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I M P R E S S U M


Die Sternenbücher Band 18

 

Marielle

 

von Walter Gerten


© 2018 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
info@smg-gerten.de

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2018 Walter Gerten

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss

Manfred Wilt und die Rocker

Der Bote des Zarathustra

Monte Nudo

Unterwegs mit Tom Kerouac

Ich bin ein Schiff

Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola

Die Sternenbücher 2 Akba

Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes

Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens

Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome

Die Sternenbücher 6 Das Nichts

Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers

Die Sternenbücher 8 Paradise2

Die Sternenbücher 9 Solitan

Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan

Die Sternenbücher 11 Das Ubewu

Die Sternenbücher 12 Ich und Es

Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern

Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit

Die Sternenbücher 15 Selbst Ich

Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden

Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT

 

 

Das Buch

 

Der Todesplanet Profundus beheimatet nur noch leere Städte, wasserlose Wüsten, eine giftige Atmosphäre. Pflanzen und Tiere, alle Lebewesen sind seit Jahrtausenden tot. Nur die Gebäude, Maschinen, die Infrastruktur, die ehemaligen Anlagen, die Siedlungen und urbanen Strukturen sind noch intakt.

Das Geheimnis des Todes auf Profundus ist Inhalt und Aufgabe von zehn Forschungsreisen zu dem Planeten. Diese ist die abschließende. Die schwierige Rekonstruktion einer oder mehrerer ehemaliger Kulturen offenbart Schritt für Schritt unerwartete Ähnlichkeiten mit der Erde. Dann kommt es zu einem entscheidenden Fund und zu einem hinterhältigen Betrug.

 

 

Inhalt

I M P R E S S U M

Inhalt

1 Marielle

2 Profundus

3 Misbehaviour

4 Arpogon

5 Psychanarchie

6 Der Chronist

7 SR333

8 Gopragon

9 Das Verhör

10 Intermezzo

11 Wasser

12 Interstellar

13 Mars

14 Erde

15 Montagnola (wieder einmal)

16 Symbolik

 

 

1 Marielle

 

Ich wusste nicht, ob unser Antriebsaggregat noch genügend Treibstoff hatte. Die Instrumente, die seine Funktionen überwachen sollten, waren ausgefallen. Es war mir klar, dass die Sonnensegel nicht genügten, um die Energiespeicher aufzufüllen. Es gab zwar genügend Lichteinfall und mehr war kaum zu realisieren, selbst wenn ich ausschließlich die optimalen Positionen eingenommen hätte.

Doch mein Bestreben war nicht unbedingt nur die größtmögliche Effizienz beim Vorankommen. Es machte keinen Sinn mehr, in diesem Zustand den Schub von früher zu erwarten. Es ging vielmehr darum, jeden Zwang, jede Fremdbestimmtheit zumindest zeitweilig zu eliminieren. Ja, es ging um ein Atemholen, bevor man zu einer Form des Agierens getrieben wurde, die nur noch Planerfüllung sein würde.

 

Ich war aufgeweckt worden; aus dem Tiefschlaf in den sogenannten Normalzustand zurückgeholt worden. Das bedeutete, dass es triftige Gründe geben musste. Die Hypergeschwindigkeit musste dafür unterbrochen werden. Vermutlich ein Treibstoffproblem. … Ob die Umsetzung von Wasser in Wasserstoff nicht mehr regulär arbeitete? Ich war wegen der anstrengenden Aufwachphase noch immer verwirrt. Das Herauskommen aus dem „Lichtaspekt“ war mental schwierig zu bewältigen. Marielle war ebenfalls wach. Ich hatte sie ein paarmal nackt und schwankend herumtapsen gesehen.

 

Wir waren zu viert. Natürlich! Wie immer war auch dieses Mal die Anzahl auf den vermeintlich besten Umfang festgelegt worden. Und das entsprach nach meiner langen Erfahrung als Raumpilot auch meiner Einschätzung. Es war bei dieser Anzahl zwar mit der Herausbildung von kybernetischen Funktionen in der Art von Alpha, Beta und Omega zu rechnen, aber bei erfahrenen Astronauten erfolgte keine zwanghafte Fixierung auf diese Rollen. Sie waren valide. Sie konnten getauscht, abgelöst, modifiziert oder eliminiert werden, je nach Erfordernis.

 

Manche Systeme wuchsen über die hierarchische Orientierung hinaus, auch unseres, an Bord der „Misbehaviour“. Vertrauen in unsere Fähigkeiten, - auch der zwischenmenschlichen, war stattdessen die Grundlage. Doch manchmal, wenn die Technik oder die Interaktion uns Probleme bereitete, zog sich jeder und jede ein wenig in die Schmollecke zurück. Vermutlich war der geheime Grund für dieses Verhalten eine Unsicherheit. Solange alles gut lief, war es einfacher, sich zu integrieren. Bei Schwierigkeiten neigte der Mensch, auch der Astronaut, zur Verlagerung des Problems auf Andere. Und gleichzeitig erwuchs eine geheime Angst, selbst Ziel solcher Verlagerungen, Übertragungen zu werden.

 

„Misbehaviour“ drohte stecken zu bleiben in schwierigem Fahrwasser. Es war mehr als eine Flaute, denn wir wussten wie gesagt nicht, wie weit uns der Treibstoff noch tragen würde. Die Solarenergie erlaubte nur langsames Dahinschleichen. Das Schiff war einfach zu groß für sparsames Reisen. Deshalb hatte ich selbst sie von Anfang an abgelehnt.

Meine Gedanken schweiften ständig ab und ich musste mich zwingen, hart an der Frage nach dem Sinn der Fahrtunterbrechung zu bleiben. Stattdessen rutschte ich immer wieder in eine Art Wachschlummer ab.

 

Eine seltene Form von Lethargie hatte sich bereits lange vorher ausgebreitet. In einer Grundstimmung von latenter Ratlosigkeit hatten wir die Rückreise begonnen. Der Einsatz war beendet. Wir wollten nachhause. Kurz nach den letzten Kurskorrekturen hatte ich als verantwortlicher Pilot die Umstellung auf den „Lichtaspekt“ eingeleitet und die Beschleunigung vorprogrammiert. Dann hatten wir uns voneinander verabschiedet und unsere jeweiligen Kabinen aufgesucht für den Schlafprozess. Die Gurte hatten sich geschlossen und wir konnten uns auf den überwachten Transformationsmodus einstellen. Ich erinnerte mich, dass ich dabei noch an Marielle gedacht hatte, weil es ihre erste Heimreise im „Lichtaspekt“ war.

Und jetzt war ich wieder wach.

 

Nicht alle waren gleichzeitig aus dem geweckt worden; Brandon und Megan schliefen offenkundig noch. Ich hatte von ihnen noch keine Impulsdaten. Nur ich und Marielle; wir schlichen in einer hoffentlich vorübergehenden Ratlosigkeit herum und plagten uns mit der körperlichen Anpassung an den veränderten Arbeitsmodus; - und gleichzeitig auch noch mit der Problematik der Störungssuche. Warum waren wir von „Misbehaviour“ aufgeweckt worden?

Normalerweise wäre nur ich alleine, der Pilot, in den Wachzustand versetzt worden, nachdem das Schiff heruntergebremst hatte. Doch dieses Mal war vieles anders als üblich. Ich strich mir mit der Hand über die Stirn und versuchte, meine Verwirrtheit zu verscheuchen. Ich verließ die Steuerungs-Kabine mit den vielen verwirrenden Informationen auf den diversen Displays und Instrumenten und ging zurück in meine Schlaf-Kabine. Ich knöpfte das Hemd auf und legte mich auf das Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete versonnen den Sternenhimmel hinter dem kleinen Fenster.

 

Wir hatten fremde Welten gesehen. Unser Auftrag hatte eine klar umrissene Kontur gehabt. Man hatte uns losgeschickt mit der Hoffnung auf die Erfüllung ganz konkreter Vorstellungen, die plausibel und erfolgversprechend ausgesehen hatten. Doch die Welten, zu denen man uns geschickt hatte, hatten sich nicht um unsere Erwartungen geschert.

Dort herrschte eine andere Plausibilität; - und unsere Motivationen, die Motivationen des Raumfahrtdezernates Berlin, verloren bereits nach kurzer Zeit an Gewicht. Es war nicht mehr wichtig gewesen, was man erwartete. Ganz einfach!

 

Vielleicht war sogar da bereits die Grundlage für unser jetziges Desaster gelegt worden. Wir hatten dort aus Übermut, aus mangelnder Sorgfalt oder aus Kurzsichtigkeit zu viel Energie verbraucht, ohne die Rückreise einzukalkulieren. Wieso gab es dafür keine Algorithmen an Bord? Oder hatten wir sie ignoriert?

 

 

Marielle kam in meine Kabine. Ich kannte sie seit meiner zweiten Reise zur Erforschung der Zeit; wir hatten uns ineinander verliebt. Sie war immer noch nackt. Auch diesmal überraschte mich ihre Körperlichkeit. Vermutlich war sie nicht mit der Vokabel „klassische Schönheit“ gewürdigt; sie war stattdessen in einer erotischen Ausdrücklichkeit sie selbst, jedenfalls körperlich, dass sie ihre unbeabsichtigte Wirkung nie verfehlte. Doch nun, in der merkwürdigen und unerwarteten Flugphase, die wir noch nicht verstanden, war eine gewisse Unbeholfenheit in ihre Bewegungen getreten. Sie war erotisch wie immer, aber etwas unsicheres, phlegmatisches nahm die Sicherheit aus ihrem Gang, wie sie hereinkam, sich zu mir auf das Bett legte, verträumt auf meinen Bauch sah, den ich für zu dick hielt, beiläufig ungegenwärtig ihre Hand über meine Brust gleiten ließ und ihr Bein in meinen Schritt drängte.

 

Nein, ich wusste, ich war abgelenkt und unkonzentriert. Mehrere Denkmuster rasselten herab wie Jalousien. Achtung: Versagensmöglichkeit! Vorsicht: Eigendynamik mit begrenzter Beeinflussbarkeit! Also ging ich über zu einem Ablenken in die emotionale Harmonik.

Marielle ging spontan darauf ein und umarmte mich. Ich genoss es, ihren Po zu streicheln, der allzu verlockend genau in meine Handflächen glitt. Doch dann trat ein abgeschwächtes, lustreduziertes Wohlgefühl in unsere bislang stumme Wahrnehmung.

 

Sie sagte, dass sie es mochte, so neben mir zu liegen. Ich bestätigte dieses Gefühl und streichelte ihre Schultern. Ich hoffte, dass meine Zurückhaltung, meine Lustlosigkeit, kein Problem darstellen würde. Und ich begrüßte es, als sie meine Zärtlichkeit erwiderte und sagte:

„Es ist aber auch irgendwie beunruhigend, dass das Schiff nicht mit genügend Informationen zum Status der Maschinen aufwarten kann. Was erwartet ‚Misbehaviour‘ denn von uns?“

„Keine Ahnung. Ich kann mir den derzeitigen Modus nur mit extremer Treibstoffknappheit erklären. Aber soviel haben wir doch gar nicht verbraucht!“

 

 

Marielle war zum ersten Mal Mitglied einer Crew. Bis dahin hatte sie nur Flüge zum Mond und im Heimat-Planetensystem unternommen. Deshalb betrachtete sie diesen ihren ersten Langzeitflug als große Chance.

Für mich war es Routine. Bald würde ich wohl nicht mehr ins All geschickt werden. Die Flüge im „Lichtaspekt“ über lange Strecken waren speziell wegen der Aufwachphase eine hohe körperliche und mentale Belastung. Nicht dass man schneller alterte, aber die Gefahr von emotionaler Orientierungslosigkeit nahm zu und man stellte tatsächlich an sich selbst gewisse Defizite fest. Diese verflüchtigten sich zwar wieder, sobald man die gewohnten Routinen wieder aufnehmen konnte, aber das dauerte jedesmal länger.

 

Ich vermutete, dass Marielle in einer erotisierten Stimmung geweckt worden war und dass sie noch eine langanhaltende Nachwirkung verspürte. Da sie diese spezielle Sequenz des Reisens zum ersten Mal erlebte, kannte sie noch nicht die Phase, in der die Figuren des Schlafzustandes sich noch wie präsent verhielten und sich mit dem realen Geschehen mischten.

Ich selbst befand mich bereits in einem unruhigen, alarmierten Zustand, weil ich klar erkannt hatte, dass etwas mit dem Schiff nicht stimmte; - sonst hätte es uns nicht geweckt.

Die anderen beiden, Brandon und Megan, hatte ich noch nicht gesehen oder gehört. Vielleicht wurden sie überhaupt nicht aufgeweckt.

 

„Misbehaviour“ hatte ihren Namen nicht durch Zufall erhalten. Sie hatte zunächst nur eine Nummer als Bezeichnung gehabt. Nun klebte diese „Ungezogenheit“ wie eine unauslöschliche Vorbestimmung an ihrer hässlichen Außenhaut. Auch diese jüngste Aktion sah für mich verdächtig nach einem passenden Beispiel für den Charakterzug des alten Kastens aus.

Es schwirrten bereits einige Wartungsroboter draußen herum. Einer von ihnen sah gerade durch mein Kabinenfenster herein und glotzte auf Marielles nackten Oberkörper. Sie hatte wunderschöne Brüste und ich konnte gut verstehen, dass der Anblick magisch wirkte. Mir ging es genauso und ich geriet in Versuchung, die Stimmung auszunutzen. Auch ihre Hüften, ihr Po und die Oberschenkel zogen meine Hände wie magnetisch an. Wenn sie sich zu mir drehte und dabei diese unbewusst weiblichen Bewegungen langsam und genüsslich dehnte, dann war ich froh, nicht ebenfalls nackt zu sein. Es war ganz einfach nicht der richtige Zeitpunkt und außerdem drückten mich Selbstzweifel. In dieser Art von Konstellation, mit den Erwartungen, die fast greifbar in der Luft schwebten, befiel mich manchmal die übliche männliche Versagensangst.

 

„Misbehaviour“ sah aus wie zwei Schuhkartons, die übereinander geklebt waren. Der obere ragte um die Hälfte hinten über, der untere ragte um die Hälfte vorne heraus. Zwei versetzte Schuhkartons mit einigen Fenstern. Das Schiff war meistens vom Mond aus gestartet und auch dorthin zurückgekehrt, doch nun wurde es seit drei oder vier Einsätzen auf dem Mars verwendet. Es gehörte der europäischen Föderation, die den Mond nicht mehr anflog.

Die hässliche Außenhaut war übersät mit unzähligen Dellen und Kratzern. Im Bugbereich war bereits das Material des unteren Schuhkartons aufgedoppelt und trotzdem schon wieder massiv verschlissen. Im Heck, also hinten beim oberen Schuhkarton, hatte es Hitzeprobleme gegeben, die Verwerfungen und Farbveränderungen hervorgerufen hatten. Die Triebwerke waren wohl konstruktiv ein wenig falsch platziert.

Man hatte dort alles so gelassen, wie es sich entwickelt hatte im Verlauf der Nutzung. „Misbehaviour“ war geschunden und verbraucht, - und das sah man ihr an. Obwohl sie ihre stumpfe Nase niemals in die Atmosphäre irgendeines Planeten tauchen musste, weil sie stets im Orbit wartete, dass ihre Besatzung zu ihr zurückkam, waren ihre Kanten und Flächen von den Strapazen der außergalaktischen Strecken runzelig geworden.

Dort, im Orbit eines fernen Ortes, über einem unbewohnten Himmelskörper hatte sie ihren Namen erhalten. Sie war nämlich einfach vom ortsfesten Koordinatenpunkt verschwunden. „Fehlverhalten“ war die damalige Bedeutung ihres Namens gewesen und er wurde von der Crew als Schimpfwort verwendet. Später, als solche Unzuverlässigkeiten zu ihrem Markenzeichen geworden waren, verwendete man ihren Namen nur noch unter der Bedeutung „Ungezogenheit“.

 

Und sie machte ihm alle Ehren. Immer dann, wenn man nicht damit rechnete, gab es gemeine und hässliche Funktionsfehler, die in ihrer Art speziell, unverwechselbar und typisch für sie waren.

„Ja, das passt!“

„Klar, hätte man vorher wissen können!“

„Ach, wieso überrascht mich das nicht?“

In solchen Reaktionen, die man beim Erzählen erhielt, erkannte man diejenigen Astronauten, die bereits mit ihr „gesegelt“ waren. Tatsächlich hatte sich ihr Ruf verbreitet wie der eines alten verfluchten Dreimasters, dessen Geschichte man aus der Literatur kannte. Irgendwann würde sie wohl als Geisterschiff die Routen unsicher machen. Tatsächlich hatte man manchmal das Gefühl, „Misbehaviour“ sei von bösen Geistern besetzt.

Damals hatte die Crew, als sie das Schiff nicht am vorgesehen Ort antrafen, den Weg zurück auf den Planeten genommen und zehn weitere Tage in der dortigen Station verbracht, bis sie endlich wieder auftauchte.

Die Datenauswertung hatte keine nachvollziehbaren Ursachen für ihr Verhalten enthalten. Jedenfalls hatte man rekonstruiert, dass sie die Anweisungen korrekt erhalten hatte. Es blieb der Eindruck, dass sie nicht das war, was man sich vorstellte, das sie sein sollte. Eine Diskrepanz zwischen Erwartung und Bestätigung.

Frank, der damalige Leiter der Mission, hatte vermutet, sie sei gerade wegen den Erwartungen, die sie hatte erfüllen sollen, einfach ausgebrochen und verschwunden, bis allen klar war, dass Erwartungen zu erfüllen nicht ihr Ding sei. Man hatte ihn deswegen belächelt, aber er hatte es ernst gemeint, obwohl ihm klar sein musste, dass es sich nicht um einen Menschen sondern um eine Maschine handelte. Frank hatte den Ursprung jener Charaktereigenschaft von „Misbehaviour“ in einer der vielen Sprachen und Untersprachen vermutet, mit denen sie auf ihre Aufgaben vorbereitet worden war.

 

Die Serviceroboter waren kleine Flugmaschinen mit zwei Augen und einer Rundum-Antriebseinheit auf dem Rücken. Sie hatten vorne ein Maul zum Aufnehmen von Schmutz und Fremdkörpern. Sie konnten dort aber auch diverse Werkzeuge mit Fräskörpern und Polierscheiben ausfahren, um befallene Stellen, Gelenke, Spalten etc., zu reinigen und wieder gangbar zu machen.

Mit ihren Augen konnten sie Probleme registrieren und analysieren. Eine zweite Funktion der „Augen“ war die Darstellung von Zeichen. Die „SR“ waren in der Lage, zusammen zu arbeiten und notfalls Menschen um Hilfe zu rufen, wenn sie selbst nicht zum Erfolg kamen. Sie wussten, wo sich Menschen aufhielten und wie sie zu erreichen waren. Sie merkten sich die Aufenthaltsorte und die Tätigkeiten der Menschen und planten sie ein. Das war auch der wirkliche Grund für die Neugier, die sie an den Tag legten.

 

Marielle hatte sich auf den Bauch gelegt und die Beine leicht gespreizt. Den Kopf mit den halblangen, rotbraunen Haaren schmiegte sie in die Kissen und seufzte. Dann sah sie mich an und fragte:

„Du hast keine Lust, was?“

„Ich, ähm, ich weiß nicht, ob ich richtig in Stimmung bin.“

Ihre Direktheit störte mich und ich fühlte mich gehemmt. Da wir beide im Übergangsstadium zum Normalbewusstsein waren, war ich vorsichtig. Sie aber streckte ihren rechten Arm und berührte mich mit den Fingern. Lässige Zärtlichkeit strömte über meine Haut und erweckte ein Prickeln, das vom Berührungspunkt am Oberschenkel hinauf lief zum Nabel und von dort wieder abwärts. Ihre Hand strich über meine Brust und verstärkte die Schauer der Erregung, die mich ergriffen. Mit einer eleganten Drehung richtete sie sich auf und kniete über mir. Ich beugte mich vor und küsste ihre Brustwarzen, während ihre Hand mich streichelte.

Ganz plötzlich fühlte ich mich gut, sehr gut. Und Marielle ganz eindeutig genauso. Sie zog mir Hemd und Hose aus.

Ihre Haut war angenehm warm und glatt. Ihre Berührungen luden mich mit weiteren Schauern erotischer Spannung auf, die in Wellen abwärts liefen und mein Blut mit süßer Essenz vermischten. Wir waren schon lange ein Paar und die Vertrautheit der sinnlichen Empfindungen entfaltete sich nun ungehemmt. Ich war erregt.

Dann fiel mein Blick an Marielles Hals vorbei wieder auf das Kabinenfenster und die Erregung verflog wie ein Papier im Wind. Drei der kleinen Roboter starrten herein und beobachteten uns.

 

 

 

Brandon und Megan waren noch im Tiefschlaf. SR349 hatte mich „angefordert“. Dieser Serviceroboter war mein persönlicher Botschafter während des Rückfluges. Er war mir zugeordnet als Bindeglied zwischen der Schar der kleinen „Kobolde“, wie Marielle sie immer wohlmeinend nannte, - und mir. Er fungierte sozusagen als Schnittstelle zu seinem Trupp und dem Schiff, dem alten morschen Dreimaster, - „Misbehaviour“. Die Kobolde waren von Anfang an, also seit dem Bau, eine Unterkategorie des Schiffes; sie waren eins mit ihm, ebenso ein Teil seiner Funktion wie das gesamte Leitungsnetz oder die Steuerung oder die Nieten, die unverzichtbar waren für die Innenstruktur.

SR349 wartete an der Schleusenaußenseite, bis ich den Raumanzug angezogen hatte und die Ausstiegsluke öffnete. Dampf zischte und hüllte ihn ein.

 

 

„Wir warten“, sagte er in meine Helmlautsprecher.

„Ich bin da“, war meine standardisierte Antwort, die ihm signalisierte, dass wir nun verlinkt waren.

Dann flog er voraus, während ich mich an der Außenhaut des Schiffes von Haltegriff zu Haltegriff bewegte. Weiter Kobolde gesellten sich dazu. Einige erkannte ich wieder. Sie hatten im Laufe ihres Daseins „persönliche“ Merkmale, eigenes Aussehen, spezielle Falten, Runzeln und Verletzungen davongetragen. Ihre Nummer befand sich normalerweise an der linken Bauchflanke unten; SR349 zum Beispiel hatte diese Nummer komplett verloren. Die beiden Nieten des kleinen Blechschildchens hatten sich bei irgendeinem seiner Einsätze gelöst.

SR29 hatte einen Teil seines kurzen Rüssels eingebüßt, SR12 besaß nur noch zwei von vier Standbeinen und SR405 erkannte ich immer an der extremen Verfärbung an seinem „Schwanz“. Wahrscheinlich hatte er bei einer Reparatur am Triebwerk nicht schnell genug flüchten können, als es wieder funktionierte.

 

Die Kobolde hatten eine extrem füllige und schnelle Kommunikation untereinander. Ihre Sprache bestand aus Kürzeln, die für mich, für uns Menschen wie Vogelgezwitscher klang und in einem endlosen Auf und Ab wie ein Lied dahin schwebte. Es enthielt alle Einzelstimmen und verflocht diese zu einem sausenden Strang aus Kobold-Dialekt, der zusätzlich zu allem anderen durch „Misbehaviours“ Netz floss.

Keiner von uns hörte sich das länger als wenige Sekunden an, bevor er diese Inhalte ausschaltete. Jeder Versuch, etwas heraus zu deuten, war vergeblich. Man konnte lediglich daran erkennen, in welchem Zustand die Kobold-Bande sich gerade befand.

Jetzt sangen sie ein ruhiges Lied. Man hatte Zeit und war gespannt, was ich, der Mensch, einbringen würde, jetzt, wo man ihn benötigte.

 

Wir erreichten die Tanks. Ich kontrollierte die Füllstandsanzeigen, die man seltsamerweise immer noch für optische Kontrolle außen anbrachte. Der erste war leer, die anderen neun waren noch im Schnitt zu dreiviertel mit Wasser gefüllt; - falls die Anzeigeinstrumente richtig anzeigten. Also hatte ich wohl richtig vermutet, dass die Umsetzung in Wasserstoff Probleme bereitete.

Die Kobolde zwitscherten lauter und ich sah, dass sie mich weiter führen wollten zum nächsten neuralgischen Punkt. Seit SR349 mich abgeholt hatte, befand ich mich in einer Art Führung. Sie wollten mit mir rekapitulieren, was sie alles kontrolliert hatten. Die nächste Station war ganz in der Nähe. Es gab im Leitungssystem eine Art Knotenpunkt, der logistisch große Wichtigkeit besaß. Einer der Roboter, ich glaube, es war SR29, heftete sich kurz an eine Eckverbindung und prüfte den Innendruck, zeigte mir dann auf seinem rechten Auge den ermittelten Wert an und präsentierte mir dann zum Vergleich den Soll-Wert auf dem linken Auge. Ich bestätigte meine Kenntnisnahme durch Nicken. SR 29 switchte seine Augen um auf Sehen und glitt einige Dezimeter weiter zum nächsten Leitungsknoten. Dort ergab sich ein völlig anderer Wert.

Ich überlegte. Sicherlich hätten sie diese Diagnose ohne mich stellen können. Ich zog aus einer meiner Containertaschen am Raumanzug eine Universalzange hervor und klopfte mehrmals hart auf die beiden Leitungen. Es war schwierig, die Härte solcher Schläge zu dosieren, wenn man weder etwas hören konnte, weil es keinen Schall gab, noch das gewohnte Gefühl für Kraft hatte, weil es keine Schwerkraft gab und der Körper selbst labil im Raum schwebte.

Zwei der Kobolde zuckten zurück, als ich klopfte. Dann kamen sie wieder näher und begutachteten mit blitzenden Augen die betroffenen Stellen an den Leitungen. Sie tauschten Informationen aus; es gab kurze und abgehackte Sätze, dann setzte sich das normale, leiernde Lied fort. SR29 prüfte noch einmal die Innendrücke und bestätigte mir den Erfolg der Klopferei. Alles wieder so, wie es sein sollte!

 

 

Wir zogen weiter zur nächsten Stelle. Es war der Übergang zu den innenliegenden Wasserstoffgeneratoren. Hier durchbrach die resultierende Leitung die Metallhaut. Es war von den Konstrukteuren eine gut durchdachte Überwachungsmöglichkeit genau an dieser neuralgischen Stelle eingesetzt worden: eine gläserne Leitung, durch die man bei allen Wartungs- und Reparaturarbeiten sowohl am Leitungssystem als auch am Korpus der alten Dame sehen konnte, was sich in ihr abspielte. Zudem gab es im Inneren des Schauglases ein Schaufelrädchen, das Strömung und Strömungsrichtung anzeigte. Es stand still.

Dann trieb etwas mehlig-grauer Sud heran und fädelte sich träge in dünnen Schleiern durch die Flügel des kleinen Schaufelrädchens, ohne sie anzutreiben. Vermutlich die Reste der Verstopfung, die ich kurz zuvor freigeklopft hatte. Also gab es durchaus eine Strömung, allerdings so schwach, dass man sie ohne die Schwebstoffe übersehen hätte.

 

Ich brach die Außenbesichtigung ab und sagte zu SR349:

„Genug. Es wird wohl ein Problem mit den Zuleitungen zu den Generatoren im Inneren sein.“

„Gut. Wir warten.“

„Wie viele von euch sind im Innenraum?“

„25. Kontakt-SR ist Nummer 98.“

 

 

Zurück im Bauch der alten unzuverlässigen Lady traf ich zunächst auf Marielle. Sie war nicht mehr nackt. Sie hatte ihren üblichen Bordanzug an, einen Overall mit Frontreißverschluss. Sie fragte mich nach dem Fortschritt der Fehlersuche und während sie sprach wurde mir klar, dass sie enttäuscht war. Natürlich gab es vielleicht wichtigere Dinge, aber ich hatte das Gefühl, dass sie über meine mangelnde Standfestigkeit enttäuscht gewesen war. In einem kurzen Wortwechsel bestätigte sie meine Vermutung. Irritiert ging ich weiter, erreichte schließlich den Bereich der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2018
ISBN: 978-3-7438-8027-6

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