I M P R E S S U M
Der dreizehnte Stern
Die Sternenbücher, Band 13
von Walter Gerten
© 2017 Walter Gerten.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Walter Gerten
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Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2017 Walter Gerten
Der Autor:
Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.
Weitere Romane:
Manfred Wilt und der Tote am Fluss
Manfred Wilt und die Rocker
Der Bote des Zarathustra
Monte Nudo
Unterwegs mit Tom Kerouac
Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola
Die Sternenbücher 2 Akba
Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes
Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens
Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome
Die Sternenbücher 6 Das Nichts
Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers
Die Sternenbücher 8 Paradise2
Die Sternenbücher 9 Solitan
Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan
Die Sternenbücher 11 Das Ubewu
Die Sternenbücher 12 Ich und Es
Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit
Die Sternenbücher 15 Selbst Ich
Das Buch
Eine Reise, die mit extremer Einsamkeit beginnt, sich dann aber fast zur Katastrophe entwickelt, als die Vorarbeiten zur Landung auf Solitan beginnen, jenem Planeten, den der Pilot bereits im neunten Band bereiste und der auch im zehnten Band die zentrale Rolle spielt. Auch dieses Mal werden alle Kalkulationen über den Verlauf der Mission nichtig, denn es kommt ganz anders.
(Es ist nicht notwendig für das Verständnis des beschriebenen Geschehens, dass der Leser die Bände 9 und 10 zuvor gelesen hat.)
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, biologischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.
Inhalt
Inhaltsverzeichnis
Kaiser Bu von Ryô fragte den Großmeister Bodhidharma:
"Was ist der höchste Sinn der Heiligen Wirklichkeit?"
Bodhidharma sagte: "Offene Weite - nichts von heilig."
Der Kaiser sagte: "Wer bist du, der du mir gegenüberstehst?"
Bodhidharma sagte: "Ich weiß es nicht."
Es würden noch viele Tage, Erdentage, vergehen, bevor das Rendezvous endlich meine Einsamkeit beenden, die Eintönigkeit der stets gleichen Arbeitsabläufe unterbrechen und mich, - uns, dem Ziel näher bringen würde.
Die Tiefschlaf-Phase der Lichtaspekt-Reise war vorüber. Man hatte mich vor zwei Wochen geweckt und es kam mir bereits vor wie zwei Monate. Die Vorbereitung des Rendezvous war nur unter manueller Unterstützung möglich und immerhin beschäftigte mich das täglich in regelmäßigen Abständen einige Stunden.
Noch im Dezernat hatte mich der Chef vor der Abreise ermahnt, in diesem hochsensiblen Abschnitt meiner Mission die allergrößte Sorgfalt an den Tag zu legen, nicht nur mit den mir zur Verfügung stehenden Apparaturen, sondern auch mit mir selbst; mit meinem Selbst. Denn er sah wohl voraus, vermutlich aufgrund seiner eigenen Erfahrung, dass es in langen, einsamen Zeiten zu unerwarteten und verwirrenden Funktionen in der Selbststeuerung, im emotionalen und rationalen Haushalt der inneren, auf sich selbst angewiesenen Struktur kommen würde, ja, musste.
Professor Montagnola hatte die Voraussicht, die Vorsicht und Umsicht des Chefs bekräftigt und mir empfohlen, ein besonderes Augenmerk auf meiner Erinnerungen zu legen. Damals, vor einem halben Jahr, kam mir das merkwürdig vor. Jetzt, allein mit meinem Raumschiff und den Apparaturen, dämmerte mir so langsam, weshalb er das gesagt hatte.
Die Außenhaut meines Gleiters schützte mich vor der extremen Kälte des Weltalls. Sie trennte die lebensfeindliche Umwelt vom Innerraum, der zwar hochtechnisch und nüchtern, völlig zweckmäßig gestaltet war, aber dennoch wegen mir, der ich ihn ebenfalls mit meinen Gedanken, Tätigkeiten und Gefühlen ausfüllte, eine Art wohliger Heimat darstellte und eine Verlängerung meines Körpers.
Mit dieser Außenhaut demnächst die Haut eines anderen Raumschiffes zu berühren, mich zu öffnen, Kontakt und Einheit herzustellen, erfüllte mich eher mit Schrecken als mit Freude. Ich war an meiner Peripherie viel zu sensibel, empfindlich, verletzlich für einen solchen Vorgang. Das Nachdenken über mich selbst, meine gedanklichen Grundlagen, mein Verständnis der Welt und des Menschseins, des Lebens allgemein, hatte mich so empfindlich gemacht. Und dieses Nachdenken war über mich gekommen wie ein Produkt der Zeit, der einsam dahin rinnenden Zeit. Aus ihrem Rieseln waren zunächst zarte Ansätze der Selbstbetrachtung erwachsen, die sich verfestigt, manifestiert hatten und sich nicht unterbrechen lassen wollten. Manchmal spielten sie Dialog, manchmal zogen sie das Selbstgespräch vor. Manchmal hatte ich mich sogar sprechen gehört und war darüber erschrocken.
Also hatte ich, bevor diese zarten Ranken sich zu verflechten begannen und netzartige Strukturen, Verknüpfungen und Schlingen bilden konnten, den Rat des Chefs aufgegriffen und auch Montagnolas Tipp mit dem Rückgriff auf alte Zeiten umgesetzt. Ich begann eine Art Niederschrift. Das Interkomm beherrschte zwar einwandfrei die Umsetzung von Sprache, aber ich benutzte es zum Schreiben.
Natürlich war meine Studentenzeit mir noch lebhaft in Erinnerung. Der Einfluss des Professors, speziell seiner Kybernetik-Seminare, stellte damals eine Wendezeit dar. Ein Wandel in meiner Denkweise war die Folge und die Zeit davor verblasste dadurch ein wenig. Diese Unschärfe verlangte meine besondere Aufmerksamkeit, denn alle späteren Erlebnisse ließen sich anhand meiner Laufbahn beim Raumfahrtdezernat nachvollziehen.
Doch diese diffuse Milchglasscheibe vor der kybernetisch geprägten Periode blieb standhaft und wollte nicht weichen. Ich versuchte, mich selbst zu überlisten, indem ich mir Strategien ausdachte, die meinen Blick klären sollten. Ich suchte nach Namen, nach Literaturtiteln, nach damaligen Gesprächspartnern. Ich war ein Anderer gewesen, damals. Eine Zeitreise hätte geholfen. Oder vielleicht eine Stimulation relevanter Hirnregionen, falls es dort Bereiche gab, in denen Bilder und Wörter, Gerüche, Klänge aus jener Zeit abgelegt waren. Doch nein, es ließ sich räumlich nicht orten, wo dieser damalige Mensch sein Wesen, seine Art und Weise eingeprägt hatte.
Es kostete mich eine merkwürdige Form von geistiger Anstrengung, ihn wiederzuerwecken; fast wäre ich daran gescheitert, bis er mir quasi von selbst, ganz aus eigenem Antrieb, gegenüber stand und mit mir in Dialog trat. Es war dieser erste kritische Moment, in dem ich zweifelte; der erste von vielen weiteren. Es war eine neue, unsichere Erfahrung von etwas, das ich danach „Selbstentfaltung“ nannte.
Wie eine geschickt gefaltete Schachtel, an der ein unauffälliger Zipfel so angeordnet war, dass sich an ihm, an seiner Position eine Öffnung beim Ziehen ergab, so tat sich ein Kämmerlein auf und aus ihm spazierte mir ein Wesen entgegen, das ich war, gewesen war und immer noch war. Ich hatte es mit einem Trick oder zwei hervorgelockt, durch Zupfen an dem speziellen Zipfel befreit und ansprechbar gemacht. Oder vielleicht war es auch aus eigenem Antrieb bereitwillig und neugierig hervorgekommen. Wie sich das genau verhielt, wusste vielleicht ein anderes Männlein in einem anderen Kämmerlein.
Glaubensfragen hatten mich beschäftigt, eine Weile meines Lebens. Es hatte Vorstellungen von göttlichen Emanationen gegeben. Bereits damals hatte ich Calito gekannt, mit dem ich später in vielen gemeinsamen Missionen zusammen gearbeitet hatte. Und auch jetzt war er Teil des aktuellen Projektes. Er würde am Ende der Vorbereitungszeit in dem anderen Raumschiff sitzen, das so wie ich auf das Rendezvous zuraste. Kamez Kun, ein längst verstorbener Religionsführer, hatte Calito einmal gegen mich aufgehetzt und zu subversiven Plänen angestachelt. Doch das war lange vorbei, auch wenn es immer noch Menschen gab, die auf eine Wiedergeburt dieses Verführers hofften. Gegen Calito hegte ich keinen Groll. Er war damals rechtzeitig abgesprungen.
Dann hatte es eine lange Periode gegeben, in der ich mich intensiv mit dem Karma beschäftigte, jener Idee, nach der man stets mental die Folgen der eigenen Taten erlebt. Diese Idee hatte mich fasziniert. Ich war in der Lage, das Wirken des Karmas selbst zu beobachten, seine Gesetzmäßigkeit im lebendigen Ablauf zu erleiden oder zu genießen, je nach dem. Es war für mein Empfinden unzweifelhaft ein Charakterzug des Lebens selbst, diese Wertigkeit der eigenen Entscheidungen, des eigenen Stolperns und Strauchelns und der eigenen Höhen und Tiefen. Ich selbst war der Erzeuger meiner Folgen, seit jeher.
„Wieso hast du das aufgegeben?“
„Habe ich das? Nicht dass ich wüsste; aber was ich aufgab, war die Vorstellung einer Wiedergeburt nach dem Tode.“
Tatsächlich hatte ich irgendwann diesen Teil der Karma-Theorie rationalen Überlegungen geopfert. Ich kannte schlicht niemanden, der wiedergeboren war. Zwar gab es Menschen, die solche Dinge behaupteten, aber Behauptungen hatten mir noch nie sonderlich imponiert. Also trennte ich das beobachtbare Karma, die Lehre von Ursache und Wirkung, von der Reinkarnation.
„Womit ersetzt du denn dann deine Vermutungen, was nach dem Tode passiert?“
„Mit nichts. Vermutungen genügten mir ab da nicht mehr als Gedankengrundlage.“
„Du bist ein inkonsequenter Mensch.“
„Weil ich Ansichten ablege? Nein, es ist nur folgerichtig, immer wieder die eigene Gedankenwelt auf vermeidbare Fehler hin zu prüfen. Und wenn es fundamentale Grundlagen betrifft, mag es radikal aussehen.“
„Es ist dennoch eine immer noch sehr schöne Vorstellung, über den Tod hinaus mit der Vermeidung schlechten Karmas beschäftigt zu sein.“
„Das stimmt. Aber würde es dem Karma gefallen? Würde es gute Folgen erzeugen, sich schöne Illusionen auszumalen? Schönheit ist kein Grund, Wahrheit zu vermuten.“
„Und doch ist Wahrheit schön.“
„Nicht zwangsläufig. Das würde der Karma-Idee widersprechen.“
Immerhin unterhielt ich mich mit meinem damaligen „Bruder“ im Geiste, meinem „Karma-Ich“ noch immer über diese Lehre und konnte tatsächlich keinen Grund finden, warum sie mit meinem jetzigen Gedankenmodell der Welt nicht harmonieren sollte.
Jetzt war immer noch die Zeit der Kybernetik, der Lehre der Systeme. Und der Mensch war ein System; das zeigte mir nun überdeutlich die Existenz dieser merkwürdigen Kämmerlein und ihrer Bewohner, die systematisch mein Ich bevölkerten.
Schon entfaltete sich das zweite und entließ einen kleinen klugen Professor, der, zumindest im Gesicht, Montagnola ein wenig ähnlich sah.
„Auch Systeme benötigen für ihre Funktion einen Sinn. Sie erleiden Fehlfunktionen, wenn der Sinn nicht gewahrt wird. Ursache und Wirkung sind nicht wegzudenken aus dem Zusammenspiel der Systemkomponenten.“
„Zurück ins Kästchen, mein Lieber. Zunächst sind ganz andere Zeiträume zu öffnen.“
Ja, es hatte eine wirklich lange Zeit mit dem Zen-Buddhismus gegeben, obwohl sie fast während der gesamten Dauer von Zweifeln am richtigen Verständnis geprägt war. Diese Bedenken stellten sich irgendwann als nichtig heraus. Es war authentisch, so wie es authentischer nicht sein konnte. Ich spürte noch immer das Echo der Wucht, die das Zen verursacht hatte. Es war ganz klar gewesen, dass darin ein Gigant schlummerte, ein freundlicher und merkwürdiger Riese.
Das Karma war kompatibel mit Zen. Weniger glatt verlief allerdings die Liaison mit Nietzsches Atheismus. Vielleicht kam es mir entgegen, dass er eine Vielzahl unterschiedlicher Deutungen verkraftete ohne zu zerbrechen. Meine eigene hielt ich für die richtige.
Ein harter Knall riss mich aus meinen Gedanken. Ich kannte das blecherne Scheppern, wenn Gesteinsbrocken meine Außenhaut trafen, aber dieses Geräusch war weicher, dumpfer. Ich legte das Interkomm-Gerät auf das Steuerpult und drehte den Sitz zum Kontrollmonitor. Ein flackernder Warnpunkt leuchtete rot auf. Treffer am Heck links. Vermutlich eine dieser Staubrotationen, die es beim Durchqueren von „Jungfernzonen“ in allen Größen gab. Sie waren recht ungefährlich, so lange sie eine gewisse Dichte nicht überschritten. Wir nannten sie „Tumbleweeds“, nicht, weil sie pflanzlicher Herkunft waren, sondern weil sie wie lockere Aststrukturen durch den Raum taumelten.
Ich musste dennoch mein Schreiben unterbrechen, mich in den Raumanzug zwängen und die Stelle begutachten. Was sich nicht unterbrechen ließ, waren meine Gedanken. Zu viele Kämmerchen waren entfaltet, zu viele Bewohner meines Ich tummelten sich auf der Bühne und palaverten. Und doch, -es war verwunderlich -, gab es ein Ich, das reibungslos und ohne Murren erledigte, was zu erledigen war.
Dr. Breuer fragte Nietzsche:
„Sie sprechen nicht so sehr von der Wahl einer Krankheit als von ihrer Überwindung und ihrem Nutzen, nicht wahr?“
„Ja, ich meine tatsächlich den Sieg über die Krankheit, Überwindung“, bestätigte Nietzsche, „Was die Wahl anbetrifft, da bin ich mir nicht einig. Mag sein, man sucht sich auch seine Krankheit. Das hängt vermutlich davon ab, wer
Breuer war verblüfft über die Ähnlichkeit der Bemerkung Nietzsches mit der Auffassung, die tags zuvor Freud vertreten hatte. „Wollen Sie damit sagen, es gebe selbständige, gesonderte Domänen innerhalb des Bewusstseins?“ fragte er.
„Der Schluss drängt sich nachgerade auf. Wir müssen doch davon ausgehen, dass unsere Lebensgeschicke zu einem bedeutenden Teil von den Instinkten geleitet werden. Möglich, dass die bewussten gedanklichen Manifestationen Nachgedanken sind – Vorstellungen, welche sich im Nachhinein bilden, damit der Anschein der Oberherrschaft gewahrt bleibe.“
Auszug aus „Und Nietzsche weinte“ von Irvin Yalom
Alles faltete sich im „richtigen“ Moment wieder zusammen wie eine Assel mit ihren vielen Segmenten; rollte sich zu einer perfekten Kugel, die glatt und rund größtmöglichen Inhalt bei kleinster Oberfläche bot.
Kaum war ich draußen, wurde ich von einem weiteren "Tumbleweed" getroffen. Dieser war kleiner und zerlegte sich an meiner Schulter in eine Staubwolke, die sich rasend schnell entfernte, am Heck noch einmal auftraf und in einem wilden, einwärts gedrehten Wirbel entschwand. So schnell ich es mit den Magnetstiefeln vermochte, drehte ich mich nach vorne, um zu sehen, ob noch andere auf meiner Bahn waren.
Ich hatte gerade noch Zeit, mich zu bücken. Eine riesige Staubkugel kam auf mich zu. Am Außenrand hatten sich die Partikel auf einer perfekten Oberfläche angeordnet, von der aus die regelmäßigen, vielfach verzweigten Innenstrukturen zum Mittelpunkt verliefen. Es sah aus wie eine dreidimensionale Schneeflocke, wie ein kugelförmiger Kristall aus unzähligen Staubkörnchen. Leicht in sich rotierend strich das Gebilde über meinem Helm entlang.
Ich bewegte mich zum Heck, um den Schaden zu begutachten. Es war eine kaum erkennbare flache Delle im Metall. Keine Beeinträchtigung, sofern die Leitungen darunter nicht komprimiert waren. Das würden mir die Instrumente anzeigen, sobald der noch laufende Selbsttest abgeschlossen war.
Gerade wollte ich meinen Außeneinsatz als beendet erklären, als mir eine leise Stimme sagte:
„Moment, nicht so schnell. Was soll das? Wieso willst du sofort wieder hinein? Kennst du nicht meine dritte Regel?“
„Welche dritte Regel. Und was besagen die ersten beiden?“
„1. Plane den Ablauf dessen, was du zu tun gedenkst.
2. Arbeite sorgfältig und ohne Hast.
3. Warte, bevor du deine Tätigkeit abschließt und prüfe!“
Ich blickte noch einmal zurück zum Heck und suchte die Delle. Tatsächlich, so belanglos wie ich gedacht hatte, war die Situation nicht. Direkt davor befand sich eine Luke, die sich beim geplanten Rendezvous würde öffnen müssen, um die Daten- und Energieverbindungen herzustellen. Ich musste ihre Funktion überprüfen. Also durch die Druckschleuse wieder hinein in meine Flugmaschine.
Zurück am Kontrollpult löschte ich die rotblinkende Warnung und las das Ergebnis der Selbstdiagnose des Systems. Es gab keine Fehlermeldungen. Also ging ich vom einwandfreien Zustand der Leitungen unter der Metallhaut aus. Ich betätigte über meinem Kopf einen einfachen mechanischen Schalter, der innerhalb eines zweiten, analogen Schaltkreises zur Öffnung der fraglichen Luke diente. Der Monitor zeigte mir von der Heckperspektive aus die kreisrunde Vertiefung, in der sich die zwei Hälften der Schleusenklappe auf schwenkten. Das Bild erinnerte mich an das chinesische Yin-Yang-Symbol, denn die Trennlinie war s-förmig und wurde langsam breiter. Es schien alles noch gut zu funktionieren.
Der kleine kluge Professor, mein virtueller Gesprächspartner, ich stellte ihn mir wie einen graugesichtigen Gibbon vor, ereiferte sich mit ausführlichen Hinweisen auf die kybernetische Betrachtung von Systemen. "Die inhärente Logik eines Systems ist abhängig von der sinnvollen Koppelung der Einzelfunktionen. Nur entsprechend dem Sinn eines Systems wird das Zusammenspiel logisch und fehlerfrei erfolgen. Zudem sollte die Abgrenzung zu anderen Systemen intakt sein. Man sieht es hier und man sieht es auch am Menschen."
Ich fuhr mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und seufzte. Die Theorien über die Beschaffenheit des Geschehens langweilten mich und ich fragte:
„Was wollt ihr alle von mir? Es kann sich doch niemals lohnen, soviel Potential des eigenen Ich in die Entschlüsselung geheimer Botschaften zu stecken, die man in all den Dingen und Erlebnissen vermutet. Was gibt es denn dort Wertvolles zu erkennen, das diesen verwirrenden Aufwand lohnt?“
„Aber es gibt niemanden, kein einziges Lebewesen, das nicht wissen will, wissen muss, was rundherum vor sich geht!“
„Es ändert aber doch nichts.“
„Es ändert sich fundamental Alles mit der Erkenntnis des Wesens der Dinge.“
„Ich erkenne, dass ich zerfalle in eine unbekannte Anzahl von Kammern, die zugefaltet darauf warten, dass man sie ruft.“
Von hinten rief jemand:
„Und wer ist der Erkennende?“
War ich überreizt, hypersensibel? Hörte ich Dinge, die ich normalerweise nicht hörte, nicht hören wollte? Schön war, dass mit einem Wisch das Ganze wieder verstummte. Es gab noch eine Oberhoheit, eine maßgebliche Instanz, einen Befehlshaber, der Ordnung in die Kompanie brachte und sie stramm stehen ließ.
Ich zog mein Interkomm heran und wollte mit dem Schreiben fortfahren. Ich suchte nach dem letzten thematischen Ansatz. Hatte ich ihn notiert oder nur gedacht? Was war es gewesen, Zen oder Karma? Gab es eine Erkenntnis? Und wer …?
Ich suchte nach Musik und wählte einen langen, getragen beginnenden Titel. Mit dem Bogen gestrichene Muster auf dem Kontrabass, eine sich abzweigende Cello-Linie, einsetzende Percussion, perlende Kaskaden als Kontrapunkt zu den jetzt gezupften Verzweigungen der beiden hohen Cello-Saiten, - Gesang. Stimme, Inhalt, Gefühl. Zuviel. Aus!
Warum hatte man mich nicht schlafen gelassen? Es gab so gut wie nichts zu tun. Zwei Stunden hier und da. Ein wenig Planung, Logistik, langfristige Programmierung der Abgleichroutinen. Ich schwenkte den Pilotensitz in die Liegeposition
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Walter Gerten
Bildmaterialien: Walter Gerten
Cover: Walter Gerten
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2017
ISBN: 978-3-7438-3650-1
Alle Rechte vorbehalten