Impressum
Die Sternenbücher Band 17
Die zweite Reise zum JETZT
von Walter Gerten
© 2018 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
info@smg-gerten.de
Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne
Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2018 Walter Gerten
Der Autor:
Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.
Weitere Romane:
Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan
Die Sternenbücher 11 Das Ubewu
Die Sternenbücher 12 Ich und Es
Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern
Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit
Die Sternenbücher 15 Selbst Ich
Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden
Das Buch
Eine Mission auf dem Saturn wird von Sponsoren mitfinanziert, die ihre jeweiligen Interessen in den Ergebnissen der dortigen Forschung realisiert sehen möchten. Der Pilot ist allein unterwegs und zweifelt bereits am Anfang seiner Arbeit vor Ort am Sinn dieser Forderungen. Sie belasten für ihn die unbefangene Wissenschaft mit Vorgaben. Dadurch gerät er in Konflikte mit seinen eigenen Ansprüchen und zudem in Situationen, die ihn in Gänze fordern. Der Saturn-Mond Titan bringt ihm fast den Tod.
I M P R E S S U M
Inhalt
1 Zweite Reise zum JETZT
2 Assoziationen
3 Die Saturn-Ringe
4 Titan
5 Die Kundschafter
6 Der kleine Prinz
7 Start
8 Epilog
1 Zweite Reise zum Jetzt
Ich grübelte nun schon seit langer Strecke über das Wort „Jetzt“ und entdeckte darin nur einen einzigen Vokal, der zudem extrem kurz und nichtklingend verwendet wurde. Ich wunderte mich über das offensichtliche Bemühen, mit der Sprache, also einer Tätigkeit, die eine mehr oder minder große Zeitspanne erforderte, einen kleinstmöglichen Moment assoziativ darzustellen. War denn das Jetzt nicht eher unendlich lang? Natürlich wusste ich, dass das ein abwegiger Gedanke war. Das Jetzt war so klein, kurz, unauffindbar, dass es praktisch gar nicht vorhanden war. Kaum war es da, dann war es schon vorbei.
Trotzdem, oder gerade deshalb war es Inhalt eines Projektes, das vom Raumfahrtdezernat durchgeführt wurde. Es knüpft an eine längerfristige Studie zum Phänomen der Zeit an.
Es war meine zweite Reise mit diesem Ziel. Ich konnte mich nur noch dunkel an die erste erinnern. Wenige Aspekte waren mir im Gedächtnis geblieben und sie betrafen hauptsächlich die Phasen davor und danach. Jetzt, während ich durch die kosmische Nacht einem fernen Ziel entgegen glitt, traf mich ein Bild aus der Vergangenheit wie Hohngelächter. Es grinste mich an wie ein gruseliger Clown, der sich ganz unverschämt offen über das Scheitern der Menschen ergötzte. Ich hatte seine Fratze schon einmal gesehen und schon damals war ich mir hilflos vorgekommen, - ausgeliefert.
Die Wege zu fernen Zielen waren immer von Erwartungen begleitet. Als Halbwüchsiger hatte ich mit der Familie Reisen unternommen. Damals gab es noch die Fernstraßen, auf denen Automobile unterwegs waren, - und auch meine Eltern waren damals im Besitz eines solchen Gefährts. Vater war ein Freund des Südens und Mutter schwärmte während der ganzen Fahrt bereits von den kulturellen und landschaftlichen Kostbarkeiten, die wir würden genießen können, sobald wir die Destination unseres Sehnens erreicht hätten. Die Düfte, die Eindrücke, die Klänge und Farben des Südens beschrieb sie so eindrucksvoll, dass wir, - Vater und ich, nicht anders konnten, als alles beizutragen, was wir konnten. Wir schilderten die Erlebnisse unserer vorherigen Reisen in diese Regionen, steigerten unsere Euphorie mit immer neuen Episoden, die sich aus dem Gedächtnis erwecken ließen.
Sobald wir das französische Lyon passierten, verwandelte sich unsere Sehnsucht in Begeisterung. Immer näher kamen wir der erträumten Realisation unserer Vorstellungen.
Während der schweigsamen Perioden der Fahrt beobachtete ich die Wolken am Himmel. Das monotone Sirren der Reifen versetzte mich in eine Art Trance und wie auf Befehl verwandelten sich die dahintreibenden duftig-weißen Gebilde vor dem endlosen Blau in die Akteure meiner Phantasie.
In ständiger Verwandlung begriffen tummelten sich dort am Firmament flockige Schauspieler eines unbekannten Szenariums in Wiedergeburten meiner geheimsten Wünsche. Barbusige Schönheiten räkelten sich dort im Verbund mit sehnsüchtigen Knaben. Finger und Schenkel berührten sich, flossen umeinander und rieben sich, bis sie zerflossen zu wollüstigen Verrenkungen und gewagten Stellungen diverser geiler Körperteile. Gleichmütig nahmen sie die stetigen Umwandlungen hin, weil immer wieder das Thema der knospenden Körperlichkeit sich neu manifestierte, sich optisch herauskristallisierte, um wieder zu zerfließen in andere, ebenso erotische Suggestionen meines Unterbewusstseins.
Nur wenn meine Mutter wieder anhob, die Düfte zu preisen, die örtlichen Gepflogenheiten, die hochkulturelle Bedeutung der Architektur oder die Exotik der Speisen, - dann verscheuchte sie damit die assoziative Aufdringlichkeit dessen, was die Wolken mir ausmalten und ersetzte es durch schicklichere Bilder.
So entstanden am Himmel Landschaften mit weit ausholenden Buchten, umgrenzt von Klippen und wolkiger Vegetation, alles weiß-in-weiß und völlig kommunizierbar, so dass wir begannen, unsere Beobachtungen im weiß-blauen Azur zu vergleichen und damit gemeinsam aufzubauen zu dem einen großen, familiären Erwartungsstreben bezüglich unserer nicht allzu fernen Zukunft.
Ich sog diesen Nektar aus der Blüte der kommenden Zeit und versuchte ihn zu genießen. Doch war nicht die Sehnsucht selbst der Genuss und die Zukunft nur ein Trugbild? Nein, denn in meiner kindlichen Vorstellung gab es all solche philosophischen Zweifel nicht. Das Jetzt war das Jetzt, auch wenn es nicht das Jetzt war.
Erst mit der Gewichtung des persönlichen Umgangs mit der Zeit entstand die Frage nach der Gegenwärtigkeit. Als Kind hatten mich solche Clowns nicht geplagt, die grinsend immer dann auftauchten, wenn ich wieder einmal gegen die Regel der Aufmerksamkeitsphilosophie verstieß und zukünftigen Versprechungen nachträumte, - oder besser vorausträumte. Wen scherte es, wenn ich das erste Gebot der Theorie missachtete und nicht wahrnahm, was aktuell geschah?
Doch nun, viele Jahre, - nein, Jahrzehnte später war ich nicht mehr im Stand der philosophischen Unschuld. Ich musste begründen, was auch immer ich imaginierte und empfand, dachte und konstruierte. Ja, - es war sogar Teil meiner Arbeit. Die Sorgsamkeit bezüglich des Umgangs mit der Gegenwart war nicht mehr wegzudenken aus meinem Alltag. Gravierende Fehler wären ganz gewiss unvermeidlich, würde ich immer noch wie ein Kind meiner Vorstellung hinterher laufen und ihr entsprechend mein Vorgehen zu realisieren versuchen.
Die Zischlaute im „Jetzt“ suggerierten ein extrem flüchtiges Zeitintervall, das, wenn man es verpasste, unwiederbringlich seine Erlebbarkeit würde verloren haben. Einmal kurz geblinzelt, einmal ein Gedanke, der dazwischen funkte, einmal gestolpert, einmal zu kurz geatmet oder gehustet, einmal geträumt, - und schon war er vorbei, der Moment, die Chance, die Realität, das Leben.
So die Theorie.
Ich wusste, dass wir uns unterschwellig über solche Problemchen hinweghalfen, indem wir Zeit bewerteten, - auch das Jetzt. Wir teilten unsere Lebensmomente ein in unnütze Zeit, in wertvolle Zeit, in verlorene Zeit und in klingende Münze, in Geld. Unnütze Zeit füllten wir mit Handlungen, die uns ebenfalls unnütz erschienen, - welche Schande! Wir betrachteten einen Bereich unseres Lebens als Müllhalde, auf der ungeliebte Zeit und ungeliebte Verrichtungen entsorgt werden sollten. Und sie wurden!
Doch aktuell, also während meiner Reise, die das Ziel hatte, ein zweites Mal den Versuch zu unternehmen, dem Mysterium der Zeit auf die Spur zu kommen, befasste sich das Raumfahrtdezernat mit der beschriebenen Problematik und hatte mich, einen alternden Raumpiloten, losgeschickt zu einer ungeliebten Mission. Jahrelang hatte man die erste Reise in den Akten und Dateien vergraben. Sowohl der Chef als auch sein neuer Nachfolger, der sich eine Zukunft an dessen Schreibtisch ausmalte, waren erst durch mich, der ich eine altersmilde Wiederaufnahme der widersprüchlichen Thematik ins Gespräch gebracht hatte, noch einmal aufmerksam geworden auf die noch ausstehenden Antworten auf Reise Nr. 1.
Damals hatten wir im Zweierteam die Raumzeit auf einem dafür geeignet scheinenden Planeten untersucht und die Verformungen dokumentiert. Jetzt ging es um das Jetzt.
Die kosmische Umgebung verdeutlichte mir noch einmal den grundlegenden Unterschied zur ersten Reise: dieses Mal ging es nicht um die theoretischen Aspekte der Zeittheorie, sondern um die Wurst. Wie konnte man sich der Gegenwart nähern, dem zentralen Bereich des Wahrnehmens, der unabhängig von Vorstellungen und Plänen war und natürlich von Analysen der Vergangenheit und Folgerungen in die Zukunft hinein. Es ging um den wahren Jakob, den Kistenteufel, den Pierrot, den Magier, den Zauberer und die Hexe, die Gegenwart. Und der gruselige Clown grinste bereits, weil er das Scheitern voraussah.
Das Unterwegssein war real, aber das Ziel war zweifelhaft. Auf welchem Planeten mochte das Jetzt zuhause sein? Wohin führte die Reise? In die Sehnsüchte der Kindheit, in die Vorstellungen des Erwachsenen? Oder ins Nichts, das Ende des Leidens, das der Buddhismus propagierte? Anders als die Anthropologie oder die religiösen Angebote führte mich die Astronomie in eine Forschungsarbeit, die sich mit einer Lebensform beschäftigte, der man die Fähigkeit zu direktem, aktuellem und gegenwärtigem Leben nachsagte, einer Kunst, von der der wir annahmen, dass wir sie längst verloren hätten.
Die Frage, wohin mich diese zweite Reise denn führte war mehr als berechtigt. War denn nicht das Jetzt überall und immer?
Wohin reisen, um es zu erforschen?
Wo und wann war es aufzufinden?
Und wozu es erforschen?
Letzteres war tatsächlich einfach zu beantworten, waren doch sämtliche gesellschaftlichen Institutionen mittlerweile in hohem Maße alarmiert über den Zustand der Bevölkerung.
Es gab sogar eine umfassende Allianz Bedenken tragender Gruppierungen, die sich an die medizinischen Fakultäten gewandt hatten, um das Problem einzugrenzen und einer Lösung zuzuführen.
Wie des Öfteren bereits erwähnt, besaß der Leiter des Raumfahrdezernats, mein Chef, ein außergewöhnliches Geschick, Projekte im entstehen bereits zu erkennen und durch Ausnutzung seine Kontakte auf sich zu lenken. So war es dazu gekommen, dass ein Kolloquium sozial interessierter Gesellschaftssegmente einen Auftrag vergab.
Der Chef hatte sich Berater geholt und anschließend sowohl die Zielsetzung, als auch die Finanzierung durch Geldgeber und (vor allem) die Durchführung des Projektes an Land gezogen. Zum Beraterstab gehörte auch Professor Montagnola. Ich begegnete ihm während dieser Phase im Dezernat und wir trafen uns für eine ausführliche Erläuterung der Inhalte in meinem kleinen Büro.
Ich hatte eine Flasche französischen Rotwein besorgt, weil ich wusste, dass er diesen liebte.
„Mein lieber Freund“, sagte er als er am ersten Glas nippte. „Es ist mir immer wieder eine Freude mit Ihnen zusammen zu sitzen. Mmmh, dieser Rote ist köstlich! Aus der Provence? Nun, Sie fragten nach den Hintergründen des avisierten Projektes.“
Er musste mittlerweile an die achtzig Jahre alt sein, schätzte ich. Mit verschmitzten Augen rückte er seine Brille zurecht. Die lockigen grauen Haare auf seinem Kopf waren zwar weniger geworden, aber noch immer signalisierten sie eine gewisse Wildheit, denn man sah auf den ersten Blick, dass sie nicht regelmäßig mit einem Kamm in Richtung gezwungen wurden.
„Professor, es ist mir bekannt, dass man mich als Piloten für ein beabsichtigtes und weitgehend zu Ende geplantes Projekt vorgesehen hat. Der Buschfunk im Dezernat funktioniert noch. Der Chef hat auch bereits Bemerkungen fallen lassen. Ich weiß, dass Sie als freier Berater eingebunden sind; ich habe gehört, dass es zum Saturn gehen soll, ich vermute, dass es eine schmal ausgestattete Mission sein wird. Also werde ich wohl alleine reisen. Mir fehlen noch unabhängige Hintergrundinformationen. Deshalb freue ich mich, dass wir ein wenig Zeit zusammen dafür zur Verfügung haben. Ich frage mich nämlich, was die Erforschung des JETZT, eine für mein Empfinden hochinteressante Frage, mit dem Raumfahrtdezernat zu tun hat.“
„Daran bin ich nicht ganz unbeteiligt, mein Freund. Wie Sie wissen, bin ich seit meinem Ausscheiden aus dem praktischen Dienst und der Dozentenarbeit immer noch gefragt als Berater im Fachbereich Physik, Astrophysik und Kybernetik. Letzteres erstreckt sich ja logischerweise auf die Gesellschaft der Menschen, egal welche Gruppengröße man betrachten will. Im vorliegenden Fall geht es um die massiven Folgen der Vernetzung auf die Individualpsyche.“
Ich hatte damit bereits den ersten Hinweis. Später, während der Arbeit auf den Saturn-Ringen und dem größten Saturn-Mond Titan, musste ich hin und wieder an dieses Gespräch zurückdenken, denn ich selbst war ja Teil der Gesellschaft. Professor Montagnola aber hatte altersbedingt noch in seiner Jungend eine ganz andere Gesellschaft gekannt. Er hatte später, als wir nach der Studentenzeit Freunde wurden, immer wieder von den Zeiten erzählt, als die Menschen noch eigenverantwortlich und mit einem gesunden Freiheitswillen ausgestattet waren, - mit gewisser nostalgischer Wehmut, wohlgemerkt.
„Heute ist vieles ganz anders“, begann er. „Aus meiner noch teilweise anarchischen Sozialisation heraus ist es ein Trauerspiel. Deshalb finde ich es lohnend, dass sich endlich eine Allianz zur Rettung des menschlichen Bewusstseins zusammengefunden hat. Es ist allerhöchste Zeit. Bald wird das Individuum zu einem natürlichen Leben nicht mehr fähig sein.“
„Ich sehe auch den Verlust vieler Fähigkeiten, Professor, aber was hat das mit der Erforschung des physikalischen und theoretischen Problems JETZT zu tun?“
„Sie müssen diesbezüglich nur die Historie betrachten, mein Freund. Der Mensch hat sehr viel an Verantwortung, Arbeitskraft, Kalkulation, Entwicklung, Umsetzung und Projektarbeit an die Maschinen abgetreten. Alles im Sinne einer Lebensvereinfachung, einer erhofften Steigerung der Lebensqualität. Das ist auch teilweise eingetreten, - teilweise! Er muss nun weniger schwer und lange arbeiten. Stattdessen kann er, überspitzt ausgedrückt, länger und öfter auf dem Rücken liegen und Federn in den Himmel blasen.“
„Oder sonstwas tun!“
„Oder sonstwas tun. Kennen sie Schönwetterwolken? Sie treiben so vereinzelt und in regelmäßigem Abstand über den Himmel. Manche sehen aus wie träumende Kaninchen, andere wie Schaumwaffeln, andere wie träge auf dem Rücken liegende Menschen. Stellen Sie sich vor, all diese Wolken wären untätig herumtreibenden Menschen. Natürlich sind sie vernetzt, so wie wir seit ewigen Zeiten, weil sie sonst gar nicht wüssten, was sie alleine mit der vielen Zeit anfangen könnten. Das Vernetztsein enthebt sie dieser unangenehmen Situation. Das Netz versorgt sie über die Medien mit Inhalten. Es gibt ihnen Informationen, Meinungen, Anstöße für die Mode, für ihr Aussehen, über die Sprache gibt es ihnen eine gemeinsame Ausdrucksweise, über die kollektiven Gedanken ein gemeinsames Weltbild, über die Versorgung eine gemeinsame Sicherheit, über die Infrastruktur eine gemeinsame Ernährung, über die Kultur eine gemeinsame Kunst und Kreativität, über die Medien eine ständige Rückkopplung und Rückversicherung.
Sie sehen, - es ist keine eigene Anstrengung mehr notwendig. Die Nabelschnur zur Mutter Gesellschaft funktioniert.“
„Der Mensch ist ein kommunikatives Gemeinschaftswesen!“
„Richtig! Aber was bewirkt ein Netz? Es kostet Bewegungsfreiheit. Der Mensch wird, - und das ist gewollt, zum Soldaten der Gesellschaft. Alle sollen im Gleichschritt marschieren, das Gleiche schön finden, die gleichen Dinge konsumieren, die gleichen Bedürfnisse haben, die gleichen Vorstellungen von Lebenswert entwickeln. Das wäre am einfachsten für die Gesellschaft.“
„Wenn der Mensch nun mal ein Gesellschaftswesen ist? Ich bin es nicht, aber muss ich die Menschen verändern, wenn sie so sind, wie sie sein wollen?“
„Schlimmer, mein Freund! Der Mensch wird durch diese Umstände krank, sehr krank. Er wird, Sie werden es selbst bemerkt haben, durch die Abhängigkeit von dem, was die Gesellschaft ihm bietet, lebensunfähig. Ja, ich weiß, ein hartes Wort. Aber leider ist es mittlerweile ein massives Problem. Vorgezogene Demenz, ziellose Aggression, Selbstvernichtung, Antriebslosigkeit, Lebensferne, Ersatzbefriedigungen perversester Art, Kriminalität, Ausweglosigkeit aus den virtuellen Leben, Wahrnehmungsdefizite, Lebensunfähigkeit, völlig fehlende Einschätzungskompetenz, Vormundschaftsabhängigkeit, Gefühlskälte, Kontaktlosigkeit, Kommunikationslosigkeit, Fluchtverhalten in dunkle Räume, gänzliche Verweigerung auch der kleinsten Eigenleistungen. Was soll ich Ihnen noch aufzählen? Sie können all das täglich bestätigt sehen, wenn Sie wollen.“
„Ja, Sie haben recht, Professor. All das ist mir nicht unbekannt. Aber was ist von dem Projekt <JETZT> zu erwarten?“
„Eine Rückkehr ins Leben, wenn man das Prinzip verstünde, wenn man Konzepte hätte, wenn man Therapien anbieten könnte.“
Wir unterhielten uns noch eine geraume Weile und mir wurde langsam klarer, was der zu erarbeitende Inhalt des Projektes sein würde. Die Wissenschaft sollte zunächst das Prinzip und seine Tauglichkeit klären.
Wenige Tage später bat mich der Chef zu sich und erläuterte mir erstens das weitere Vorgehen, den avisierten Starttermin, das Ziel, die Modalitäten, die besonderen Belastungen, die ich dadurch erfahren würde, dass ich alleine tätig sein würde. - Und er nannte mir zweitens die gesamte Gruppe der Geldgeber und Interessenvertreter. Es gab außer der Allianz zur Volksgesundung noch das „humantheologische Forum“ und das Dezernat selbst, das eigene Unterprojekte vorhatte.
Das Raumfahrtdezernat hatte mich während meiner Laufbahn als Raumpilot schon vielfach mit absurden Plänen überrascht. Dieser hier gehörte zu jener Sorte.
Und doch war ich nun unterwegs, betrachtete ganz ruhig die Vielzahl der Sterne, während ich mich im antriebslosen Schwebeflug befand. Die verwirrende Menge leuchtender Punkte ließ kaum ein Muster erkennen und doch gab es Merkmale, die gewisse Assoziationen hervorriefen. Sternbilder. Sie hatten Namen, seit Jahrtausenden hatten sie Namen und man kannte sie, wenn auch nicht in dieser Pracht, die sie nur im dunklen All entfalten konnten. Einige von ihnen erinnerten mich an die Wolkenbilder meiner Kindheit und ich fragte mich wieder, ob es sein konnte, dass die Erwartungen an die Reise auch hier die Bilder beeinflussten.
Um zurückzugreifen auf die Entstehungsgeschichte dieser Reise muss ich erwähnen, dass im Raumfahrtdezernat Berlin seit langen Jahrzehnten über ein Thema diskutiert wurde, das sich weit jenseits der üblichen wissenschaftlichen Pfade befand. Ich hatte zum ersten Mal bei Professor Montagnola davon gehört und dann, viel viel später, war es im Dezernat gelandet und wurde mir vom Chef erläutert, ganz so, als ob er mir mit seinen Erklärungen neues Forschungsmaterial nahelegen wollte.
Während ich in seinem Büro saß und mir seine wohlziselierten Sätze anhörte, fiel mir auf, dass er wohl einige Erläuterungen von Montagnola eins zu eins übernommen hatte. Ich verstand augenblicklich, dass die Thematik auf eine persönliche Initiative des Professors zurückging.
Um es kurz zu machen: In Wissenschaftszirkeln behandelte man gewisse Ansichten, die sich mit der Herkunft der menschlichen Geisteshelligkeit beschäftigten wie verbranntes Brot, - ungenießbar. Dennoch ließ es sich nicht leugnen, dass zur Historie der humanen Entwicklung auch Mythen, Märchen, Glaubensinhalte, übertragenes Sagengut gehörten. Man war als Wissenschaftler nicht zwangsläufig Atheist oder Nihilist, auch wenn gläubige Menschen solche Bilder gerne übertrugen. In der Praxis war das Glaubenskonzept lediglich außerhalb des wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldes und deshalb nicht zwangsläufig das wohlfeile Feindbild.
Umgekehrt nutzte die Glaubenstheorie gerne den engstirnigen und bornierten, zu Emotionen und Erleuchtungen unfähigen Wissenschaftler als abschreckendes Beispiel. Die Wertschätzung des Glaubensgebäudes stieg im gleichen Maße, in dem man die Geringschätzung wissenschaftlichen Tuns zeigte.
Nun, sowohl dem Professor als auch dem Chef, der immerhin Forschungsaufträge generieren und finanzieren, planen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7593-7
Alle Rechte vorbehalten