diesen Missstand wissenschaftlichen Arbeitens an und - erhielt eine gewisse Handlungsfreiheit, die ich für den „Königsweg“ zu verwenden beabsichtigte. Natürlich verwendete ich niemals im Dezernat diesen Begriff, der auf meinem Humus gewachsen war. Man hätte mich verwundert angeschaut und einen anderen Piloten ausgewählt.

Auch mit Frank hatte ich nicht über meine Absicht gesprochen, dem „Königsweg“ nach Möglichkeit eine Chance zu geben. Strategisch hatte ich diesen Schritt für später geplant. Nun, nach dem Zwischenfall mit dem Meteoriten, offenbarte ich ihm meine Gedanken. Es geschah während eines Gesprächs, das wir führten, sobald die Korrekturphase seines Gleiters vorüber war und er wieder in gerader Linie den ersten Sektor der Reise durchschnitt. Ich hatte leicht abbremsen müssen, um den Verlust seiner Schubenergie auszugleichen. Nun hielten wir wieder miteinander Schritt und ich eröffnete ihm die Tatsache, dass ich Befugnis erhalten hatte, den Fortgang der Mission anhand der einzelnen Etappen zu bestimmen, je nach Verlauf. Zunächst vermied ich den Begriff „Königsweg“, - doch dann verwendete Frank selbst ihn, als er begriff, worüber ich redete. Ich hatte nicht gewusst, dass man in diesem Kontext auf dieses Wort zurückgreifen konnte.

„Natürlich, du meinst den Königsweg; das Leben im Fluss des Geschehens. Wie man das im Verlauf einer Mission umsetzen kann, ist mir zwar noch schleierhaft, aber wir werden sehen.“ So klang seine lapidare Reaktion.

 

Wer sich an meine früheren Erzählungen erinnert, in denen ich von meinen Reisen berichtete, dem wird aufgefallen sein, dass es auch bei diesem Ausflug in den Kosmos Vorbedingungen gegeben haben muss, die noch nicht genannt wurden. Wieso wurden Frank und ich losgeschickt und welchen Zweck hatte die Reise zu diesem „Arkadien-Archipel“?

Das Raumfahrtdezernat agierte nicht anders als ganz normale Menschen auf der Straße: es gab Erwartungen in die Zukunft. Man hegte Phantasien, die die Entwicklung betrafen; man bildete Illusionen heraus, die man für bedeutsam hielt und für ein kommendes Antlitz des Daseins, sowohl des individuellen als auch des kollektiven.

Frank und ich wussten um die Diskrepanz, die sich gerade in dieser Mission deutlich zeigte: wir waren auf eine Reise geschickt worden, von der es eventuell keine Rückkehr geben würde, diese Option hegte ich insgeheim.

Damit bildete sie die Grundbedingungen unseres Lebens ab: auch da gab es keine Wiederkehr. Zwar gab es auch im Raumfahrtdezernat Menschen, die an eine Art Wiedergeburt glaubten, aber dieser Gedankenkomplex war nicht Inhalt unserer Mission. Erstaunlich war vielmehr an diesem Konzept, das ich dem Chef abgerungen hatte, dass es in einem Maße ergebnisoffen war, das selbst für ein solches Unternehmen nicht üblich war. Wissenschaftliches Forschen musste per se ergebnisoffen sein, aber andererseits musste eine jegliche Raumfahrt auch ergebnisorientiert sein,- was sich natürlich widersprach.

An diesem Punkt hatte ich einhaken und die maßgeblichen Personen mithilfe von Professor Montagnola zugunsten eines „Königsweges“ geschickt manipulieren können. Montagnola war mittlerweile in den Achtzigern. Aber er hatte immer noch einen gewissen Einfluss auf das Dezernat, seine ehemalige Arbeitsstätte. Frank und ich hatten ihn in jungen Studentenjahren als Dozenten erlebt und mir persönlich war er seit langem als Freund verbunden. Vermutlich ging sogar meine Idee, einen spontanen Gedanken “Königsweg” zu nennen, auf ihn, bzw. auf ein Missverständnis zurück.

Wir hatten in seinem spätsommerlichen Garten gesessen und ein wenig Rotwein zusammen getrunken, als er auf Laotse zu sprechen kam und dessen Tao te King. Irgendwie war dabei wohl die Assoziation „Königsweg“ in meinem Unterbewusstsein hängen geblieben.

Doch der Professor war vorrangig dem wissenschaftlichen Denken und Arbeiten verpflichtet. Und so hatte sich die Idee einer forschenden Untersuchung herausgebildet, die sich mit dem Nutzen eines solchen „Königsweges“ beschäftigen sollte. War Spontanität besser als durchgeplantes Agieren? War das Zulassen von Chaos ein Vorteil gegenüber strikt und zwingend festgelegten Strukturen? War das Denken und Wahrnehmen im Fluss des jeweils aktuellen Lebens den Situationen angemessener als das Befolgen von Prinzipien? Wurde im Erleben der Gegenwart ein tiefer Wert des Daseins sichtbar oder gewann man ihn eher durch intellektuelles Erarbeiten von Theorien?

So und so ähnlich gestaltete sich unsere Fragestellung. Wir verpackten sie in einen rhetorisch geschickt verzierten Begleittext, der die Bedeutung für die Gesellschaft, die Politik, die Arbeitswelt, die Forschung und das moderne Menschenbild hervorhob. Zusätzlich wiesen wir auf den Vorreiterstatus des Dezernates hin und skizzierten einen groben Zusammenhang mit dessen Tätigkeitsfeld.

Das Ganze gab ich bei einer günstigen Gelegenheit ab.

 

Der Chef runzelte die Stirn, als ich ihm die Gründe für eine anzustrebende wissenschaftliche Untersuchung darlegte. Vermutlich klang so manches im Text doch relativ absurd und bizarr. Immerhin war Montagnolas Reputation derart gewichtig, dass er mich bat, die Papiere für eine nähere Begutachtung zur Verfügung zu stellen. Ich hatte das verschärfte Interesse des Professors an diesem Thema hervorgehoben und die vage Möglichkeit ausgemalt, dass er unter Umständen ein anderes Institut dafür ansprechen würde, wenn mein Vorstoß beim Chef erfolglos bleiben sollte.

Es ergab sich nach zwei Wochen eine unverhoffte Möglichkeit, unser Anliegen mit einer bereits geplanten Reise ins All zu kombinieren. Und so gestaltete sich alles ganz nach Art des „Königsweges“: unkompliziert und spontan. Nach drei Wochen war ein Team zusammengestellt, das sich mit den Rahmenbedingungen beschäftigte und einen Arbeitsplan entwarf. Nach vier Wochen kam der Professor dazu. Ich hatte seine Teilnahme vorgeschlagen und alle waren dafür, auch der Chef.

Nach drei Monaten gewann das Konzept Kontur. Der Chef und sein Stellvertreter bemühten sich um eine Finanzierung. Technische Anforderungen wurden formuliert und führten zur Fertigung diverser Spezialgerätschaften. Es wurde kalkuliert und gerechnet, beratschlagt und strukturiert. Die bereits geplante Reise wurde verschoben, um sie durch unsere Zusatzforschung zu ergänzen. Frank, der als fest eingeplanter Pilot auf eine Solomission eingestimmt war, erhielt nun mit mir einen Partner. Wir würden zwei Raumschiffe erhalten, davon eines mit zwar veralteter, aber noch funktionsfähiger Ausstattung, - meins.

 

An diesem Punkt meiner Erzählung wird man sich vermutlich fragen, ob der Erzähler, der zudem selbst die Erlebnisse als die eigenen bezeichnet, denn noch bei Trost sei. Ein wissenschaftlich arbeitendes Institut wie das Raumfahrtdezernat Berlin würde sich nach verbreiteter Auffassung wohl kaum auf die Durchführung einer derart fadenscheinigen „Pseudoforschung“ einlassen. Doch weit gefehlt.

Erstens hat der normale Bürger nicht immer Einblick in die Beweggründe, die in solchen Strukturen eines öffentlich geleiteten Betriebes existieren. Und auch die Formulierung „wissenschaftlich“ unterliegt häufig Fehldeutungen. Man arbeitet nicht immer mit bereits vorhandenem Wissen, wenn man neues Wissen anstrebt. „Streben“ ist vermutlich das bessere Wort, denn das Streben, wenn es gut motiviert ist, nutzt häufig ganz andere Herangehensweisen, - intuitive, heuristische. Die Heuristik war längst anerkannte Methode, auch wenn man das nicht glauben mag. Sie bemühte sich um die Kunst, mit begrenztem Wissen zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen.

Dazu gesellte sich in unserem Fall das Glück. Franks Auftrag lag dem Anliegen, das der Professor und ich formuliert hatten, derart nahe, dass sich eine gemeinsame Mission praktisch aufdrängte.

In der Raumfahrt ging es zu jener Zeit nicht immer und ausschließlich um materielle Gewinne, Statusdenken, Ressourcen, Macht, Dominanz oder globale Politik. Der Sprung ins All war der Menschheit als gangbarer Weg für richtig große Gruppierungen noch nicht gelungen. Eine Zerstörung der Erde oder der menschlichen Gesellschaftsgrundlagen drohte noch immer. Die Flucht zu kosmischen Zielen war nicht möglich. Man musste die Umstände des Lebens erträglich, befriedigend, gut, bestens, hervorragend oder noch besser gestalten, damit die Umstände eine optimistische Bewertung der Zukunftsaussichten ermöglichten.

Auch auf diesem Gebiet wurde im All geforscht. Die Sondersituationen, die Menschen bei Raumflügen, während Aufenthalten auf fremden Himmelskörpern, bei der Forschungsarbeit im Team oder alleine auf sich gestellt zu bewältigen hatten, waren von Anfang an ein wertvoller Bestandteil der Astronautentätigkeiten und ihrer Auswertung gewesen.

 

Wer sich noch an meinen zwölften Reisebericht erinnert (Ich und Es), der den denkwürdigen Aufenthalt auf dem Planeten Terremoines schildert, dem wird vielleicht noch in Erinnerung sein, dass mein damaliger Partner Petrus und ich eines Tages völlig unerwartet auf zwei Menschen trafen, Dingo und Steve, die sich unter ungewöhnlichen Umständen entschlossen hatten, sich von ihrer Mannschaft zu trennen und auf dem Planeten zu bleiben. Sie hatten ihren Unfalltod vorgetäuscht und seitdem darauf gehofft, dass nie wieder ein Raumschiff auf Terremoines landen würde.

Als wir sie durch Zufall in der dortigen Region „Arkadien“ fanden, war diese Hoffnung natürlich zerstört, aber es gelang uns, sie vor einer Entdeckung zu bewahren. Petrus und ich verheimlichten ihren Aufenthalt so gut es ging. Nun, es ging nicht so gut, wie gedacht. Nach unserer Abreise wussten noch einige Personen mehr, dass es diese Einsiedler auf dem Planeten gab. Und natürlich, - auf irgendwelchen Wegen war diese Information ein Jahrzehnt später doch irgendwo aufgetaucht. Das Dezernat ging zunächst erstaunlich sensibel und zurückhaltend damit um, aber dann, vor einem Jahr, war aufgrund der verfestigten Kenntnis einer solchen Gegebenheit ein Plan für Franks Mission entstanden.

Man vermutete eine einmalige Gelegenheit, das Verhalten von Menschen in einer derart extremen Abgeschiedenheit zu untersuchen. Hintergrund waren verschiedene Missstände, die von den Sozialbehörden seit vielen Jahren mit Sorgen beobachtet wurden. Über die europäischen Grenzen hinaus war eine heftige Diskussion über zunehmende Krawalle entstanden, die das Sicherheitsgefühl beeinträchtigten. Zudem nahmen Selbstmorde, frühzeitige Demenz und Geisteskrankheiten massiv zu. Die Ausformung des Gesellschaftssystems stand in der Kritik und die Regierungen befassten sich ernsthaft mit einer lange vernachlässigten Frage: Gehen wir mit unserer Politik vom richtigen Menschenbild aus oder wird der Mensch im aktuellen sozialen Kontext, in der Art, wie sein Leben geprägt wird, völlig falsch behandelt?

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9098-5

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